Es war eine gute Nachricht nach dem großen Schrecken: Wenige Tage nach dem Erdbeben am 14. August vereinbarten kriminelle Banden in Haiti einen Waffenstillstand. Fast vier Monate lang waren aufgrund der Kämpfe nahezu alle Landwege in den Süden Haitis abgeschnitten. Die Lieferung von Lebensmitteln an die mehr als 400 Verteilungszentren kam praktisch zum Erliegen und die ohnehin schon kritische Ernährungslage verschärfte sich. Das Erdbeben, dem im Süden über 2.200 Menschen zum Opfer fielen und bei dem mehr als 80.000 Häuser zerstört wurden, brachte selbst Bandenchefs zum Nachdenken. Einer ihrer berüchtigtsten Anführer, Jimmy „Barbecue” Chérizier, kündigte den Waffenstillstand in Martissant – eines wegen der Kämpfe nahezu verwaisten Stadtteils in der Hauptstadt Port-au-Prince – persönlich an. Und er setzte noch einen drauf: Seine Organisation – die mächtige G9-Gang-Allianz – werde Lebensmittel und Schulmaterial für den schwer getroffenen Süden spenden. Doch selbst nach dem Waffenstillstand gab es noch Überfälle auf Lastwagen mit Hilfsgütern. Und wie lange der Burgfrieden im Bandenkrieg hält, ist nicht ausgemacht.
Laut des Portals Insight Crime stand ein Streit im Neuner-Bandenkonsortium über die Einnahmenverteilung am Anfang des Bandenkriegs. Chérizier, ein ehemaliger Polizist, hatte seinen Streitschlichtungsversuch noch im Mai mit einer Kugel vergolten bekommen, seine Vermittlung im August war erfolgreicher. Das lukrative Geschäft der Banden beruht vor allem auf Drogenhandel, Waffendeals, Schutzgelderpressungen und Entführungen. Seit die erfolglose UN-Stabilisierungsmission MINUSTAH Haiti 2017 nach 13 Jahren endgültig den Rücken kehrte, bauten die Banden vor allem in den ärmeren Stadtteilen ihre Macht Schritt für Schritt aus. Dort wo sich der Staat zurückzieht, sind sie zur Stelle, sie werden Ordnungsmacht nach eigenen Regeln, kümmern sich um Müllabfuhr und Kreditvergabe. Chérizier galt als wichtiger Verbindungsmann des Präsidenten Moïse. Außerdem soll er für Massaker und Morde in dessen Auftrag verantwortlich sein, auch wenn Moïse immer jede Verwicklung mit der Organisierten Kriminalität als üble Nachrede zurückwies.
Der Waffenstillstand erleichterte die Hilfe nach dem Erdbeben, der Wirbelsturm Grace erschwerte sie
Der Waffenstillstand erleichterte die Hilfe nach dem Erdbeben, der Wirbelsturm Grace erschwerte sie. Der Tropensturm setzte drei Tage nach dem Erdbeben die Region unter Wasser. Teile der Ernte wurden vernichtet, die Infrastruktur in Mitleidenschaft gezogen. Laut den Vereinten Nationen müssten rund 800.000 Menschen mit Obdach, Wasser, sanitären Einrichtungen, Medikamenten und Lebensmitteln versorgt werden. Allein für diese Nothilfe veranschlagt die UNO 187 Millionen Dollar, die durch den Soforthilfeaufruf am 25. August eingesammelt werden sollen. Auch die UNO verweist darauf, dass die humanitäre Notlage mit einer Eskalation der Bandengewalt zusammenfällt, nachdem im Juli Präsident Jovenel Moïse erschossen worden war. Laut UNO sind von dieser Eskalation allein seit Juni 1,5 Millionen Menschen betroffen, 19.000 Menschen wurden vertrieben. Etwa 4,4 Millionen Menschen, fast 40 Prozent der Bevölkerung, sind von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen, darunter 1,1 Millionen Menschen, die Soforthilfe benötigen.
60 Prozent der Wähler*innenschaft leben in von Gangs kontrollierten Gebieten
Der Neurochirurg Henry war von Präsident Moïse am 5. Juli, keine 36 Stunden vor seinem Tod, zum bereits siebten Premierminister seiner Amtszeit ernannt und damit beauftragt, eine Regierung zu bilden. Der*die Premierminister*in ist in Haiti Regierungschef*in. Da Henry zum Zeitpunkt von Moïses Ermordung bislang nicht vereidigt war, blieb jedoch der bisherige Premierminister Claude Joseph im Amt. Weil Haiti seit Anfang 2020 kein beschlussfähiges Parlament hat, wurde keiner von beiden verfassungsgemäß bestätigt. Zehn Tage nach der Ermordung des Staatspräsidenten ermutigte die sogenannte Core Group nachdrücklich den Ex-Innenminister Ariel Henry, eine „konsensuelle und inklusive” Regierung zu bilden. Joseph musste klein beigeben. Der Kerngruppe gehören unter anderem die Botschafter*innen Deutschlands, der USA und der EU in Haiti sowie ein Vertreter des UN-Generalsekretärs an.
Die Core Group fordert auch, so bald wie möglich „freie, faire, transparente und glaubwürdige” Wahlen zu organisieren. Wann „freie, faire, transparente und glaubwürdige” Wahlen für Haiti eine realistische Option sind, bleibt umstritten. Schon vor dem Erdbeben wurde wegen den Turbulenzen nach dem Präsidentenmord der Termin vom 26. September auf den 7. November verlegt. Ob es dabei bleibt ist offen, auch weil die Hintermänner des Mordes noch nicht ausgemacht sind, was weitere Instabilität nach sich ziehen könnte. Die Polizei gibt an, bereits 44 Verdächtige im Zusammenhang mit dem Anschlag auf Moïse festgenommen zu haben, darunter zwölf haitianische Polizisten, 18 kolumbianische Söldner und zwei US-Bürger haitianischer Herkunft.
Der Untersuchungsrichter Jude Chanlatte, der als Einziger bereit war, den Fall zu übernehmen, warf die Brocken nach einer Woche hin. Er machte in einem Schreiben an das Gericht erster Instanz in der Hauptstadt Port-au-Prince persönliche Gründe für seine Entscheidung geltend. Einer seiner Mitarbeiter*innen war kurz zuvor unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen.
Das angesehene Menschenrechtsnetzwerk RNDDH veröffentlichte einen detaillierten Bericht, machte aber klar, die Hintermänner noch nicht ausfindig gemacht zu haben. Demnach wurden zwischen 1:36 und 1:46 Uhr zahlreiche Anrufe von Jovenel Moïse getätigt. Keiner von denen, auf deren Schutz er zu zählen schien, tauchte auf. Besonders im Zwielicht steht der untergetauchte Joseph Félix Badio, der früher eine Antikorruptionseinheit im Justizministerium geleitet hatte. Von Badio sagten die Söldner, sei der Befehl gekommen, alle im Haus umzubringen. Und laut RNDDH hat ausgerechnet Premierminister Ariel Henry am Abend des Attentats sowohl mit Joseph Félix Badio als auch mit dem Präsidenten telefoniert. Henry dementierte postwendend.
Ob die Wahlen, sofern sie stattfinden sollten, den Weg zu mehr Stabilität eröffnen, ist nicht ausgemacht. Sicher ist, dass auch bei den Wahlen die kriminellen Banden ein gehöriges Wort mitsprechen werden. Denn etwa 60 Prozent der Wähler*innenschaft leben in von Gangs kontrollierten Gebieten.