“Yankee” Goni wird Präsident

Diesmal wird der Erste nicht leerausgehen

In den vierten und nach Aussagen von allen BeobachterInnen fairsten allgemeinen Wahlen nach dem Übergang zur parlamentarischen Demokratie 1982 scheint sich eine bolivianische Eigentümlichkeit nicht zu wiederholen. 1985 und 1989 wurden nicht diejenigen Kandidaten Präsident, die die relative Stimmenmehrheit hatten, sondern durch politische Deals der jeweils geschlagenen Parteien wurden die zweit- oder drittplazierten Kanditaten vomm Parlament zu Präsidenten gekürt. So wurde 1985 die Wahl von Hugo Banzer verhindert. Vier Jahre später hatte Sánchez de Lozada das Nachsehen, weil Banzer und seine rechtsgerichtete Partei ADN (Demokratisch Nationalistische Aktion) und die sozialdemokratische MIR (Bewegung der Revolutionären Linken) ein Bündnis schlossen. Nach monatelangem Hin und Her wurde der Kandidat der MIR, Jaime Paz Zamora, zum jetzt noch amtierenden Präsidenten gewählt, obwohl seine Partei nur knapp 20 Prozent erreicht hatte. Die “Ströme von Blut”, die MIR und ADN aufgrund der Verfolgungen während der Diktatur Banzers in den 70er Jahren trennten, waren plötzlich irrelevant. Daß Hugo Banzer ein Bündnis mit der relativ schwachen MIR einging und Paz Zamora zum Präsidenten machte, war mit einem längerfristigen Kalkül verbunden. Einerseits konnte die ADN dadurch wichtige Schlüsselpositionen in der Regierung besetzen und deren Politik entscheidend mitbestimmen, andererseits hatte die MIR als die Partei des Präsidenten die politische Verantwortung zu tragen. Dem Ex-Diktator stand damit der Weg offen, sich auch im Falle politischer Krisen und der Abnutzung der Regierung in den nächsten Wahlen als unverbrauchter Retter zu profilieren.
Dieses Kalkül hat sich mit der Wahl vom 6. Juni als falsch herausgestellt. Obwohl die Meinungsumfragen andeuteten, daß Banzer allmählich zu Sánchez de Lozada aufschließen kann, erreichte das “Patriotische Bündnis” um Banzer, das diesmal neben der verschlissenen MIR noch die Christdemokraten und die sich links gebärdende Revolutionäre Front umfaßte, nur magere 21 Prozent. Damit ist Banzer auch in seinem fünften Versuch, auf legalem, parlamentarischen Wege Präsident zu werden gescheitert – nachdem er nach 7-jähriger Militärdiktatur 1978 von seinem Generalskollegen Juan Pereda aus diesem Amt geputscht worden war. Vielleicht war die Last der Vergangenheit am Ende doch zu schwer. Es wird wahrscheinlich sein letzter Versuch gewesen sein; er hat schon angekündigt sich bei einer Nichtwahl aus der Politik zurückziehen zu wollen.
Goni hingegen fehlen nur fünf Sitze im Parlament, um am 6. August endgültig von den Abgeordneten gewählt zu werden. Unmittelbar nach der Wahl hat er angekündigt, daß er bereit ist, mit allen im Parlament sitzenden Parteien zu verhandeln, um seine Wahl und darüber hinaus eine längerfristig stabile Regierungskoalition zustandezubringen. In Frage kommen vor allem die erfolgreichen populistisch orientierten Parteien. CONDEPA (Vaterlandsbewußtsein) unter Carlos Palenque, einem Besitzer eines Radio-und Fernsehsenders, der vor allem durch an die städtischen Unterschichten gerichtete Sendungen populär wurde, konnte den spektakulären Erfolg der letzten Wahlen wiederholen und gewann 16 Prozent der Stimmen. CONDEPA war vor vier Jahren eher zufällig entstanden, geriet aber schnell zur politischen Bewegung, in der die marginalisierte Bevölkerung indianischer Herkunft ihren Protest gegen die Diskriminierung durch das “weiße” Establishment artikuliert sieht. Mittlerweile ist die Partei schon stärker etabliert und erweitert allmählich die bisher auf La Paz beschränkte regionale Begrenzung.
Die UCS (Bürgerunion und Solidarität) des schwerreichen Brauereibesitzers Max Fernández enttäuschte dagegen und erreichte als vierte nur 13 Prozent der Stimmen. In den Umfragen lag Fernandez lange Zeit an zweiter Stelle hinter Goni. Auch die UCS existiert erst seit 4 Jahren und rekrutiert ihre WählerInnen tendenziell eher aus dem Milieu der indianisch geprägten Mittelschichten. Populär ist Fernandez vor allem durch zahlreiche “Geschenke” an verschiedene Dörfer und Städte in Form von infrastrukturellen Anlagen wie Krankenhäusern, Fußballplätzen und Trinkwasseranlagen, die er aus der Firmenschatulle seines Brauereiunternehmens finanziert.
Die MBL (Bewegung Freies Bolivien), eine Abspaltung der MIR, erreichte als einzig dezidiert linke Partei, die nicht völlig in der Bedeutungslosigkeit verschwunden ist, sieben Parlamentssitze. Im Gegensatz zu den anderen eher orthodox orientierten Linksparteien vertritt sie das Konzept einer sozial orientierten Marktwirtschaft und einer plurikulturellen Nation.

Auf der Suche nach dem sozialen Gesicht des Neoliberalismus

Wie schon 1990/91 bewegte sich im Verlaufe des Jahres die Inflationsrate auf einem niedrigen Niveau bei 10,5 Prozent im Jahr. Das Bruttosozialprodukt stieg um beachtliche 3,7 Prozent. So gesehen scheinen die wirtschaftlichen Daten ein positives, befriedigendes Bild zu geben. Betrachtet man die ökonomische Entwicklung aber differenzierter, löst sich das optimistische Gemälde wirtschaftlicher Stabilität etwas auf. Denn das Wachstum von 3,7 Prozent ist vor allem der enormen Ausweitung des Baugewerbes (+15 Prozent) und des Finanzsektors (+15,6 Prozent) geschuldet, was auf ein vorwiegend auf spekulativen Kapitalanlagen beruhendes Wachstum verweist. Die eigentlich produktiven Sektoren Exportlandwirtschaft, Bergbau und Erdgas schrumpften um ein Prozent. Sinkende Exporte (von 848 Millionen 1991 auf 751 Millionen Dollar 1992) und steigende Importe (plus 42 Millionen Dollar) ergaben 1992 ein Handelsbilanzdefizit von 382 Millionen Dollar.
Wichtiger als die Bewertung der ökonomischen Situation anhand quantitativer Indikatoren ist aber, daß die “Nueva Política Económica” (Neue ökonomische Politik), wie sie von Paz Estenssoro 1985 installiert und von der Regierung von Paz Zamora bis 1993 brav weiterverfolgt wurde, neben relativer Stabilisierung auch die ohnehin krassen sozialen Ungleichheiten weiter verschärfte und die Ressourcen des Landes in immer weniger Händen konzentrierte. Der aktuelle politische Diskurs scheint anzudeuten, daß das Erreichen der “sozialen deadline” heute auch den hegemonialen Block der etablierten Parteien berührt, weil dadurch ein wichtiges Fundament der “Neuen ökonomischen Politik” allmählich untergraben wird: Die politische Stabilität und die formale Demokratie.

Beliebigkeiten der Bündnisse

Diese Beobachtungen korrespondieren auch mit anderen bedeutsamen Veränderungen der politischen Kultur Boliviens. Seit einigen Jahren ist bedingt durch die soziale Krise des Landes das Entstehen neuer sozialer Akteure zu beobachten, die sich ihre eigenen politischen RepräsentantInnen suchen und so einen politischen Erdrutsch der bolivianischen Politik bewirkten. Während die linken Parteien fast völlig von der Bildfläche verschwanden, liefen die marginalisierten Gruppen, wie die städtische Bevölkerung aus dem informellen Sektor (Informales) zu neuen populistischen Parteien über. Die Parteien hängen faktisch von der Popularität ihrer charismatischen Führer ab, sind aber gleichwohl zu Sprachrohren der Armen und Diskriminierten aufstiegen.
Dies gilt für die CONDEPA von Carlos Palenque, in der sich ein guter Teil der armen “Informales” repräsentiert sehen, wie auch für die UCS von Max Fernández, die eher bei den bessergestellten “Informales” aus der Chola-Bourgoisie (indianische Herkunft) ihren Rückhalt hat. Die politische Herausforderung dieser neuen populistischen Parteien zwang auch die traditionellen Parteien zur Annäherung an die neuen sozialen Akteure. Diese Annäherung ist der späten Einsicht der Altparteien geschuldet, daß auch dise sozialen Gruppen potentielle WählerInnen sind, die über die Machtverteilung bei Wahlen mitbestimmen können. Das scheint aber das einzigste Interesse der etablierten Parteien an diesen Menschen zu sein. Die realen Probleme der Informales werden über die rhetorische Phrasen des Wahlkampfs hinaus nur dann Thema der politischen Debatte, wenn sie sich zu sozialen Bewegungen formieren und als unabhängige kollektive, politische Akteure ihre Interessen gegenüber dem politischen Establishment einfordern können.
Eine zweite Tendenz ist die zunehmende Annäherung der traditionellen Parteien MNR, ADN und MIR. Die Politik in Bolivien verliert zunehmend ihre in den Zeiten der Diktaturen so scharfe Links-Rechts-Konturen, alle treffen sich in der mehr oder minder neoliberalen Mitte. Und so entsteht die Möglichkeiten des vorher Undenkbaren. Der neue Zentrismus hat zur Folge, daß jede Koalition und jeder Pakt zwischen politischen Parteien möglich wird. Die Wahl von Paz Zamora von der MIR zum Präsidenten 1989 durch das Bündnis mit seinem vormaligen Todfeind Hugo Banzer (ADN), der ihn und seine Parteigenossen während der Diktatur verfolgt und ins Exil getrieben hatte, war insofern nur eine bestürzende Überraschung über die Normalität von heute.

Ex-Diktator und Ex-Guerillero vereint

Diese Tendenzen wurden auch im zurückliegenden Wahlkampf deutlich. Die Debatten um KandidatInnen, Programme und mögliche Allianzen waren trotz aller pathetisch vorgetragener Kontroversen einer extremen Vereinheitlichung der Themen und Positionen unterworfen. So war es für für das regierende Bündnis der “Patriotischen Übereinkunft” überhaupt kein Problem mit dem Ex-Diktator Banzer und dem knorrigen Ex-Guerillero Oscar Zamora von der Linken Revolutionären Front zusammen als Präsdentschafts- und Vizepräsidentschaftskandidaten aufzutreten. Neben Banzer als Garant des herrschenden ökonomischen Modells trat Oscar Zamora als das personifizierte soziale Gewissen auf, galt der ehemalige Arbeitsminister in der Regierung seines Neffen Paz Zamora doch als “sensibler Vermittler” der mit Massenentlassungen verbundenen Privatisierungspolitik.
Ein ähnlich ungewöhnlich scheinendes Gespann schickte die MNR in den Wahlkampf, die 1952 noch die Revolution angeführt hatte, heute aber schon lange zur rechtsnationalistischen Partei mutiert ist, in den Wahlkampf. Überraschend nominierte er Víctor Hugo Cárdenas zum Vizepräsidenten, einen Intellektuellen indianischer Herkunft und Führer der einer wichtigen Bauernbewegung. Auch diese seltsame Symbiose zwischen Minenbesitzer und Bauernführer ist aus der Notwendigkeit der neoliberal orientierten Parteien zu erklären, sich ein menschlicheres Gesicht zu verpassen und zu versuchen, auch bei der marginalisierten ländlichen und städtischen Bevölkerung eifrig Stimmen zu sammeln.
Die gleiche instrumentelle Beliebigkeit drückt sich auch in den Programmen der größeren Parteien aus. Beide, Goni und Banzer, gaben sich besorgt um den “sozialen Frieden” im Lande und ergingen sich in rosaroter Zahlenmalerei bezüglich der Wachstumsprognosen der nächsten vier Jahre. Während Goni von völlig aus der Luft gegriffenen 8 Prozent Wachstum jährlich, von 287.000 neuen Arbeitsplätzen, 1,4 Milliarden Dollar für das Bildungssystem und 3,077 Milliarden für Investitionen im ländlichen Sektor faselte, sprach Banzer eben von 7 Prozent Wachstum und 356.000 Arbeitsplätzen. Beide unterscheiden sich nur in der Frage, wie das postulierte bolivianische Wunder finanziert werden soll. Während Banzer weiterhin die Privatisierung vorantreiben will und auf Privatinvestitionen in gigantischen Höhen hofft, möchte Goni die Staatsbetriebe mit einer Kapitalsumme der Privatwirtschaft ausstatten lassen, die den Wert der Betriebe um das Dreifache übersteigt, sie aber letzlich unter staatlicher Kontrolle lassen.
All diese völlig überzogenen Verlautbarungen sind nach der Wahl nicht mehr sein, als sie es auch vorher waren: in Luft aufgelöste Sprechblasen und bedrucktes Papier.

Mögliche Koalitionen

Obwohl alle Parteien um ein unabhängiges Image vor der Wahl bemüht waren, saßen alle schon in den Startlöchern, um nach der Stimmabgabe ihre Seele dem Teufel zu verkaufen, Allianzen zu schmieden mit wem auch immer, wenn sie nur das Ziel allen Strebens erbringen: die politische Macht. Die Wahl ist vorbei und der nächste Präsident steht fest. Jetzt wird das große Gemauschel um Interessen, Kalküle, Angebote und Ablehnung ausbrechen, das eine längerfristig stabile Koalition hervorbringen soll. Es gibt zwei möglich Szenarien. Entweder die MNR schließt mit der sich anbiedernden CONDEPA und der pragmatischen Linkspartei MBL ein vergleichsweise heterogenes Bündnis, das die UnternehmerInnen, die internationalen GeldgeberInnen wie auch die BäuerInnen und städtischen Unterschichten gleichermaßen als Klientel abdeckt.
Oder es geschieht das, was auch schon den Kommentatoren des Wahlkampfs ins Auge sprang. Die programmatische Nähe, der vorherrschende Pragmatismus und die relative Sanftheit, mit der sich die politischen Häuptlinge Banzer und Goni behandeln, legen eine Erweiterung der “patriotischen Übereinkunft” nahe, diesmal mit der MNR und Goni an der Spitze. Mit einer Koalition von Banzer und Goni wäre auf jeden Fall das vorrangige Ziel des die nationale Politik nach wie vor dominierenden Blocks der weißen Oberschicht abgesichert: die alternativlose Fortführung der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Dabei wird es wohl bleiben. Ein zunehmender Verschleiß und die fortgesetzte Erosion des politischen Systems wird die Folge sein. Das die soziale Grenze der Leidensfähigkeit des bolivianischen Volkes nicht unendlich ist, wird die verantwortlichen Politiker auch in Zukunft nur am Rande interessieren. Bis zur nächsten Wahl.

Neuer Präsident aus den Reihen der alten Stroessner-Partei

Stroessner ging – der Beginn eines steinigen Wegs zur Demokratie

Die Zerstrittenheit der Opposition hat den “Colorados” bei den Präsidentschaftswahlen den Sieg beschert und somit zunächst die Perspektive auf eine demokratische Öffnung Paraguays blockiert. Juan Carlos Wasmosy reichte eine relative Mehrheit von 40 Prozent, um den Einfluß der Partei des Ex-Diktators Alfredo Stroessner auch für die kommenden fünf Jahre zu sichern. Nach fast 35 Jahren Militärdiktatur wurde Stroessner im Februar 1989 in einem blutigen Militärputsch gestürzt. Der Führer des Staatsstreiches, General Andres Rodríguez, kündigte noch in derselben Nacht die Demokratisierung Paraguays an. Dieses Versprechen machte ein Mann, der in der Militärhierarchie unmittelbar hinter Stroessner stand und der seinen gewaltigen Reichtum während der Diktatur zusammengerafft hatte. So groß die Hoffnungen nach der Vertreibung Stroessners ins brasilianische Exil waren, so gering erschienen die Chancen auf Veränderung. Rodríguez nutzte die Gunst der Stunde und wurde kurz nach dem Putsch im Mai 1989 als Kandidat der offiziellen “Colorado”-Partei, die auch schon Stroessner als politische Basis gedient hatte, mit offiziell über 70 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt.
Die nach dem Abgang Stroessners immer stärker werdende Opposition zwang Rodríguez und die “Colorado”-Partei zu schrittweisen Zugeständnissen. Dabei nutzten die GegnerInnen Rodríguez’ die Freiräume aus den nach dem Putsch wiedereingeführten Grundrechten der Presse- und Versammlungsfreiheit. Höhepunkt dieser Entwicklung waren die Kommunalwahlen von 1991. Der Bürgermeisterposten in Asunción, eines der wichtigsten Ämter in Paraguay, ging an den unabhängigen und als links geltenden Kandidaten Carlos Filizzola der Bewegung “Asunción für alle”. Doch der über 35 Jahre gut funktionierende Apparat der “Colorados”, offiziell auch unter dem Namen “Nationale Republikanische Vereinigung” (ANR) agierend, hatte nur wenig von seiner Wirksamkeit eingebüßt. Trotz der Fraktionierung der Partei nach dem Sturz Stroessners wahrte sie in entscheidenden Momenten nach außen stets eine gewisse Einheit. Die kommunalen Parteisektionen sind nach wie vor relativ leicht zu mobilisieren. Dies zeigte sich Ende 1991 anläßlich der Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung. Die “Colorados” erzielten wie zu Zeiten der Diktatur eine absolute Mehrheit. Die 1992 von diesem Gremium verabschiedete Verfassung wurde als die Grundlage des neuen demokratischen Paraguays dargestellt. Obwohl die “Colorados” über die absolute Mehrheit verfügten, entsprach die Verfassung in vielen Punkten den Forderungen der Opposition. Abgeordnete aus den eigenen Reihen stimmten oft aus machtpolitischem Kalkül gegen die offizielle Linie der Partei. In einem Punkt waren sich die “Colorados” jedoch einig: Wahlen werden bereits im ersten Wahlgang mit relativer Stimmenmehrheit entschieden. Das Kalkül, mit dieser Wahlrechtsreform die in sich gespaltene Opposition zu überflügeln, ging schließlich auf.

Kandidatenkür als Farce: Pressemanipulationen und interner Wahlbetrug

Der Wahlkampf um das Präsidentenamt begann schon sehr zeitig. Bereits unmittelbar nach dem unerwarteten Sieg des unabhängigen Kandidaten Filizzola bei den Kommunalwahlen erklärte der reiche Unternehmer Guillermo Caballero Vargas seine Kandidatur. Anfangs war er um ein ausgesprochen sozialdemokratisches Image bemüht. Da die Sozialdemokratie in Paraguay aber kaum eine Basis hat – nur die eher unbedeutende “Febrerista”-Partei baut auf sozialdemokratischen Grundsätzen auf – wurde mehr auf den Aspekt des Neuen, Unverbrauchten und Erfolgreichen gesetzt. Caballero Vargas stützte sich auf das Bündnis “Nationales Zusammentreffen” (“Encuentro Nacional”), einen Zusammenschluß verschiedener kleiner Organisationen, Parteien und Parteiflügel. Vargas investierte Millionen in den Wahlkampf. Vor allem Presse und Rundfunk wurden von ihm beherrscht, ausgesprochen tendenziöse und wahrscheinlich gekaufte Artikel und Wahlprognosen unterstützten seine Kandidatur.
Der zweite Oppositionskandidat, Domingo Laino, wurde von der “Authentisch Liberal Radikalen Partei” (PLRA) nominiert. Er zehrte vor allem von seinem Ruf als unerschrockener Kämpfer gegen die Stroessner-Diktatur. Allein 1988 wurde er zehnmal verhaftet. Die PLRA besteht bereits seit über einhundert Jahren und verfügt vor allem in den ländlichen Gegenden traditionell über eine große AnhängerInnenschaft, die sie auch in den Jahren der Diktatur bewahrte.
Der dritte aussichtsreiche und letztlich siegreiche Kandidat war Juan Carlos Wasmosy, nominiert von der herrschenden “Colorado”-Partei. Er ist ebenfalls reicher Unternehmer und vorrangig in der Baubranche tätig, die seit dem Bau des Itaipú-Staudamms an der Grenze zu Brasilien ständig wächst.
Bereits seiner Nominierung als Präsidentschaftskandidat hing der Ruch von Betrug und Manipulation an. Wasmosy, erklärter Favorit des derzeitigen Präsidenten Rodríguez sowie der nach wie vor sehr mächtigen Militärs, hatte die parteiinternen Wahlen gegen den erzkonservativen und stroessnerfreundlichen Luis María Argana verloren. Eine von der Parteiführung eingesetzte Untersuchungskommission erklärte diese interne Wahl mit dem zweifelsohne berechtigten Hinweis auf Manipulationen für ungültig und ernannte prompt den als gemäßigt geltenden Wasmosy zum Sieger. Argana rief daraufhin offen dazu auf, nicht für Wasmosy zu stimmen. Seine zahlreiche AnhängerInnenschaft stand daher vor dem offensichtlichen Dilemma, mit der Erststimme (Präsidentenstimme) entweder einen Oppositionskandidaten zu wählen oder einen ungültigen Wahlschein abzugeben. Die meisten AnhängerInnen Arganas stimmten für Caballero Vargas, denn die Stimme dem liberalen Erzfeind Domingo Laino zu geben, kam für diesen konservativsten Teil der “Colorados” nicht in Frage.

Wahlkampf mit Mauscheleien

Caballero Vargas hatte zwar Presseberichten zufolge leichte Vorteile in Asunción, verfügte aber in den ländlichen Regionen über keine nennenswerte politische Basis. Die “Colorado”-Partei mobilisierte ihre AnhängerInnen mit populistischen Losungen und vor allem mit dem Schüren von Angstpsychosen: Falls die Opposition siegen würde, bekämen alle “Colorados” die Rache für die langjährige Unterdrückung während der Diktatur zu spüren, zum Beispiel durch den Verlust des Arbeitsplatzes in Staatsunternehmen oder im öffentlichen Dienst.
Am 9. Mai, dem Wahlsonntag, standen nicht nur das Präsidenten- und das neu geschaffene Vizepräsidentenamt, sondern auch 45 Senatoren- und 80 Deputiertensitze sowie 17 Gouverneursposten und 167 Gouverneursräte zur Abstimmung. Das Wahlverfahren selbst war ausgesprochen umständlich. In Asunción galt es drei, im übrigen Land fünf Stimmzettel auszufüllen. Um unmittelbarem Wahlbetrug vorzubeugen, waren zahlreiche Kontrollmechanismen eingeführt worden. Die Stimmabgabe selbst verlief recht ruhig, die Beteiligung war mit über 70 Prozent ausgesprochen hoch. In der Provinz Alto Paraguay kam es zu Übergriffen und Manipulationsversuchen durch “Colorados”, die vor allem der Einschüchterung der Opposition und der indigenen Bevölkerung dienen sollten. Gerüchte, daß Personalausweise, die zur Identifizierung als Wahlberechtigte notwendig sind, aufgekauft wurden, konnten allerdings nicht bewiesen werden.
Der eigentliche Eklat begann mit Schließung der Wahllokale um 17 Uhr. Bereits Minuten später gab Humberto Rubin vom bekannten Radiosender Nanduti Hochrechnungen bekannt, die die “Colorado”-Partei zur Siegerin erklärten. Diese Prognose beruhte auf willkürlichen Befragungen von WählerInnen beim Verlassen der Wahllokale. Offensichtlich wurden diese Aussagen gekauft. Pikanterweise unterlag gerade Radio Nanduti während der Stroessner-Diktatur harten Verfolgungen und direkten Repressalien durch die “Colorados”. Mit Bekanntgabe dieses “Ergebnisses” begannen sofort im ganzen Lande Siegesfeiern der AnhängerInnen der “Colorados”, deren Schar erstaunlich schnell um zahlreiche “ÜberläuferInnen” anwuchs.
Offensichtlich sollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen geschaffen werden. Offizielle Angaben zu einem Teil der Wahlbezirke lagen dagegen erst 24 Stunden nach der Wahl vor. Gleichzeitig wurde die Auswertung der unabhängigen Initiative SAKA (Guaraní-Wort für Transparenz) von offizieller Seite lahmgelegt. Die staatliche Telefongesellschaft ANTELCO unterbrach unter dem Vorwand technischer Probleme, die eigenartigerweise nur bei SAKA auftraten, alle entscheidenden Telefonleitungen. Erst durch massive Einflußnahme des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter, der eine BeobachterInnengruppe leitete, intervenierte Präsident Rodríguez bei der Telefongesellschaft. Schließlich konnten die MitarbeiterInnen von SAKA doch noch ihre Ergebnisse zur Auswertung nach Asunción weiterleiten.
Die Parallelauswertung dieser Initiative bestätigte am Ende allerdings bis auf geringe Differenzen die offiziellen Wahlergebnisse. Die befürchtete Manipulation der Wahlergebnisse blieb anscheinend aus. Alles spricht indessen dafür, daß die “Colorado”-Partei darauf vorbereitet war, Wahlfälschungen vorzunehmen. Eine “interne” Stimmenauszählung, die den Sieg Wasmosys ergab, machte Manipulationen jedoch überflüssig.
Zweifel an der Sauberkeit der Wahlen wurden auch durch die Tatsache genährt, daß am Wahltag völlig überraschend die Landesgrenzen geschlossen wurden. Eine Million ParaguayerInnen, die beispielsweise in Argentinien wohnen, wurden daran gehindert, ihre Stimme abzugeben. Die im Ausland lebenden ParaguayerInnen gelten fast ausschließlich als AnhängerInnen der Opposition.

Favorit der Militärs neuer Präsident

Eine Woche nach der Wahl lagen noch immer keine offiziell bestätigten Wahlergebnisse vor. Den bisher veröffentlichten Angaben zufolge, die aber kaum noch größeren Veränderungen unterliegen werden, wird Juan Carlos Wasmosy von der “Colorado”-Partei der neue Präsident Paraguays und Angel Roberto Seifert neuer Vizepräsident. Wasmosy erhielt 40,3 Prozent der abgegebenen Stimmen, Laino 32 Prozent und Caballero Vargas 23,4 Prozent. Die “Colorados” verfügen über insgesamt 60 Senatoren und Deputierte, die Liberalen über 49 und die “Nationale Zusammenkunft” entsendet 16 Abgeordnete ins neue Parlament. Die “Colorado”-Partei wird zukünftig in 13 Provinzen und die Liberalen in vier Provinzen den Gouverneur stellen.
In Paraguay wird es von 1993 bis 1998 eine Regierung geben, die fast zwei Drittel der WählerInnen gegen sich hat. Die “Colorado”-Partei profitierte davon, daß zwei fast gleich starke Oppositionskandidaten gegeneinander antraten und sich die Stimmen streitig machten. Damit sind die Oppositionsführer mitverantwortlich für den Erfolg der “Colorado”-Partei, denn ein gemeinsamer Kandidat hätte gewiß die Mehrheit der WählerInnen hinter sich gebracht.
Wie schon zu Zeiten der Stroessner-Diktatur macht sich der Mangel an politischer Zusammenarbeit zwischen den Oppositionskräften schmerzhaft bemerkbar. Die Chance für einen politischen Wechsel und die Fortführung der Demokratisierung wurde für weitere fünf Jahre vertan. Allerdings ist die Opposition mit einer Mehrheit im Parlament jetzt seit Jahrzehnten erstmals in der Lage, in Paraguay Politik und gesellschaftliche Veränderung mitzubestimmen oder gar zu erzwingen, denn mit der neuen Verfassung sind auch die Rechte des Parlaments gewachsen. Es bleibt zu hoffen, daß sowohl die “Authentisch Liberal Radikale Partei” als auch die “Nationale Zusammenkunft” aus den Wahlen entsprechende Lehren gezogen haben und eine gemeinsame parlamentarische Arbeit anstreben. Die parlamentarische Zusammenarbeit könnte für die Wahlen von 1998 zu einer Listenverbindung der Oppositionsparteien führen, deren Erfolg dann den endgültigen Schlußstrich unter die Stroessner-Diktatur bedeuten könnte.

Versteckte Erfolge gescheiterter Wirtschaftspolitik

Lateinamerika ist der Schauplatz gescheiterter Wirtschaftspolitiken – so scheint es zumindest. Von staatlich kontrollierten Entwicklungsprogrammen über autoritäre Marktstrategien bis hin zu heterodoxen Ansätzen zur Bekämpfung von Hyperinflation bei gleichzeitigem Verzicht auf neoliberale Privatisierungsprogramme ist jede Form der Wirtschaftspolitik innerhalb der letzten zwanzig Jahre einmal ausprobiert und für gescheitert erklärt worden.
Alle Mißerfolge haben bisher nicht dazu geführt, die gängigen Wirtschaftspolitiken oder die ihnen zugrunde liegenden Theorien zu verwerfen. Stattdessen bewegt sich die aktuelle Debatte um Stabilisierung und Anpassung noch immer im engen Rahmen traditioneller, neoliberaler und strukturalistischer Ansätze. Dabei leiden die lateinamerikanischen Volkswirtschaften unvermindert an Massenarbeitslosigkeit, Inflation und Zahlungsbilanzschwierigkeiten.
Woher kommt dieses ungebrochene Vertrauen zu gescheiterten Theorien und Strategien in Lateinamerika? Für gewöhnlich wird das mit dem Hinweis erklärt, diese Theorien und Strategien seien andernorts erfolgreich gewesen, und in Lateinamerika sei nur die richtige Umsetzung versäumt worden. Eine andere mögliche Erklärung besteht darin, daß ein nach Kriterien wie Arbeitslosigkeit, Inflation und Zahlungsbilanzungleichgewichten gemessener Mißerfolg gleichwohl als Erfolg gewertet werden kann, sofern einmal aus einer anderen Perspektiven geschaut wird. Obwohl neoklassische und strukturalistische Ansätze nicht zu makroökonomischen Gleichgewichten führten, haben sie doch auf ihre Art gesteigerte Ausbeutung sowie die Stärkung der dafür notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen mit sich gebracht. Die klassischen Ansätze waren also genau in jener Dimension erfolgreich, die bislang keine Beachtung in der Standard-Debatte fand: dem Verhältnis der Klassen.

Die Herausforderung für die Linke

Die von der augenblicklichen theoretischen und politischen Debatte vorgegebenen Maßstäbe zu akzeptieren, wäre gleichbedeutend damit, die Kriterien von Erfolg und Scheitern gleich mit zu übernehmen. Die Herausforderung, der sich die Linke gegenübersieht, besteht darin, über die traditionelle Kritik an marktfixierter neoliberaler Politik hinauszugehen, sich deutlich vom strukturalistischen Pol der Debatte abzusetzen, um die Beschränkungen beider Seiten zu offenbaren. Den Gesichtspunkt der Auseinandersetzung zwischen Klassen in den Vordergrund zu rücken, stellt eine Möglichkeit dar, die Begrenztheit der augenblicklich stattfindenden Diskussion zu überwinden.
Die Mehrheit der mainstream-ÖkonomInnen denkt, makroökonomische Stabilisierungs- und Anpassungspolitik habe nichts mit der Klassenfrage zu tun. Sie übersehen dabei die Wechselwirkung zwischen Formen kapitalistischer (und anderer) Ausbeutung auf der einen Seite sowie Stabilisierung und Anpassung auf der anderen Seite. Stattdessen gehen sie davon aus, daß die Probleme von Stabilisierungs- und Anpassungspolitiken “naturgegeben” seien, weil es innerhalb der Wirtschaft einen steuernden Mechanismus gebe, der nicht mit der Auseinandersetzung zwischen Klassen in Verbindung gebracht werden könne. Auch über die Maßstäbe für erfolgreiche Wirtschaftspolitik besteht Einigkeit: Vollbeschäftigung, Preisstabilität und eine ausgeglichene Zahlungsbilanz.
Worin sich neoklassische und strukturalistische ÖkonomInnen unterscheiden – und was die größte öffentliche Aufmerksamkeit erfährt -, sind die angebotenen Rezepte für wirtschaftlichen Erfolg und selbstverständlich die Begründungen für fehlgeschlagene Strategien. Die Neoklassik wird meist mit den Vorstellungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und anderen kreditgebenden Institutionen in Verbindung gebracht: strikte Geldpolitik, Abbau staatlicher Defizite, Liberalisierung des Binnen- und Außenhandels sowie des Kapitalmarkts. Der Strukturalismus kritisiert diese orthodoxen Politikempfehlungen und setzt sich im Gegenzug für eine heterodoxe Politik ein, die Lohn- und Preiskontrollen ebenso einschließt wie andere Interventionen des Staates in das Marktgeschehen.
Dieser Gegensatz läßt sich größtenteils aus den unterschiedlichen theoretischen Ansätzen herleiten. In der neoklassischen Theorie ist es das menschliche Individuum, das in letzter Konsequenz wirtschaftliche Prozesse steuert. Stabilisierung und Anpassung werden als die natürliche Folge einer Politik angesehen, die es den Individuen gestattet, rationale Entscheidungen auf freien Märkten durchzusetzen. Der Staat braucht nur einzugreifen, um Marktverzerrungen zu beseitigen, die die Wahlfreiheit der MarktteilnehmerInnen einschränken.

Heilt der Markt sich selbst?

Nach neoklassischen Vorstellungen kann es zu zeitweisen Ungleichgewichten kommen, wenn ein unerwartetes Ereignis wie das plötzliche Steigen der Ölpreise eintritt, ohne daß die Individuen genug Zeit hatten, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Das Ungleichgewicht kann fortbestehen, wenn Marktverzerrungen wie starre Löhne oder staatliche Kontrollen der Devisenmärkte die MarktteilnehmerInnen davon abhalten, die notwendigen Anpassungsmaßnahmen zu ergreifen. Sobald diese Hindernisse jedoch überwunden und den Individuen gestattet wird, ungehindert ihre Entscheidungen auf freien Märkten zu treffen, wird die Wirtschaft wieder einen Gleichgewichtszustand erreichen. Nach der neoklassischen Lehre stehen PolitikerInnen vor der Alternative, entweder nichts zu tun und auf die individuelle Entscheidungskompetenz der MarktteilnehmerInnen zu vertrauen, oder aber im Falle von Marktverzerrungen beziehungsweise staatlichem Mißmanagement Marktbeschränkungen aufzuheben und den Staat auf seine eigentliche Funktion zu verweisen: die Sicherung freier Märkte und privaten Eigentums.
StrukturalistInnen haben immer wieder die neoklassische Sichtweise eines möglichst passiven Staates kritisiert. Sie argumentieren, daß Märkte nicht aus eigener Kraft zu Gleichgewichtszuständen zurückfinden, sondern staatlicher Leitung bedürfen. Auch die Annahme, Makroökonomie ließe sich durch individuelles Verhalten erklären, wird zurückgewiesen. Die Probleme um Stabilisierung und Anpassung ergeben sich vielmehr aus Machtbeziehungen und anderen wirtschaftlich-sozialen Verhältnissen. Preise etwa seien nicht durch das freie Wechselspiel von Angebot und Nachfrage bestimmt, sondern würden in gewissen Grenzen von mächtigen Großunternehmen vorgegeben. Der Strukturalismus geht weiterhin von Voraussetzungen aus, die von der Neoklassik geleugnet werden: begrenzte Kapitalmärkte, Unsicherheit wichtiger MarktteilnehmerInnen, geringe Risikoinvestitionen, Engpässe bei der Produktion von Nahrungsmitteln. Nicht Einzelentscheidungen spielen die zentrale Rolle; es sind eben diese unausweichlichen Defizite von Märkten, die die wirtschaftliche Entwicklung bestimmen. Darum sprechen sich StrukturalistInnen auch im Gegensatz zu NeoklassikerInnen für gesteigerte Marktkontrollen aus. Die Regulierung von Löhnen und Preisen, Industriepolitik, staatlich kontrollierter Devisenhandel und eine aktive Ausgabenpolitik des Staates bilden die Bestandteile strukturalistischer heterodoxer Politik.

Existenz von Klassen und Ausbeutungsverhältnissen

Das grundlegende Problem innerhalb dieser Debatte besteht darin, daß das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Klassen einer Gesellschaft ausgeblendet wird. Sowohl die Neoklassik als auch der Strukturalismus richten ihre Aufmerksamkeit auf nahezu “naturgegebene” Gesetzmäßigkeiten des Marktgeschehens, die weder etwas mit der Existenz von Klassen noch mit Ausbeutungsverhältnissen zu tun haben. Es ist die Aufgabe von MarxistInnen und anderen Linken, den Zusammenhang zwischen Anpassungspolitik und Klassenauseinandersetzung aufzuzeigen. In der marxistischen Theorie wird davon ausgegangen, daß die Aneignung der Mehrarbeit der direkten ProduzentInnen, also der ArbeiterInnen, in der kapitalistischen Form des Mehrwerts oder in anderen nichtkapitalistischen Formen erfolgt. Erst einmal angeeignet, wird die Mehrarbeit an Handelshäuser, Banken oder den Staat verteilt – in und außerhalb Lateinamerikas.
Sollte “Klasse” als Begriff in der herkömmlichen Betrachtungsweise – etwa im Strukturalismus – doch einmal eine Rolle spielen, werden darunter dann nur Gruppen von MarktteilnehmerInnen verstanden, die Einkommensströme für sich in Anspruch nehmen und unterschiedliche Konsum-, Spar- und Investitionsneigungen haben. In diesem Sinn beziehen sich StrukturalistInnen anders als ihre neoklassischen KontrahentInnen häufig auf Machtverhältnisse und Gesellschaftsstrukturen, übersehen aber dennoch die Existenz von Ausbeutungsverhältnissen samt ihrer wichtigen sozialen Effekte.

Argentinien, Brasilien, Peru: Versuchsfelder für mainstream-ÖkonomInnen

Die Auswirkungen der neoklassisch-strukturalistischen Debatte lassen sich anhand der jüngsten Entwicklungen in Argentinien, Brasilien und Peru aufzeigen. Diese Länder haben in den vergangenen 20 Jahren als eine Art Versuchsfelder für WissenschaftlerInnen beider Richtungen gedient. Orthodoxe und heterodoxe ebenso wie kombinierte Politiken sind angewendet worden, um gesamtwirtschaftliche Ungleichgewichte zu korrigieren, die auf hausgemachte Fehler und weltwirtschaftliche Turbulenzen zurückgeführt wurden. In allen drei Beispielen wurden die Strategien von NeoklassikerInnen und StrukturalistInnen in die Tat umgesetzt und letztendlich als gescheitert erklärt. Die Reihenfolge der angewandten Strategien variierte von Land zu Land. Argentinien startete Mitte der siebziger Jahre mit einem überaus orthodoxen Programm. Unter der Herrschaft der diversen Militärregierungen schloß es sich dem Trend in Chile und Uruguay an und galt als eines der Beispiele für die Auswirkungen neokonservativer Wirtschaftspolitik in Lateinamerika. Unter der zivilen Regierung Alfonsín wurde in Argentinien anschließend eine Mischform praktiziert, ehe mit dem heterodoxen plan austral eine Strategie gewählt wurde, die eindeutig der strukturalistischen Position zuzuordnen war. Auf der anderen Seite wurde in Brasilien mit einem Mittelweg begonnen, der erst später in ein orthodoxes Programm mündete. Nachdem das Scheitern beider Wege offenbar geworden war, experimentierte die brasilianische Regierung unter Sarney zwischen den Jahren 1986 und 1987 mit dem heterodoxen Cruzado-Plan. Die folgenden Wahlen brachten die “modernistische” Collor-Regierung an die Macht, die jene orthodoxe Wirtschaftspolitik verfolgte, für die sich die Neoklassik einsetzt. Ebenso wie Argentinien begann Peru Mitte der siebziger Jahre mit orthodoxer Wirtschaftspolitik unter der Kontrolle des Militärs. Der Übergang zu einer zivilen Regierungsform fand hingegen unter Beibehaltung neoklassisch inspirierter Wirtschaftspolitik statt. Erst als der Populist Alan García 1985 gewählt wurde, war mit dem heterodoxen Inti-Plan ein Wandel zu beobachten. Auch dieses Programm versagte jedoch, so daß sich seit 1990 wieder marktorthodoxe Rezepte durchgesetzt haben.

Erfolge der StrukturalistInnen nur von kurzer Dauer

Der Ausgangspunkt aller drei heterodoxen Strategien – Austral, Cruzado und Inti – bestand in der Auffassung, daß die früheren Stabilisierungs- und Anpassungsprogramme an den strukturellen Problemen lateinamerikanischer Volkswirtschaften vorbeigegangen seien. Staatliche Kontrollen wurden als notwendig angesehen, um zur Wiederherstellung eines gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu gelangen. Diese strukturalistischen Strategien, die nach den neueingeführten Währungen in den jeweiligen Staaten benannt wurden, wiesen verschiedene Gemeinsamkeiten auf, die einer neoklassischen Liberalisierungspolitik von Grund auf widersprachen: Renten und Spareinlagen wurden nicht länger an die Inflation angepaßt, Löhne und Preise staatlicher Kontrolle unterworfen und gezielt Subventionen und Kredite vergeben. In allen drei Fällen traten sehr schnell dramatische Veränderungen ein: Produktion und Beschäftigung stiegen, die Inflation wurde eingedämmt, und die externe Zahlungssituation verbesserte sich. Diese Erfolge heterodoxer Politik waren jedoch nicht mehr als ein Strohfeuer. Obwohl in allen drei Staaten immer neue Pläne und Programme aufgelegt wurden, kehrten Rezession und Hyperinflation zurück, mußten Schuldenzahlungen an ausländische GläubigerInnen eingestellt werden. Die heterodoxe Wirtschaftspolitik wurde überall als die Ursache für die Krise angesehen. Mit der Wahl neuer Regierungen – Menem in Argentinien, Collor in Brasilien und Fujimori in Peru – schlug das Pendel nun wieder zugunsten orthodoxer neoliberaler Politik aus.

Kritik nach der neoliberalen Wende

Heute sieht sich die Freihandelspolitik wieder wachsender Kritik gegenüber. Selbst in Argentinien, das von NeoklassikerInnen so hoch gelobt wird, kann über das Versagen des Austeritätsprogramms unter Wirtschaftsminister Domingo Cavallo nicht hinweggesehen werden: Das Außenhandelsdefizit wächst, und als Konsequenz aus den Massenentlassungen von Staatsbediensteten und steigender Erwerbslosigkeit sinken die Reallöhne. Um das Haushaltsdefizit des Staates unter Kontrolle zu bekommen, sind auch die Altersrenten dramatisch gesunken. Früher oder später wird in Argentinien, Brasilien, Peru und in ganz Lateinamerika die neoklassische Orthodoxie wieder an Boden verlieren.
Selbstverständlich unterscheiden sich Neoklassik und Strukturalismus in der Bewertung der Ursachen für diese Fehlentwicklungen. NeoklassikerInnen machen vor allem fortgesetzte staatliche Interventionen für das Scheitern ihrer Strategie verantwortlich – noch immer wird den Regierungen vorgeworfen, sie würden protektionistische Maßnahmen und andere irrationale Marktkontrollen aufrechterhalten. StrukturalistInnen verteidigen sich mit dem Hinweis, ihre Programme seien mit orthodoxen Maßnahmen gekoppelt worden, so daß sich die Turbulenzen übertrieben freier Märkte ausgewirkt hätten.
Wenn wir jedoch die Klassenfrage in die Diskussion um Stabilisierung und Anpassung integrieren, wird deutlich, wie irreführend die Erklärungsansätze beider Richtungen sind. Ein Anstieg der Erwerbslosigkeit wird für gewöhnlich als Versagen orthodoxer Stabilisierungs- und Anpassungspolitik angesehen. Versuche, den Kräften des “freien” Marktes zum Durchbruch zu verhelfen, indem die Staatsausgaben eingedämmt, Realzinsen zur Anregung der Spartätigkeit erhöht sowie Außenhandelszölle gesenkt werden, führen häufig zu Erwerbslosigkeit und unterbeschäftigten LohnempfängerInnen. Steigende Erwerbslosigkeit ist im allgemeinen mit sinkenden Reallöhnen verbunden – eine Tendenz, die wiederum die Klassendimension von Kapitalismus deutlicher werden läßt. Zum einen sind die ArbeitgeberInnen nun in der Lage, Arbeitskräfte zu einem Lohn anzustellen, der unterhalb der durchschnittlichen Lebenshaltungskosten der ArbeiterInnen liegt. Mit den Worten marxistischer Wert-Theorie ausgedrückt, ist der Marktpreis für Arbeit unter ihren Wert gefallen. So erhalten die KapitalistInnen ein Einkommen, das über den der Arbeit entzogenen Mehrwert hinausgeht. Dieser Vorteil steigert die Profitrate des Kapitals – ein unmittelbarer Klassenerfolg als Konsequenz aus dem Sinken der Reallöhne.
Sollte diese Situation über einen gewissen Zeitraum Bestand haben, dann wird das durchschnittliche Lebensniveau der LohnempfängerInnen voraussichtlich sinken. Mit anderen Worten wird der Wert der Arbeitskraft auf ihren niedrigeren Marktpreis fallen. Die Summe des Mehrwerts innerhalb kapitalistisch wirtschaftender Unternehmen und damit der Grad an Ausbeutung werden steigen – beides ein Beleg für kapitalistischen Erfolg.

Staatsausgaben zum Vorteil des Kapitals

Ein zweiter grundlegender Mangel, der insbesondere heterodoxen Programmen vorgehalten wird, besteht in wachsenden Haushaltsdefiziten des Staates. Wiederum führt die Klassenanalyse staatlicher Defizite zu ganz anderen Erkenntnissen. Es ist sehr hilfreich, die beiden unterschiedlichen Dimensionen typischer Staatsaktivitäten zu unterscheiden, die für gewöhnlich mit Haushaltsdefiziten in Verbindung gebracht werden: staatseigene Betriebe und laufende Staatsausgaben. Aus der Perspektive von Klassengegensätzen heraus sind öffentliche Betriebe, die über Märkte gehandelte Waren in klassischen Unternehmer-Arbeiter-Beziehungen produzieren, kapitalistische Unternehmen. Die Einkünfte dieser Betriebe auf einem bestimmten Niveau zu halten oder aber auszudehnen, heißt nichts anderes, als immer größere Teile der Bevölkerung in kapitalistisch bestimmte soziale Verhältnisse zu drängen und den Mehrwert aus der Beschäftigung von StaatsarbeiterInnen zu erhöhen. Die kapitalistische Tendenz der Mehrwertaneignung findet demnach also auch innerhalb des Staates statt.
Staatsausgaben können zudem dazu beitragen, den Kapitalismus auch außerhalb des Staatsapparates zu stärken. Mit Hilfe steigender Ausgaben für Programme in verschiedenen Bereichen können viele der wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Voraussetzungen hergestellt werden, die es privaten KapitaleignerInnen ermöglichen, die Mehrwertaneignung fortzusetzen. Lateinamerikanische Staaten haben häufig direkt zugunsten kapitalistischer Interessen in- und außerhalb des Staatsapparates gehandelt. Die Klassenerfolge während der Nachkriegsperiode sind eine Erklärung dafür, warum die EntwicklungsökonomInnen und PolitikerInnen noch immer nicht die Begrenzungen der herrschenden Debatte überwunden haben. Indem der Aspekt der Klassenauseinandersetzung systematisch ausgeblendet wird, gelingt es sowohl NeoklassikerInnen als auch StrukturalistInnen, die klassenbezogenen Konsequenzen ihrer Politik zu verdrängen.

Die Zukunft des Sozialismus überdenken

Um es deutlich zu machen: Ich behaupte nicht, daß eine bestimmte Gruppe – etwa “die herrschende Klasse” – in ihrem Handeln von einem festen Klassenbegriff geleitet wird. Ebensowenig unterstelle ich die Existenz einer versteckten Logik, die zwangsläufig dazu führt, daß klassenunabhängige Politikfehler in Erfolge innerhalb der Klassenauseinandersetzung umgemünzt werden. Keine dieser beiden traditionellen Erklärungsversuche ist hilfreich, sondern irreführend und politisch schädlich. Der erste Erklärungsversuch würde eine Verschwörung unterstellen, der zweite stützt sich auf den Begriff eines geheimen telos oder eines inneren Gesetzes, das die Gesellschaft steuert. Vielmehr sind die kapitalistischen Erfolge in den Klassenauseinandersetzungen, die in Argentinien, Brasilien, Peru und überall in Lateinamerika zu beobachten waren, das Ergebnis einer sich ständig wandelnden Kombination von Umständen. Wirtschaftliche und politische Kämpfe schlagen sich genauso nieder wie staatliche Stabilisierungs- und Anpassungsstrategien.
Es ist vor allem die Klassenanalyse, die die widersprüchlichen Folgen der Stabilisierungs- und Anpassungsprogramme deutlich macht. Diese Sichtweise eröffnet einen Ausweg aus dem Hin und Her zwischen bereits gescheiterten Strategien und leistet einen wichtigen Beitrag zur Neubestimmung von Entwicklungszielen und Wegen, diese umzusetzen. Außerdem ist es aus dieser Perspektive leichter, die Zukunft des Sozialismus zu überdenken. Sie ermöglicht es, sich die Abschaffung jedweder Form der Ausbeutung und somit den Übergang zu kollektiven Organisationsformen von Gesellschaft vorzustellen.

Plebiszit – Alles bleibt beim Alten

Debakel der ReformerInnen

Auf den ersten Blick kann die Entscheidung für das Präsidialsystem überraschen, und tatsächlich hatten die BefürworterInnen des Parlamentarismus noch Ende letzten Jahres fest mit einem Sieg gerechnet. Die Korruptionsaffäre um den damaligen Präsidenten Collor, die Schwierigkeiten einen einmal gewählten Präsidenten wieder abzusetzen, das extrem negative Image der letzten Präsidenten – all das schien ein günstiges Klima für den Parlamentarismus zu schaffen. Die wichtigsten VerfechterInnen formierten im “modernen” Flügel des bürgerlichen Lagers unter der intellektuellen Führerschaft der PSDB, die gerne eine brasilianischen Sozialdemokratie werden möchte. Die PSDB war die einzige größere Partei, die geschlossen für den Parlamentarismus eintrat. Für die VordenkerInnen der Partei sollte der Wechsel zum Parlamentarismus der große Schritt zur Modernisierung der brasilianischen Politik werden.
Das parlamentarische System sollte in den Konzeptionen seiner BefürworterInnen somit auch die Vorausetzungen für die Politisierung der brasilianischen Parteien schaffen. Diese müßten sich auf ein Regierungsprogramm einigen und könnten der von ihnen gewählten Regierung nicht nach Belieben das Vertrauen entziehen. Das jetztige System würde ein System der ad hoc Entscheidungen und des Kuhhandels begünstigen: Der vom Volk gewählte Präsident ist stark und schwach zugleich. Er ist durch die direkten Wahlen stark legitimiert, ist aber abhängig von einem Parlament, das völlig unabhängig von seinem Programm agiert. Dieses System hat dazu geführt, daß ein Großteil der Abgeordneten sich die Unterstützung für den Präsidenten “abkaufen” läßt, beispielsweise für Vergünstigungen, die der Heimatstadt des Abgeordneten zukommen. Abgeordnete stehen nicht primär für ein Programm einer Partei, sondern für ein Bündel partikularer Interessen, das sie vertreten. In Brasilien wird diese Politikform als “fisiologismo” bezeichnet. So richtig die Analyse der Fehler des derzeitigen politischen Systems sein mag, die BefürworterInnen des Parlamentarismus konnten damit kaum Anhängerschaft gewinnen. Zwar hat sich ein großer Teil des intellektuellen Brasiliens für den Parlamentarismus ausgesprochen, aber im Volk hat das nicht gegriffen. Warum ?

Parolen und Sandkastenspiele

Zunächst hatte das erfolgreiche Impeachment-Verfahren gegen Collor in gewisser Weise ein Hauptargument gegen das präsidiale System dementiert: daß ein einmal gewählter Präsident nicht mehr weg zu bekommen sei. Zum anderen ist es der Kampagne für das präsidiale System gelungen, mit einer groben Vereinfachung Punkte zu sammeln: “Sie wollen dir deine Stimme nehmen” und “Direktwahlen – immer”, das waren die Hauptparolen, unterlegt mit Bildern aus der Kampagne gegen die Militärdiktatur und für Direktwahlen. Demgegenüber verlor sich die Kampagne für den Parlamentarismus in komplizierten Begründungen, die niemand mehr verstand. Aber ein anderes Argument war wohl ausschlaggebend: der allgemein verbreitete Haß (Mißtrauen wäre zu schwach) gegenüber PolitikerInnen, schafft keinen Boden für ein System, das die Rolle der Abgeordneten stärken will. “Die einzige Konsequenz wird doch sein, daß der Preis für einen Abgeordneten steigen wird”, ist ein vielgehörtes Argument. Tatsächlich hatte die Argumentation für den Parlamentarismus viel von intellektueller Sandkastenspielerei, die sich eher aus europäischer Politikwissenschaft denn aus brasilianischer Realität speiste. Aber gerade die politische Realität Europas zeigt, daß Parlamentarismus völlig kompatibel ist mit übelsten Formen von Korruption und “fisiologismo”. Ein Detail macht die Niederlage der ParlamentaristInnen noch bitterer: wahrscheinlich hat die Mehrheit derjenigen, die für Parlamentarismus gestimmt hat, gleichzeitig auch für die Monarchie gestimmt: deren Vorschlag war eben Monarchie mit Parlamentarismus. Für den “modernen” Vorschlag Parlamentarismus mit Republik hat sich damit nur eine verschwindende Minderheit erwärmen lassen.
Die PT (Arbeiterpartei) hatte ihre liebe Mühe mit einer innerparteilichen Positionsfindung: Die Mehrheit der “VordenkerInnen” der Partei war für den Parlamentarismus, nach einigem Zögern auch der Parteivorsitzende Lula, ein Plebiszit in der Partei, das für die Positionsfindung angesetzt war, ergab aber einen überwältigenden Sieg für die Präsidialdemokratie. Viele sahen darin einen Opportunismus der Parteibasis, die auf einen Sieg Lulas bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr hofft. Dieses Argument hat zwar sicherlich eine Rolle gespielt, insgesamt wird sich die PT-Basis aber von denselben Überzeugungen hat leiten lassen wie die Mehrheit des Volkes.

Überdruß und Desinteresse

Wochenlang wurde vor dem Plebiszit das Fernsehvolk mit Propaganda zur besten Sendezeit (kostenlos eingeräumt) überschüttet. Der “Wahlkampf” reduzierte sich – abgesehen von einigen Diskussionsveranstaltungen – auf eine Fernsehschlacht auf niedrigstem Niveau. Nachdem die ParlamentaristInnen einsahen, daß ihre komplizierten Argumentationen niemand verstand, beantworteten sie die Kampagne der PräsidialbefürworterInnen auf gleicher Ebene: Sie zeigten Schockbilder vom heutigen Brasilien, Dürre im Nordosten, hungernde Kinder, Elend in den Städten etc. – unterlegt mit pathetischer Musik und einer donnernden Stimme: Elend und Hunger – das ist Präsidialsystem. Alles das half nur eine politische Debatte auf traurigstes Niveau einer Publicitykampagne herunterzuholen.
Die Mehrheit der Bevölkerung reagierte darauf mit Überdruß und konnte einfach nicht einsehen, warum sie den Hauptverantwortlichen nicht selbst wählen soll – auch wenn’s mit Collor beim letzten Mal einen kapitalen Fehlgriff gab. Bald zeigte sich auch ein allgemeines Desinteresse: angesichts von Wirtschaftskrise und einer Inflation von annähernd 30% im Monat sahen viele in dem ganzen Spektakel nur ein Ablenkungsmanöver der Herrschenden. Entsprechend hoch war der Anteil derjenigen, die nicht zu den Urnen gegangen sind.
Und die Konsequenz von all dem? Da die Meinungsverschiedenheiten quer durch fast alle Parteien gingen, kann kaum davon gesprochen werden, daß ein bestimmtes Lager gestärkt worden wäre. Lediglich das bürgerliche Reformlager ist um ein Kernstück seiner Änderungsvorschläge gebracht. Nur eins ist klar: jetzt wird der Vorwahlkampf für die Präsidentschaftswahlen 1994 noch intensiver geführt werden. Und in den ersten Meinungsumfragen führt Lula klar.

Ein roter Stern am Amazonas

Nach Gurupá

Gurupá liegt am Amazonas und damit an der Schiffsroute, die von Belém über Santarem nach Manaus führt. Eine Schiffsfahrt auf dem Amazonas, das ruft romantische Vorstellungen wach. Aber zunächst ist es eine Konfrontation mit den realen Problemen der Region. Neoliberal inspiriert strich der damalige Präsident Collor alle Subventionen für die staatliche Schiffahrtsgesellschaft am Amazonas, die darauf prompt fast den gesamten Linienverkehr einstellen mußte. Konsequenz: überfüllte Privatschiffe bei hohen Preisen. Im Februar 1993 kostet eine Fahrt nach Gurupá etwa 65 DM, ein Vermögen bei einem Mindestlohn von etwa 100 DM. Für diesen Preis darf man seine Hängematte auf einem stickigen und eng belegten Deckplatz befestigen. Dennoch sind die unvermeidlichen RucksacktouristInnen begeistert. Denn auf dem ersten Teil der Fahrt bewegt sich das Boot nahe am Ufer, es umfährt Marajó, die größte Flußinsel der Welt. Die grüne Uferkulisse bietet einen Einblick in die scheinbar noch intakte Regenwaldvegetation, deren beruhigende Monotonie immer wieder durch ans Ufer gebaute Holzhäuser von KleinbäuerInnen unterbrochen wird. “Ribeirinhos”, die Familien am Flußran,d sind die HauptbewohnerInnen der Region. Die Gegend ist extrem dünn besiedelt, nach dem einzigen Halt auf der Fahrt in Breves passiert das Schiff während der 12 Stunden bis Gurupá keine größere Siedlung mehr. Das war früher anders. Reisende aus dem 17.Jahrhundert berichteten, daß die Portugiesen bei ihrer Ankunft zwischen Belém und Gurupá hunderte von Dörfern vorfanden, einige von ihnen mit mehr als tausend EinwohnerInnen. Aber entlang dieses Teils des Amazonasflusses sind die indianischen UreinwohnerInnen versklavt und ausgerottet, ihre Kultur vernichtet worden. Die heute dort ansässigen ribeirinhos sind Nachfahren der Indios, die sich mit den neuen SiedlerInnen vermischt haben.
Ein Erwerbszweig der ribeirinhos fällt sofort ins Auge: vor vielen Häusern liegen Holzstämme zum Abflößen bereit. Und in Breves stehen am Ufer zahlreiche Sägewerke, etwa die Hälfte davon aber geschlossen und verfallen. Hier ist der Holzeinschlag offensichtlich schon in die Krise geraten. Auf dem Hintergrund der grünen Idylle sind die Konsequenzen menschlicher Geschichte sichtbar. Bei dem Halt in Breves wird das Boot von den Einbäumen der ribeirinhos umzingelt: Frauen und Kinder betteln um Lebensmittel und Geld.

Boom und Dekadenz

Gurupá ist ein kleines, verschlafenes Amazonasnest. Im Ort selbst wohnen 3.600 EinwohnerInnen, einfache Holzhäuser, zahlreiche Läden am Ortseingang, die alle dasselbe verkaufen, und die Fahrräder prägen das Bild der Stadt. Aber der prächtige Sitz der Gemeindeverwaltung und Überreste eines Forts weisen darauf hin, daß Gurupá schon eine bedeutendere Rolle in der Geschichte Amazoniens gespielt hat. Am Zugang zum Amazonas gelegen hatte es eine wichtige strategische Position bei der Eroberung Amazoniens inne. In der 2.Hälfte des 16.Jahrhunderts setzten sich die Holländer in Gurupá fest, und erst 1623 gelang den Portugiesen die endgültige Eroberung der Stadt. Die ökonomischen Interessen beider richteten sich auf die Ausbeutung der natürlichen Reichtümer Amazoniens, insbesondere Kakao, Zimt, Nelke, Vanille und ölhaltige Samen, den sogenannten “drogas do sertao”. Zu ihrer Gewinnung wurden die Indios versklavt und schwarze Sklaven aus Afrika eingeführt. Der große Boom Gurupás ist aber – wie vieler anderer Orte Amazoniens – mit dem Kautschuk verbunden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Kautschuk das wichtigste Wirtschaftsgut der Region, die zahlreiche EinwandererInnen aus dem Nordosten anlockte. Während diese als KautschukzapferInnen in unfreien Arbeitsverhältnissen ausgebeutet wurden, prosperierte das Handelskapital. In Gurupá erschienen zeitweise zwei Tageszeitungen, die Straßen wurden gepflastert und mit Gaslaternen versehen, der pompöse Sitz der Verwaltung gebaut. Anfang des 20.Jahrhunderts brach dies alles zusammen. 1876 hatte der Engländer Henry Wickman 70 000 Samen von Gummibäumen aus Brasilien herausgeschmuggelt und etwa dreißig Jahre später begannen in den asiatischen Kolonien die Plantagenproduktion des Kautschuks das brasilianische Gummi, das direkt aus dem Urwald gezapft wurde, zu verdrängen. Aus den KautschukzapfernInnen wurden “ribeirinhos”, KleinbäuerInnen, die im wesentlichen vom Fischfang und Subsistenzanbau überleben. “Dekadenz, Vernachlässigung und Isolierung”, so hat ein Wissenschaftler die Situation der Region in diesem Jahrhundert nach dem Kautschukboom gekennzeichnet.

Das grüne Gold

Ende der fünfziger Jahre begann ein neuer Zyklus die Wirtschaft der Region grundlegend umzugestalten. Holzfirmen kauften großflächig Land auf und begannen mit dem Holzeinschlag in der Region. In Portel und Melgaço (Nachbargemeinden von Gurupá) erwarb die von der US-amerikanischen Firma Georgia Pacific kontrollierte Amazônia Madeiras 400.000 ha, in Breves die von derselben Firma kontrollierte MEGESA 300.000 ha. In Gurupá war es eine holländische Firma, die in die Holzwirtschaft einstieg: Die Brumasa, kontrolliert von BRUYNZEEL NV, erwarb in den sechziger Jahren 95.708 ha und wurde so zum größten Landbesitzer in Gurupá. Das Vordringen der Holzfirmen wird durch staatliche Kredite und Steuererleichterungen begünstigt. Die Holzproduktion verdrängt die schon darniederliegende Kautschukwirtschaft , Holz wird zum wichtigsten Handelsprodukt der Region. 1970 produziert Gurupá 292.000 Kubikmeter Holz, 1984 sind es 665.300 Kubikmeter. Interessant ist aber nun die Entwicklung nach 1984. Offizielle Zahlen liegen nicht mehr vor, aber eine Feldstudie zeigt einen deutlichen Rückgang der Produktion: 1988/89 sollen danach nur noch 452.440 Kubikmeter produziert worden sein. Für die ribeirinhos ist jedenfalls der Niedergang der Holzproduktion evident: “Heute ist es sehr schwierig vom Holz zu leben. Gutes Holz gibt es nur noch ganz drinnen, und der Preis der Aufkäufer deckt nicht die Kosten. Aber es gibt Leute, die schlagen jede Rute, um zu überleben.”
Die holländische Holding hat inzwischen ihre Anteile an der BRUMASA an eine brasilianische Firma verkauft. Die dicksten Gewinne sind abgesahnt, zurück bleibt eine weiter verarmte Bevölkerung und ein degenerierter Wald. Seit der Eroberung durch die EuropäerInnen ist die Region durch die extraktive Bewirtschaftung geprägt, die nicht auf dem Anbau beruht, sondern die natürlichen Ressourcen nach Art einer Mine behandelt, aus der es alles rauszuholen gilt – bis zur Erschöpfung.

Delikatessen für den Supermarkt

Der Niedergang der Holzindustrie ist noch nicht das letzte Kapitel des Extraktivismus. Ende der siebziger Jahre beginnt Gurupá Palmito (Palmherz) für den Markt zu produzieren. Das Palmito wird aus der Açaí- Palme gewonnen, die am Amazonas und seinen Seitenflüssen in großen Mengen wächst. Aus den Früchten der Palme wird dunkelrot-violetter Brei gewonnen, der für die ärmere Bevölkerung Parás ein Grundnahrungsmittel ist. Das Palmherz hingegen wird in der Region nicht gegessen. In den achtziger Jahren nun dringen Firmen aus dem Süden Brasiliens in das Amazonasgebiet vor. Die Bestände von Palmen, aus denen im Süden Brasiliens Palmito gewonnen wird, werden zusehends geringer, in wenigen Jahren konzentriert sich 90% der brasilianischen Palmitoproduktion in Pará. Der größte Teil der Produktion geht in den Export. Brasilien ist weltweit der wichtigste Exporteur dieser Delikatesse.
1978 beginnen Palmito-Firmen in Gurupá mit dem Einschlag. Sie kaufen von GroßgrundbesitzerInnen (deren Besitztitel oft zweifelhaft sind) die Einschlagrechte und rücken mit TagelöhnerInnen an, die in anderen Gemeinden angeheuert werden. Nach offiziellen Statistiken steigt die Produktion von Palmito von 60 Tonnen (1978) auf 300 Tonnen an, ein Wert, um den sie in den darauffolgenden Jahren pendelt. Eine Untersuchung vor Ort schätzt aber für 1989 eine Produktion von 4850 Tonnen! Auf jeden Fall wird Palmito Ende der siebziger Jahre zur wichtigsten “cash crop” Gurupás. Ab 1983 setzt eine neue Etappe in der Palmitogewinnung an. Einige Firmen beginnen, den KleinbäuerInnen Geräte und Techniken zur Verfügung zu stellen, um selbst das Palmito zu verarbeiten und in Gläser abzufüllen. Der gesamte Produktionsprozeß – vom Einschlag bis zum Glas – wird in der KleinbäuerInnenfamilie geleistet, die AufkäuferInnen der Firma holen die fertig verarbeiteten Palmitos ab, nur noch die Etiketten werden aufgeklebt. 70 dieser Familienbetriebe – fabriqueta genannt – gibt es inzwischen in Gurupá, 52 davon am Fluß Marajoí, einem kleinen Seitenarm des Amazonas, an dem sich die größten Açaí-Vorkommen des Municipios konzentrieren.
Eine Fahrt über den Marajoí gibt einen guten Eindruck über die aktuelle Situation in der Gemeinde. Eine immer noch unglaublich hohe Dichte von Açaí-Palmen, zahlreiche Häuser der ribeirinhos, an deren Seite oft eine kleine Bude angebaut ist, die “fabriqueta”. Aber die meisten der fabriquetas liegen still. Im Februar 1993 lag der Aufkaufpreis für ein Glas Palmito bei 2000 Cruzeiros, ziemlich genau 20 Pfennig! In den Supermärkten von Belém, Rio oder Sao Paulo findet sich dasselbe Glas – nur noch mit einem Etikett versehen – für 3 – 5 DM wieder. Für diesen Preis – so lautet immer wieder die Aussage der BewohnerInnen – lohnt sich die Arbeit nicht. Es ist ein Oligopol von wenigen Firmen, die den Palmitomarkt kontrollieren. Bisher haben die KleinbäuerInnen nur die Wahl, sich den ihnen diktierten Bedingungen zu unterwerfen oder nicht zu verkaufen. Gleichzeitig ist aber der Verkauf des Palmito praktisch die einzige Möglichkeit, ein Geldeinkommen zu erzielen. Zwar bearbeiten KleinbäuerInnen in der Regel ein kleines Feld, die roça, aber dessen Ernte (hauptsächlich Mais und Maniok) dienen zum eigenen Konsum. Agapito de Souza, ein Kleinbauer des Marajoí, erinnert sich noch gut: “Früher bevor das mit dem Holz begann, gab es hier viel mehr Landwirtschaft. Aber dann kam das Holz, danach das Palmito, das brachte Geld, und die Leute haben aufgehört anzubauen.”
Damit ist ziemlich genau die problematische Situation in Gurupá charakterisiert: Seit Jahrhunderten hat der Extraktivismus seine zyklische Gewinnlogik der Region aufgezwungen und die KleinbäuerInnen seinen Verwertungsinteressen unterworfen. Heute sehen sich diese mit einer doppelten Krise konfrontiert: der Extraktivismus ist im Niedergang aufgrund der ökologischen Konsequenzen (Holz) oder wenig rentabel aufgrund der wirtschaftlichen Monopole der AufkäuferInnen. Gleichzeitig hat es in der Region keine Entwicklung der Landwirtschaft gegeben. Bei Maniok etwa deckt die Produktion der Gemeinde nur 30% des Bedarfs. Und auch beim Palmito sind die ersten Anzeichen des Niedergangs zu erkennen: Die großen Einschläger haben die dichtesten Bestände ausgebeutet, die Verlagerung der gesamten Produktion in die Familie ist auch eine Antwort auf die wachsenden Schwierigkeiten große, zusammenhängende Açaí-Bestände zu finden, bei denen sich der Einschlag im großen Stil lohnt. Weitere Konsequenzen sind für die KleinbäuerInnen unmittelbar spürbar: Am Marajoí hat der Palmito-Einschlag zu einem großen Fischsterben geführt: die Firmen haben die Reste der Palmen einfach in den Fluß geworfen, was zu einer Übersäuerung führte. Und der Holzeinschlag hat den Bestand an jagdbarem Wild deutlich verringert. Die zwei wichtigsten Nahrungsquellen der ribeirinhos, Fisch und Wild, drohen zu versiegen.

Erstarken der KleinbäuerInnen

Der Niedergang des Extrativismus hat – was auf den ersten Blick paradox erscheint – das organisatorische Erstarken der KleinbäuerInnen begünstigt. Im Gegensatz zu anderen Regionen Amazoniens sehen sich die KleinbäuerInnen mit keiner starken und organisierten Gruppe von GroßgrundbesitzerInnen konfrontiert. Mit dem Niedergang des Kautschuks erodierte die ökonomische Basis der Herrschenden in der Region. Alle weiteren Impulse (Holz und Palmito) kamen von außen, die lokalen GroßgrundbesitzerInnen profitierten lediglich durch Verpachtung oder Verkauf von Einschlagrechten, ohne dabei eine neue produktive Basis zu schaffen. Viele GroßgrundbesitzerInnen unterscheiden sich nur durch die Größe ihres Landbesitzes von den KleinbäuerInnen, nicht aber durch Reichtum und Lebensumstände. Politisch wurde die Gemeinde in den letzten Jahren durch die HändlerInnen, die sich in der Stadt konzentrieren, dominiert.
Die KleinbäuerInnen sind in der überwiegenden Mehrheit posseiros, das heißt, sie bebauen – oft seit Generationen – Land, über das sie keine legalen Titel besitzen. Diese Situation hat in der Vergangenheit zu zahlreichen Auseinandersetzungen geführt, bei denen sich immer mehr KleinbäuerInnen, unterstützt von der Kirche, erfolgreich zur Wehr setzten. Zur Zeit aber gibt es keine größeren Landkonflikte, die Besitzrechte der posseiros werden nicht bedroht – ein sicheres Indiz für die Schwäche der lokalen GroßgrundbesitzerInnen.
Die Gewerkschaft der LandarbeiterInnen (STR) ist wie in vielen ländlichen Gegenden Brasiliens ein Zusammenschluß von KleinbäuerInnen. In Gurupá unterscheidet sich die Geschichte der lokalen Gewerkschaftsgruppe wenig von der in vielen anderen Gegenden des Landes. In den achtziger Jahren beginnt eine Gruppe von KleinbäuerInnen, die Kontakt mit der Kirche hat, die traditionelle Führungsclique herauszufordern. Diese repräsentierte den von den Militärs verordneten offiziellen “Syndikalismus”, der nicht die Interessenvertretung der KleinbäuerInnen, sondern (bestenfalls) kleinere Dienstleistungen organisierte. Nach vielen Auseinandersetzungen gelingt es der Gewerkschaftsopposition 1986 schließlich die Wahlen zu gewinnen. Die Landarbeitergewerkschaft von Gurupá ist heute dem linken Dachverband CUT angeschlossen.

Neue Strategien zur Nutzung des Waldes

Bestimmte in den achtziger Jahren die Konfrontation mit den “gelben” GewerkschafterInnen und den “Patronen” die Aktionen der progressiven KleinbäuerInnen, so sahen sie sich nach dem Wahlsieg mit ganz neuen Herausforderungen konfrontiert. Auch hier spiegelt Gurupá, so abgelegen es erscheinen mag, durchaus eine typische Entwicklung in den Landgewerkschaften wider. Nach der kämpferischen Phase in den siebziger und achtziger Jahren, den Konfrontationen mit Strukturen der Militärdikatur, sahen sich viele Gewerkschaftsführer plötzlich als “Präsidenten” mit ganz neuen Aufgaben konfrontiert: konkrete Vorschläge und Projekte zu entwickeln, die eine Entwicklungschance für die bäuerliche Familienwirtschaft eröffnen. Zusammen mit BeraterInnen erstellt die Gewerkschaft zunächst eine Analyse der Situation, die zu folgender Schlußfolgerung führt:
“Zwei Grundprobleme erschweren das Leben der KleinbäuerInnen in Gurupá:
– Die Verknappung der Sammelprodukte wie Açaí, Holz, Palmito und Fisch.
– Die geringe Produktion von Grundnahrungsmitteln wie Maniok, Reis, Bohnen etc.”
Ansetzend an diesen Schwierigkeiten wird zusammen mit italienischen Entwicklungsorganisationen (MLAL) ein Projekt mit zwei Grundkomponenten entwickelt: zum einen zur Förderung des Anbaus von Grundnahrungsmitteln und deren Weiterverarbeitung (Mühlen zur Produktion von Maniokmehl) und zum anderen zur nachhaltigen Nutzung von Açaí.
An dem bereits erwähnten Marajoí-Fluß haben sich dreißig Familien zusammengeschlossen, um die Açaí – Palmen systematisch zu bewirtschaften.
Dies setzt voraus, daß nicht alle Stämme einer Pflanze geschlagen werden, daß eine Pflege des Geländes betrieben wird und daß nachgepflanzt wird. Dies ist arbeitsintensiv, aber die BewohnerInnen der Region haben erkannt – oder besser: am eigenen Leib erfahren – daß der rücksichtslose Einschlag nur kurzfristigen Gewinn und langfristige Zerstörung der Lebensgrundlagen bringt. Im Gegensatz zu anderen Palmen aus denen Palmito gewonnen wird bietet Açaí durchaus Möglichkeiten für eine nachhaltige Nutzung. Für die KleinbäuerInnen lohnt sich die Mühe allerdings nur, wenn sie einen besseren Preis für ihr Produkt bekommen. Eine entscheidende Herausforderung für das Projekt der Gewerkschaft ist es daher, bessere Vermarktungsmöglichkeiten zu erschließen. Ein kollektiver Absatzvertrag soll die Marktposition der KleinproduzentInnen verbessern.
Der ehemalige Gewerkschaftspräsident Manuel Chico ist der Leiter des Projekts, das auch Gelder vorsieht, die die Infrastruktur der Gewerkschaft stärken. Diese wird damit zusehends zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor in der Gemeinde. Bis Ende April dieses Jahres war eine Frau Präsidentin der Gewerkschaft: Bertila, die mit ruhiger Bestimmtheit eine Sitzung des Direktoriums zu leiten weiß, in der über zwanzig Männer versammelt sind. Zwar waren außer ihr noch zwei andere Frauen ins Direktorium gewählt worden, als diese aber nicht regelmäßig zu den Sitzungen erschienen, wurden sie ihrer Funktionen entbunden. Somit bleibt Bertila eine Ausnahmeerscheinung. Sie gehört zu den “lideranças” der Gewerkschaft, die in den Auseindersetzungen der letzten Jahre unglaubliche Lernprozesse durchgemacht haben und nun tatsächlich in der Lage sind, aktive Politik zu betreiben.

Wahlsieg der PT: ein Kleinbauer als Bürgermeister

Das Erstarken der Gewerkschaft bildet das Fundament auch für eine Neubestimmung des politischen Kräfteverhältnisses in der Gemeinde. Die soziale Basis der PT sind die KleinbäuerInnen, und bereits bei den Kommunalwahlen 1988 hätte die PT beinahe den Sieg errungen. 1992 gelang dies schließlich, weil ein Teil der örtlichen HändlerInnen den KandidatInnen der PT unterstützte. Die PT schloß nach heftigen innerparteilichen Diskussionen ein Bündnis und gewährte einem der “Abtrünnigen” das Amt des Vizebürgermeisters auf der Wahlliste. Der Wahlsieg von PT/Gewerkschaft war möglich geworden, weil diese im Gegensatz zur traditionellen Oligarchie ein ökonomisches Konzept für die Region entwickelt haben. Die organistorische Stärke der KleinbäuerInnen schaffte somit die Voraussetzungen, ein neues hegemoniales Projekt in der Gemeinde zu konsolidieren.
Nun ist – nicht nur in Brasilien – ein Wahlsieg keineswegs das happy end einer Geschichte, sondern der Beginn ganz neuer Schwierigkeiten. Der Wahlsieger Moacyr Alho gibt dies ganz unumwunden zu. Seine Geschichte ist typisch für das Wachsen von “lideranças”,von Führungspersönlichkeiten, in der Gemeinde. Als Jugendlicher begann seine Politisierung in Katechismuskursen der Kirche, darauf folgten Engagement und Fortbildung in der Gewerkschaft und schließlich der PT. Nach den ersten Wochen Amtszeit strahlt Moacyr Optimismus, Energie und fast Verzweifelung zugleich aus: “Ich fühle mich wie in einer Wüste, ich verstehe einfach nichts von dem ganzen Verwaltungskram”, so beginnt unser Gespräch mit Moacyr. Der neue Bürgermeister hat 33 Tage seines Lebens in einer Schule verbracht und sieht sich mit den jurustischen Schlingpflanzen einer Administration konfrontiert. Das Gespräch, an einem Sonntag in dem aus dem letzten Kautschukboom übriggebliebenen pompösen, aber heruntergekommenen Rathaus zeigt schon einen Teil der Schwierigkeiten: immer wieder werden wir unterbrochen, weil DorfbewohnerInnen und Verwandte hereinkommen und Moacyr bitten, irgendein Problem zu lösen. “Sie glauben, ich sei für alles zuständig und ich habe Schwierigkeiten, nein zu sagen.” Dies sind keine persönlichen Probleme sondern Widerspiegelungen der politischen Verhältnisse in weiten Teilen Brasiliens: Eine lokale Verwaltung konstituiert sich nicht über einen politischen und ökonomischen Plan, sondern über ein Geflecht von Begünstigungen, das Gefolgschaft sichert. Der Anspruch der PT ist es, mit diesem personalistisch-korporativistischen Politikmodell zu brechen, das heißt aber in vielen Fällen auch, mit Erwartungen zu brechen, die im Bewußtsein der Bevölkerung tief verwurzelt sind.
Das wichtigste Instrument, um persönliche Gefolgschaft zu sichern, ist der öffentliche Dienst. Von den 3600 BewohnerInnen des Hauptortes sind 331 bei der Stadtverwaltung beschäftigt, dem bei weitem größten Arbeitgeber. Diese Verwaltung, angefüllt mit Angehörigen und Gefolgsleuten der bisherigen Bürgermeister, erbt nun die PT: die Lohnzahlungen verschlingen 80% des Haushaltes.
Dieses ist der enge Rahmen, in dem die neue Verwaltung versucht, ihr Projekt zu realisieren. Kernstück ist dabei, in Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft, die Stärkung der kleinbäuerlichen Produktion. Manuel Chico, der Leiter des Gewerkschaftsprojektes, ist auch Stadtrat für Landwirtschaft geworden. Die neue Verwaltung hat damit zumindest einen Ansatz, mit der bisherigen Politik der völligen Vernachlässigung der kleinbäuerlichen Wirtschaft zu brechen.
Neben der Förderung der Landwirtschaft ist die Erziehung ein weiterer Schwerpunkt. Benilda, Stadträtin für Erziehung, ist eine deutschstämmige Siedlerin aus dem Süden Brasiliens, deren Familie mit der “Transamazônica” in den siebziger Jahren nach Amazonien gekommen ist. In einigen Gemeinden in der Nähe von Altamira haben die SiedlerInnen die “Bewegung zum Überleben an der Transamazônica” formiert, eine der bestorganisiertesten sozialen Bewegungen Amazoniens. Die Erfahrungen aus dieser Region sollen nun in Gurupá genutzt werden. Bertila hat zunächst eine Bestandsaufnahme gemacht: Die Rate der vorzeitigen SchulabgängerInnen beträgt 81,7 Prozent. Das Problem dabei sind weniger die SchülerInnen als die LehrerInnen: Nur acht der 108 LehrerInnen, die auf dem Land arbeiten, besitzen überhaupt einen Schulabschluß! Auch dieser Posten ist von den bisherigen Bürgermeistern als Privileg an die Gefolgschaft vergeben worden. Viele LehrerInnen treten ihren Posten gar nicht erst an oder kehren vorzeitig von den oft mehrere Tagesreisen entfernt liegenden Minischulen zurück. Das Programm der Gemeinderätin setzt dazu zunächst an der Fortbildung und Motivierung der LehrerInnen an. Des weiteren sollen der Schultransport (per Boot, versteht sich) verbessert, ein Programm zur Schulspeisung ausgebaut und neue Unterrichtsmaterialien entwickelt werden, die nach der Methode Paulo Freire an den lokalen Gegebenheiten ansetzen: bis heute werden Kinder in Amazonien meistens mit Büchern alphabetisiert, die die Umwelt von Mittelschichtskindern in Sao Paulo widerspiegeln. Während des Gesprächs mit Bertila setzt ein heftiger Amazonasregen ein und nach wenigen Minuten läuft das Wasser an den Wänden des Rathauses herunter…
Trotz aller Schwierigkeiten hoffen Bertila und ihre KollegInnn, daß nicht alles den Bach `runtergeht, sondern neue Ansätze in der Kommunalpolitik entwickelt werden können.

Neue Wege für Amazonien?

Die Erfahrungen in Gurupá sind über den lokalen Rahmen interessant für die Neuformulierung von Entwicklungskonzepten in wichtigen Regionen Amazoniens. Die Kritik an einem ausbeuterischen Extraktivismus, an dem ungeordneten Holzeinschlag ist keine Idee, die von außen kommt, sondern spiegelt die lebendige Erfahrung der KleinbäuerInnen wider. In den Gesprächen mit den ribeirinhos ist die Gegenüberstellung von “früher” und “heute” immer wieder präsent:
“Es war günstiger. Früher gab es Holz am Ufer. Es gab mehr Wild zum Jagen und mehr Fisch.” Oder: “Es wird immer schwieriger. Zunächst war Açai das große Nahrungsmittel. Heute nicht, nachdem sie das Palmito geschlagen haben. Und auch andere Sachen werden knapper: die Palmitofirmen rotten das Wild aus, Holz gibt’s nur noch im Inneren. Wenn du heute leben willst, mußt du doppelt so viel arbeiten wie früher.” – “Alles war reichlicher da; es gab mehr Fisch, mehr Wild, mehr Enten im Wald. Die Arbeit war nicht so eine Qual wie heute.”
Die Erfahrung des Niedergangs ist allgegenwärtig und damit wächst das Bewußtsein, daß es so nicht mehr weiter gehen kann. Die traditionellen Eliten, die Holzhändler und Palmitoeinschläger haben aber nichts Neues zu bieten, sie können höchstens neue Gegenden erschließen und Verwüstungen zurücklassen. Wenn KleinbäuerInnen jetzt von “nachhaltiger Nutzung” reden, dann haben sie nicht nur Vokabular von außen aufgeschnappt, um besser an Entwicklungshilfegelder zu kommen. Vielmehr ist es eine durchaus naheliegende Konzeptualisierung von konkreten Erfahrungen.
Der Wald ist in Gurupá durch den Holzeinschlag sicherlich schwer geschädigt (ein Inventar liegt nicht vor), aber keineswegs vernichtet. Ein ungeübtes Auge nimmt die Veränderungen gar nicht wahr, die RucksacktouristInnen glauben durch “den” Urwald zu fahren. Die inzwischen deutlich Wahrnehmung der Krise, das Wachsen neuer sozialer Akteure und das noch nicht vollendete Werk der Zerstörung bieten – bei allen Schwierigkeiten – große Chancen für nachhaltige Änderungen.

Anmerkung: Der Artikel beruht auf einer Reise nach Gurupá im Februar 1993, zahlreichen Gesprächen vor Ort. Bei den historischen und statistischen Angaben verdankt der Artikel fast alles einer ausgezeichneten Arbeit Paulo de Oliveiro Junior über “Genese, Unterordnung und Widerstand der Bauernschaft in Gurupá”, eine Untersuchung, die in Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft erstellt wurde. Auch ein Teil der im Artikel zitierten Aussagen von KleinbäuerInnen ist der Arbeit entnommen.

Kasten:

Die Gemeinde von Gurupá hat insgesamt 19 000 EinwohnerInnen, von denen 3600 in der “Stadt” wohnen. Diese teilen sich 9.300 Quadratkilometer. Zum Vergleich: In Saarland leben auf 2570 Quadratkilometer 1.073.000 Menschen in 52 Gemeinden. Straßen gibt es nur im Hauptort, ansonsten ist das Schiff das Transportmittel zu den Siedlungen. Diese liegen oft mehrere Tagesreisen vom Hauptort entfernt. Dabei ist Gurupá nicht mal eine besonders große Gemeinde. Andere Orte in der “Region der Inseln”, zu der Gurupá gehört, besitzen erheblich größere Flächen. Die Sozialstruktur außerhalb des Hauptortes ist durch das Vorherrschen kleinbäuerlicher Familienbetriebe geprägt.

Wahltriumph für die Regierung

Von der im Wahlregister erfaßten knappen Million JamaicanerInnen beteiligten sich lediglich 58 Prozent an der Wahl. Über 100.000 ließen sich Schätzungen zufolge nicht einmal registrieren. Ausdruck eines weitverbreiteten Desinteresses an einer Wahl, in der sowohl die PNP als auch die Oppositionspartei Jamaican Labour Party (JLP) mit nahezu identischer neoliberaler Programmatik antraten. Ungeachtet der zunehmenden Verarmung breiter Bevölkerungsschichten wird die PNP, bestärkt durch das Wahlergebnis und verbesserte Wirtschaftsdaten, das vom Internationalen Währungsfonds (IWF) diktierte Liberalisierungsprogramm fortsetzen.
Wenigstens das Vorhaben, soziale Probleme verstärkt anzugehen, und der bereits praktizierte Versuch, die unpopuläre Politik auf Bürgerversammlungen vor Ort transparent zu machen, unterscheidet die PNP im Positiven von der JLP. Dieser maßgeblich auf Patterson zurückgehende neue Politikstil hat seit seinem Antritt als Nachfolger von Präsident Michael Manley (LN 215) für einen Simmungsumschwung in der Bevölkerung gesorgt, der nun in dem überwältigenden Wahlsieg gipfelte.

Wahlgeschenke, Patterson-Style: Steuern runter, Löhne rauf

Überrascht waren auf Jamaica über die vorgezogenen Wahlen am 30. März nur wenige. Spielte der alte und neue und zudem erste schwarze Ministerpräsident Jamaicas, P. J. Patterson, doch schon seit einer im November 1992 veröffentlichten Meinungsumfrage mit dem Gedanken, seine Präsidentschaft von den WählerInnen bestätigen zu lassen. Sieben Monate zuvor war er zum höchsten Staatsamt nur aufgrund einer Mehrheit bei den Parteitagsdelegierten der PNP gelangt – die Bevölkerung bevorzugte damals eindeutig die Arbeitsministerin Portia Simpson (siehe LN 215). Die Meinungsumfrage des renommierten Meinungsforschers Carl Stone, der seit Mitte der siebziger Jahre alle Wahlen korrekt prognostizierte, offenbarte nach zwei Jahren erstmals wieder eine wachsende Zustimmung für die PNP, bei gleichzeitigem Sympathieverlust für die konservative JLP. Um die von den Befragten bezeugte Gunst zu erwidern, wurden mit Beginn des Jahres 1993 diverse vetrauensverstärkende Maßnahmen vorgenommen.
Vor dem Beginn der Wahlkampfphase, die von Patterson zur Gewalteindämmung auf drei Wochen reduziert worden war, schnürte die Regierung ein auf Wahlstimmen abzielendes Paket von Maßnahmen. Dieses beinhaltete eine Senkung des Einkommenssteuersatzes von 33,3 auf 25 Prozent, eine Erhöhung des diesbezüglichen Freibetrags sowie bis zu 160-prozentige Zollsenkungen beim PKW-Import. Ferner wurde ein Sraßenbau- und Straßeninstandsetzungsprogramm in Höhe von 20 Millionen US-Dollar und kräftige Lohnerhöhungen im öffentlichen Sektor beschlossen. Vor allem der als Wahlklientel umkämpfte Mittelstand profitiert von diesen Maßnahmen, während die Unterschicht weder die Möglichkeit hat, Autos zu importieren, noch mit ihrem Einkommen in zu besteuernde Kategorien fällt.

Wahlkampf im Zeichen der Hautfarbe

Zum ersten Mal in der bald 50jährigen Geschichte der parlamentarischen Demokratie auf Jamaica standen sich nicht zwei weiße Präsidentschaftskandidaten gegenüber. Waren Wahlen bis 1967 gar eine reine Familienangelegenheit zwischen Alexander Bustamente und seinem Vetter, Norman Manley, so bestimmte ab 1972 das ewige Duell zwischen Normans Sohn Michael und dem in den USA geborenen Edward Seaga das politische Geschehen auf Jamaica.
Mangels programmatischer Differenzen spielte die Hautfarbe der Kandidaten nun eine wesentliche Rolle im Wahlkampf. Eigens hierfür kreierte Reggae-Lieder mit Inhalten wie “To be young, gifted and black” (“Jung, begabt und schwarz”) und “My Leader born ya” (“Mein Anführer ist hier geboren”) sollten der zu fast 90 Prozent schwarzen Bevölkerung vermitteln, daß sie erstmals Gelegenheit hätte, einen schwarzen, auf der Insel geborenen Jamaicaner zu wählen. Für das Wahlverhalten der JamaicanerInnen ausschlaggebender, dürfte indes der von Patterson seit seinem Amtsantritt vor einem Jahr verfolgte bürgernahe Politikstil sowie das Abbremsen des jähen Kursverfalls des Jamaica-Dollars seit 1989 sein.

Ein neuer politischer Stil

Pflegten Michael Manley und Edward Seaga BürgerInnenkontakt lediglich zu Wahlkampfzeiten, so hält P. J. Patterson auch in Zwischenwahlkampfzeiten selbigen aufrecht. Öffentliche Treffen vor Ort und im ganzen Lande, bei denen die TeilnehmerInnen ihre Kümmernisse äußern können und der Ministerpräsident selbst seine Politik zu übermitteln sucht, brachten ihm den Ruf eines Demokraten ein, der “dem Volk zuhört”.
Zudem ist seine Politik auf Kompromisse statt auf Konfrontation ausgerichtet. Nach dem parteiinternen Machtkampf um die Nachfolge Michael Manleys integrierte er seine RivalInnen Portia Simpson und Hugh Small in seine Regierungsmannschaft. Bei der Bekämpfung von nationalen Mißständen, insbesondere der Kriminalität, fördert er Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinaus. Daß bei der Bekämpfung der Kriminalität die gutsituierten “Schreibtisch-Kriminellen” polizeilich erstmals ernsthafter verfolgt werden, ist ebenfalls eine Neuerung, die ihm Sympathiepunkte bei der Bevölkerung einbrachte, so daß er inzwischen als der populärste Politiker gilt.

Ökonomische Krise abgebremst

Bei seinem Amtsantritt im vorigen März war P. J. Patterson mit einer anhaltenden Wirtschaftskrise konfrontiert. Ihren Ausdruck fand die Krise in einem rapiden Wechselkursverfall und immer schneller steigenden Inflationsraten. Seit Michael Manley nach seinem Wahlsieg 1989 eine forcierte Liberalisierungspolitik vorantrieb, verfiel der Wechselkurs von 5,5 Jamaica-Dollar zu 1 US-Dollar auf fast 30 zu 1 im Mai 1992. Eine Folge der Freigabe der Wechselkurse, die seit September 1991 noch verstärkt wurde, als die Exporteure die Möglichkeit erhielten, Devisenkonten zu unterhalten und somit legal Kapitalflucht zu begehen. Der Wechselkursverfall verteuerte nun die Importe, was einerseits die Inflation im Inland ankurbelte und andererseits den Lebensstandard infolge steigender Lebenshaltungskosten gewaltig senkte. Während ein Mindestgehalt Ende der siebziger Jahre noch eine fünfköpfige Familie ernähren konnte, so reichte es 1992 gerade mal für eine Person.
Erst eine Initiative von Butch Stewart, Chef von Jamaicas größtem Devisenerwirtschafter, der Hotelkette “Sandals”, sorgte für Linderung. Bei fortlaufender Inflation fürchtete er ähnliche Unruhen wie bei den Anti-IWF-Riots 1985. Da die Hotelbelegung damals sprunghaft zurückging, wollte er drohendem Unbill diesmal rechtzeitig vorbeugen. Zu diesem Zwecke beabsichtigte Stewart ab dem 1. Mai 1992 1 Million US-Dollar wöchentlich an die Banken zu verkaufen, um die jamaicanische Währung zu stützen und andere DevisenerwirtschafterInnen zu gleichem anzuspornen.
Die Initiative zeigte vorerst Erfolg. 1992 stabilisierte sich der Wechselkurs bei 22,2 Jamaica-Dollars je US-Dollar. 1993 sank der Kurs erst leicht auf 24,3 zu 1. Die Wechselkursstabilität wirkte sich erwartungsgemäß inflationshemmend aus, da durch sie die Preise für Importe stabil blieben und die Inflation nicht mehr anheizten. So betrug die Inflationsrate 1992 nur noch 40 Prozent gegenüber 80 Prozent im Vorjahr. Diese verbesserten Daten wirkten sich positiv auf die einjährige Regierungsbilanz und die Wahlchancen Pattersons aus, wenngleich sie überwiegend nicht auf seine Politik zurückzuführen sind.

Ehrgeizige Ziele für die nächste Regierungsperiode

Die von Patterson für die nächsten fünf Jahre anvisierten Ziele sind hoch gesteckt. Die Wachstumsrate soll 1993 auf 3,5 Prozent hochgeschraubt werden, die Inflation auf eine einstellige Ziffer gedrückt und der Wechselkurs stabil gehalten werden. Weiter soll die Arbeitslosenrate im Verlauf der kommenden fünf Jahre von 20 auf 12 Prozent gesenkt werden.
Bei der trotz der Abwertungen chronisch defizitären Handelsbilanz Jamaicas wird die dauerhafte Verteidigung des Wechselkurses jedoch schwerfallen. Unlängst entstand der Verdacht, daß die Zentralbank über SubagentInnen auf dem Schwarzmarkt zu einem über dem offiziellen Kurs liegenden Preis US-Dollars aufkauft, um damit auf dem regulären Markt die eigene Währung zu stützen. So sind solche Praktiken derzeit Gegenstand eines Untersuchungsausschusses. Der offiziell mit dem Kauf von Devisen beauftragte Agent der Zentralbank soll demnach eigenständig SubagentInnen zur derlei ungesetzlichem Tun aufgefordert haben. Eine langfristig taugliche Strategie zur Wechselkursverteidigung wird darin allerdings wohl niemand sehen.
Soziale Aspekte sollen zukünftig verstärkt Berücksichtigung finden. Besondere Aufmerksamkeit soll dabei dem Bildungswesen gewidmet werden. Die ins Auge gefaßte 60prozentige Lohnerhöhung für die LehrerInnen soll dabei ein erster Schritt in diese Richtung sein. Wie sich diese Lohnerhöhungen, die bereits angesprochenen Steuer- und Importerleichterungen mit einem dem IWF versprochenen sinkenden Haushaltsdefizit vereinbaren lassen, bleibt offen. Zumindest bis zur Verabschiedung des nächsten Haushalts im Mai.

Ökotourismus auf Abwegen

Öko-Tourismus heißt die neue Mode im Urlaubs- und Reisegeschäft. Die drei S des klassischen Tourismus – Sonne, See und Sand – sind out. Heute verlangen Touristen der westlichen Welt zunehmend nach alternativem Tourismus, der je nach Wortwahl als angemessen, erträglich oder einfach nur als “Öko” bezeichnet wird. ÖkotouristInnenn sind es leid, unter Aufsicht Kulturerlebnisse zu konsumieren, die abseits von jeglicher Realität inszeniert werden. Sie sind es leid, sich mitschuldig zu fühlen an einem Urlaub, der das natürliche Gleichgewicht zerstört. Sie sind auf der Suche nach weniger frequentierten, abseits gelegenen Zielen. Im Gefolge der neuen sozialen Bewegungen, für die Umwelt und Kultur immer schon zentrale Begriffe waren, fragen diese BesucherInnen nach Urlaub in einer ursprünglichen Umwelt, in die eine “unversehrte” lokale Kultur eingebunden ist.
Oberflächlich betrachtet könnte Belize eine große Anziehung auf diese neuen Mittelklasse-Touristen ausüben, die so besorgt sind, den Standard-TouristInnen aus dem Weg zu gehen. Die ehemalige britische Kolonie erlangte 1981 ihre Unabhängigkeit und ist gesegnet mit einer üppigen Natur, wie z.B. einem atemberaubenden Felsen und Korallenriff, das zweitgrößte nach dem australischen Great Barrier Reef , oder großen, noch intakten tropischen Regenwäldern oder idyllischen Tropeninseln, die nur aus einer Sandbank bestehen. Belize kann auch stolz auf die beeindruckenden, archäologischen Stätten der Maya-Zivilisation sein – sie sind heute einer der Hauptanziehungspunkte der Ruta May. Dennoch wurde die kleine englischsprachige Nation an der karibischen Küste Zentralamerikas bis vor kurzem selten bereist und sah sich kaum ökologischer Bedrohung ausgesetzt.

Die Regierung entdeckt den Tourismus

Vor dem Wahlsieg der Rechtspartei United Democratic Party (UDP) im Jahr 1983 gab es in Belize kaum Regierungsunterstützung für Tourismus. Die UDP spürte, daß sich die Urlaubswünsche von Touristen aus den Industrienationen veränderten und sich eine neue, “grünere” Art von Tourismus entwickelte. Dies nahm die Regierungspartei zum Anlaß, Tourismus marktwirtschaftlich zu organisieren, um so an dringend benötigte Devisen zu gelangen und um die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern. 1989 intensivierte die nach den Wahlen wieder an die Macht gelangte, nationalistisch ausgerichtete People’s United Party (PUP) die Anstrengungen. Sowohl die UDP als auch die PUP unterscheiden sich in ihrer pro-US Haltung und einer Politik der freien Marktwirtschaft kaum voneinander. Obwohl die PUP dem Tourismusgeschäft früher ablehnend gegenüberstand, schwenkte sie flugs auf die neue Modewelle des “anderen” Tourismus um. Die Aussicht auf Profit war der Anlaß, die Förderung von Tourismus als zweitwichtigstes Ziel in den Katalog der Regierungsziele aufzunehmen.
Ein neuer internationaler Flughafen empfängt nun die ankommenden TouristInnen, und eine Reihe von Luxushotels sind erst vor kurzem fertiggestellt worden. Die Regierung hat eine Reihe von Natur-, Meeres- und Archäologieschutzzonen festgesetzt, um sicherzustellen, daß die TouristInnenattraktionen in gutem Zustand bleiben. Sie hat ebenfalls kleine Gemeinden dazu ermutigt das Tourismuspotential abzuschöpfen. Die Strategie der Regierung basiert auf dem Konzept der Verträglichkeit; das heißt, sie ist bestrebt, die wertvolle Flora und Fauna zu erhalten und sich für die von den Öko-TouristInnen so geschätzte Authentizität von Natur und Kultur einzusetzen. Die Baboon Sanctuary Community und die von Frauen betriebene Sandy Beach Women’s Kooperative sind zwei solcher Projekte; ähnliche sprießen in anderen Gebieten aus dem Boden.
Die Anstrengungen beginnen Gewinn abzuwerfen. Die Zahl internationaler TouristInnen ist kontinuierlich von weniger als 100 000 im Jahr 1985 zu einer Viertelmillion im Jahr 1990 gestiegen. Die Erträge aus dem Tourismus sollen nach Schätzungen heute bereits 26% des Bruttosozialproduktes von Belize bilden. Zeichen dafür, daß Belize ganz oben auf der neuen Ökotourismuswelle schwimmt, ist die Wahl Belizes als Tagungsort zweier Konferrenzen über Öko-Tourismus: der “Ersten Karibischen Öko-Tourismus Konferenz” und des “Ersten Weltkongresses für Tourismus und Entwicklung”.

Alter Tourismus in neuen Kleidern

Trotz einiger ermutigender Resultate produziert das Gros des Ökotourismus in Belize dieselben Probleme wie der traditionelle Massentourismus: Devisenschwund, Fremdbesitz und Umweltverschmutzung. Ein Beispiel ist ein vorgesehenes, mehrere Millionen Dollar verschlingendes Projekt mit dem Namen Belize City Tourism District, das zwangsläufig das Kapital ausländischer InvestorInnen und US-dominierter Kreditgeber wie der Weltbank erfordern wird.
Architekten aus New Orleans/USA haben gerade im Auftrag der staatlichen US-AID eine Studie zur Entwicklung dieses promenadenartigen Erholungsparks abgeschlossen. Die PlanerInnen wollen eine exklusive Zone in der Innenstadt von Belize City errichten, mit neuen Hotels, Einkaufsmöglichkeiten, einer Strandpromenade mit Restaurants und Cafés, einem folkloristischen Kunst- und Lebensmittelmarkt und einen Hafen für kleinere Yachten, die in der Karibik kreuzen. Solch ein Projekt wird das Uferareal der Hauptstadt in ein pied-á-terre für Möchtegern-Öko-TouristInnen verwandeln, die sich aller Voraussicht nach dort sicher und geschützt von den innerstädtischen Problemen fühlen würden, die in Reiseführern über Belize bereits legendär geworden sind.
Nicht genug, daß die BelizerInnen nur wenig von diesem Großprojekt profitieren werden, hinzu kam, daß örtliche RepräsentantInnen während der Planungsphase nicht einmal konsultiert wurden. Das Planungsbüro von Belize City kam das erste Mal mit dem Projekt in Berührung als dieses in einer Modellausführung in den Schaufenstern eines Supermarkts ausgestellt wurde. In dieser 60 000 Einwohner Stadt wird der Gürtel immer enger geschnallt und die Armut steigt. Dennoch priesen die US-BeraterInnen das Projektkonzept , weil es dem Stadtrat erlaube, seine Möglichkeiten zu konzentrieren: auf die Instandhaltung des neuzuschaffenden Tourismusdistrikts, einschließlich Straßensäuberung und-ausbesserung. Ausgaben für solche Aufgaben werden jedoch vermutlich in anderen Gemeinden gekürzt werden , um das notwendige Kapital für den Tourismusbereich freizusetzen.

Deckmäntelchen und die Macht des Geldes

Anderswo in Belize verursacht der Reiz des Tourismus-Dollars gleichermaßen erschreckende Folgen. Es stellt sich mehr und mehr die Frage, ob mittlerweile nicht jedes Tourismusprojekt unter dem Deckmäntelchen des Öko-Tourismus daherkommt – in der Hoffnung einen Platz in einer attraktiven, natürlichen Umgebung zu ergattern.
Die Kontroverse um die vorgelagerte Insel Ambergris Caye hat die ernsten Zweifel über das Maß und das Wesen von Tourismus-Entwicklung nicht gerade weniger werden lassen. Propagiert als ein größerer Beitrag zur Reinvestierung in das Volk von Belize – ein Rekurs auf das Wahlmotto von 1989 “BelizerInnen zuerst” – kaufte die Regierung zwei Drittel eines 8000 Hektar großen Geländes auf Ambergris Caye von dem US-Eigentümer wieder zurück. Die meisten erwarteten, daß die neu gegründete staatliche Ambergris Caye Planning Authority (ACPA) ihre Zuständigkeit und Planungskompetenz auf das Pinkerton Gelände (so der Name des zurückgekauften Grundstückteils) würde ausdehnen können. Stattdessen wurde eine neue Entwicklungsgesellschaft aus der Taufe gehoben, die keinerlei Verbindung zur ACPA hatte.
Namens der neuen Gesellschaft, die vom Minister für Tourismus und Entwicklung Glenn Godfrey (der auch Justizminister ist) ernannt wurde und ihm auch untersteht, wurde ein 50 Millionen Dollar schweres Projekt “nachhaltiger Entwicklung” in die Wege geleitet. Obwohl die RepräsentantInnen der Gesellschaft es als ein “integriertes und ökologisch einwandfreies Konzept zur Entwicklung eines Ferienortes” bezeichnen, wird es die üblichen touristischen Anlagen haben: wenigstens ein Hotel internationaler Klasse, zwei Kurhotels, drei bis fünf Luxusferienhütten, zwei Golfplätze, Wohnhäuser und Nobelvillen in der Stadt, 1000 Luxusbungalows, Polofelder und Reitställe.
Die Hälfte des Geländes wurde von den Planungen ausgenommen und -vorerst- unter Naturschutz gestellt. Nur 1000 Hektar des Areals werden auch für die BelizerInnen zugänglich sein. Die Menschen der Gegend sind aufgebracht. Nicht zuletzt, weil 3000 Hektar in den Besitz einer US-Erschließungsfirma übergehen werden. Ganze zwei Tage vor Unterzeichnung des Vertrages präsentierte Godfrey das ausgehandelte Vertragswerk zum ersten Mal der ACPA. Er versicherte, die Verhandlungen – bei denen die ACPA nicht mit am Tisch saß – hätten über zwei Jahre gedauert. “Wenn das vorgestellte Vertragswerk für die Entwicklung der Ambegris Caye so gut ist, warum wird es den Menschen dann nicht bekannt gemacht?”, fragte sich der erzürnte Fidel Ancona, Mitglied der ACPA. “Als die Regierung das Gelände erwarb, erzählten sie uns, ohne mit der Wimper zu zukken, wir bekämen die Kontrolle über unser Land zurück und könnten uns sinnvoll an allem beteiligen. Für mich haben sie dieses Versprechen angesichts der Tatsache, daß 75% an ausländische InvestorInnen und nur 25% an die BelizerInnen gegangen sind, nicht gehalten.”
Obwohl es der ACPA gelang, die Unterzeichnung des Vertrages hinauszuschieben, zeigt der ganze Vorfall doch, daß bei groß angelegten Entwicklungsprojekten die lokale Einflußnahme und Kontrolle sehr gering, wenn nicht sogar völlig unmöglich ist.

Der Norden ist bereits an den Futtertöpfen

Ein Großteil der Tourismusindustrie ist bereits in den Händen der kleinen, aber mächtigen Gruppe von nach Belize Eingewanderten. Bei der Öko-Tourismuskonferenz waren 25% der Delegierten BürgerInnen der USA. Noch bezeichnender ist der Anteil der KongreßteilnehmerInnen aus Belize, die ehemals BürgerInnen Kanadas oder der USA waren: 43%
Diese ImmigrantInnengemeinde hat sich zu einer entschlossenen und einflußreichen Lobby gemausert. Immigrierte BesitzerInnen von Öko-Urlaubsresorts, die im westlichen Cayo-Distrikt an Flüssen gelegen sind, haben sich strikt gegen weitere Tourismusprojekte ausgesprochen. Die von US-AID initiierte Belize Tourism Industry Association, ein Zusammenschluß privater Interessen, erlebte bei der Wahl ihrer FunktionärInnen im Jahr 1992 nach dem Vorschlag einiger Mitglieder, nur BürgerInnen von Belize für diese Ämter zu nominieren schwere Tumulte. Über die Hälfte der Anwesenden wäre von vornherein von den Ämtern ausgeschlossen gewesen.
Einstweilen betont Belize aufs Neue voll Zuversicht seine Bereitschaft zum Öko-Tourismus und sonnt sich in der Zustimmung des internationalen Tourismus, die es dafür erhält.
“Naturschutz und Ökotourismus gedeihen am besten dort, wo die Sonnenstrahlen bis in die kleinsten, selbstbestimmten Verwaltungseinheiten und Gemeinden vordringen” Diese wonnige Beschreibung stammt von Minister Godfrey. Er wiederholte sie in Rio de Jainero bei der UNCED, als er ZuhörerInnen versicherte, daß “Ökotourismus in lokaler Verantwortlichkeit” das Hauptanliegen seiner Regierung bei Vermarktung und Entwicklung sei.
Aber es ist noch lange nicht klar, ob Belize wirklich erfolgreich den “Verlockungen und Verheißungen des Massentourismus ” widerstanden hat, wie es Godfrey immer so gerne betont. Der Traum einer von Belize selbst kontrollierten Tourismusindustrie in Einklang mit Umwelt, Kultur und Tradition schwindet. Im Gegenteil, die Selbstbestimmung Belizes wird im Ausverkauf an den Meistbietenden vergeben. Wie heißt es doch so schön in einer Werbeanzeige des Ambergris Caye Club Carribean: “Besitzen Sie Ihr eigenes, kleines Paradies … Schon ab 9950 Dollar sind Sie dabei … eine profitversprechende Kapitalanlage.”
Im selben Maß wie ausländische Kontrolle an kleinen wie großen Tourismusanlagen steigt, wie immer größere Projekte entstehen, die unweigerlich irreparable Schäden in der Umwelt nach sich ziehen werden, gerät auch das Projekt Tourismus in Belize mehr und mehr außer Kontrolle.
“Belize und die BelizerInnen”, meint der Herausgeber der Wochenzeitung Amandala nach dem Hatchet Cay Debakel, “werden in diesem ganzen Rennen von denen niedergetrampelt, die unsere Gesetze und Traditionen bestenfalls noch als lästig bezeichnen und unsere Souveränität als die ihrige betrachten.”

Verjüngung der Macht

Die Stunde der Pensionierungen

Schon bei den Wahlen zur Nationalversammlung Ende Februar war der personelle Austausch um einiges überzeugender als die konkurrenzlose Wahl mit vorprogrammierter Komplett-Zustimmung. Nur 18 Prozent der neuen Abgeordneten gehörten bereits der vorigen Asamblea Nacional an. Und das Durchschnittsalter der neuen Nationalversammlung liegt bei gerade 42 Jahren.
Und im Vorfeld der Wahlen hatte auch Castro selbst festgestellt, daß er nicht mehr der jüngste sei. Auch Marathonläufer werden müde, so der Comandante, und er sei in diesem Marathon der kubanischen Revolution schon lange gelaufen. Ein kraftvolles Bild, und die Phrase ging um die Welt. Die erste Tat der neuen Nationalversammlung machte aber die Grenzen der kubanischen Verjüngungskur deutlich: Präsident Fidel Castro und Vize-Präsident Raúl Castro wurden für weitere fünf Jahre im Amt bestätigt. Erst unterhalb der Castro-Brüder schlug die Stunde der Pensionierungen: Die drei weiteren Vize-Präsidenten Kubas, die Revolutionsveteranen Osmany Cienfuegos, Carlos Rafael Rodríguez und Pedro Miret, mußten ihre Plätze räumen.
Das Personalkarussel in Havanna war aber noch für eine andere Überraschung gut: Ricardo Alarcón, der erst im vergangenen Juni zum kubanischen Außenminister aufgestiegen war, tauscht diesen Posten ein und wird neuer Vorsitzender der Nationalversammlung. Von der politischen Bühne ab tritt damit der bisherige Vorsitzende und einstige Justizminister, Brigade-General Juan Escalona, der als Wortführer der Anklage im (Schau-)Prozeß gegen Armeegeneral Ochoa vor fast vier Jahren zu unrühmlicher Bedeutung gekommen war. Sein Nachfolger Alarcón gehört zwar nicht zu der “jungen Garde” Havannas, galt aber vielen Beobachtern ob seiner langen diplomatischen Karriere – zuletzt als Kubas Botschafter bei den Vereinten Nationen – und seiner großen Erfahrung speziell in den Beziehungen zwischen Kuba und den USA als eine der zentralen Figuren in Kubas politischer Zukunft. Erst vor einem halben Jahr war er in das Politbüro aufgestiegen.
In der Vergangenheit war der Vorsitz über die machtlose, nur zweimal im Jahr für einige Tage zusammentretende Nationalversammlung kaum mehr als ein ehrenwerter Abschiebeposten (so etwa als 1976 Außenminister Raúl Roa zum Vize-Präsidenten der Asamblea Nacional wegbefördert wurde). Die Umsetzung des gerade im Ausland relativ respektierten Diplomaten Alarcón kann aber auch auf den Versuch hinweisen, die Nationalversammlung aufzuwerten und ihr – wie dies in der offiziellen Wahlkampagne auch immer wieder verkündet worden war – ein Minimum an Eigenständigkeit und politischem Gewicht im kubanischen System zu geben.
Die zweite große Überraschung dann war die Ernennung des 37jährigen Chefs des Kommunistischen Jugendverbands, Roberto Robaina, als Nachfolger Alarcóns im Außenministerium. “Eine kühne Entscheidung”, wie die Parteizeitung Granma ihren LeserInnen erklärte. Schließlich verfüge Robaina, so wurde offen eingeräumt, nur über wenig diplomatische oder außenpolitische Erfahrungen. Und auch “Robertico” Robaina machte nach seiner Ernennung kein Hehl daraus, daß er bislang alles andere als ein Mann der Außenpolitik war. Diese Aufgabe habe ihn völlig unvorbereitet “über Nacht” ereilt, so Robaina. Aber als “Soldat der Revolution” werde er sich der Verantwortung stellen.

Der Angola-Krieg: Feuertaufe für die Kader der jungen Generation

Geboren in dem Jahr, in dem Castros Trupp von Guerrilleros in Kuba landete, verkörpert Robaina die Musterkarriere der Nach-Revolutions-Generation: Vorsitzender des Studentenverbands (FEU), Zweiter Sekretär des Kommunistischen Jugendverbands (UJotaCé), ab 1986 Erster Sekretär, Aufnahme ins Zentralkomitee im gleichen Jahr, seit 1991 jüngstes Mitglied im Politbüro der KP. Unverzichtbar für Robainas rasanten Aufstieg auch der “internationalistische” Einsatz mit den kubanischen Truppen in Angola: Loyalitätsprobe und Feuertaufe für die Kader der jungen Generation, die nicht durch die Revolution selbst “im Krieg gestählt” werden konnten.
In einem Moment, in dem eine Normalisierung der Beziehungen zu den USA für jegliche Zukunftsperspektive Kubas unabdingbar ist, bringt Robainas Ernennung zum Außenminister ihn endgültig in die erste Riege der kubanischen Staatsführung – und an die Seite des 40jährigen Carlos Lage, seinem Vorgänger als Chef der Kommunistischen Jugend, der als Castros Verantwortlicher für die Wirtschaftspolitik einen der derzeit wohl entscheidendsten Posten innehat. Im vergangenen Jahr ist Lage in der politischen Hierarchie Havannas zum “dritten Mann” hinter den Castro-Brüdern aufgestiegen, und die Nationalversammlung wählte ihn nun auch zu einem der drei offiziellen Vize-Präsidenten hinter Fidel und Raúl.
Den massiven Veränderungen in der “materiellen Basis” Kubas seit dem Fall der ost-europäischen Verbündeten folgen so bislang weniger Veränderungen in den Strukturen des politischen Überbaus, als vielmehr in dessen personeller Besetzung. (Militär und Innenministerium blieben von der Verjüngungskur – so weit sichtbar – ausgenommen; hier hatte Armee-Chef Raúl Castro den Prozeß gegen Ochoa zu einer umfassenden Bereinigung seiner Mannen genutzt. Und der damals von ihm als Innenminister eingesetzte Armee-General Abelardo Colomé Ibarra wurde jetzt ebenfalls zu einem der Vizepräsidenten des Landes befördert.)
Die Folge aus diesen Entwicklungen bleibt unklar. Zum einen hat Fidel Castro seine persönliche Machtfülle im vergangenen Jahr noch ausgeweitet, und in vielem scheint die Antwort des kubanischen Revolutionsführers auf den Niedergang des real-existierenden Sozialismus tatsächlich im Rückfall auf die traditionellen Muster lateinamerikanischer Caudillo-Herrschaft zu bestehen.
Andererseits scheint der Aufstieg der jungen Kader, deren Karriere in der Kommunistischen Staatspartei nicht nur Idealismus, sondern auch Opportunismus zur unverzichtbaren Voraussetzung hatte, nur der Vorbote weiterer und tiefergreifender Veränderungen zu sein. Der mexikanische Businessmann Mauricio Fernández Garza, der das mit einem offiziellen Volumen von einer Milliarde Dollar bislang größte Joint-Venture-Unternehmen mit Kuba betreibt und zur Zeit dabei ist, die erste ausländische Bank in Kuba auf den Weg zu bringen, formuliert diese Perspektive in klarer Sprache: Carlos Lage ist für ihn “praktisch eine Art Premierminister” und “Anführer derer, die ich ‘Reformer’ nenne”. Des Großinvestors knappe Einschätzung des derzeitigen Kurses: “Kuba ist in offenem Übergang zum Kapitalismus.”

Mittwochs in Quito

Schon früh am Morgen stehen überall im Zentrum von Quito bis an die Zähne bewaffnete, doppelte Reihen von Polizisten und sperren den Hauptplatz, Plaza de la Independencia, ab. Nur wer seinen Ausweis vorzeigt und einen Grund hat, darf weitergehen. Das Argument, Touristin zu sein, muß erst dem Vorgesetzten zur Beurteilung seiner Stichhaltigkeit vorgetragen werden. Ich vermute einen Staatsbesuch. Oder ein Attentat? Wasserwerfer stehen quer, das ganze Zentrum verwandelt sich im Laufe des Vormittags in eine Fußgängerzone, außerhalb bricht der Verkeher völlig zusammen.
Auf meine Frage antwortet der Polizist, es handle sich um eine Demonstration. Und gegen 11 Uhr sind sie dann da, die furchterregenden Feinde des Systems: ein Häuflein von vielleicht 15 Personen, überwiegend Frauen, haben sich mit Transparenten und Fotos außerhalb der gesperrten Zone aufgestellt, um gegen die Straflosigkeit für Polizisten die gegen das Ermorden, Foltern und Verschwindenlassen ihrer Angehörigen demonstrieren. Unter den Opfern befinden sich auch die Brüder Santiago und Andrés Restrepo, die vor fünf Jahren im Alter von 14 und 16 Jahren wegen einer Dummheit festgenommen worden waren. Sie wurden von der Polizei gefoltert und getötet. Ihre Leichen wurden der Familie nie ausgeliefert. Seit damals fordert die Familie eine Untersuchung des Falles und das Recht, ihre Toten zu begraben.

La verdad está. La justicia? Cuando?

Es wurde eine Untersuchungskomission eingesetzt und der Verantwortliche ins Gefängnis gebracht. Doch dann gab es Wahlen (1992), und die neue Regierung des Sixto Durán Ballén (Wandparole: Qué Suxto, einer Zusammenziehung aus Sixto und susto, der Schreck) löste die Untersuchungskommission auf; der Haupttäter “floh” aus dem Gefängnis. Bis zum Regierungswechsel waren die Demonstrationen der Angehörigen erlaubt; seitdem müssen sie immer damit rechnen, angerempelt und mit Tränengas beschossen zu werden. Sie demonstrieren seit fünf Jahren jeden Mittwoch zwischen 11 und 13 Uhr. Eine Woche später sind sie auch wieder da. Heute ist es der Mutter der Verschwundenen, Luz Elena Arismendi, und ein paar weiteren Personen gelungen, bis zur Plaza de la Independencia vorzudringen. Obgleich sie nur dastehen und sich unterhalten werden sie von Dutzenden von Polizisten bedrängt, gerempelt, gestoßen. Vor wenigen Wochen hatte Luz Elena auf dem Platz ein Transparent mit dem Bild ihrer Söhne entrollt. Dafür bekam sie Tränengas ins Gesicht und wurde über den Platz geschleift. Die Reaktion des Publikums auf die Demonstrantinnen ist einhellig positiv: Man klatscht, redet und zeigt seine Sympathie, soweit man den Mut dazu hat angesichts der Überzahl der Polizisten. Der “Fall Restrepo” ist sei nur einer von vielen, sagt man mir, aber einig die Familie Restrepo und wenige weitere Personen haben den Mut, ihr Recht zu fordern und dafür auf die Straße zu gehen. Im Übrigen ist Ekuador eine Demokratie, ebenso wie Chile, wo seit Januar’ 93 nun schon der dritte junge Mann im Polizeigewahrsam “verstorben” ist.

Verwirrung um Finanzstopp

Seit einem Jahr hat Nicaraguas Rechte in Parlamentspräsident und Ex-Contra-Führer Alfredo César einen neuen Wortführer. Spätestens seit die Präsidentin Violeta Barrios de Chamorro im September 1991 einen von César eingebrachten und von der rechten Mehrheit des Parlamentes verabschiedeten Regierungsentwurf zur Neuordnung der Eigentumsverhältnisse stoppte, gilt Parlamentspräsident César als unumstrittener Führer der rechten Opposition zur Regierung.
Am 20. Mai verkündete César, er wisse von einem Brief, den 24 US-Abgeordnete an die Präsidentin Violeta Barrios de Chamorro geschrieben hätten. Laut César enthielt dieser Brief den Vorwurf an die Regierung, die den USA gegebenen Versprechen nicht eingehalten zu haben. Namentlich: Armee und Polizei seien noch immer unter sandinistischer Kontrolle, die Umstrukturierung sei nicht weit genug gegangen. Sandinistische Unternehmen würden von den staatlichen Banken bei der Kreditvergabe bevorzugt, die mit US-Mitteln finanziert werde. Die USA würden nicht eine “Doppelregierung” mit den SandinistInnen finanzieren wollen, sondern die Politik der bei den Wahlen erfolgreichen “Nationalen Oppositions-Union (U.N.O.). Dies könne dazu führen, so César, daß die USA ihre Hilfe für Nicaragua überdenken könnten.
Die angesprochenen RegierungsvertreterInnen reagierten heftig. Heereschef Humberto Ortega erklärte vor dem Parlament, César betreibe einen Plan, um die ausländische Hilfe zu blockieren und die Regierung unter Druck zu setzen. Der Minister für Auslandskooperation Erwin Krueger betonte, daß die Banken ausschließlich nach finanzwirtschaftlichen Kriterien agieren würden. Außerdem sei es “in Nicaragua kein Verbrechen, Sandinist zu sein.”
Doch der Zug war bereits angefahren. In der “Washington Post” griff die ehemalige US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Jeane Kirkpatrick, Césars Stellungnahmen auf. Kirkpatrick, zu Zeiten Präsident Reagans eine der vehementesten UnterstützerInnen der Contra, wiederholte damit ein Vorgehen, das in der Vergangenheit so oft geklappt hatte: Von den USA gestützte nicaraguanische PolitikerInnen werden als “authentische Stimmen” zitiert. Diese wiederum greifen die Kritik aus den USA auf, um ihre eigene Position zu stärken. Die Contra-Connections funktionieren noch.
Aber noch war nichts geschehen. Die Geschichte hätte als plumpe Provinzposse enden können, wäre nicht wenige Tage später dem Kongreßabgeordneten und Vorsitzenden des Unterausschusses für Auslandshilfe David Obey die Idee gekommen, ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt die bevorstehende Auszahlung von 100 Millionen Dollar Wirtschaftshilfe an Nicaragua zu blockieren. Obeys Begründung: Das nicaraguanische Bankwesen habe im letzten Jahr zu große Verluste erwirtschaftet, die Hilfe sei mehr für den Import von Konsumgütern als für Investitionen ausgegeben worden. Gleichzeitig kündigte Obey an, die US-Regierung würde sich noch wundern, was alles am Bewilligungsausschuß scheitern könnte. Die Demokraten wollen insgesamt 1,2 Milliarden Dollar aus den Anträgen der Bush-Regierung für Auslandshilfe für das kommende Jahr streichen. Offenbar empfehlen sie sich so als zum Sparen fähige Partei – es ist Wahlkampf.
Ein weiterer Punkt: Nach dem Rücktritt des bisherigen US-Botschafters in Managua, Harry Shlaudeman, steht die Neubesetzung dieses Postens aus. Vorgesehen dafür ist Joseph Sullivan, der im Verdacht steht, in einen CIA-Deal während des nicaraguanischen Wahlkampfes verwickelt zu sein. Ein Betrag von 600.000 US-Dollar soll an den offiziellen Kanälen vorbei an die U.N.O. geflossen sein. Ein Parlamentsausschuß fertigte einen Untersuchungsbericht über die Vorwürfe an, der unmittelbar nach Abschluß als “streng geheim” klassifiziert wurde. Offenbar auch, um die Veröffentlichung dieses Berichtes zu erzielen, verfügte der Demokrat Obey die Sperrung der Gelder.
Damit sei Obey “voll in die Falle der Ultra-Rechten getappt”, kommentieren US-Solidaritätsgruppen diesen Vorgang. Es scheint tatsächlich, als ob die Gruppe der 24 Abgeordneten rechtzeitig von Obeys Plänen erfahren habe und Alfredo César informierte. Gemeinsam wurde dann ein propagandistisches Klima geschaffen, in dem es bei Bekanntwerden des Hilfestopps so scheinen mußte, als würden die “Warnungen” von César sich bewahrheiten.
In der öffentlichen Debatte in Nicaragua ist das auch genauso verstanden worden. Als Verantwortliche für die Mittelsperrung werden Alfredo César und der republikanische US-Senator Jesse Helms gesehen, der schon in der Vergangenheit bei Besuchen Violeta Chamorros in den USA auf eine härtere Gangart gegen die SandinistInnen gedrängt hatte.

Druck und Gegendruck

Der Zeitpunkt des Hilfestopps war auch deshalb entscheidend, weil das Geld dringend für eine im Juni fällige Zinszahlung an den Internationalen Währungsfonds benötigt wurde. Ein Ausfall dieser Zahlung hätte den Stopp weiterer internationaler Gelder bewirken können, der angesichts des hohen Finanzbedarfs zu Beginn der Regenzeit, wenn in der Landwirtschaft die Aussaat ansteht, katastrophale Folgen haben könnte. Zwar sind durch vorgezogene Finanzierungen aus anderen internationalen Quellen diese Gefahren zunächst abgewendet worden. Doch reagierte die nicaraguanische Gesellschaft prompt. Auf dem Schwarzmarkt schnellte der Dollarkurs, seit nunmehr fünfzehn Monaten stabil, von 5,15 auf 5,50 Córdobas pro Dollar nach oben. Supermarktketten brachen Stabilitätsabkommen mit der Regierung: Der Preis für Speiseöl stieg innerhalb kurzer Zeit um 15 %.
Die Regierung mobilisierte nationale und internationale politische Kräfte, um gegen den Stopp der Hilfe zu protestieren. Die zentralamerikanischen PräsidentInnen nutzten ihr lange geplantes Gipfeltreffen am 4. und 5. Juni, um die USA eindringlich zur Fortführung der Hilfe an Nicaragua aufzufordern. Zwei Tage zuvor hatten sich bereits die zentralamerikanischen Wirtschaftsminister “besorgt” über die Aussetzung der Hilfe geäußert.
Auch in Nicaragua kritisierten die meisten Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft den Schritt des Kongresses. Kardinal Obando y Bravo sprach sich für die Wiederaufnahme der Hilfe aus, ebenso wie der somozistische Bürgermeister von Managua, Arnoldo Aleman. Letzterer hat auch kaum eine andere Wahl, denn gerade seine Verwaltung ist eine der Hauptempfängerinnen von US-Hilfe.
Geteilter sind die Ansichten im nicaraguanischen Parlament. Ein von der Präsidentin eingebrachter Resolutionsentwurf wäre zunächst fast an der Weigerung von Parlamentspräsident César gescheitert, ihn überhaupt auf die Tagesordnung zu setzen. Aber auch in der Abstimmung schlossen sich nur 52 von 92 Abgeordneten der Erklärung an – große Teile der U.N.O.-Fraktion stimmten dagegen. Diese verfaßten stattdessen einen “offenen Brief” an Violeta Chamorro, in dem es unter anderem heißt:
Wir “wenden uns erneut an Sie, in tiefer Sorge über die außerordentlich ernste Lage, die in Nicaragua entstanden ist aufgrund des destabilisierenden und archaischen Verhaltens führender Mitglieder der FSLN, die nach wirtschaftlichen Vorteilen und wachsender Teilhabe an der Macht streben, und infolge der geduldigen und beschwichtigenden Haltung Ihrer Regierung gegenüber der FSLN. […] Das Verhalten Ihrer Regierung, die jedes Maß verloren hat, und über Präsidialminister Antonio Lacayo ständig und öffentlich politische Kontakte zu FSLN-Generalsekretär Daniel Ortega und dem Chef des Sandinistischen Volksheeres, General Humberto Ortega, pflegt, untergräbt die demokratische Grundordnung unseres Staates. […] All dies hat das demokratische Image Ihrer Regierung befleckt und ist der Grund für die Entscheidung des US-Kongresses, die die so notwendige internationale Hilfe für unser Land blockiert.” (Quelle: Monitor-Dienst 110/92)
Und wieder funktionierte das alte System: Offenkundig unter Bezugnahme auf diesen Brief, in dem an anderer Stelle vom “Entstehen einer neuen Diktatur in Nicaragua” die Rede ist, bewirkte der Rechtsaußen-Senator Helms mit einem Brief an die Führung der “US-AID”, die die Projekthilfe für Nicaragua kanalisiert, daß nunmehr auch diese einen Betrag von sechzehn Millionen Dollar gestoppt hat. Der nicaraguanische Minister Erwin Krueger zu Jesse Helms: “Er akzeptiert nicht, daß wir den Konflikt hier politisch und nicht militärisch gelöst haben, wie er sich das gewünscht hätte.

Trübe Aussichten

Bei Redaktionsschluß ist nicht abzusehen, wie das Dilemma enden wird. Zwar berichten Quellen, daß der 100-Millionen-Stopp bereits Anfang Juli aufgehoben werden könnte, doch ist dies bislang nicht bestätigt. Hält die Aussetzung an, muß befürchtet werden, daß die Inflationsbekämpfung, einzig sichtbarer Erfolg der Chamorro-Wirtschaftspolitik, bald zusammenbrechen wird. Schließlich basiert die Stabilität des Córdobas nicht auf einer gefestigten Produktion, sondern auf der Finanzierung der Währung durch internationale Gelder. So hat Finanzminister Pereira auch schon angekündigt; wenn die Hilfe ausbliebe, müßten Steuern erhöht und öffentliche Investitionen gestoppt werden. Seine Beschwichtigung klingt jedoch fast zynisch: “Wir werden die geplanten 5 % Wachstum nicht erreichen, aber die Situation wird nicht viel schlechter.” Vielleicht hat er recht: Viel schlimmer kann’s nicht mehr werden. Und doch bleibt ein bitterer Nachgeschmack: Ein nicht zuletzt aus taktischen Gründen des US-Wahlkampfes unternommener Schritt bringt die Stabilisierungsbemühungen eines ganzen Landes ins Wanken.
Wer politisch als Sieger aus dem Konflikt vorgeht, ist noch nicht ausgemacht. Wieder rücken Regierung und FSLN gegen die Hardliner der U.N.O. enger zusammen, doch hat die Kritik an dieser “Doppelregierung” neue internationale Foren gefunden. Ob sich der Versöhnungskurs gegenüber den SandinistInnen, der zur Durchsetzung des neoliberalen Modelles notwendig ist, angesichts dieser Anfeindungen wird halten können, steht permanent zur Disposition. Schon kursieren Gerüchte, die nicaraguanische Rechte plane die Durchführung einer Volksabstimmung über Neuwahlen noch vor Ende der Legislaturperiode 1996.

Rechenkünstler

Kein Vertrauen in salvadorenische Wahlen

Noch etwas anderes prognostizierte die UCA: eine große Zahl der Wahlberechtigten werde nicht zur Wahl gehen. Über 40 % von ihnen war überzeugt, daß es einen Wahlbetrug geben würde. Die Realität gab ihnen recht. Die ersten Trendrechnungen am Abend des 10. März ließen unerwartete 16-17 % für die Convergencia erahnen. Die CD wäre damit eindeutig drittstärkste Partei des Landes geworden. Danach ließ man sich über eine Woche Zeit, bis die ersten offiziellen Endergebnisse aus einzelnen Provinzen veröffentlicht wurden. Der Trend war nicht zu verkennen. Der zentrale Wahlausschuß der lediglich mit Vertetern von ARENA, PDC (Christdemokraten) und der PCN (Regierungsparte der 70er Jahre) besetzt war, hatte offenbar beschlossen, daß die PCN dritte Kraft auf Parteienebene bleiben soll. Am 22. März wurden dann die endgültigen Ergebnisse veröffentlicht. ARENA “beschmutzte” sich nicht mit einer absoluten Mehrheit, sie erhielt 39 Sitze in dem auf 84 Mandate erweiterten Parlament. Danach besetzen die PDC in Zukunft 26, die aussichtlose PCN 9, die Convergencia 8, die UDN einen und die rechte PDC-Abspaltung MAC ebenfalls einen Sitz. Damit war die Convergencia plötzlich nur noch die viertstärkste politische Kraft. Diese Mandatsverteilung ist ein echtes Kunststück, da gleichzeitig anerkannt wurde, daß die Convergencia 12 % und die PCN nur 9 % der Stimmen bekamen. Nach dem herrschenden Wahlgesetz nämlich werden 64 Sitze pro Provinzparlament (Departamentos) ermittelt. Je nach EinwohnerInnenzahl wiederum stehen den Departamentos eine bestimmte Anzahl von Mandaten im nationalen Parlament zu. Daß die Convergencia eben in den “falschen” Provinzen drittstärkste Kraft wurde und weniger Sitze als die PCN erhielt, kommentierte der ARENA-Gründer Roberto d’Abuisson folgendermaßen: “Die Convergencia hat eben Pech gehabt.” Gleichzeitig stieß er heftige Drohungen gegen den Chef der Convergencia, Rubén Zamora, aus. Die Drohungen erinnerten fatal an jene, die den Morden an Erzbischof Romero 1980 und den Jesuiten 1989 vorausgingen…
Wahlen in El Salvador sind weit davon entfernt, Bestandteil eines demokratischen Prozesses zu sein, auch wenn die ARENA-Prominenz nicht müde wird, dies immer wieder zu beteuern. In den 80er Jahren hat es etliche Urnengänge gegeben, alle in der Logik der Aufstandsbekämpfung. Die Tatsache, daß auch diesmal 55 % der Wahlberechtigten den Urnen ferngeblieben sind, verdeutlicht die Folgen dieser Politik. Inwieweit die Opposition dieses Potential für sich gewinnen und mobilisieren kann, wird sich bis 1994 zeigen, wenn ein neuer Präsident gewählt werden soll.

Die Endergebnisse (22. März 1991)

Partei % Mandate

ARENA 44,3 39
PDC 28,0 26
PCN 9,0 9

Convergencia
Democrática (CD) 12,0 8
MAC 3,0 1
UDN 2,7 1

Die FMLN: Leidige Wahlen und eine neue Dynamik

Man hat sie unter den derzeitigen Bedingungen nicht gewollt, aber die Verhandlungsdynamik und die Tatsache, daß die Convergencia ihre Teilnahme zugesagt hatte, hatten der FMLN das erste Mal verboten, die Wahlen zu boykottieren.
Lange mußte die Frente diskutieren, bis die Poitionen definiert waren: Keine Empfehlung für eine der Oppositionsparteien, keine Wahl in den kontrollierten Zonen (nur in den Provinzhauptstädten), und kurz vorher verfügte die FMLN eine dreitägige Waffenpause. Die Armee nutzte dies aus, um in großangelegten Operationen bestimmte Regionen für eine begrenzte Zeit einzunehmen, damit dort die Wahlen durchgeführt werden konnten. Gleichzeitig jedoch wurden auch Fälle bekannt, bei denen das Militär u.a. in Chalatenango und Morazán Personen behinderte ihre Stimmen abzugeben.
Neben dem Streik der Beschäftigten des Finanzministeriums gewannen die Verhandlungen zwischen der FMLN und der Regierung in der Öffentlichkeit alsbald wieder großes Gewicht. Zunächst wurde jedoch ein Plan bekannt, der vor den Wahlen angeblich von ARENA, PDC und der Convergencia (UDN nicht) unterstützt wurde. Der Vorschlag läuft auf eine Säuberung des Militärs, ihre Unterstellung unter eine zivile Kontrolle und das Ende der Straffreiheit hinaus. Allerdings sollen diesem Vorschlag zur Folge Offiziere in die entsprechenden Komissionen deligiert werden. DIe PDC äußerte sich nicht dazu und Rubén Zamora dementierte sichtlich verärgert: “Da ist jemand dabei, eine ganz häßliche Geschichte zu konstruieren.”

Frieden noch in diesem Jahr?

Anlässlich der San José VII Tagung in Managua präsentierte die FMLN ihren neuen Vorschlag: Gleichzeitige Behandlung der wichtigsten Themen des Verhandlungsprozesses – Armee, Verfassungsreform und Waffenstillstand (!). So soll unter der aktiven Mitarbeit der Parteien und Organisationen bis Ende Mai ein Waffenstillstand vereinbart werden. Die Reaktionen von Seiten der ARENA und der Militärs auf diesen tatsächlich neuen Vorschlag, der nicht ohne Risiken für die FMLN ist, waren unterschiedlich. Allzu großer Optimismus verbietet sich jedoch. Nach wenigen Tagen sprach der Generalstab ein Machtwort: Die Demobilisierung der Guerilla – so Inocente Montano, Tandona-Oberst und Vize-Verteidigungsminister – sei unabdingbare Voraussetzung für die Vereinbarung eines Waffenstillstandes.

Wirtschaftsprogramm schockt NicaraguanerInnen

Das Anpassungsprogramm präsentiert sich entsprechend orthodox: Kernstück ist die nominale Entwertung des bis dato nur spärlich zirkulierenden Gold-Cordobas um 400%, mit der die Regierung 80% der Geldmenge abschöpfen konnte. Der neue Cordoba soll, seines Gold-Attributes beraubt, bis Ende April definitiv den alten “sandinistischen” Cordoba ersetzt haben.
Die Preise für inländische Produkte, öffentliche Dienstleistungen und Treibstoffe verbilligten sich durch eine Anhebung um nur 300-350%, ohne für die Mehrheiten des Landes deshalb erschwinglicher zu werden. Die Lohnanpassung erschöpfte sich schon bei durchschnittlich 200%.

Sauberes Wasser

Die Notwendigkeit von Anpassungsmaßnahmen wird in Nicaragua von keiner Seite bestritten. Die Inflation war infolge des in künstlicher Parität zum Dollar gehaltenen Gold-Cordoba auf monatliche 120% explodiert. Die Überbewertung der nationalen Währung hatte Nicaragua im vergangenen Jahr zum teuersten Land Zentralamerikas werden lassen, die Gewinnspannen für die Exportproduktion verringert und Importwaren im Verhältnis zur einheimischen Produktion konkurrenzlos verbilligt.
Mit der Anpassung soll diese Entwicklung korrigiert werden. Die komplizierte Art ihrer Durchführung schuldet sich der Notwendigkeit, die beabsichtigte Senkung der Lohnkosten angesichts der starken sandinistischen Gewerkschaften nur indirekt durchzuführen.
Der Staatshaushalt – in dessen Defizit die Regierung die Quelle der Inflation ausgemacht hat – soll sich künftig selbst tragen und nicht mehr mit der Notenpresse finanziert werden. “Sauberes Wasser” müsse fließen, metaphorte Lacayo – sturer Monetarismus als pfiffige Wirtschaftsökologie. Saniert werden soll der Staatsetat durch weiteren Personalabbau, Senkung der Lohnkosten, Verkauf von staatli¬chen Betrieben und die restriktive Handhabung des Kreditwesens.

Gewinner und Verlierer

“Es ist jetzt nicht die Zeit für Verbesserung, sondern die der Nicht-Verschlechterung”, rechtfertigt eine Regierungserklärung die Roßkur. Doppelt gelogen hält besser, denn wie die Verlierer – Lohnabhängige, Kleinhandel und -produktion – stehen die Gewinner der Anpassung fest: Allein durch die Regulierungen im Finanzwesen – Sparguthaben wurden mit dem Faktor 5, Kredite mit einer Laufzeit bis Mai aber nur mit 3,4 multipliziert – können die we¬nigen großen Kaffee- und Baumwollproduzenten zusätzliche Gewinne von mehreren tausend Dollar einfahren. Der Verlust der kleinen Produzenten, die in Ermangelung von Weiterverarbeitungs- und Lagermöglichkeiten die Ernte des auslaufenden Agrarzyklus schon längst zu alten Preisen verkauft haben, läßt sich durch die reale Verringerung der Kreditforderungen nicht wettmachen. Um so mehr, als nur wenige der Kleinproduzenten über Sparguthaben verfügen, die laufenden Kosten der Entwertung aber nicht angeglichen wurden.
Die inländische Produktion, im vergangenen Jahr arg geschrumpft, wird durch die unausweichliche Rezession im Zuge der Anpassung weiter getroffen; zahllose kleine und mittlere Unternehmen stehen vor dem Ruin. Der sandinistischen Agrarreform, der die Anerkennung auszusprechen die Regierung sich bei keiner Gelegenheit enthält, wird vermittels wirtschaftlichen Druckes und den Spitzen der Kreditpolitik die Luft abgelassen.
Die gerade forcierte Umverteilung des spärlichen nationalen Reichtums zugunsten der großen exportorientierten Agrarproduzenten zeigt, in Verbindung mit den geplanten umfassenden Privatisierungen, die tatsächliche Richtung des Anpassungsprogrammes an. Der Anpassungsschock trifft die Mehrheiten Nicaraguas zu einer Zeit, da ihre soziale Situation kaum weiter verwahrlosen kann. LandarbeiterInnen verdienen nach der Reform 80 Cents am Tag, die Löhne in der Industrie sind kaum besser. Die Arbeitslosigkeit hat die 50%-Marke bald erreicht. Die Gesundheitsversorgung wird durch den seit mehr als 2 Monaten andauernden MedizinerInnenstreik kaum beeinträchtigt; im ganzen Land fehlen die nötigen Medikamente, Präventiv-Medizin findet ohnehin nicht mehr statt.
Kein Wunder, daß die sandinistische Gewerkschaftszentrale FNT, zuvor kritisiert wegen ihrer Zurückhaltung seit dem Konzertations-Abkommen vom vergangenen Oktober, umgehend mit Streiks auf die Maßnahmen reagierte. Die Regierung zeigte sich anfangs hart, ließ die Polizei gegen Streikende vorgehen, erklärte sich dann aber – unter Vermittlung der FSLN – zu Verhandlungen bereit. Die Bedingungen für die FNT sind in diesem Konflikt nicht eben günstig: Als Konsequenz gewinnen individuelle Überlebensstrategien in der Bevölkerung an Bedeutung, durch die hohe Arbeitslosigkeit haben die Gewerkschaften zudem viele Mitglieder verloren. Vor allem aber fehlt der FNT die eindeutige Rückendeckung durch die FSLN. Die Regierung ihrerseits muß dem IWF eine gewisse Stabilität vorweisen, so daß ein Kompromiß in den Verhandlungen wahrscheinlich ist.
Der schwarze Peter

Die unterschiedlichen Kommentare zu den Wirtschaftsmaßnahmen in der sandi¬nistischen Presse deuten auf eine tatsächliche Uneinigkeit in der FSLN hin. Das Kommuniqué der Nationalleitung der FSLN unterstreicht die Notwendigkeit des Anpassungsplans, kritisiert ihn im Detail und benennt seine sozialen Implikationen. Die Erklärung endet, nach einem lauwarmen Aufruf zur Verteidigung der revolutionären Errungenschaften, mit dem Appell an die Kräfte des Landes zur sozialen Solidarität. Die Benennung der Nutznießer der Anpassung wird auffällig vermieden. Dies bedeute weder restlose Unterstützung noch Ablehnung der Regierungsmaßnahmen, erläuterte Ex-Präsident Daniel Ortega die Position der FSLN.
Mit dem inmitten der Streiks von der sandinistischen Nationalleitung ausgesprochenen Gesuch an IWF und Industrienationen, Nicaragua einen Aufschub in der Schuldenrückzahlung und besondere Bedingungen bei der Kreditvergabe zu gewähren, erhärtete die FSLN die Vermutung, daß sie auf keinen Fall die Zusage internationaler Finanzhilfen gefährden wolle. Immerhin würdigte die Regierung die sandinistische Zurückhaltung mehrfach als konstruktiv und patriotisch. Die FSLN will, scheint es, die Rolle des Sündenbockes beim zu erwartenden Scheitern des Anpassungsprogrammes schon präventiv auf die abschieben, an die sie gerade so sozialdemokratisch appelliert: IWF und nationales Kapital. Vielleicht spekuliert sie darauf, daß die UNO-Regierung wenigstens diese eine ihrer Versprechungen hält: abzutreten, wenn die Maßnahmen nicht wie verheißen greifen sollten.
Viel Handlungsspielraum hat die FSLN nicht: auch eine von ihr geführte Regierung müßte sich mit den westlichen Industrienationen und der nationalen Bourgeoisie verständigen. Die Vorsichtigkeit der offiziellen Reaktion bleibt vielen AktivistInnen an der sandinistischen Basis dennoch unverständlich. Will die FSLN ihre Glaubwürdigkeit und Mobilisierungsfähigkeit nicht ernsthaft aufs Spiel setzen, muß sie – so urteilen viele – schon bald die Initiative ergreifen. Ob und wie sie das tun wird, ist ungewiß. Teile der FSLN jedenfalls scheinen auf eine Sozialdemokratisierung der Konflikte zu setzen, wie sie in der bereits vollzogenen Aufgabenteilung mit der FNT zum Ausdruck kommt: die zeichnet fürs Grobe zuständig, und die FSLN vermittelt. Nicht wenige halten eine Rückkehr der FSLN an die Regierung bei den nächsten Wahlen für möglich: in einer Koalition mit (Antonio Lacayo und) der sozialdemokratischen Partei des Parlamentspräsidenten Alfredo Cesar.
Die Stabilität Nicaraguas bleibt derweil bedroht durch die anhaltenden Landkonflikte zwischen Ex-Contras und Kooperativen, die Gewaltakte gegen sandinistische AktivistInnen und die ständigen Bemühungen, Polizei und Militär der sandinistischen Kontrolle zu entziehen; die Kriminalitätsrate ist im ganzen Land emporgeschnellt. Die Wirtschaftsmaßnahmen verschärfen die sozialen Konflikte weiter, bleiben sie doch eine Antwort auf die Probleme der Mehrheiten schuldig. Dies kann auch die umfassende, opferfordernde und zukunftsverheißende Regierungspropaganda zum Anpassungsprogramm nicht verdecken, die letztlich nur an die Zeichnung von F.K.Waechter gemahnt: der dicke Weiße, umringt von freudigen Negerlein, erklärt das Hungerproblem für gelöst – einfach mehr spachteln.

Kasten:

Che lebt – Die neue Rhetorik der UNO-Regierung

“Die wirtschaftliche Revolution, die wir begonnen haben (…), wird wachsen wie ein gigantischer Baum, verwurzelt in der politischen Revolution, die das Volk von Nicaragua so viel Blut, Schweiß und Tränen gekostet hat.” Revolution! Man möchte kaum glauben, was Präsidialamtsminister Antonio Lacayo da im Namen der UNO-Regierung verliest. “Wir appellieren an die internationale Gemeinschaft, an Weltbank und IWF (…), mit Bestimmtheit die Selbstbestimmung Nicaraguas zu unterstützen, welche den Aufbau dieses Modells von integraler Revolution vorantreibt, das als Beispiel dienen soll für die Bruderländer der Dritten Welt, die mit vollem Recht für ihre Befreiung von Rückständigkeit und Armut kämpfen.”
Selbstbestimmung! Beispiel, Befreiung, Kampf – es ist nicht zu fassen, wie Toño Lacayo sich zu Höhen revolutionärer Rhetorik emporschwindelt, die der FSLN vorbehalten zu sein schienen.
Die FSLN zeigt sich einigermaßen verblüfft ob der neuen Konkurrenz. Zwar hatte sie sich seit dem Regierungsverlust eifrig bemüht, den neuen Machthabern die Revolution als historische Realität und deren Lebendigkeit als politische Determinante nahezubringen. Daß die rhetorischen Lernerfolge der Regierung solche schon che-mäßigen Dimensionen annehmen, macht allerdings stutzig: Den Versuch der “Konfiszierung der Revolution” vermutet die sandinistische Journalistin Rosario Murillo hinter der wundersamen Wandlung des Regierungsdiskurses.
Tatsächlich hat sich die Regierungspräsentation deutlich gewandelt: statt drögen Technokraten-Mienen hier ein lachender Minister, da ostentative Besorgnis, dort ein volksnah fluchender Lacayo. Wo früher der schiere Triumphalismus den Diskurs diktierte, werden heute durchaus Konzessionen an die Wirklichkeit, die bittere, gemacht. Zwar rudern die regierungsfreundlichen Werbespots noch gerne bei aufgehender Sonne auf dem Nicaraguasee, werfen aber immerhin kurze Blicke auf schmutzige Kinder und unansehliche Menschen, die im Müll nach Eßbarem stochern – aber Nicaragua hat auch große Probleme, besorgt sich die Stimme aus dem Off.
Im Gegenzug reift der offizielle Diskurs der FSLN vom markig-Fordernden zum eher distinguiert-Appellativen. Wo seinerzeit die Klassenlage analysiert und mit Konfiszierung gedroht wurden, wird heute an die soziale Solidarität gemahnt. In den abendlichen Fernsehnachrichten trifft man sich dann wieder; den Bericht über ein schmalbrüstiges regierungsamtliches Wohnungsbauprojekt untermalt schamlos die leichte Melodie eines sandinistischen Revolutionsliedes. Die Entwicklung scheint allgemein zu sein: der Kommandant der salvadorianischen Guerilla FMLN freute sich, von der demokratischen Regierung Nicaraguas empfangen zu werden und würdigte den nicaraguanischen Demokratisierungspro¬zeß als Beispiel für El Salvador.
Nicht bekämpfen, umarmen müsse man die Revolution, war das Motto der bundesdeutschen Sozialdemokratie in ihrer Nicaragua-Politik. Umarmen und zudrücken.
H.-C. Boese

In der “Musterdemokratie” zer­bröckeln die Illusionen

Venezuela fällt aus dem lateinamerikanischen Rahmen: Die großen Erdölvorräte veränderten seit dem Beginn ihrer Ausbeutung in den 30er Jahren die politische und ökonomische Struktur des bis dahin armen Agrarstaates im Norden Südamerikas. Vorher war das Land in von einzelnen Caudillos regierte Regionen zersplittert, die Bevölkerung war abhängig von ihren jeweiligen Grundherren. Mit dem Öl folgte eine Phase der Diktaturen mit wenigen demokratischen Zwischenphasen. 1958 besiegelte der Pacto de Punto Fijo die bis heute gültige Partei­endemokratie, der viele einen Mustercharakter in Lateinamerika attestieren.
Dennoch kann von einer Musterdemokratie in Venezuela keine Rede sein. Der venezolanische Staat ist, vergleichbar mit anderen lateinamerikanischen Ländern, zutiefst populistisch-paternalistisch geprägt. Kurz vor den Wahlen werden in ei­nem finanziell und inhaltlich bizarren Wahlkampf plötzlich Straßen geteert oder Stromleitungen gelegt. Da erreicht die staatliche “Fürsorge” sogar die “Ranchos”, die Armenviertel von Caracas, in denen mehr als die Hälfte der rund sechs bis sieben Millionen Caraceños lebt.
Durch die hohen Öleinkommen war eine Rentenideologie, die auf Pump lebte und strukturelle Entwicklungsprobleme weitgehend ausblendete, bislang in hohem Maße konsensfähig und ohne große Konflikte möglich. Korruption und Pa­tronage im großen Stil prägen nicht nur die Regierungsgeschäfte und das Rechts­system, sondern sind auch im täglichen Leben maßgeblich. Doch nicht nur des­halb ist die öffentliche Meinung über Politiker, Regierung und Behörden auf dem Nullpunkt angelangt.
In den 70er Jahren konnte der Staat seinem paternalistischen Anspruch, für seine BürgerInnen “zu sorgen”, zumindest zeitweise gerecht werden, da der öffentliche Sektor durch die gerade vonstatten gegangene Nationalisierung des Erdöls und eine hohe Neuverschuldung noch über ausreichend Geld verfügte. Heute jedoch hat die permanente Erfahrung uneingelöster Versprechungen ein zunehmendes Mißtrauen gegenüber dem demokratischen System und den Politikern ausgelöst: “Prometen, pero no cumplen”, sie versprechen viel, aber halten’s nicht.
Zusätzlich führte die Tatsache, daß die Parteien und damit der Staat sich lediglich vor den Wahlen ernsthaft um die Wähler und ihre Probleme kümmern, ins­besondere in der letzten Zeit zu einem weitgehendem Vertrauensverlust in den Staat, zu Hoffnungslosigkeit und Resignation in den unteren sozialen Klassen. Immer weniger glauben sie daran, daß der Staat ihre Le­benssituation verbessern könne oder dies überhaupt ernsthaft wolle.

Konformismus, Aufsteigermentalität und Resignation liegen dicht beieinander

Gleichzeitig und vordergründig widersprüchlich beherrscht viele Menschen eine Art “Tellerwäschermentalität”, die jede Armut auf individuelles Versagen zurückführt, den Staat und die Gesellschaft von jeder Schuld freispricht und die Hoffnung auf den “großen Sprung nach oben” manifestiert. Man hofft, eines Tages dem Elend entrinnen zu können; wer dies nicht schafft, ist selber Schuld und hat seine Chance verpaßt. Auch das venezolanische Fernsehen läßt kaum eine Möglichkeit verstreichen, den Armen zu zeigen, wie unfähig sie sind, und ver­stärkt damit die gesellschaftliche Spaltung und Hierarchie nicht nur zwischen den Klassen, sondern auch innerhalb der marginalisierten Gruppen selbst.
Unter solchen Bedingungen liegen Konformismus, Aufsteigermentalität und Resignation dicht bei­einander. Ein “Klassenbewußtsein” ist in Venezuela kaum ver­breitet. Maßgeblichen Einfluß hatte in dieser Hinsicht die enge Anlehnung an die USA, auch über die Erdölgesellschaften und ihre Arbeiter (Trotzdem sind die “Gringos” in Venezuela, wie auf dem gesamten Subkontinent, äußerst unbeliebt).
Diese Mentalität trug mit dazu bei, daß soziale Bewegungen und Selbsthilfeinitiativen lange Zeit ein Schattendasein führten. Auch der zentralisierte Staat verhinderte bisher trotz der Wahlen und der Verankerung der Parteien eine echte Partizipation an den Entscheidungen. Neue Bemühungen um eine staatliche wie institutionelle Dezentralisierung könnten die Voraussetzungen für eine stärkere Bürgerbeteiligung schaffen; wohin sich die Reformen jedoch tatsächlich entwic­keln, ist momentan noch nicht absehbar.
Als die mit großen Hoffnungen gewählte Regierung von Carlos Andres Pérez in vorauseilenden Gehorsam gegenüber dem IWF im Februar 1989 harte wirtschaftliche Maßnahmen durchsetzte, waren gewaltige Unruhen und immense Plünderungen die Folge (vgl. LN Nr. 180). Sowohl das Militär als auch im Unter­grund in den Ranchos arbeitende Gruppen nutzten die Gelegenheit zu einer of­fenen Konfrontation, in deren Folge durch das brutale Vorgehen der Militärs – auch gegenüber Unbeteiligten – mehrere Hundert Menschen ermordet wurden. Nach wie vor gibt es zahlreiche Verschwundene und immer noch fast täglich To­desanzeigen in den Zeitungen von den Kämpfen.
Diese Ereignisse haben zwar nicht zu einer breiteren Opposition geführt, hatten aber dennoch Auswirkungen auf die poltische Kultur. Hand in Hand mit den sich verschlechternden ökonomischen Bedingungen der Mehrzahl der Bevölkerung, haben fast alle inzwischen den letzten Rest Vertrauen in den Staat und seine Akteure verloren. Die Menschen glauben an praktisch nichts mehr, was “von oben kommt”. Steigende politische Repression und die traumatischen Ge­schehen vom Frühjahr 1989 machen Angst und hemmen politische Aktivitäten.
Die zunehmende Aussichtslosigkeit der Hoffnung auf den “großen Sprung”, den sozialen Aufstieg, vor allem unter den Jugendlichen der städtischen Barrios, und der Vertrauensverlust in bezug auf die Politik begünstigt nun eine Entwicklung, die ihren eigentlichen Anfang einmal in der Mittelschicht nahm: die Stadtteilinitiativen (Asociaciónes de vecinos) oder auch Selbsthilfegruppen.
Sie sind eine Form von Bürgerinitiativen, die sich um alle Belange des eigenen Stadtviertels kümmern, vor allem jedoch um die von den zuständigen Behörden vernachlässigten Probleme. Einen unmittelbar an der Verbesserung der Lebens­bedingungen orientierten Ansatz haben die Vecino-Gruppen in den Barrios pobres, während die Gruppen der Mittelschicht zudem allgemeiner politisch und partei­enunabhängig wirken wollen. In Caracas sind die Wohnlagen klar getrennt: Die unteren Schichten wohnen ganz oben an den Hängen; je weiter unten die Woh­nung, desto besser gestellt sind die Leute.
Ein Hindernis der Stadtteilarbeit in den Barrios war vor allem deren heterogene Zusammensetzung, die immensen Einkommensunterschiede auch innerhalb der “Unterschicht”, und die daraus folgende Hierarchisierung. Diese erschwerte oft eine Solidarisierung, die ihrerseits jedoch Voraussetzung für eine erfolgreiche Arbeit ist.
Die staatliche Haltung den Gruppen gegenüber ist charakteristisch für das System Venezuelas: Zwar wurden die Vecino-Vereinigungen 1979 und verstärkt dann 1990 durch eine Gesetzesreform institutionalisiert, mit Rechten und Pflichten ausgestattet und 1988 sogar in die Stadt- und Gemeindeplanung miteinbezo­gen; doch werden ihre Aktivitäten vielfach nur solange begrüßt, wie sie propa­gandistisch ausgenutzt werden können. Ansonsten erfolgen die typischen Maß­nahmen, die übliche Hinhalte-Taktik, Versprechen und Nicht-Einhalten oder auch Einschüchterungsversuche. Manche Gemeinden jedoch versuchen auch, ernsthaft mit den Vecinos zusammenzuarbeiten.
Auch im Umweltbereich gibt es verstärkte Initiativen “von unten”, weil die Umweltsituation in Venezuela sich katastrophal darstellt und wenige staatliche Be­mühungen ernst zu nehmen sind. Ein Beispiel ist die Sociedad Conservacionista Aragua, die es in über 17 Jahren Arbeit geschafft hat, basisorientiert zu arbeiten, ohne sich etwa von den Parteien korrumpieren zu lassen – eine Gefahr, die bei allen Gruppen latent existiert und wodurch viele, auch der Vecino-Gruppen, ihre Glaubwürdigkeit und politische Energie verlieren.

Je weniger Funktionen der Staat noch erfüllt, desto wichtiger werden die Basis-Organisationen

Die Sociedad Conservacionista arbeitet im wichtigen Bereich Umwelterziehung direkt an den Schulen, mittels der Lokalzeitung und mit Hilfe ihrer Umweltbiblio­thek; daneben aber beispielsweise auch mit arbeitslosen Jugendlichen, die in der Feuerbrigade helfen, im naheliegenden Nationalpark während der Trockenzeit Brände zu löschen und in der Regenzeit bei der Aufforstung tätig sind. Die Zu­sammenarbeit mit anderen Umweltgruppen und der Versuch, auch die staatli­chen Institutionen für dieses Thema zu sensibilisieren, werden immer unerläßli­cher.
Diese zwei Bereiche – Asociaciones de vecinos und die Sociedad Conservacionista Aragua als ein Beispiel für Umweltorganisationen – zeigen, daß auch in einem Land mit traditionell wenig Basisorganisation wie Venezuela, diese umso wichtiger wird, je weniger der Staat solche Funktionen erfüllt.
Die Illusion seitens der Bevölkerung, einmal den großen Sprung in die reiche Gesellschaft schaffen zu können, die Wunschträume, der Staat sorge dann wenig­stens für diejenigen, die aus eigenem Versagen arm bleiben, und die Hoffnung der Politiker, die Widersprüche kapitalistischer Entwicklung mit Hilfe des Öl­reichtums umgehen zu können – alle diese während 30 Jahren Demo­kratie ge­pflegten Illusionen zerbröckeln langsam.
In Venezuela wird seit einigen Jahren immer deutlicher, daß bei sich verschlechternden ökonomischen und konfliktiver werdenden politischen Verhältnissen die Notwendigkeit, sich selbst zu organisieren, immer größer wird. Hierin liegen auch Chancen, die politische Kultur partizipativer und damit demokratischer zu gestalten. Inwieweit es gelingt, den äußerlich negativen Entwicklungen eine sol­che positive Wendung zu geben, hängt nicht zuletzt auch davon ab, ob der Staat ohne Eingreifen des Militärs die Freiräume läßt, daß die Menschen immer mehr Vertrauen in die eigene Kraft und die eigenen Erfolge entwickeln können.

Kasten:

Wir, die Gesellschaft für Umwelt- und Naturschutz in Venezuela (GUNV) sind ein 1990 gegründeter gemeinnütziger Verein, der sich bislang noch überwiegend aus StudentInnen der Geographie in Bonn zusammensetzt, was aber nicht so bleiben soll. Wir wollen vor allem zwei Hauptaufgaben erfüllen: Die finanzielle Unterstützung von Projekten im Bereich Umwelterziehung in Zusammenarbeit mit der Sociedad Conservacionista Aragua als einen Beitrag zur Verbesserung der Umwelt- und Lebensbedingungen dort. Schon seit längerem pflegen wir sehr enge Beziehungen zu dieser Organisation.
Der zweite Teil ist die Sensibilisierung von Menschen hier in bezug auf Umwelt- und Entwicklungsprobleme über eine möglichst breite Öffentlichkeitsarbeit, be­sonders zu dem in der “Entwicklungsszene” ziemlich vernachlässigten Vene­zuela. Für an diesem Land interessierte Leute wollen wir gerne Ansprechpartner sein, neue Mitglieder und Spenden würden wir sehr begrüßen!

Kontaktadresse: Hilde & Martin Selbach, Burbacher Str. 80, 5300 Bonn, Tel. 0228/231643 oder bei Autorin: 02222/63261;
Kontonummer: 251140 bei Sparkasse Bonn BLZ: 38050000.

Only in Dollar we trust

“Es ist unmöglich, in nur 18 Monaten, die Fehlentwicklung von Jahrzehnten zu korrigieren”, sagte der argentinische Präsident Carlos Menem Mitte März vor den TeilnehmerInnen eines “Seminars über die Realitäten Argentiniens” der Konrad-Adenauer-Stiftung in Buenos Aires. Wenige Tage zuvor verkaufte er seinen peronistischen ParteigenossInnen auf einem Kongress die derzeitige Situation wesentlich rosiger: “Argentinien fühlt sich schon jetzt als Teil der ersten und nicht mehr der Dritten Welt.”
Mit 27% Inflation im Februar schloß Argentinien also zu den “entwickelten” Ländern auf. Ende März tat der neue Wirtschaftsminister Domingo Cavallo (LN 201) dann den nächsten Schritt seines Landes innerhalb der Gemeinschaft der Industrienationen. Was in Europa auch 1992 noch längst nicht erreicht sein wird, die einheitliche Währung der Mitgliedsländer, nahm der Minister für das noch zu realisierende amerikanische Pendant, den Gemeinsamen Markt von Alaska bis Feuerland, schon einmal vorweg: Der US-Dollar wird am 1.April offizielle Leitwährung des Landes. Damit wird letztlich der Realität, daß viele Waren ohnehin nur noch gegen US-Dollar gekauft werden können, Rechnung getragen. Abhängig ist dieses Gesetzesprojekt nur noch von der Zustimmung des Parlaments, dessen Wohlwollen Cavallo sich allerdings schon im voraus gesichert hatte. “Die peronistischen Abgeordneten unterstützen den Minister und seinen Wirtschaft- plan.”
Grundlage für die freie Austauschbarkeit des argentinischen Austral mit der US Währung ist eine feste Parität mit dem Dollar von 10.000 Australes. in dem Gesetzesentwurf behält sich die Regierung vor, zu einem späteren Zeitpunkt die vier Nullen zu streichen und eine neue Währung mit dem Wechselkurs eins zu eins einzuführen, als “psychologischen Effekt”. Gesichert wird die volle Konvertibilität der Währungen durch die Bindung der Australmengen an tatsächlich vorhandene Gold- und Devisendeckungen (Dollar) der Zentralbank: alle Australes, für die die Zentralbank über keinen realen Gegenwert in Dollar oder Gold verfügt, sollen aus dem Verkehr gezogen werden. Entsprechend werden laut Plan sowohl Wechselkursschwankungen als auch Abwertungen ausbleiben. Die argentinische Währung schwankt dann sozusagen gemeinsam mit dem Dollar auf und ab. Sogesehen eine realistische Anpassung an die Weltökonomie, die ohnehin hauptsächlich in Dollar abgerechnet wird. Für Argentinien jedoch ein Revival “der Wirtschaftspolitik vom Ende des 19.Jahrhunderts”, so ein Kommentator.
Vorraussetzung für das Gelingen dieses Vorhabens ist allerdings, daß die Zentralbank keinerlei Banknoten drucken läßt, die nicht gedeckt sind. Darüberhinaus steht und fällt der Plan natürlich mit der Steigerung der Staatseinnahmen, denn die Zahlungsverpflichtungen des argentinischen Staates bleiben auch weiterhin bestehen, und die wurden in der letzten Zeit allzu oft durch das Ankurbeln der Druckerpressen ausgeglichen. Auf 56 Mrd. Dollar belaufen sich mittlerweile die Auslandsschulden des Landes. Mit den Zinszahlungen liegt Argentinien in Höhe von 7 Mrd. Dollar im Zahlungsrückstand. Seit Monaten erfolgt alle 30 Tage eine symbolische Zahlung von 60 Millionen Dollar an die Gläubigerbanken. Doch das reicht den internationalen Finanzbürokraten nicht mehr. John Reed, Chef der größten Gläubigerbank Argentiniens, der Citicorp meinte, daß es ohne eine Erhöhung dieser Zahlungen keine Umschuldungsverhandlungen der Auslandsschulden geben werde. Und auf die ist das Land dringend angewiesen. Aber Reed sagte noch mehr bei einem Besuch in Buenos Aires. Die Kreditbanken hätten das Interesse an Argentinien verloren. Nicht nur, daß sie sich weigern zu investieren, sie denken nicht einmal daran. ihr Interesse ist Richtung Osteuropa und den Wiederaufbau Kuwaits geschwunden.
Höhere Steuereinnahmen und geringere Ausgaben, so lautet die Devise gegen das horrende Haushaltsdefizit des Staates. Gleichzeitig bedeutet die Dollarisierung allerdings auch ein Einfrieren der Preise und vor allem der Löhne, und die liegen auf dem tiefsten Niveau in der Geschichte des Landes.
Gelingt all dies nicht, so wird von der nun versprochenen Null-Inflation nichts übrig bleiben, die geplante Wirtschaftsstabilisierung wird sich als weiterer Schritt in Richtung Chaos entpuppen und Argentinien würde womöglich doch wieder zum “Dritte-Welt-Land abzusteigen drohen.

Streiks für „Schrott und altes Eisen“

Abgestiegen sind auf jeden Fall schon jetzt die argentinischen ArbeiterInnen, allen voran die Staatsangestellten, die in dem derzeit teuersten Land südlich des Rio Grande durchschnittlich mit umgerechnet 200 Mark im Monat auskommen müssen. Mitte Februar trat die Mehrzahl der EisenbahnarbeiterInnen in einen unbefristeten
wildcat-Streik. Unzufrieden waren sie über ihre Gewerkschaftsführung und die harte Linie der Regierung in den Lohnverhandlungen und forderten mindestens 50% Lohnerhöhung. Die auf vier der sechs Hauptlinien Argentiniens streikenden ArbeiterInnen zogen nicht nur den großen Arger der ArgentinierInnen auf sich, die im heißen Sommer zum Urlaub ans Meer fahren wollten. Während sich Gepäck und Reisende in den Bahnhöfen von Buenos Aires stauten und stapelten griff Menem auf seine verschärften Gesetze zurück. Das im Dezember eingeschränkte Streikrecht verlangt für den öffentlichen Dienst neuerdings eine vorhergehende Benachrichtigung des Arbeitsministeriums und eine Genehmigung dieser Behörde für die Protestaktionen. Diese Verordnung ermächtigt die Regierung bei Zuwiderhandlungen, Streikenden mit Geldstrafen und Entlassungen zu drohen.
Nachdem der Streik für illegal erklärt worden war, kam Menem dann Anfang März mit dem großen Knüppel: Alle Eisenbahnlinien, die bestreikt wurden, ließ der Präsident per Dekret vorläufig schließen, die am Streikenden wurden entlassen. Die vier Linien sollen nun bis zu ihrer Privatisierung stillgelegt bleiben. “Wer wird schon altes Eisen und Schrott kaufen wollen?”, kommentierte der Gewerkschaftsführer der EisenbahnerInnen, Jose Pedraza, bitter. Wirtschaftsminister Cavallo gab zu, daß die argentinischen Eisenbahnlinien “praktisch keinen Marktwert haben, so daß Privatisierung nur bedeuten kann, daß sich Interessenten finden, die bereit sind, sie zu übernehmen”, abzüglich der Streikenden, versteht sich.

Drogendollar

Während sich also die “Fachleute” aus dem Wirtschaftsministerium über einer Ausweg aus der Instabilität den Kopf zerbrechen und die Eisenbahnarbeiterinnen längst nicht mehr wissen, wie die Familie ernährt werden soll, reißen die Korruptionsskandale -und damit auch das Loch in der Haushaltskasse – der Regierung nicht ab. Jüngster Fall ist die angebliche Verwicklung von Menems Frau Zulema Yoma in einen ‘Geldwasch-Skandal’. Illegale Drogengelder sollen in Argentinien, vor allem von hohem Regierungsangestellten ‘gereinigt’ worden sein. Diese Veröffentlichungen des konservativen spanischen Blatts ‘Cambio 16’ verursachten in Argentinien allerdings nur kurzzeitig einen Skandal. Nachdem Spaniens Felipe Gonzáles Menem versicherte “diese Wochenzeitschrift ist eine Schmähschrift, die schon mir und der königlichen Familie Probleme verursacht hat, mit Anklagen, die im Nichts endeten”, beauftrage der Peronist mit gestärktem Rücken seinen Geheimdienst SIDE. Der fand dann natürlich heraus, daß “kein Mitglied der Familie Yoma in dem Prozess der illegalen Geldwäsche verwickelt ist”.
Dennoch trat der Präsidentenberater und Freund der Familie Yoma Ibrahim al Ibrahim von seinem Posten zurück und verließ schleunigst das Land, während der Flughafen Ezeiza von der US-Drug-Agency überwacht wurde. Zwei Familienmitglieder werden nun dennoch in Spanien wegen der Drogengeschäfte angeklagt. Präsident Menem spricht derweil von einer “internationalen Verschwörung” gegen seine Regierung. “Offenbar existiert ein Komplott gegen dieses Argentinien, daß sich aus der jetzigen Situation befreien und ein großes Land werden will.”
Wie eine Verschwörung gegen die argentinische Bevölkerung mutet dagegen eher Menems Regierungspolitik an. Wie lange Menem es sich noch leisten kann, mit der harten Knute alle Proteste der Bevölkerung zu ignorieren und seine liberal-konservative Politik fortzusetzen, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Seine Popularität ist von den 85% bei der Amtsübernahme im Juli 1989 auf mittlerweile 30%gesunken – Tendenz fallend. Nicht nur die EisenbahnerInnen beziehen Position. Z.B. die Lehrerinnen kündigten an, im Falle ausbleibender Lohnerhöhungen den Schuldienst nach den Ferien gar nicht erst aufzunehmen. Diese Unzufriedenheit großer Teile der Bevölkerung wird sich auch bei den im September anstehenden Parlaments- und Gouverneurswahlen äußern. Doch wie sagte Menem: “Während sich einige Politiker um die nächsten Wahlen kümmern, kümmere ich mich um die künftigen Generationen, um die Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen.”

Die Kommunistische Partei und die verhinderte “bürgerlich-demokratische Phase”

Gretchenfrage?

Die UDN (Nationalistische Demokratische Union) stellte Anfang Februar ihre Spitzenkandidaten für die kommenden Wahlen vor: Humberto Centeno, einer der bekanntesten Gewerkschaftler des Landes und Führungsmitglied im Gewerkschaftsdachverband UNTS ist der Kandidat der UDN für das Bürgemeisteramt von San Salvador. Marco Tulio Lima, ebenfalls Mitglied des UNTS-Vorstandes, strich dagegen heraus, daß die Entscheidung Centenos und anderer UNTS-GewerkschafterInnen rein persönlicher Art sei und nicht der Position der UNTS insgesamt entspräche. Die UNTS, betonte Tulio Lima, unterstütze keine der Parteien, die sich zur Wahl stellen. Ismael Merino von der Bauerngewerkschaft ADC dazu: “Solange wir in einer militarisierten Gesellschaft leben und Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind, solange können Wahlen das Problem nicht lösen, sondern es nur noch verschärfen”. Selbst das breite, von kirchlicher Seite initiierte “Permanente Komitee für eine Nationale Debatte”, CPDN, gibt dem Verhandlungsprozeß Vorrang vor den Wahlen und plädiert daher für eine Verschiebung des Urnengangs, bis die zentralen Probleme auf dem Verhandlungswege gelöst und ihre Einhaltung von der UNO kontrolliert und bestätigt worden sind.

Differenzierungen in den 70er Jahren

Formal hatte die Kommunistische Partei (KP) den bewaffneten Kampf seit 1932 nie aufgegeben, faktisch konzentrierte sie sich in den 70er Jahren jedoch auf Wahlen. Sie ging dabei (wie andere Kommunistische Parteien des Kontinents) davon aus, daß es zunächst einer “bürgerlich-demokratischen Phase” bedürfe, um die Macht der Oligarchie und des Militärs zu brechen. Man erhoffte sich eine “Machtübernahme”der Industriebourgeoisie, die in eigenem Interesse Reformen gegen die unversöhnliche und reaktionäre Grundbesitzerclique befürworten müsse. Die UDN wurde 1969 gegründet und sollte die ‘Wahlfront” der KP bilden.

Innerhalb der KP gab es zu jener Zeit bereits eine Opposition gegen diese Haltung der Partei. Die These von der Wirksamkeit eines breiten Wahlbündnisses, unterstützt von einer reformwilligen Fraktion des Militärs, wurde von ihr abgelehnt. 1970 tauchte diese Gruppe unter der Führung des legendären Gewerkschaftsführers Cayetano Carpio unter. Sie begann, sich auf den bewaffneten Kampf vorzubereiten: Die FPL, die Volksbefreiungskräfte, heute eine der fünf Organisationen der FMLN.
Bei den Präsidentschaftswahlen1972 trat die UDN in einem Bündnis mit der seit 1964 existierenden sozialdemokratischen MNR (Nationale Revolutionäre Bewegung) und der PDC (Christdemokratische Partei) an. Das Bündnis nannte sich U.N.O. (!) (Nationale Oppositionsvereinigung) und nominierte José Napoleon Duarte zu ihrem Präsidentschaftskandidaten. Die U.N.O. erhielt trotz erheblicher Behinderungen die Mehrheit der Stimmen, doch die regierende PCN (Partei der Nationalen Versöhnung) sicherte sich das Präsidentenamt durch offenen Wahlbetrug. Ein Putschversuch von reformwilligen Offizieren schlug fehl, und Duarte ging ins Exil nach Venezuela. Trotz des Scheiterns hielten alle Parteien des Bündnisses an der Vorstellung fest, daß der Weg über Wahlen der sicherste und schnellste sei, um zu einem Sieg der reformwilligen Kräfte zu gelangen. Sowohl die verschiedenen Guerilla-Gruppen, die im Laufe der 70er Jahre entstanden, als auch die mit ihnen verbundenen großen Massenorganisationen kritisierten den “rechten Opportunismus” und die “Weinbürgerlichen Illusionen” der KP. Trotz erheblicher Zerstrittenheit dieser Organisationen untereinander, gingen sie davon aus, daß eine “Nationale Bourgeoisie”, die in der Lage wäre, ein nationales Reformprojekt durchzusetzen, nicht existiert. Daraus folgte die Ablehnung der Wahlen und der Strategie der U.N.O.

Wahlbetrug und Terror

Die nächsten Präsidentschaftswahlen fanden 1977 in einer spannungsgeladenen und zugespitzten Situation statt. Die U.N.O. hatte anstelle von Duarte den in Armeekreisen angesehenen pensionierten Offizier Claramount als Präsidentschaftskandidaten aufgestellt. Er schien für die reformbereiten Kreise der Oligarchie und des Militärs annehmbarer zu sein. Wiederum brachten die Militärs die Opposition um den Wahlsieg, indem sie schlicht die Wahlurnen verschwinden ließen. Den massiven Protest gegen den Wahlbetrug beantwortete das Regime mit Gewalt. Militär-und Polizeieinheiten schossen gezielt in die Massendemonstrationen. Dabei starben mehrere hundert Menschen. Dies war der Auftakt für eine beispiellose Terrorwelle. Die meisten Funktionäre der U.N.O. gingen ins Exil oder in den Untergrund, wurden verhaftet oder “verschwanden”. Das Wahlbündnis war damit faktisch nicht mehr existent, nur die KP bekräftigte noch im Mai 1979 ihre Unterstützung für die U.N.O. “Der bürgerlichdemokratische Weg zur Lösung der politischen Krise”, so hieß es in der Resolution des 7. Parteikongresses, “muß heute ein untrennbarer Bestandteil wesentlicher sozioökonomischer Reformen sein.” Auf dem gleichen Kongreß wurde allerdings ein folgenlos gebliebener Beschluß von 1977 bekräftigt, nach dem sich die Partei auf den bewaffneten Kampf vorzubereiten hätte.

Der Putsch

Angesichts der steigenden Mobilisierungen der Massenorganisationen und der faktischen Unregierbarkeit des Landes putschte sich eine heterogene Offiziersgruppe am 15.Oktober 1979 an die Macht. In der ersten Regierungsjunta waren drei Zivilisten vertreten, darunter Guillermo Ungo, Vorsitzender der MNR. Alle Parteien des ehemaligen U.N.0.-Bündnisses entsandten Minister in die Regierung. Die revolutionären Massenorganisationen hatten kein Vertrauen in diese Koalition von Offizieren, liberalen Technokraten und reformistischen Politikern; sie verstanden sie als einen Block der Mitte gegen die Linke. Die nächsten Wochen sollten ihnen recht geben. Die Zivilisten in der neuen Regierung konnten nicht verhindern, daß die Gewalt der Militärs gegen die Opposition immer schlimmere Formen annahm. Zunächst rechtfertigten die Zivilisten noch die Massaker, dann aber traten sie Anfang des Jahres1980aus der Regierung aus.

Einigung

Die Kommunistische Partei entschied sich jetzt sehr schnell und rief gemeinsam mit zwei der bestehenden Guerillaorganisationen zur bewaffneten Revolution auf. Im Oktober 1980 vereinigten sich die nunmehr fünf politisch-militärischen Organisationen zur Nationalen Befreiungsbewegung Farabundo Marti, FMLN. Die radikale Linke reagierte damit auf den entfesselten Staatsterror und die Beseitigung jeglichen Spielraums für Reformen.
Die Wahlprozesse der 80er Jahre waren zu sehr vom Bürgerkrieg und Ausnahmezustand geprägt, als daß linke Parteien oder Organisationen in ihnen eine Option für Frieden oder Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse hätten entdecken können. Darüber hinaus waren die Wahlen offensichtlich das Produkt der von den USA konzipierten Kriegsführung der niedrigen Intensität, der Aufstandsbekämpfung, die darauf hinauslief, der FMLN auch politisch den Boden zu entziehen.
Die Situation veränderte sich erst wieder im Vorfeld der 89er-Wahlen. Anläßlich dieses Urnengangs gründeten hauptsächlich die Parteien (MPSC Sozialchristliche Volksbewegung, Linke Abspaltung der PDC) und MNR wiederum ein linkes Wahlbündnis, die Convergencia Democrática (CD). Die FMLN rief zum Boykott auf und brachte stattdessen den “Vorschlag zur Umwandlung der Wahlen in einen Beitrag zum Frieden” (dok. in LN 179)ein, in dem sie erstmals die Bedingungen definierte, unter denen sie bereit wäre, sich an Wahlen aktiv zu beteiligen. Es steht außer Frage, daß diese Bedingungen (u.a. Ende der Repression, Einkasernierung der Armee, Wahlrechtsreform) auch am 10. März keineswegs er-füllt sein werden.

Verhandlungen haben Vorrang vor den Wahlen

Auch diese Wahlen werden mit einer demokratischen Willensbildung so wenig zu tun haben wie alle vorangegangenen. Die Frage ist also, welche Ziele auf der einen Seite die Oppositionsparteien mit ihnen verbinden und was die FMLN auf der anderen Seite zu ihrer ambivalenten Haltung bewog. Es kann angenommen werden, daß über diese Frage innerhalb der FMLN lange debattiert wurde. Noch im Oktober 1990 schob Joaquin Villalobos, Chef des Revolutionären Volksheeres (ERP), einer weiteren Organisation innerhalb der FMLN,die Kontinuität dieser Wahlen im Rahmen der Aufstandsbekämpfung gegenüber den möglichen Chancen in den Vordergrund (Vgl. LN 198). Es ist jedoch davon auszugehen, daß die Kontroverse im wesentlichen beigelegt ist. Klar scheint auch zu sein, daß sich die Kommunistische Partei von den Positionen der 70er Jahre entfernt hat und keinesfalls ein Ausscheren der KP aus der FMLN bevorsteht. Shafick Handal: “Demokratie, die demokratische Revolution, hat für die FMLN -und da gibt es eine unzweideutige Übereinstimmung aller Organisationen -tatsächlich eine strategische Bedeutung, eine Demokratie, die sich aber wesentlich von einer bloßen Wahldemokratie unterscheidet.”
Weder die Oppositionsparteien noch die FMLN selbst erwarten einen Wandel der Kräfteverhältnisse durch die Wahlen selbst. Ein Brechen der Parlamentsmehrheit von ARENA durch die PDC, CD und UDN wird allerdings als Instrument eingeschätzt, um dem stagnierenden Verhandlungsprozeß wieder neue Impulse zu geben. Dies ist auch dringend notwendig, da die USA offenkundig versuchen, die Grundlage des Prozesses
– die Vereinbarungen von Genf und Caracas (Vgl. LN 200) – zu untergraben. Ein Artikel in der New York Times diffamierte am 1. Februar unter Berufung auf Regierungsquellen den UNO-Vermittler Alvaro de Soto, warf ihm Inkompetenz vor, und versuchte so, den Verhandlungsprozeß insgesamt zu diskreditieren. Tatsächlich kann eine parlamentarische Mehrheit der heutigen Opposition in dieser Situation neue Wege gehen, um auch international mit größerem Druck und Legitimation auf reale Verhandlungserfolge zu drängen. Die Tatsache jedoch, daß diese Oppositionsparteien CD, UDN und die PDC sich nicht auf einen gemeinsamen Bürgermeisterkandidaten für San Salvador haben einigen können, verweist auf nicht unerhebliche inhaltliche Differenzen und Profilierungsgelüste. Diese könnten die gemeinsame politische Plattform, von der Shafick Handal spricht, durchaus gefährden (Vgl. Interview). Die PDC scheint zwar die Forderung nach einer Demilitarisierung als Grundlage von Demokratisierungsprozessen übernommen zu haben, doch gibt die Geschichte dieser Partei mannigfaltig Anlaß, ihr mit Mißtrauen zu begegnen.

Der Anschlag auf Diario Latino

In jedem Fall nehmen die Militärs die Entwicklungen der letzten Wochen als elementare Bedrohung wahr. Dies ist augenscheinlich die Ursache für die stark zunehmenden Menschenrechtsverletzungen in dieser Zeit. Die schlimmsten waren bisher die Morde von E1 Zapote, wo 15 Menschen regelrecht hingeschlachtet wurden und der Bombenanschlag auf die einzige noch verbliebene kritische Tageszeitung Diario Latino. In der Nacht zum 9. Februar explodierte in der Zeitung eine Brandbombe, die das dreigeschössigen Gebäude und die zur Herstellung der Zeitung notwendigen Geräte völlig zerstörte. (Wegen der großen Bedeutung dieses Anschlags für die Medienlandschaft E1 Salvadors hat das “Dritte-Welt-Haus” Frankfurt e.V. ein Spendenkonto eingerichtet: Postgiro 19991-604; BLZ 500 100 60; Stichwort: “Diario Latino”). Die Journalisten der selbstverwalteten Zeitung haben bereits angekündigt, daß sie das seit 100 Jahren existierende Blatt weiterführen werden. Daneben gibt es jedoch eine ganze Reihe von Bombenanschlägen gegen die Volksorganisationen und Morde an AktivistInnen der Oppositionsparteien.

Repression und Wahlboykott?

Die Repressionswelle beweist noch einmal den ungebrochenen Willen der Militärs, sich keinen Zipfel ihrer Macht entreißen zu lassen und gleichzeitig die Notwendigkeit, genau dies zu tun. Die Menschenrechtsverletzungen haben ihren Höhepunkt vermutlich noch nicht erreicht. Das Ziel der Hardliner im Militär ist dabei klar auszumachen: Sie wollen die Wahlen, so, wie sie derzeit konzipiert sind, verhindern. Ihre bewährte Methode war in der Vergangenheit, entweder ein Massaker zu veranstalten oder eine bekannte Persönlichkeit der (gemäßigten) Opposition umzubringen. Es mehren sich die Warnungen der Parteien – einschließlich der PDC -, daß ein Rückzug aus den Wahlen durchaus denkbar ist, wenn die Anschläge fortgesetzt werden. “Selbstverständlich”, so Shafick Handal, “würde die FMLN die Oppositionsparteien in einem solchen Fall unterstützen.” Und das auf ihre Weise.

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