Der Löwe brüllt sich zum Wahlerfolg

Der selbsternannte Anarchokapitalist Javier Milei legte einen für ihn typischen, sehr exzentrischen Wahlkampfabschluss hin. Der ehemalige Sänger einer Coverband stimmte zu Beginn seiner Rede ein Lied der bekannten argentinischen Rockband La Renga an und sang dann, er sei der Löwe, der König einer verlorenen Welt. Seine darauffolgende Rede unterbrach er immer wieder mit dem Ausruf „Libertad carajo!“ („Freiheit, verdammt noch mal!“). Aktionen wie diese wurden bis zur Vorwahl am 13. August meist nur belächelt, denn in den Umfragen lag der 52-Jährige abgeschlagen an dritter Stelle.

Am Wahlabend war die Überraschung umso größer, als Milei mit seiner Partei La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran, LLA) mit knapp 30 Prozent der Stimmen vorne lag. Zwei Prozentpunkte hinter Milei landete das Mitte-rechts-Bündnis Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wandel, JxC). Neben den Präsidentschaftskandidat*innen Patricia Bullrich und Horacio Larreta wird das Bündnis vom ehemaligen Präsidenten Mauricio Macri (2015-2019) angeführt, der weiter einflussreich an den Strippen zieht. Im internen Rennen innerhalb von JxC konnte sich die ehemalige Innenministerin der Regierung Macri, Patricia Bullrich, welche als Sicherheitshardlinerin gilt, gegen Horacio Larreta, den etwas gemäßigteren Kandidaten und bisherigen Bürgermeister von Buenos Aires, durchsetzen. Auf dem dritten Platz landete das Mitte-links-Bündnis Unión por la Patria (Union für das Vaterland, UxP), das knapp 27 Prozent der Stimmen verbuchte. Das interne Rennen der Peronisten konnte hier der aktuelle Finanzminister, der Ökonom Sergio Massa klar für sich entscheiden.

Expert*innen erklären Mileis Erfolg mit der seit Jahren andauernden Wirtschaftskrise und der zunehmenden Politikverdrossenheit vieler Argentinier*innen. Der Mann, der nach eigenen Aussagen „verliebt in den Kapitalismus“ ist, konzentrierte sich in seinem Wahlkampf auf zwei populäre Kernthemen.

Zum einen versprach er, mit marktradikalen Reformen die Inflation von aktuell etwa 116 Prozent zu stoppen und die Wirtschaft zu stabilisieren. Dafür schlägt er unter anderem vor, den argentinischen Peso durch den US-Dollar zu ersetzen, die Zentralbank abzuschaffen, Steuern um 90 Prozent zu reduzieren und den Staatsapparat von aktuell 20 Ministerien auf acht zu verkleinern. Außerdem fordert er eine umfängliche Privatisierung, unter anderem des Bildungssektors, da Bildung für ihn kein Grundrecht darstelle. Auch bei weiteren gesellschaftspolitischen Fragen vertritt er rechtskonservative bis ultrakonservative Positionen. So bezeichnet er Abtrei-*bungen als Mord, setzt sich für ein freies Führen von Schusswaffen ein und leugnet den Klimawandel.

Bildung ist für Milei kein Grundrecht

Der zweite Pfeiler in der Kampagne des Wirtschaftswissenschaftlers besteht darin, konstant die etablierten politischen Akteure, sowohl linke als auch rechte, anzugreifen und auch gezielt Falschinformationen zu verbreiten. Er sprach von einer politischen Kaste, welche ausschließlich persönliche Interessen verfolge. Milei inszeniert sich als Antipolitiker, als wahrhafter Patriot, welcher nicht Teil eben jener Kaste sei. Vor allem aber sei er der einzige Kandidat, der einen echten Wandel herbeiführen könne.

Einen „echten Wandel“ verspricht auch die Spitzenkandidatin des Mitte-rechts-Bündnisses JxC, Patricia Bullrich. Sie warb mit dem Schlagwort Ordnung. Zum einen gab sie an, die wirtschaftliche Ordnung wiederherstellen zu wollen. Dafür möchte Bullrich Devisenkontrollen abschaffen, um Argentinien für ausländische Direktinvestitionen attraktiver zu machen und so die Wirtschaft anzukurbeln. Zum anderen wirbt sie damit, wieder für Ordnung auf der Straße sorgen zu wollen. Die Sicherheitslage war neben der Wirtschaftskrise eines der großen Themen des bisherigen Wahlkampfs. So nehmen zum Beispiel Ladenplün- derungen im gesamten Land in letzter Zeit zu und es wird häufiger Sicherheitspersonal am Eingang der Supermärkte aufgestellt. In vielen Kiosks wird zu später Stunde nur noch durch ein kleines Fenster bedient.

Das Gefühl von allgemeiner Unsicherheit verstärkte sich in der Woche vor den Wahlen noch durch den Tod der elfjährigen Morena. Das Mädchen wurde auf dem Weg zur Schule von zwei Motorradfahrern angegriffen und ausgeraubt. Sie erlag kurz darauf ihren Verletzungen. Alle Kandidat*innen waren sich einig, dieses schreckliche Ereignis nicht politisch ausschlachten zu wollen und beendeten vorzeitig ihre Kampagnen. Dennoch liefen die grausamen Bilder, aufgenommen von einer Sicherheitskamera, wenige Tage vor den Wahlen auf sämtlichen Kanälen in Dauerschleife.

Neben dem Tod von Morena bestimmte kurz vor den Wahlen der Tod von Facundo Morales die nationale Berichterstattung. Der als Fotojournalist, politischer Aktivist und als ehemaliges Mitglied der kolumbianischen FARC-Guerilla bekannte Mann, verstarb, nachdem er während einer Kundgebung am Großen Obelisken in Buenos Aires gemeinsam mit anderen Aktivist*innen von der Polizei festgenommen und zu Boden gedrückt worden war. Sowohl Bullrich als auch Larreta verteidigten das Handeln der Polizei und behaupteten, dass Morales auf Grund von Vorerkrankungen verstorben sei.

Mit Blick auf die Wahlen am 22. Oktober wird für Patricia Bullrich besonders spannend, ob sie die Stimmen ihres internen Konkurrenten Horacio Larreta halten kann, welcher als Kandidat der Mitte galt und immerhin elf Prozent der Stimmen holte. Um diese Stimmen wird sie allerdings mit Sergio Massa konkurrieren müssen, dem Präsidentschaftskandidaten des UxP-Bündnisses, der ebenfalls um die Wähler*innen der Mitte wirbt. Er ist zwar Kandidat der Peronisten, gilt allerdings als pragmatischer Politiker. Derzeit ist er als Finanzminister bisher wenig erfolgreich unter anderem mit der Bekämpfung der Inflation beschäftigt. Die schlechte wirtschaftliche Lage hat Massa indes geerbt, als er im August 2022 seinen Job als Finanzminister antrat. Sein primäres Wahlversprechen ist es, in der kommenden Legislaturperiode endlich die Schulden beim Internationalen Währungsfonds (IWF) zu tilgen, um somit „den IWF loszuwerden, damit er nie mehr wiederkommt“. Massa steht auf Grund seiner Regierungszugehörigkeit für viele Argentinier*innen für ein „weiter so“.

Am 22. Oktober könnte sich bereits entscheiden, wer das nächste Staatsoberhaupt Argentiniens wird. Dafür müsste ein*e Kandidat*in mehr als 45 Prozen der Stimmen holen oder mehr als 40 Prozent mit einem Abstand von über zehn Prozentpunkten zu*r Verfolger*in erreichen. Gelingt das keiner der Parteien, so kommt es am 19. November zu einer Stichwahl zwischen den zwei Kandidat*innen mit den meisten Stimmen, wovon angesichts des Vorwahlergebnisses nahezu alle Beobachter*innen ausgehen.
Am 22. Oktober werden zudem etwa die Hälfte der Abgeordnetenkammer und ein Drittel des Senats neu gewählt. Die restlichen Sitze der Abgeordnetenkammer und ein weiteres Drittel der Sitze des Senats werden erst in zwei Jahren neu besetzt. Das bedeutet, dass LLA mit Javier Milei auch bei einem Wahlsieg unmöglich Mehrheiten bilden kann, ohne mit der „Kaste“ zu kooperieren.

Nach den Vorwahlen ist vor den Wahlen oder um es mit den Worten von Sergio Massa auszudrücken: „Die erste Halbzeit ist vorbei, die zweite Halbzeit, die Verlängerung und das Elfmeterschießen stehen noch aus.“

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