Extreme Rechte in der Offensive

Bei den Besetzungsaktionen der Contra haben die Policía Sandinista und das Sandinistische Heer bislang fast überall eine bis zur völligen Abwesenheit zurückhaltende Haltung gezeigt. Als Polizei-Verbände doch eine von Contras besetzte Brücke bei Sébaco auf der Hauptstraße in den Norden Nicaraguas – rund zwei Autostunden von Managua entfernt – räumen wollten, kam es zum Blutbad: 4 tote und 17 verletzte Polizisten wurden Opfer der nicht abgegebenen Contra-Waffen. Als Reaktion darauf umstellten und durchsuchten Polizisten das offi­zielle Bürohaus der Contra-Organisation “Resistencia Nicaraguense” in Managua und fanden dort Kalaschnikoff-Gewehre und Handgranaten. Contra-Boß “Rubén” erklärte öffentlich, daß er keine Verantwortung mehr für – natürlich von den Sandinisten verschuldete – Blutbäder übernähme, was getrost als Seinen-Leuten-freie-Hand-geben verstanden werden kann. Auch wenn ihr gesamtes politisches Umfeld unter Beschuß steht, ist Violeta Chamorro selbst von der extremen Rechten bislang noch nicht explizit ins Visier genommen worden. Vize-Präsident Godoy, der die Contra-Aktionen als “Volksproteste” voll unterstützt, macht allerdings keinerlei Hehl daraus, daß er das “Vize-” als abzuschüttelnden Makel empfindet.

Concertación: Die rechten Hardliner gehen in die offene Opposition

Die SandinistInnen, die ja eigentlich “die Opposition” zur Chamorro-Regierung hatten sein sollen, stehen in diesen Konflikten in voller Unterstützung für Violetas “Präsidialamtsminister” Lacayo. Gerade erst am 26. Oktober hatten sie – nach zähen Verhandlungen, nach Verhandlungsabbrüchen von Seiten der in der “Nationalen ArbeiterInnenfront” FNT zusammengeschlossenen sandinistischen Gewerkschaften, nach massiven Streikdrohungen und erneuten Vier-Augen-Gesprächen von Daniel Ortega und Antonio Lacayo – mit der Regierung ein “Concertacións”-Abkommen unterzeichnet. Nach den Kraftproben der Streiks von Mai und Juli hatte die Wirtschaftskrise und die zu ihrer Überwindung unab­dingbare Notwendigkeit einer Stabilisierung der internen politischen Lage, die Regierung dazu bewegt, die verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren zur Konzertierten Aktion, spanisch “concertación” aufzurufen.
In den Verhandlungen über die Inhalte des Concertationsabkommens spalteten sich die Rechtskräfte: Der Unternehmerverband COSEP, der bereits in der Ver­gangenheit unter der sandinistischen Regierung die Bestrebungen zur Konzer­tierten Aktion boykottiert hatte, verweigerte auch diesmal die Unterzeichnung.
Die den SandinistInnen und die FNT waren mit der Forderung nach Abschaf­fung des Dekrets 11-90 der Chamorro-Regierung – Landrückgabe an ehemalige BesitzerInnen – in die Verhandlungen gegangen. Noch vor der Unterzeichnung der Abkommen war mit der Regierung über den FNT-Vorschlag Einigkeit erzielt worden, eine aus den verschiedenen Sektoren zusammengesetzten “Nationalen Agrarkommission” zu gründen, die sowohl auf nationaler wie auf regionaler Ebene die sich im ganzen Land ausweitenden Landkonflikte lösen sollte. Diese Regelung stieß auf die heftige Ablehnug seitens des COSEP, der eine Verlänge­rung der ursprünglich im November auslaufenden Fristen für das Einreichen der Rückgabe-Ansprüche im Rahmen des Dekrets 11-90 an die von der UNO domi­nierte Kommission forderte.
Absolute Einigkeit bestand zwischen FNT und Regierung in ihren am 22.Oktober veröffentlichten Vorschlägen auch in der Art der Rückgabe von Staatsbesitz: Keine Rückgabe von ehemaligen Somoza-Besitztümern, Beachtung der Rechte von ArbeiterInnen, und kein Antasten der vor dem 25.Februar 1990 an Koopera­tiven und Individuen verteilten Besitztümer. Dahinter mögen sich real unter­schiedliche Konzepte verborgen haben, auf dem Papier herrschte wortwörtlich Übereinstimmung. Auch hier widersetzte sich der COSEP; die reale Anerken­nung der sandinistischen Beschlagnahme-Politik (bis auf Ausnahmefälle) mochte die Unternehmervereinigung nicht anerkennen.

Konzertierte Konfrontation gegen die Konzertierte Aktion

Doch währen die Satire-Zeitschrift “Semana Cómica” in ihrem Titelbild zwei Tage nach dem Concertacións-Abkommen den COSEP schon politisch isoliert auf einer einsamen Insel sitzen sah, ging der COSEP selbst auf einer reichlich mit Claqueuren bestückten Pressekonferenz zur Offensive über. Die COSEP-Vertre­ter wiederholten ihre wesentlichen Forderungen nach der Fristverlängerung des Dekrets 11-90, Rückgabe auch der nicht in Staatsbesitz befindlichen Besitztümer, die vor dem 25.Februar verteilt worden waren usw. Auf die Frage, wohin denn diese Politik des COSEP eigentlich führen solle, erwiderte der COSEP-Verhand­lungsführer Ramiro Gurdián, daß es um Prinzipien gehe; sie seien nun einmal Feinde der FSLN.
Dann wurde überraschend verkündet, daß eine Delegation der Ex-Contras eben­falls eine Erklärung zur “concertación” abgeben wolle. Bereits am Vortag hatte Israel Galeano, alias “Comandante Franklin” seine Zustimmung zu dem Abkommen bekanntgegeben, nun trat sein einstiger Mitkämpfer und heutiger Rivale um die politische Führerschaft der Ex-Kämpfer, Oscar Sovalbarro alias “Rubén” auf den Plan, begleitet von einer Reihe anderer “Comandantes” der Contra, und verkündete auch seine Ablehnung der Abkommen. Sowohl COSEP als auch der “Rubén”-Flügel der Contra berufen sich auf das Wahlprogramm der UNO, wie es am 25.Februar bestand. Das Übergabeabkommen zwischen der designierten Regierung und der FSLN vom März wird von beiden als illegal erklärt. In diesen Grundpositionen wissen sie sich einig mit dem von der politi­schen Macht ferngehaltenen Vize-Präsidenten Virgilio Godoy und Teilen der Katholischen Amtskirche, so z.B. dem einst wegen Unterstützung der Konter­revolution des Landes verwiesenen Bischof Pablo Antonio Vega. Die rechte Allianz ist geboren.

Die rückkehrenden Ex-Contras als Infanterie der extremen Rechten

In dem Machtpoker dieser Allianz bilden die Contra-Truppen das – weitgehend bewaffnete – Fußvolk. Die meisten derjenigen, die jahrelang von den USA finan­ziert in der sogenannten “Resistencia Nicaraguense” für den wirtschaftlichen Ruin der sandinistischen Regierung gekämpft haben, sind Bauern, Campesinos mit Landbesitz und Landarbeiter (ohne Landbesitz) aus den Kriegsregionen I, V, und VI. Unterschiedliche Gründe haben sie während des fast zehn Jahre dauern­den Krieges dazu bewogen, sich in die Reihen der von Ex-Offizieren der somozi­stischen Nationalgarde aufgebauten und mit US-Finanzierung und -Beratung ausgestatteten Contra einzugliedern. Das lange gepflegte Bild vom US-Söldner­heer war gesamtpolitisch zwar richtig, wird aber den Motivationen der einzelnen nur ungenügend gerecht.
Bei Ausweitung des Krieges hatten viele in ihren Dörfern mit beiden Seiten Schwierigkeiten zu überstehen: vom sandinistischen Heer als Contra-Kollabora­teure angeklagt, von der Contra als SandinistInnen verdächtigt, hatten sie sich irgendwann für eine Seite entscheiden müssen. Die 1984/85 von der sandinisti­schen Regierung praktizierte Politik, der Contra die soziale Basis zu entziehen, und durch Umsiedlungen ein freies Kampffeld (z.B. in der Region I, Estelí) zu schaffen, brachte viele Bauern, die ihr Land nicht aufgeben wollten, dazu, sich der Contra anzuschliessen. (Damit soll nichts, am allerwenigsten die brutalen Überfälle der Contra, die Verschleppungen, Morde, Vergewaltigungen etc. gerechtfertigt werden, aber die Analyse der individuellen Beweggründe ist für das Verständnis der heutigen Situation wichtig.)
Diese Contra-Basis, Campesinos und Landarbeiter, kehren also heute nach Nica­ragua zurück. Von ihren eigenen Comandantes wird die Position vertreten, daß sie als SiegerInnen zurückkehren, die die Regierungsübernahme der Chamorro-Regierung überhaupt erst möglich gemacht haben. Letzteres ist ja auch gar nicht so falsch. Aber wenn sie als SiegerInnen kommen, die ihr “Blut für das Wohl des Vaterlandes gegeben haben”, warum sollten sie dann als Besitzlose zurück­kehren, die vor dem Nichts stehen? Vor allem die Landfrage ist ungelöst. Dort, wo die BäuerInnen früher arbeiteten, ist das Land heute entweder anderweitig vergeben (z.B. an sandinistische BäuerInnen oder Kooperativen oder ist in Staatsbesitz), oder es ist nach vielen Jahren ohne Bearbeitung wieder zum über­wucherten Brachland geworden.

Die staatliche Macht stellt sich als Vakuum dar

Der Versuch, die absehbaren Landkonflikte durch die Einrichtung von soge­nannten “Polos de Desarrollo” (Entwicklungszonen) auf koordinierte Weise zu lösen – der allerdings auch dem Wunsch der Contra-Comandantes entsprang, die Truppen beisammen zu halten – muß als gescheitert betrachtet werden. Die von der Regierung versprochenen raschen Investitionen zum Aufbau einer Infra­struktur und zur Nutzbarmachung des Bodens sind noch nicht eingetroffen. Nicht zuletzt deshalb, weil die Bürokratie große Teile der US-Wiedereingliede­rungshilfe “versickern” ließ. So sind etwa die meisten der zeitweilig 6000 in El Almendro versammelten ehemaligen Contra-KämpferInnen längst in ihre Heimatorte zurückgekehrt.
Die Forderungen nach einer Landverteilung haben, nachdem die Regierung keine Antwort gab, zu einer massiven Verschärfung des Problems geführt. Ex-Contras, zum Teil bewaffnet, besetzten zahlreiche Kooperativen. Die Polizei schritt in der Regel nicht ein, um eine gewaltsame Eskalation zu vermeiden, ebenso das Militär. So stellte sich vielerorts die staatliche Macht als ein Vakuum dar, das jeweils die Gruppe siegreich aus einem Konflikt hervorgehen lässt, die zahlen- oder waffenmäßig besser bestückt ist. In einigen Fällen haben die Campesinos in den sandinistischen Kooperativen nach der Besetzung ihrer Kooperativen ebenfalls zum Mittel der Besetzungen gegriffen und stehen nun auf den Ländereien verbliebener Großgrundbesitzer.
Die von der Landfrage ausgehende Aktionsbereitschaft der ehemaligen Contra-KämpferInnen hat sich in der Folge rasch ausgeweitet. In Managua halten Ex-Contras – unter Billigung des Kardinals Obando – dessen Kirche besetzt. Mit der Besetzung der Landstraße nach el Rama schnitten sie die Stadt Bluefields an der Atlantikküste und Rama selbst von der Außenverorgung ab. In Bluefields besetzten Ex-Contras der indianischen YATAMA verschiedene Infrastruktur-Einrichtungen, darunter auch das sandinistische Radio Zinica. In La Concha, nur wenige Kilometer von Managua entfernt, wurden Kooperativen und einige Gebäude besetzt, Contras nahmen Geiseln. In Nueva Guinea kostete ein Schuß­wechsel zwischen Contra-Besetzern und PolizistInnen vier Personen das Leben, 33 wurden verletzt.
Innenminister Hurtado hält bislang die Position aufrecht, die Konflikte nicht mit polizeilichen oder militärischen Maßnahmen lösen zu wollen, sondern auf Ver­handlungen zu setzen. Nach Gesprächen mit dem Contra-Comandante “Ruben” – offensichtlich eine der Schlüsselfiguren – glaubt Hurtado bei ihm eine konstruk­tive Haltung zu entdecken und schickt ihn quasi als Botschafter zu den Contras, um die Lage zu entschärfen. Damit wird “Ruben” auch von der Regierung poli­tisch aufgewertet, ein gefährliches Spiel. Die FSLN denunziert öffentlich die “Staatsstreich”-Bestrebungen der extremen Rechten “unter Führung von Godoy” und sichert der Regierung volle Unterstützung zu. Humberto Ortega erklärt die Bereitschaft des Heeres auf Bitten der Polizei einzuschreiten, drängt aber eben­falls auf eine friedliche Lösung.

Mit der “militärischen Lösung” droht Nicaragua Bürgerkrieg

Die Situation ist im höchsten Grade gespannt. Es sind nur zwei Lösungen denk­bar:
1. Die Landfrage durch Verteilung von Staatsbesitz in geordneter Form abzu­wickeln, wodurch denen die politische Basis entzogen wird, die die rechte Offen­sive politisch weiter ausnutzen wollen. Erste Schritte auf diesem Weg gibt es bereits. In der 6.Region ist durch gute Arbeit der pro-sandinistischen UNAG erreicht worden, daß sich Kooperativen und sandinistische KleinbäuerInnen in weiten Teilen mit der Contra einigen konnten, nachdem es auch dort noch während der laufenden “Concertacion”-Verhandlungen zu heftigen Auseinan­dersetzungen gekommen war. In dem Maße, in dem die Auseinandersetzung derzeit jedoch zunehmend politisiert und zu einem Kampf um Ministerrücktritte und Regierungsmacht wird, rückt eine Lösung über die Landfrage in die Ferne.
2. Die militärische Lösung, die für das Land allerdings die Gefahr einer Katastro­phe bedeuten würde. Die Auseinandersetzungen würden kaum auf die bisheri­gen Konfliktzonen beschränkt bleiben, sondern sich vermutlich über Nacht zum Bürgerkrieg ausweiten. Im Dunkeln bleibt die Rolle, die der Schöpfer der Contra, die USA, derzeit eigentlich spielen. Eine Meldung des “Nuevo Diario”, daß die US-Botschaft im Funkkontakt mit der Contra auf der Landstraße nach La Rama stehe, wurde umgehend dementiert. Die Frage kursiert: Wenn immer erwartet wurde, daß die USA in dem Falle militärisch “zur Hilfe” eilen würden, daß die Sandinisten die Regierung stürzen würden: Täte sie das auch bei einem Putsch­versuch der extremen Rechten? Und wie würde sich dann das sandinistische Heer verhalten?
Aber dies sind zunächst nur bange, aus der gespannten Lage entstehende Fragen. Als sicher kann allerdings festgehalten werden, daß vorerst alle Bestrebungen der Regierung, politische und soziale Stabilität im Lande zu schaffen, von uner­warteter Seite zunichte gemacht wurden. Die Lösung des Konflikts auf dauer­hafte Art und Weise ist unumgänglich, wenn in Nicaragua irgendetwas voran­gehen soll. Als zumindest mittelfristige politische Auswirkungen werden Sandi­nistenInnen und Regierung weiterhin näher zusammenrücken, die FSLN ihre Oppositionsrolle zumindest kurzfristig ganz aufgeben.

KASTEN:

Interview mit dem Contra-Comandante “Johnson”, Angestellter bei der CIAV, dem “Repatriierungszentrum” San Ramón bei Estelí

LN: Sehen Sie die Gefahr , daß sich eine Situation ergibt, wo sie wieder zu den Waffen greifen?

Ich sehe, daß wir dann wieder kämpfen, wenn die Sandinisten Violeta von der Macht stürzen. Das wäre die Situation, wo sich das Volk bewaffnet erheben würde. Im Moment wird vieles durch die Anwesenheit der internationalen Organisationen geregelt. Wenn diese Organisationen sich zurückziehen, beginnt hier ein anderer Kampf. Es gibt jetzt schon viele Konflikte und Zusammenstöße, für die die internationalen Organisationen wie ein Alka-Selzer wirken: Sie neutralisieren sie. Aber wenn sie weggehen, wird sich die Situation verschärfen.

LN: Wenn die SandinistInnen diese sauberen, von aller Welt beobachteten Wahlen gewonnen hätten, hätte sich die Contra dann dennoch entwaffnet?

Wir hätten uns zunächst einmal nicht entwaffnet. Denn wir wollen nicht mit den Sandinisten kooperieren. Die Sandinisten wären in einer sehr schwierigen Lage gewesen, denn sie hätten keine finanziellen Zuwendungen erhalten. Und wir hätten uns nicht entwaffnet, auch wenn wir keine ausländische Hilfe mehr bekommen hätten.

LN: Wie waren die Beziehungen zwischen der bewaffneten Contra und der zivilen Opposition im Lande?

Die Politiker haben vor Esquipulas einen direkten Kontakt vermieden. Sie hatten Angst vor Repressionen bei ihrer Rückkehr ins Land. Denn wenn die Sandinisten herausgefunden hätten, daß ein Politiker im Ausland Kontakte zur Contra hatte, wäre er ins Gefängnis gewandert. Aber nach Esquipulas gab es intensivere Beziehungen. Sie sagten, der Kampf müsse parallel laufen: Unseren Druck aufrecht erhalten, um den Sandinisten Konzessionen abzu­ringen.

LN: Glauben sie, daß es gerecht ist, daß ehemalige Contras z.B. Kooperativen besetzen?

Es ist gerecht, denn sie sind Nicaraguaner, sind Campesinos, haben kein Land und haben das Recht, das zu erhalten. Daß dabei Gewalt angewendet wird? Das ist leider so. Es ist die einzige Möglichkeit sich bemerkbar zu machen, wenn die Gesetze nicht funktionieren.

Interview: Bernd Pickert

Wahlen im Krieg

Seit über drei Jahrzehnten stellen sich die KämpferInnen der Befreiungsbewegung den Streitkräften der Herrschenden entgegen. Diese beiden Kräfte seien die eigentlichen Vertreter der GuatemaltekInnen, war in den letzten Tagen in mexikanischen Zeitungen zu lesen. Deshalb seien die Wahlen so absurd und unreprä­sentativ.
Bei den letzten Wahlen 1985 waren die Hoffnungen noch etwas größer: Zum ersten Mal standen ausschließ­lich zivile Kandidaten zur Wahl. Doch die Regierung Cerezo nahm dem Militär und der Agraroligarchie nicht das kleinste Stück ihrer Macht. Mit der in den letzten Monaten ständig ansteigenden Gewalt gegen das Volk, seine VertreterInnen und auch gegen die bürgerlichen PolitikerInnen zeigte die Rechte sich ungebrochen reaktionär und demonstrierte ihren Willen, jeden neuen Präsidenten genauso unter Kontrolle zu halten, wie den aus dem Amt scheidenden Vinicio Cerezo.
Der Vizepräsidentschaftskandidat der regierenden christdemokratischen Partei, Antonio Villamar, erklärte kurz vor den Wahlen, daß die Todesschwadrone besser organisiert seien als die 19 konkurrierenden Parteien. Die Schwadrone bestünden aus 7000 Männern zur Verfügung der Rechten. “Die Rechte” sei ein beschönigen­der Ausdruck für die Generäle des Heeres, die Polizeichefs, die Großgrundbesitzer und Industriellen und natürlich die nordamerikanischen Berater für Aufstandsbekämpfung, schreibt der Journalist Manuel Mora heute in der mexikanischen Zeitung “El Financiero”.
Diejenigen, die auch in der Regierungszeit Cerezo unvermindert ausgebeutet wurden, wußten, daß auch diese Wahlen nichts ändern. In den vergangenen Wochen haben verschiedene Volksorganisationen deutlich erklärt, daß sie sich durch keinen der Kandidaten vertreten fühlen. Dies wird auch an den Wahlergebnissen deutlich. Es gab 44 Prozent Enthaltungen, dazu kommen fast 30 Prozent Wahlberechtigte, die gar nicht registriert waren. In den Provinzen, in denen die Repression am härtesten ist, Quiché und Petén, erreichten die Enthal­tungen 80 Prozent und an der Südküste, an der die Baumwoll- und Kaffeeplantagen liegen, enthielten sich 70 Prozent der WählerInnen. In insgesamt 15 der 22 guatemaltekischen Provinzen lagen die Enthaltungen über 50 Prozent. WählerInnen teilten ReporterInnen mit, daß sie zur Wahl gegangen seien, um nicht als Guerilla-Sympathisanten zu gelten. Aus dem gleichen Grund hätten sie “möglichst rechts” gewählt.
Unter den 5 Prozent ungültigen Stimmen sind diejenigen, die die Wahlzettel auf Anweisung von Ex-Diktator Rios Montt durch seinen Namen ungültig gemacht haben. Die URNG hatte am 8.November dazu aufgerufen, sich bei den Wahlen zu enthalten, was in der Presse- und offiziellen Politiklandschaft Kritik ausgelöst hatte. “Die extreme Rechte und die linken Extremisten verbünden sich gegen die Demokratie”. Es erscheine wie ein schlechter Witz, “daß in Guatemala so viel über Demokratie geredet wird, während in ihrem Namen gemordet und gefoltert wird, und das Volk, das für seine Würde kämpft, entführt wird”, erklärte der Führer des Indianerrats Runujel Junám, Amílcar Méndez, am Tag nach den Wahlen. Dies sei einer der Gründe, aus dem auch er nicht gewählt habe. Die bedrohliche Situation der Indígenas sei an ihre Grenzen gelangt: “Wir stehen mit einem Bein auf der Erde und mit dem anderen über dem Abgrund”. Die nächste Regierung werde auf jeden Fall noch weiter rechts sein.

Die Stichwahl im Januar

Die Stichwahl zwischen den beiden Männern, die am vergangenen Sonntag die meisten Stimmen ergattern konnten, wird am 6. Januar stattfinden. Jorge Carpio Nicolle von der Nationalen Zentrumsunion (UCN) und Jorge Serrano Elias von der Bewegung für Solidarische Aktion (MAS) bezeichnen sich selbst als “moderne Rechte”. Damit versuchen sie, sich von der “reaktionären Rechten” abzusetzen. Beide unterlagen bei den Wahlen von 1985 dem jetzigen Präsidenten Vinicio Cerezo.
Serrano gehört einer evangelikalen Sekte an und gehörte zur Regierung des Diktators Rios Montt. Er habe die Stimmen der Montt-AnhängerInnen gewonnen, heißt es nach ersten Auswertungen. Die Militärs hätten die Macht in Guatemala, und eine zivile Regierung habe nur die Wahl, sich gegen sie zu stellen und zu schei­tern, oder mit ihnen zusammenzuarbeiten, sagte Serrano letzte Woche. In einem Interview kurz nach der Wahl erklärte Serrano, der bis zu Beginn des Wahlkampfs Mitglied der “Nationalen Versöhnungskommission” war, seine Haltung zu dem Dialogprozeß mit der URNG: “Die anderen Kandidaten verstehen den Dialog­prozeß nicht. Wir verlangen nicht, daß die Guerilla die Waffen niederlegt, um zu verhandeln. Wir sind bereit, die Verhandlungen weiterzuführen.” Auf die Frage nach seiner Beteiligung an der Regierung Montt sagte Serrano: “Es gab keinen Anstieg der Menschenrechtsverletzungen. Es gab keine Massaker, sondern einen langsamen Befriedungsprozeß. Guatemala war zu 20 Prozent vietnamisiert. Ich war nur dafür zuständig, Bedingungen für die demokratische Öffnung zu schaffen.”
Sowohl Serrano als auch Carpio vertraten vor der Wahl die Meinung, daß den Verantwortlichen für die Men­schenrechtsverletzungen verziehen und die Vergangenheit vergessen werden müsse. Nach Angaben des Obersten Wahlgerichts lautet das vorläufige Wahlergebnis: Carpio hat 25.7 Prozent der Stimmen erhalten, Serrano 24.2 Prozent. Der Kandidat der Regierung, Alfonso Cabrera, erhielt 17.4 Prozent und Alvaro Arzú von der Partei des Nationalen Fortschritts (PAN) 17.3 Prozent.

Wieder Wählen – Diesmal anders?

Rubén Zamora:

Das Problem der FMLN ist der Waffenstillstand. Die Basis der Guerilla, die Kämpfer, sind über­wiegend Bauern. Wenn sie nicht kämpfen, werden sie Kaffee oder Baumwolle pflücken oder Mais anbauen, aber sie werden nicht weiter als Armee existieren. Für die FMLN käme ein Waffenstill­stand einer Niederlage gleich, wenn die Verhandlungen ergebnislos verlaufen; die Armee setzt sich hin und wartet ganz einfach ab. Die FMLN löst sich auf, und am Ende gibt es keine Vereinba­rungen über den Frieden. Das kann die FMLN nicht akzeptieren. Sie muß daher einen gleichzeiti­gen Abbau der Regierungsarmee fordern. Beide Sei­ten müssen ihre Kräfte reduzieren, sonst bleibt der Waffenstillstand eine Illusion. Das Problem innerhalb der FMLN als Organisation ist die Ver­ständigung über die Schritte, die zu einem Abbau der Armee getan werden müssen, welche Forde­rungen gestellt werden. Daher schlägt die FMLN eine Reform der Streit­kräfte vor, die zwar ein ausgezeichneter Ausdruck der Linie ihres Kampfes ist, aber ein schlechter Verhandlungsvorschlag.
Wir sind uns alle darüber einig, daß es diesem Land ohne Armee besser gehen würde, die ganze Welt wäre besser ohne Armeen. Aber zu verlangen, daß die Armee in den Verhandlungen ein Ab­kommen zu ihrer Abschaffung unter­schreibt, heißt, den Sinn für die Realität zu verlieren. Armeen vernichten sich auf dem Schlachtfeld, nicht am Verhandlungstisch; das ist eine elementare Norm der Politik. Die FMLN stellt jedoch hohe Forderungen, um Zeit zu gewinnen, und eine bessere in­terne Verständigung zu erzielen.

Verhandler und Nicht-Verhandler

Wir nehmen innerhalb der Streitkräfte eine Konfrontation zwischen zwei Sekto­ren wahr; daneben eine Meinungsströmung als drittes Element. Die FMLN und wir als Linke benutzen oft den Begriff “Tandona” *) als Ausdruck für die “Bösen” innerhalb der Armee. Es ist richtig, diesen Begriff für diejenigen zu gebrauchen, die das Heer befehligen, aber als soziologische Analyse der Institution ist er nicht realistisch. Die Tandona ist gespalten in einen Teil, der mit den USA verbunden ist und verhandeln will und einem Sektor der Tandona und anderer Jahrgänge, der nicht verhan­deln will.
Innerhalb dieser Kon­frontation gibt es ein drittes Element, hauptsächlich vertre­ten durch die nie­deren Offiziersränge. Sie fordern eine Säuberung der korrupten Elemente in der Armee, weil sie es sind, die auf dem Schlachtfeld stehen, wäh­rend sich die hohen Offiziere am Krieg bereichern.
Die Wahlen im März können unserer Ansicht nach die wichtigsten der letzten zwölf Jahre in die­sem Land sein. Eine zentrale These der Aufstandsbe­kämpfung war immer die Präsentation von Wahlen als Alternative für Verhandlungen. Diese Ideologie ist mittlerweile geschei­tert. Nun wird es wahrscheinlich etwas ganz Neues geben, nämlich Wahlen mitten in ei­nem Ver­handlungsprozeß. Und dies bedeutet, daß die Wahl einen direkten Einfluß auf die Ver­handlungen haben wird. Erreicht die Opposition die Mehrheit der Stim­men gegen ARENA, wird die FMLN in der nächsten Runde sagen, “Meine Her­ren der Regierung, das Volk hat Euch eine Ab­fuhr erteilt; es will Euch nicht mehr.” Ein Argu­ment, auf das ARENA nichts erwidern kann. (Nein?) Eine Parlamentsmehrheit würde darüber hinaus erfor­derlich machen, daß diese bei den Verhandlungen zugegen ist. Und das be­deutet, die Regierung zwischen FMLN und Opposition zu haben.

Kampf um die Wahlregistrierung

Um die Mehrheit im Parlament zu gewinnen, brauchen wir ein Bündnis der ge­samten Linken. Denn wenn wir in den gleichen Fehler des letzten Jahres verfal­len, und die Convergencia (linkes Wahl­bündnis) sagt “Wählt!”, und die FMLN sagt “Wählt nicht!”, dann werden wir das gleiche Desaster erleben wie letztes Jahr.
In El Salvador befinden sich etwa 2,8 Mio Menschen im wahlfähigen Alter. Da­von stehen 2,3 Mio im Wahlregister, und nur 1,9 Mio haben einen Wahlausweis, der sie erst zum Wählen berechtigt. Daher sind für uns zwei Dinge interessant: 1. Die Zahl der ins Wahlregister Eingeschriebenen auf 2,5 Mio zu erhöhen und 2. zu erreichen, daß alle wählen können, auch wenn sie keinen Wahlaus­weis haben. Wir haben bereits ein Abkommen mit der Regierung erreicht, daß alle Bürger, die im Wahlregister stehen, wählen können, wenn bis zum 17. Februar weniger als 90% der im Wahlregi­ster stehenden Personen noch keinen Ausweis haben. Als zweites Abkommen haben wir erreicht, daß für die Einschreibung auch die Do­kumente, die das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) an die zurück­gekehrten Flüchtlinge ausgegeben hat, verwendbar sind.
Heute hängt es in hohem Maß von uns ab, ob wir uns einschreiben und daß wir es verwirklichen, daß auch der bisher ausgeschlossene Teil der Linken Gewicht bei den Wahlen erhält.
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*) Die Tandona ist ein besonders starker Jahrgang der Militärakademie. Einige der berüch­tigsten Offiziere gehören der Tandona an, die heute viele zentrale Machtpositionen in Staat und Armee in­nehaben. Chef der Tandona ist Emilio Ponce, seit einigen Monaten Ver­teidigungsminister.

Joaquín Villalobos: Wandel oder Kontinuität?

Nach sechs Wahlgängen in den 80er Jahren, die dem Frieden nicht gedient haben, scheinen die kommenden Parla­ments- und Kommunalwahlen die einzig verbleibende Alter­native, um zu versuchen, die FMLN in die Enge zu treiben. Und vielleicht sind Wahlen für die Regierung und die USA nie so wichtig wie gerade diese gewesen. Der Krieg der USA in Zentralamerika geht seinem Ende entgegen, es gibt Priori­täten in anderen Teilen der Welt und eine Reihe von internen Problemen in den USA. Die Hilfe aus den USA mag sich verringern oder gleichblei­ben, aber sie wird nicht mehr steigen; es sind keine militärischen Optionen mehr zur Beseitigung der FMLN denkbar. Sie wollen die UNO und andere Staaten dazu bringen, die FMLN zu margi­nalisieren. So gesehen, werden die 91er-Wahlen, die zum Frieden beitragen könnten, wiederum in eine Kriegslogik gezwängt. Die Wahlen sollen ernsthafte Verhandlungen ersetzen und als das Ende des Konflik­tes erscheinen, um so unserem Kampf die Rechtfertigung zu entziehen.

Wahlen ohne Frieden

Die Menschen stehen den Wahlen gleichgültig gegenüber, weil sie keine Frieden­soption enthalten, solange keine fundamentalen Übereinkünfte bezüglich der Streitkräfte getroffen worden sind. Die Parteien akzeptierten eine unzureichende und elitäre Wahlregistrierung und unterzeichneten ein mangelhaftes Abkom­men; das ist nachvollziehbar, weil sie in der Furcht vor der Armee leben und sich mit recht wenig zufrieden geben mußten. Können Wahlen im Terrorstaat frei sein? Eine internatio­nale Überwachung kann den Menschen die Furcht nicht nehmen.
Nur ein tiefgreifender Wandel in den Verhandlungen über die Armee kann den Menschen diese Angst nehmen, und nur dann können sich alle politischen Strö­mungen frei artikulieren. Ein solcher Wandel würde die Bereitschaft zu einer vollständigen Entmilitarisierung der Gesellschaft, die all­mähliche Reduzierung beider Armeen, deutliche und entschiedene Schritte zur Säuberung der Streit­kräfte sowie die Bestrafung der Verantwortlichen der Menschenrechtsverletzun­gen wie die Je­suitenmorde u.a. beinhalten.
Die Verhandlungen und nicht die Wahlen sind derzeit das politische Hauptin­strument aller opposi­tionellen Kräfte. Wir dürfen es nicht gegen einen Teller voll Bohnen eintauschen. Wir kaufen keinen Müll mit der schönen Etiquette “freie Wahlen”.
Man könnte argumentieren, daß die FMLN sich zugunsten eines möglichen Wahlsiegs der Opposi­tion für die Wahlen ausspricht, falls bis zu diesem Zeit­punkt keine konkreten Verhandlungsergeb­nisse vorliegen. Zunächst einmal ist ein solches Ergebnis unsicher. Zweitens gibt es keine Garantie dafür, daß es nach einem Wahlsieg tatsächlich Fortschritte bei den Verhandlungen geben wird. Wir würden die Wahlen legitimieren. Wenn wir ernsthaft verhandeln, müssen wir je­doch das Gegenteil tun, nämlich die Legitimität der Regierung und vor allem der Armee in Frage stellen. Wer für die 91er Wahlen Legitimität will, der muß ernst­haft und schnell verhandeln. Die Geschichte von der formalen Macht kennen wir schon zur Genüge. Parlamentarische Mehrheiten und ehrenhafte Abgeordnete, und dennoch taten die Militärs weiterhin, was sie wollten.
Die strategische Verhandlungsrunde ist eröffnet; das Land kann und muß einen tiefgreifenden Wan­del hin zu einer wirklichen Demokratie durchmachen. Es ist die Zeit des Kampfes für einen Wech­sel. Diese historische Chance darf nicht un­genutzt bleiben.

Veränderungen absehbar

Ankunft in Havanna

An meinem dritten Abend in Havanna war ich bei alten Freunden zum Abendessen eingeladen. Sie fragten mich, was ich über die Veränderungen seit meinem letzten Besuch 1983 dachte. Während der ersten Tage hatte ich einen Regierungsfunktionär nach dem anderen interviewt und den Eindruck gewonnen, die Revolution sei nicht nur gesund und munter sondern geradezu blühend. Trotz Unsicherheiten über die wirtschaftliche Zukunft gehe die Regierung mit ehrgeizigen Plänen voran. Die Menschen liebten Fidel Castro und die Revolution und hätten kein Interesse an politischen Reformen. Im Hotel war das Essen reichlich, und die Läden waren voll mit Waren.
“Was für Veränderungen?” fragte ich. “Alles sieht doch noch genauso aus.” Schockiert sahen mich meine Freunde an. Ein Freund, den ich für einen überzeugten Revolutionär halte, schlug die Hände vor’s Gesicht und seufzte: “Ach Medea, mit wem hast du bloß geredet?”
Den Rest des Abends diskutierten wir über die unglaublichen Veränderungen in der sozialistischen Welt, die Nachwirkungen des “Ochoa-Skandals”, den Zustand der Wirtschaft und die Vor- und Nachteile einer Einparteienregierung. Anders als die Regierungsvertreter hatten meine Freunde keine fertigen Antworten parat.
Nach diesem Abend verbrachte ich weniger Zeit mit Funktionären und fuhr mehr in Bussen oder saß in Cafés, um mit so vielen Leuten wie möglich ins Gespräch zu kommen. In der Tat hat sich viel verändert. Verschwunden ist der blinde Optimismus der früheren Jahre. Dinge, die früher selbstverständlich waren, werden nun in Frage gestellt. Ein großes Suchen ist im Gange.

“Gott existiert nicht”

Wegen der schnellen Veränderungen in Osteuropa und der Sowjetunion fühlen sich viele KubanerInnen verunsichert und alleingelassen. Die Lehrerin Mirta Pérez formulierte das so: “Es ist, als hätten wir unser ganzes Leben lang an Gott geglaubt und dann eines Tages gemerkt, daß Gott nicht existiert.”
Die Wahlen in Nicaragua rieben noch Salz in die Wunden. Schließlich waren Nicaragua und Kuba die einzigen sozialistischen Länder Lateinamerikas. Die Niederlage der Sandinisten hat – vorsichtig formuliert – den Selbstzweifel in Kuba verstärkt.
Dazu kommt die noch immer andauernde Wirkung des “Ochoa-Skandals”. (Im Juli 89 wurden General Ochoa, einer der höchsten Militärs Kubas und Mitkämpfer Fidels, und drei weitere Offiziere des Drogenhandels überführt und hingerichtet.) “Jahrelang beschuldigten die USA Kuba des Drogenhandels, und wir schrien, das sei nur Yankeepropaganda. Du kannst dir vorstellen, wie uns zumute war, als wir erfuhren, daß ein Teil der Vorwürfe zutrifft. Und Kuba ist nicht wie die USA, wo man die Person von der Regierung trennen kann. Hier sind die Personen die Regierung und ihre Handlungen werfen ihr Licht auf das ganze System,” sagte ein Freund, der zwei Jahre lang unter Ochoa in Angola gekämpft hatte.
Auf die neue Situation – die durch verschärfte Aggression der USA noch kompliziert wird – hat die Regierung reagiert, indem sie die Reihen fester schloß und die Bevölkerung zu mehr Loyalität und Einheit aufforderte. Andererseits rief die Kommunistische Partei während meines Aufenthaltes zu ihrem vierten Parteikongress im März 1991 auf. Im Aufruf ist die Rede davon, wichtige Aspekte des kubanischen Systems neu zu überdenken: Die Presse, Wahlen, Diskriminierung der Religion und Maßnahmen, um die Korruption auszumerzen. Die Partei fordert zu breiter öffentlicher Diskussion über diese Punkte auf: “Wir bitten das Volk, wie wir es vorher nie getan haben, zu beurteilen, was wir bisher geleistet haben und vorzuschlagen, wie wir weiter verfahren sollen,” sagte der verantwortliche Parteiideologe Carlos Aldana.

Der Sozialismus steht nicht zur Debatte

Dies aber geschah gleichzeitig mit dem Verbot der sowjetischen Zeitschriften Sputnik und Moskau News, nachdem diese mehrere kritische Artikel über Kuba veröffentlicht hatten. Fidel Castro selbst begründete das Verbot damit, daß “die Hand des Imperialismus, der Reaktion und der Konterrevolution” hinter den Artikeln stehe.
Die Diskussion in den Stadtteilorganisationen über die Erneuerung kam zunächst überhaupt nicht in Gang, teils, weil man nicht gewöhnt war, kritisch Stellung zu nehmen, teils aus Angst vor Repression.
Die Regierung betont, daß das sozialistische System Kubas selbst nicht zur Debatte steht, ein Mehrparteiensystem nicht in Frage kommt. Aber auch innerhalb dieser Begrenzung gibt es ja genug zu diskutieren. Vermutlich dürfen in Zukunft religiös Gläubige, die bisher diskriminiert wurden, Parteimitglieder werden. Und wahrscheinlich wird bei örtlichen Parteiwahlen die geheime Stimmabgabe eingeführt, wo bisher fertig vorgestellte Listen per Handzeichen abgesegnet wurden. Die im Fernsehen übertragenen Debatten zur Vorbereitung des Parteikongresses 91 schließen auch Kritik an Korruption, Ineffizienz, Faulheit und Mangel an Demokratie ein.
Doch die Einheit ist wichtiger als die Toleranz, wenn es um die geht, die radikalere Veränderungen wollen. Die Handvoll Menschenrechtsgruppen, die in den letzten drei Jahren entstanden, hatten noch vor einem Jahr nie vorher gekannte Freiheiten. Sie konnten mit ausländischen JournalistInnen sprechen und herumreisen und die kubanische Regierung kritisieren. Nun sind einige von ihnen für viele Jahre im Gefängnis und einige haben Asyl in europäischen Botschaften gesucht. Nur ein paar hundert KubanerInnen sind offen in Opposition, doch es ist schwer zu ermessen, wie viele heimliche Unterstützer sie haben. Ein US-Politiker beklagte, sie stritten mehr untereinander als über das System, und unter ihnen sei keiner vom Format eines Havel oder Sacharow.
Während meines Besuchs im März demonstrierten 500 wütende KubanerInnen vor dem Haus, in dem ein Treffen der DissidentInnen stattfand und verlangten, dieser Abschaum solle auseinandergetrieben werden. Es bleibt die Frage, ob die Menschen wegen der DissidentInnen empört sind, wie die Presse berichtete. Oder ob die Regierung solche Gegendemonstrationen organisiert.
Die DissidentInnen in Kuba sind das eine Extrem einer Gesellschaft, die zweifellos polarisiert ist zwischen denen, die die Regierung Revolutionäre und Konterrevolutionäre nennt. Mein Freund Roberto Telles ist Mechaniker und fest auf der revolutionären Seite verankert. Um mich zu empfangen, bereiteten er und seine Familie ein Essen vor, bei dem der Tisch fast zusammenbrach unter den vielen Speisen. “Damit du siehst, wie die Kubaner verhungern,” lachte er und rieb sich seinen rundlichen Bauch. Doch Robertos Famile kann vor allem deshalb gut essen, weil seine Schwiegermutter Zeit genug hat nach nichtrationierten Lebensmitteln zu suchen.
KubanerInnen, die im Ausland als Soldaten, Lehrer oder im Gesundheitswesen waren sind meist überzeugte Revolutionäre. “Wenn du einmal die Armut in Angola kennengelernt hast, und die Ungerechtigkeit der Welt, dann weißt du, was du der Revolution verdankst.”
Am anderen Ende der Skala sind die Unzufriedenen: Während meines Aufenthaltes in Havanna wurde ich zweimal von jungen Männern angesprochen, die das Land verlassen wollen. Einer hat seine Schulbildung abgebrochen und nun einen schlechten Job auf dem Bau. Immer, wenn ich an der Baustelle vorbeikam, stand er herum mit einem Becher Kaffee und einer Zigarette und redete von einem Onkel, der in New York Millionär geworden sei.
Der andere ist Portier im Hotel. Sein Problem ist nicht die Arbeit ohne Aufstiegschancen, sondern, daß er seine Jugendliebe heiraten will und sie keine Wohnung bekommen. “Keiner von uns kommt mit der anderen Familie aus, und um eine Wohnung zu bekommen, müssen wir zehn Jahre warten – und dann noch Glück haben.” Er meint, die einzige Lösung sei es, zu den Verwandten nach Miami auszuwandern und dort sein Glück zu versuchen.

“Revolution oder Tod läßt mich kalt”.

“Andere, die ich traf, wollen in Kuba bleiben, sind aber so ermüdet vom mühseligen Alltag, daß der Sinn der Revolution verlorengegangen ist. Ich war erschrocken, als ich eine alte Freundin besuchte, die früher in der Kommunistischen Jugend aktiv war. Nun ist sie Lehrerin, hat zwei kleine Kinder und findet das Leben erheblich schwieriger als zuvor. Nachdem ich mir ihre Klagen über Versorgungsmängel und entnervende Bürokraten angehört hatte, fragte ich sie, ob sie noch wie früher hinter den Gedanken der Revolution stehe. “Ehrlich gesagt,” sagte sie müde, “das ganze Geschrei um ‘Revolution oder Tod’ läßt mich kalt. Ich würde sagen, ich bin jetzt unpolitisch. Es interessiert mich mehr, Essen auf den Tisch zu kriegen, als für den Sozialismus zu sterben.”
Die Regierung versichert, die Unzufriedenen seien ein winziger Prozentsatz der Bevölkerung. Ein Regierungssprecher nannte 98% auf seiten der Regierung, andere sagen, die Zahl liege eher bei 70%, mit 2o% Unpolitischen und 1o% GegnerInnen der Revolution. Aber auch AnhängerInnen der Revolution fragen sich, ob wirklich noch die Hälfte der Bevölkerung dahinter steht. Seit den Wahlen in Nicaragua weiß man nun auch nicht mehr, ob die Millionen Menschen, die sich bei revolutionären Kundgebungen versammeln, auch wirklich hinter der Revolution stehen.
Angesichts des gegenwärtigen Einparteiensystems und des Fehlens von Meinungsumfragen zu kontroversen Themen kann niemand wissen, welcher Prozentsatz KubanerInnen für oder gegen die Revolution ist. Diejenigen, die einen baldigen Zusammenbruch des Systems erwarten, leben jedenfalls in einem Traumland. Sogar Gustavo Arcos, Führer des Kubanischen Menschrechtskomitees, stellte fest, daß ein erheblicher Prozentsatz des Volkes hinter der Revolution und ihren Führern steht. Es habe wenig Sinn, eine starre Definition von Revolutionären und Konterrevolutionären aufrechtzuerhalten. Stattdessen rief er zum Dialog aller Gruppen einschließlich der Regierung auf.
Offenbar haben die starren offiziellen Kategorien tatsächlich immer weniger Sinn. Die Mehrzahl der KubanerInnen steht wahrscheinlich dazwischen. Sie erkennen die positiven Errungenschaften der Revolution an und bezeichnen sich als SozialistInnen, haben aber gleichzeitig viele Klagen über ihr System und wissen nicht, wie es besser funktionieren könnte.

“100% fidelista”

Die Person Fidel Castro hält das Ganze zusammen und gibt der sonst beunruhigenden Welt eine Kontinuität. Ein Zeitungsverkäufer, mit dem ich über den Umsturz in den sozialistischen Ländern sprach, formulierte das so: “Ay, chica, ich verstehe nicht, was in der Welt vorgeht. Ich weiß auch nicht mehr, was Kommunismus ist. Aber eines weiß ich genau: Ich bin 100% fidelista.”
Die meisten KubanerInnen, mit denen ich sprach, haben weiterhin eine sehr gute Meinung von Fidel, ihrem comandante. Wenige ziehen die Schlußfolgerung, die für eine Beobachterin von außen so einleuchtend ist: Ein starker Führer, der so viele der wichtigen Entscheidungen im Land fällt, bringt gleichzeitig eine erdrückende Bürokratie mit sich, die zu keinen Risiken bereit und in der Lage ist.
Der Parteiideologe Ramón Suárez gibt zu, daß die Umwälzungen im Osten Europas eine Warnung für die Politiker in Kuba waren. “Hier ist alles anders als in Osteuropa, aber wir untersuchen, wie es dazu kommen konnte, daß die Parteien so verknöcherten, wie sie den Kontakt zum Volk verloren. Wenn man mit ArbeiterInnen in Osteuropa oder sogar in der Sowietunion sprach, konnte man merken, wie gering der Einfluß der Partei war. Die ArbeiterInnen hatten keine sozialistischen Wertvorstellungen. Deshalb sagen wir unseren Parteimitgliedern, sie sollen mehr mit den ArbeiterInnen am Arbeitsplatz, in den Fabriken und in den Schulen reden und die wirklichen Probleme der Leute besprechen – wie die Produktion läuft, die Wohnungssituation, ihren Zugang zu Lebensmitteln und Kleidung. Wir müssen ständig Kontakt halten mit den Menschen und sicherstellen, daß ihre Angelegenheiten ernstgenommen werden.
Ein anderes Problem der europäischen Parteien war, daß ihre Führung sich nicht erneuerte. Und bis vor wenigen Jahren war das in Kuba ja auch so. Aber uns ist das klargeworden und wir nehmen nun junge Leute auf allen Ebenen in die Gremien.”
Roberto Robaina, der 32-jährige Vorsitzende der Kommunistischen Jugend (UJC) in Havanna wird als der beste der neuen Generation angesehen. In T-shirt, Jeans und Turnschuhen bekleidet und inmitten eines lebendigen Kommens und Gehens wirkt er völlig anders als die üblichen kubanischen Parteifunktionäre. Er gilt als “Reformer” und äußert seine Kritik – auch gegenüber Fidel Castro. Für ihn ist das Hauptziel, die Jugend davon zu überzeugen, “die Revolution zu lieben.” Er versucht, dies zu erreichen, indem er statt der alten langweiligen und obligatorischen endlosen Sitzungen Musikveranstaltungen und Feste macht, wo weniger geredet als getanzt wird.
Die Frage der Einheitspartei ist weiterhin tabu in Kuba. Dennoch meinen einige KubanerInnen, kleinere Parteien sollten zugelassen werden, auch wenn natürlich die Vorherrschaft der Kommunistischen Partei damit nicht infrage gestellt werden soll. Andere fürchten die Propagandamaschinerie, die die USA zugunsten anderer Parteien in Gang setzen würden. Dann ginge die nationale Souveränität gleich mit dem Sozialismus verloren.

Das kubanische Dilemma

Das ist das große Dilemma Kubas: Was ist die größere Bedrohung für die Revolution, eine Öffnung des politischen und wirtschaftlichen Systems oder das Aufrechterhalten einer starren Kontrolle? Viele Faktoren sprechen dafür, daß es auf die starre Kontrolle hinauslaufen wird. Ein Grund ist, daß die kubanische Regierung sich weigert, solche Veränderungen durchzuführen, die scheinbar durch äußeren Druch aufgezwungen werden sollen – von den USA, der Sowjetunion oder, noch schlimmer, von den Exilkubanern. Seit 200 Jahren ist Kubas nationale Identität auf der Opposition zum Rest der Welt begründet.
Ein weiteres Hindernis für Reformen hat mit dem machismo zu tun. Wenn mann einmal einen Weg eingeschlagen hat, dann kann mann nicht mehr zurück. Genau das ist die Guerilla-Mentalität und leider scheint Fidel Castro nach eben diesem Motto zu handeln. Manche haben Angst, daß er auf das einzige richtige Ende für einen Revolutionär hinarbeitet – in Flammen aufzugehen. Socialismo o muerte.
Das wichtigste Hindernis für Reformen ist die Feindschaft der USA, die die Einheit wichtiger erscheinen läßt als die Toleranz. “Wenn die Yankees ein kubanisches Schiff mit Maschinengewehren beschießen, oder wenn Bush einen Ballon in den Himmel schickt, um uns TV Martí aufzudrücken, dann verlieren meine Konflikte mit den Dogmatikern an Bedeutung. Dann will ich nur noch einem Scheißamiledernacken auf die Fresse hauen”, sagte ein Reformanhänger.
Veränderungen sind unausweichlich. Wenn die Kommunistische Partei Kubas nicht in der Lage ist, einen wirtschaftlichen und politischen Reformprozess einzuleiten, kann Kubas großartiges Experiment am Ende sein. Anders als die osteuropäischen und sowjetischen Kommunisten genießt die kubanische Partei noch viel Ansehen. Wenn die Sorgen und Bedürfnisse der Kubaner ernstgenommen werden und Reformen stattfinden, wird die Revolution nicht nur besser imstande sein, die US-Aggressionen zu überstehen, sondern sie kann auch weiter den Rest der Dritten Welt inspirieren.

Die Linke und das Ende des europäischen Sozialismus

Die PT – eine sozialistische Partei neuen Typus?

Es lohnt sich, gerade die Diskussion innerhalb der PT etwas näher zu betrachten, da diese Partei nicht in den Rahmen der traditio­nellen kommunistisch-sozialistischen Parteien in Lateinamerika paßt und eine Massenpartei ist, deren Kandidat Lula im letzten Jahr fast die Wahlen gewonnen hätte. Während des Präsidentschafts­wahlkampfes war die PT gezwungen, sich intensiv damit auseinander­zusetzen, wie eine sozialistische Alternative für Brasilien auss­sehen könnte und mußte Angriffe kontern, sie wolle in Brasilien das überholte Gesellschaftsmodell einführen, das in Europa gerade zu Grabe getragen werde.
Die PT entstand 1980 als ein Zusammenschluß von Menschen aus der neuen Gewerkschaftsbewegung, links-katholischen Kreisen und Intel­lektuellen. Zahlreiche Basisinitiativen, oft beeinflußt von den links-katholischen Strömungen, schlossen sich der Partei an oder verstanden sich als PT-nahe. Nicht in die Partei gingen hingegen die beiden (damals noch verbotenen) kommunistischen Parteien. Nach einem schematischen Etappenmodell wollten sie in der bürgerlichen Oppositionspartei PMDB zunächst für eine demokratische Umwälzung kämpfen.
Die PT verstand sich von Anfang an als eine Partei mit einer besonderen Bindung an die sozialen Bewegungen und zu Beginn bestimmte das Verhältnis zu den “Bewegungen” die internen Diskus­sionen der Partei: Soll sie nur ein Sprachrohr der Bewegungen sein oder eine eigenständige politische Kraft – eine Diskussion, die sehr an die Gründungszeiten der Grünen erinnert. Von den Grünen unterscheidet sich aber die PT radikal in einem Punkt: Prägend waren die Erfahrungen der neuen, kämpferischen Gewerkschaftsbewe­gung im industrialisierten Sektor Brasiliens. Ist der Kampf gegen Atomkraftwerke die Gründungssage der Grünen, so sind es die Streiks der MetallarbeiterInnen für die PT. In der PT waren und sind auch Kräfte – vor allem unter den Intellektuellen – vertre­ten, die traditionellen marxistischen Orientierungen anhängen, sowie einer recht bedeutsame trotzkistische Strömung.
Die Organisation verschiedener “Tendenzen” innerhalb der Partei ist erlaubt, und tatsächlich ist die PT in eine Vielzahl von Srö­mungen aufgegliedert, die sich zum Teil heftig bekämpfen. Immer­hin: Die PT ist eine Partei, die internen Pluralismus zuläßt und nicht nach den Prinzipien des “demokratischen Zentralismus” aufge­baut ist. Das heißt auch, daß in vielen Fragen eine Position der PT nur schwer auszumachen ist. Gerade in vielen Punkten, die Deut­sche immer wieder interessieren, ist die PT zutiefst gespalten: der Ökologie und dem Verhältnis zur Frauenbewegung. Selbst Grund­forderunge wie das Recht auf Abtreibung haben es in der PT schwer, da hier die progressiven Katholiken an ihre Grenzen geraten. Aber auch solche Diskussionnen werden innerhalb der PT geführt und in letzter Zeit konnten Feministinnen in der PT an Boden gewinnen, zum Beispiel daurch, daß eine erklärte Feministin zur Frauenbeauf­tragten in Sao Paulo ernannt wurde.
Die PT hat sich in vielen Positionspapieren (nicht aber in ihrem Gründungsdokument!) zum Ziel einer sozialistischen Gesellschaft bekannt. Sie hat sich mit der polnischen Solidarnosc solidari­siert, gar Kampagnen zu ihrer Unterstützung in Brasilien gestartet – ein demonstrativer Akt der Abgrenzung zum real existierenden Sozialismus (Später sind die Beziehungen zur Solidarnosc aus ver­ständlichen Gründen abgekühlt). Auf der anderen Seite hat die PT intensive Beziehungen zu den kommunistischen Parteien Osteuropas unterhalten und zahlreiche PT Funktionäre besuchten Schulungskurse in der DDR. Diese seltsame Ambivalenz von Distanz und Nähe bestimmte auch das Verhältnis zu Kuba. Die Offenheit der PT macht natürlich auch in den verschiedensten Lagern Appetit. Auf dem letzten Parteikongreß (1990) waren zum Beispiel die SPD (als ein­zige deutsche Partei!) und die kommunistische Partei Nordkoreas vertreten.

Sozialismus + Demokratie + Pluralismus

Diese Formel wird in den meisten Beiträgen als Lösung des Problems angeboten. “Der Pluralismus ist unvermeidbar”, ist ein Interview mit dem Generalsekretär der PT, José Dirceu überschrieben. “Ich glaube, daß die leninistischen Konzeption von der Diktatur des Proletariats, nicht wie sie gedacht war, sondern wie sie verwirk­licht wurde, überholt ist. Sie oktroyiert eine staatliche Presse, die Abwesenheit von Opposition, ein Einparteiensystem und Plan­wirtschaft.Die Gesellschaft muß sich demokratisch entwickeln.” Seine Vorstellung von Demokratie konkretisiert Dirceu folgenderma­ßen: “Die Opposition hat das Recht zu existieren. Sie muß alle individuellen und kollektiven Rechte ausüben können, die in der Verfassung garantiert sind. Ihr muß auch die Freiheit eingeräumt werden, den Weg der Rückkehr zum Kapitalismus einzuschlagen. Es ist bewiesen, daß die kulturellen Unterschiede innerhalb der Bevölkerung, insbesondere innerhalb der Arbeiterklasse, es einem großen Teil der Menschen unmöglich machen, die Macht über die direkte Demokratie auszuüben, also durch Plebiszite oder Referen­dum. Somit ist die repräsentative Demokratie eine Notwendigkeit. Es ist ein Fehler der Sozialisten, ein fundamentales Instrument zur Erzielung von Legitimität und Konsens zu vernachlässigen: die Abstimmung in einer repräsentativen Körperschaft.”
Es ist die Kombination von Verfassungsrechten und repräsentativer Demokratie, die autoritäre Verzerrungen bannen soll. Im Scheitern des autoritären Sozialismus sehen einige Beiträge denn auch eine Chance: der Sozialismus muß nun endlich eine untrennbare Verbin­dung mit der Demokratie eingehen und kann gerade dadurch an Attraktivität gewinnen. “Der Zusammenbruch der sozialistischen Regimes in Osteuropa hat eine extrem positive Seite: Überkommene und nicht mehr aktuelle Ideen müssen neu überdacht werden.”(Luis Alberto Gomes) Zwar hatten die Marxisten, wie Herbert de Souza ausführt, immer schon die Demokratie im Munde geführt, aber eine im Grunde taktische Position zur Demokratie eingenommen und damit ihre Reichweite und Radikalität vermindert. Das Ergebnis war “Gleichheit ohne Partizipation und Solidarität ohne Freiheit.”
“Man kann sagen, daß die brasilianische Linke die Realität der brasilianischen Gesellschaft nie unter dem Blickwinkel der Demo­kratie analysiert hat. Generell war die Linke eher in der Lage, die Entwicklung des Kapitalismus zu verstehen als diese Entwick­lung unter dem Blickwinkel der Demokratie zu analysieren.” Oder noch einmal zugespitzt: Die Frage des Sozialismus hat nur Sinn als Frage der Demokratie. Der Sozialismus muß – und tut es auch schon – seinen Namen neu diskutieren. Der wahre Name des Sozialismus ist Demokratie.” An diesen Stellungnahmen überrascht vielleicht, wie unproblematisiert mit dem Konzept der (repräsentativen) Demokratie umgegangen wird. Allerdings betonen die Autoren immer wieder, daß die bürgerliche Demokratie keine Alternative sein kann, da sie vor den Fabriktoren aufhöre und eine Demokratie ohne soziale Gerech­tigkeit keine wirkliche Demokratie sei. Dirceu problematisiert, ob es jetzt überhaupt einen demokratischen Staat gäbe. Das würde ja voraussetzen, daß die Bourgeoisie bereit wäre friedlich einen übergang zu einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft zuzulassen. “Aber wenn das Volk in kapitalistischen Ländern die Macht ergreift, dann holen sie das Heer und veranstalten wahre Massaker, wie sie es schon in verschiedenen Ländern Lateinamerikas gemacht haben.” Diese Frage müsse noch gelöst werden.
Das glaubhafte Bekenntnis zu einem demokratischen Sozialismus fällt der PT sicherlich nicht schwer, wie die kurze Charakterisie­rung der Partei zeigt. Daher wohl auch das Bemühen, diesen Punkt in den Mittelpunkt der Debatte zu rücken. In einigen Stellungnah­men scheint aber auch durch, daß die Fragen doch komplizierter sind: Schließlich forderten “die Massen” in Osteuropa nicht den demokratischen Sozialismus, sondern den Kapitalismus.

Sozialismus ohne Planwirtschaft?

In die Krise geraten ist doch auch eine Grundannahme aller sozia­listischen Konzepte: daß eine zentrale Planung und gesellschaftli­che Kontrolle der Produktion geboten sei, um den Übeln der Markt­wirtschaft beizukommen. Dieser Punkt wird in den meisten Stellung­nahem weniger ausführlich diskutiert. José Dirceu will an der Grundentscheidung für Planwirtschaft festhalten. “Ich glaube nicht, daß die Planung in sozialistischen Ländern aufgegeben wer­den darf (ich spreche von strategischer Planung) und obwohl ich die Beibehaltung des Kollektiveigentums an den wichtigsten Produk­tionsmitteln verteidige, ist es nicht vorstellbar, da? es möglich sein kann, die Produktivkräfte zu entwicklen, ohne kleines und mittleres Eigentum zuzulassen – oder anders gesagt: ohne die Exi­stenz von Privateigentum an Produktionsmitteln und Gütern.” Die Kombination von Wirtschaftsdemokratie, Planung und Privateigentum soll sowohl Bürokratisierung wie die Anarchie des Marktes beseiti­gen. “Ich glaube nicht, daß in den nächsten fünfzig Jahren irgend­eine Gesellschaft voranschreiten kann, ohne Kollektiveigentum mit mittlerem und kleinem Privateigentum zu verbinden.”

Der Marxismus – ein toter Hund?

Die PT-Dikussion bewegt sich – das ist unschwer zu erkennen – im Rahmen einer klassisch-sozialistischen Denktradition, die durch den Marxismus geprägt ist. ßkologie oder feministische Kritik spielen bei den durchweg männlichen Autoren keine Rolle. So kann es auch nicht überraschen, daß eine Krise des Marxismus konsta­tiert und erörtert wird. In Deutschlund scheint diese Frage ja – um im Tierreich zu bleiben – keinen Hund mehr hinter dem Ofen her­vorzulocken, die große Debatte dieses Jahrhunderts ist nicht ent­schieden worden, sondern siecht an Desinteresse dahin. Anders in Brasilien: “Die Krise des ‘realen Sozialismus’ ist vor allem die Krise des orthodoxen Marxismus… Der orthodoxe Marxismus ist heute nicht mehr als eine Philosophie des bürokratischen Konserva­tivismus…Die Kritik dieses Marxismus ist der Ausgangspunkt für die Formulierung einer revolutionären Alternative, die zugleich humanistisch und universal ist.” Man müsse den Kopf befreien von der Diktatur der “gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten” um zu einer “antideterministischen und libertären” Konzeption zu gelan­gen. Es gelte den Weg weiterzuverfolgen, den Gramsci eröffnet habe.(So Ozeas Duarte, einer der Herausgeber von “Teoria & Debate”) In einem anderen Beitrag fordert Augusto de Franco (Mitglied des Leitungsgremiums der PT), “die alte Fibel zu zerrei­ßen, die darauf basiert, der Marxismus-Leninismus sei eine wissen­schaftliche Theorie.” Besonders in diesem Beitrag wird nicht erst der Stalinismus als das Übel ausgemacht: “Die Geschichte zeigt, daß es weder vor noch nach 1917 eine Politik gab, die unabhängige und autonome Organisationen der Arbeiter aufbaute als Keimformen von Organisationen der Leitung und der Macht in der Gesellschaft.” Diese Äußerungen haben heftigen Widerspruch eines anderen Lei­tungsmitgliedes (Joao Machado) provoziert. Für ihn brach Stalin mit der gesamten marxistischen Tradition und errichtete eine büro­kratische Diktatur, die sich gerade über die physische Liquidie­rung der alten Garde des Bolschewismus etablierte. Der Stalinismus stelle einen radikalen Bruch mit der Tradition des Marxismus dar, die Kritik am real existierenden Sozialismus gäbe daher nichts her für die Kritik am Marxismus. “Daher haben wir bei der immensen Aufgabe, einen demokratischen, revolutionären und libertären Bezugsrahmen zu errichten, einen fundamentalen Stützpunkt in der marxistischen Tradition, die wir mit aller Energie vom Stalinismus unterscheiden müssen.”

Wir haben eine Mappe bereitgestellt, in der die Beiträge, auf die hier Bezug genommen wird, kopiert sind. Die Mappe enthält auch den vollen Wortlaut des Dokuments “O socialismo petista”. Alle Beiträge sind auf portugiesisch! Zu beziehen über den LN Vertrieb gegen Rechnung (DM 10,- plus Versandkosten) oder gegen DM 10,- Vorauskasse!

Kasten 1:

Dokumentation

O Socialismo petista

Dokument des 7.Nationalen Kongreß der PT (Juni 1990) Auszüge
Die PT entstand bereits mit radikaldemokratischen Vorschlägen. Unsere Ursprünge liegen im Kampf gegen die Militärdiktatur und Repression der Bourgeoisie. Auf der Straße und an unseren Arbeitsplätzen forderten wir die politischen Freiheiten und sozia­len Rechte. In den 10 Jahren ihrer Existenz war die PT immer an der Spitze der Kämpfe für die Demokratisierung der brasilianischen Gesellschaft … Aber die demokratische Verpflichtung der PT geht hinaus über die Parolen, die sie verteidigte und verteidigt. Auch unsere interne Organisation drückt die Verpflichtung zu einer freiheitlich orientierten Politik aus. Den monolithischen Hierar­chien traditioneller Parteien – und vieler linker Gruppierungen – abgeneigt, unternimmt die PT Anstrengungen, die interne Demokratie zu stärken. Dies ist die unabdingbare Voraussetzung für eine demo­kratische Praxis im sozialen Leben und bei der Ausübung der Macht. Diese fundamentale Verbindung mit der Demokratie verpflich­tete uns zum Antikapitalismus, wie sie auch unsere antikapitali­stische Opposition in unserem demokratischen Kampf stimulierte.
Die PT identifiziert sich mit den Kämpfen der Arbeiter und der Völker für ihre Befreiung und für den Sozialismus … Seit ihrer Gründung betrachtet die PT die Mehrheit der Erfahrungen des soge­nannten realen Sozialismus als eine Theorie und Praxis, die nicht in Einklang ist mit den humanistischen, libertären und egalitären Ideen des Sozialismus. Der Sozialismus, im Sinne der PT, wird radikal-demokratisch sein oder er wird kein Sozialismus sein … Aber was für ein Sozialismus? Für welche Gesellschaft, welchen Staat kämpfen wir? … Das 5. Nationale Treffen präsentierte den Arbeitern unseres Landes das grundlegende ideologisch-politische Profil unserer Vision: Um den Kapitalismus auszulöschen und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu beginnen, bedarf es an erster Stelle einer radikalen politischen Veränderung: die Arbeiter müssen zur hegemonialen Klasse in der zivilen Gesell­schaft und in der Staatsmacht werden.
Der Sozialismus, den wir herbeisehnen, kann es nur geben mit einer demokratischen Organisation der Wirtschaft … Eine Wirtschaftsdemo­kratie, die ebenso die perverse Logik des Marktes wie auch die unerträgliche, autoritäre staatliche Planung der sogenannten sozialistischen Wirtschaften überwindet … Wir kämpfen für einen Sozialismus, der nicht nur die demokratischen Freiheiten,die in der kapitalistischen Gesellschaft errungen wurden, bewahren muß, sondern sie erweitert und radikalisiert.

Dies sind nur kurze Auszüge aus einem erheblich längerem Dokument.

Kasten 2:

Die Haupttendenz in der Welt ist Sozialismus

Die abweichende Meinung der Trotzkisten

In einem Interview mit “Teoria & Debate” stellt der Sprecher der größten trotzkistischen Tendenz innerhalb” der PT (Convergencia Socialista), Valerio Arcary, seine Sichtweise der Dinge dar:
“Noch nie in unserem Jahrhundert war die Lage für den Kampf um den Sozialismus so günstig. Ich werde eine noch schockierendere Fest­stellung machen: Nie war der Osten so dem Sozialismus zugeneigt! Denn die Massen sind in Bewegung und ein grundlegendes Element im Marxismus ist das Ver­trauen, daß die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter sein kann … Das Proletariat hat sich in Bewegung gesetzt. Das ist ein Beispiel für die ganze Welt … Die Massen wollen den Kapitalismus? Nein. Die Massen wollen nicht den Kapitalismus. Die Massen wollen bessere Lebensbedingungen. Es gibt eine Explosion von Freiheiten in Osteuropa. Es sind Freiheiten, die auf dem Weg, der zur Revolution führt, erobert worden sind. Im Kampf für ihre Forde­rungen haben die Massen die Illusion, ihre Länder könnten sich in ein Frankreich, in eine Schweiz verwan­deln … Es gibt Illusionen, aber es gibt auch Mobilisierung. Die Revolution geht weiter. Der Aufstand gegen die bürokrati­schen Dik­taturen war nur ein Moment.”

Teoria & Debate 10, Mai 1990

Die Linke im Bann der verfassunggebenden Versammlung

“Im Establishment herrscht Angst und Zittern” und der rechtsgerichtete Kolumnist D’Artagnan der konservativen Tageszeitung E1 Tiempo bringt es auf den Punkt: “Werden wir zusehen müssen, wie die Verursacher des Holocausts des Justizpalasts (‘) als Mitglieder in unsere verfassungsgebende Versammlung gewählt werden?” Gemeint sind Exguerilleros der linkspopulistischen M-19, die im März 1990 abgerüstet und legalisiert wurde und heute als reputierliche Mittelklassepartei mit ihren Augenaufschlägen vor der deutschen Sozialdemokratie und ihren Diskursen von einem “demokratischen Kapitalismus” nicht nur die traditionelle und revolutionäre Linke aus der (Ver-) Fassung bringt. Auch gewählt wird schon wieder: das Volk hat es so gewollt. Von einer Studentenbewegung lanciert und als Initiative der hijos de papi (Muttersöhnchen der Reichen) gutwillig von Präsident Barco gegen Ende seiner Amtszeit aufgenommen (er hatte ja nichts mehr zu verlieren), fand bei den Gemeinde-und Parlamentswahlen im März (inoffiziell auf Initiative von Studenten und Volksorganisationen), sowie bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Mai (offiziell durchgeführt und ausgezählt) eine Volksabstimmung über die Konstitution einer verfassunggebenden Versammlung statt, “um die partizipative Demokratie zu stärken, ja/nein”. In der Gewißheit, mit den traditionellen klientelistischen Hilfsmitteln (auf gut deutsch: Stimmenkauf gegen Geld, Einflug und Pöstchen) und der konservativen Presse noch genügend Steuerungskraft zu besitzen, ließen sich die traditionellen Parteien sogar auf eine direkte Wahl der zukünftigen Verfassungsmütter und -väter ein -nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in Europa ein ungewöhnlicher Vorgang. Die Versammlung soll nach ihrer Wahl am 6. Dezember in völliger Selbstbestimmung das erstarrte und korrumpierte politische System reformieren und, soweit gehen heute die Erwartungen, einen neuen “Sozialpakt” auf einer völlig erneuerten verfassungsrechtlichen Grundlage in dem von politischer Gewalt zerrütteten Land möglich machen.
Zu Beginn schien grundsätzliche Skepsis noch angebracht, war doch zu erwarten, daß es der Konservativen und Liberalen Partei, den traditionellen Eliten, gelingen würde, das Vorhaben für sich zu instrumentalisieren. Doch schon heute hat die Asamblea Constituyente auf der politischen Bühne so viel in Gang und gleichzeitig durcheinander gebracht, daß Konservativen und Liberalen in weiten Bereichen die Kontrolle entglitten zu sein scheint und ihre alten Muster, nach denen sie jahrzehntelang gemeinsam Politik machten, nicht mehr gelten. Und das Allerschlimmste im Sinne des eingangs zitierten Kolumnisten: In den Umfragen liegt die M-19 vor Liberalen oder Konservativen in der Gunst des Wahlvolkes. Ihre Liste, angeführt von Antonio Navarro Wolf, birgt in der Tat Überraschungen: angeschlossen haben sich ihr drei Liberale, der progressiv- konservative Alvaro Leyva Durán und der bekannte Soziologieprofessor Orlando Fals Borda. Doch auch links von der M-19 hat sich Interessantes getan, wurden alte Unvereinbarkeiten linken Sektierertums aufgegeben. So haben Kommunisten, Sozialisten, Castristen und Unabhängige sich in einer Liste geeint und setzen alles daran, mit ihrem Spitzenkandidaten Alfredo Vásquez Carrizosa, Ex-Außenminister und Vorsitzender des Permanenten Komitees zur Verteidigung der Menschenrechte, mit neuer Offenheit und Toleranz als linke Alternative ernst genommen zu werden. Egal ob revolutionäre, dem Guerillakampf verbundene und bisher abstentionistische Kräfte wie A Luchar, reformistisch orientierte Kommunisten oder konziliante, bezüglich ihrer Herkunft schwer erkennbare Exmaoisten: sie legen in diesem Jahr ohne Ausnahme den Schwerpunkt ihrer politischen Arbeit und mehrheitlich auch ihre Hoffnungen (also nicht nur Taktik) in eine verfassungsrechtliche Reform, verstanden als zukünftige Grundlage für einen Umbau der Gesellschaft, der als nicht mehr hinausschiebbar wahrgenommen wird. Kein Wunder: Kolumbien hat im lateinamerikanischen Vergleich die höchste Mordrate, die höchste Boden(Besitz-)konzentration und die unerbittlichsten neoliberalen Wirtschaftssitten in Gestalt des Drogenhandels. Doch wie kam es zu den programmatischen und organisatorischen Veränderungen in der Linken? Ein Blick zurück kann vielleicht ansatzweise eine Antwort geben.
Seit Ende der 50er Jahre bis in die Gegenwart wurde Kolumbien durch ein ausschließliches Zweiparteien-System (dem sogenannten Bipartidisrno) beherrscht, das in der Nationalen Front institutionell und auch verfassungsrechtlich bis 1978 abgesichert war. Nach der bürgerkriegsähnlichen Violencia der 40er und 50er hatten sich die verfehdeten Liberalen und Konservativen Parteien auf dieses Modell der Kooptation und paritätischen Amterbesetzung geeinigt, nach-dem der damalige Konflikt klassenspezifische Dimensionen angenommen hatte. Die Nationale Front sicherte nicht nur jahrzehntelang das trügerische Bild einer stabilen Präsidialdemokratie, sie garantierte und reproduzierte immer wieder auch den Ausschluß oppositioneller politischer Bewegungen. In diesem Kontext ist die marginale Entwicklung der Linken zu sehen, die sich, von der halblegalen und isolierten Kommunistischen Partei einmal abgesehen, nie im legalen Raum als Volks-oder Massenpartei über punktuelle historische Momente hinaus institutionalisieren konnte. Entweder wurde sie in die Illegalität (zur Guerilla) getrieben wie die Volksbewegung der Frente Unido um Camilo Torres (er ging zur ELN und fiel wenige Monate später), oder sie wurde von den traditionellen Parteien gespalten, korrumpiert und aufgesogen wie die “Revolutionäre Liberale Bewegung” MRL -Prozesse, die Mitte der sechziger Jahre stattfanden. Oder sie zerbrach an institutionellen Hürden, Wahlbetrug und fehlendem inneren Zusammenhalt wie die populistische ANAPO und ihr sozialistisches Strömungsanhängsel im Jahr 1970 (das zur Geburtsstunde der M-19 wurde), oder, letztes Beispiel, sie wurde in einem strategisch geführten Schmutzigen Krieg physisch liquidiert, wie die Unión Patriótica (UP)der 80er Jahre. Die UP war als legales Projekt der Kommunistischen Partei und der kommunistischen Guerilla aus dem “Friedensprozeß” unter dem damaligen Präsidenten Betancur hervorgegangen. (Anderen Guerillaorganisationen wie der M-19 -deren Popularität damals schon weit in die Mittelschichten hinein reichte -gelang die Konstitution einer legalen politischen Partei zu diesem Zeitpunkt aufgrund der massiven Verfolgung durch Todesschwadronen nicht). Bei den Präsidentschaftswahlen 1986 gelang es der UP noch mit Jaime Pardo Leal(1987 ermordet) für kolumbianische Verhältnisse beachtliche 4,5% der Stimmen zu erringen. Bei den Wahlen 1990 war sie für eine Kandidatur physisch nicht mehr in der Lage: ihr Kandidat Bernardo
Jaramillo wurde schon vorher umgebracht. Obwohl -oder gerade weil? -sich die politischen.Morde vorwiegend gegen die perestroikos,die Vertreter einer politischen Öffnung richteten, brachte die Perestroika-Diskussion in den letzten zwei Jahren die Linke erneut in Bewegung. Doch auch die Friedensverhandlungen, die die M-19 mit der Regierung Barco ab dem Frühjahr 1989 führte, beeinflusste die “Öffnungsdiskussion”der Linken und führte zu einem neuen Stellungbeziehen in der Frage des bewaffneten Kampfes -in klarer Abgrenzung zur M-19. “Keine Verhandlungen, keine Waffenniederlegung, ohne daß die Oligarchie zu Verhandlungen über soziale und politische Reformen bereit ist”, blieb die Devise. Nichtsdestoweniger wird unter Marxisten diverser Richtungen immer mehr der orthodoxe Diskurs durch eine allgemein-verständlichere Sprache abgelöst und der Avantgarde-Anspruch immer mehr durch die Idee der “kollektiven Avantgarde”. Diskussionen um eine Demokratisierung der Partei-bzw. Organisationsstrukturen sind in Gang.
Die M-19 hingegen hat in dieser Zeit vorgeführt, wie es geht, mit möglichst viel Prinzipien in möglichst kurzer Zeit zu brechen -und damit Wähler zu gewinnen: Bei den Präsidentschaftswahlen am 27. Mai verwies sie den offiziellen Kandidaten der Konservativen Partei auf den vierten Platz und errang auf Anhieb 12,5 % der Stimmen. Nicht nur, daß sie das Ende des Guerillakampfes in Lateinamerika ausrief und in einer parlamentarischen Demokratie -einer reformbereiten natürlich -nur noch Gutes sah. Nein, sie bekennt sich auch (laut Wahlprogramm) zu einem “Kapitalismus der Besitzenden”, einem Kapitalismus, “in dem alle reale Chancen auf Eigentum haben”. -Doch vielleicht hatte sie genau das unter “Volksmacht” immer verstanden? Und wenn in diesem Versprechen vielleicht gerade ihr Erfolgsgeheimnis läge?
Sicher ist, daß die alte, sich mühsam reformierende Linke, zwischen Neid auf die Popularitätswelle der Eme und Ablehnung von deren Anbiederung an die Macht, gleichzeitig vom Erfolg des Zivilismus und des demonstrierten Glaubens an eine Reformierbarkeit des abgewirtschafteten Systems in den Bann gezogen wird. Doch auch wenn diese Hoffnung berechtigt ist, wenn es gelingen sollte, mit neuen Mehrheitsverhältnissen die Verfassung des Landes zu reformieren und das Legitimationsdefizit der alten Eliten für eine Demokratisierung von Politik und politischer Kultur zu nutzen: Die Macht über die materiellen Reichtümer und zu deren Umverteilung ist damit noch nicht in anderen Händen.

(‘) Im November 1985 wurde der Justizpalast von der M-19 besetzt. Bei der Gegenoffensive der Streitkräfte kamen über 100Menschen ums Leben; zahlreiche Personen, Guerilleros wie Zivilisten, wurden vom Militär verschleppt und zu Tode gefoltert.

Ökologie in Unordnung

“Die Entwicklungsprojekte der letzten 25 Jahre für Amazonien sind durchweg gescheitert”, darin herrschte weitgehende Einigkeit unter den RednerInnen und Zuhöre­rInnen. Tatsächlich ein “gemeinsames Nachdenken über Entwicklungsalternativen für Amazonien” in Gang zu bringen, wie es die 5-tägige, unter anderem von der UNESCO, der Orga­nisation Amerikanischer Staaten (OAS) und der US-amerikanischen FORD-Stiftung unterstützte Tagung als Ziel formuliert hatte, erwies sich in der Folge jedoch als ein schwieriges Unterfangen.
Bei den Podiumsdiskussionen, die Politiker und WissenschaftlerIn­nen, Holzexporteure und IndianerInnen zusammenbringen sollten, kam eine echte Debatte nur ansatzweise zustande. Die einzelnen Statements waren von sehr unter­schiedlicher Qualität, nur selten aufeinander bezogen, und auch viele interessante Beiträge endeten eben an dem Punkt, wo eine Diskussion über Entwicklungs­alternativen hätte beginnen müssen. So etwa die bedenkenswerte Überlegung des Vertreters des anthropologischen Museums von Belém: Wenn jetzt viele im Norden so gerne davon reden, “von den Indianern zu lernen”, wie sieht es dann eigentlich mit den “intellectual property rights”, den Rechten der intellektuellen Urheberschaft und des geistigen Eigentums aus? Sicherlich ist dies eine Vorstel­lung, die der internationalen Pharmaindustrie mit ihren großen Interessen an pflanzlichen Wirkstoffen aus Amazonien wenig gefallen wird.

Sammelreserven und CO2-Lager

Ein anderer Ansatzpunkt, der ein positives Echo fand, waren die “Sammelreserven”, wie sie beispielsweise auf Druck der Kautschukzapfer in dem brasilia­nischen Bundesstaat Acre einge­richtet wurden. Diese Schutz­gebiete, in denen die Nutzung des tropischen Regenwalds nicht in seiner Vernichtung besteht, bringen auch fast in jedem Falle mehr ökonomischen Gewinn als die extensiven Viehweiden auf gerodetem Urwaldland, wie der nordamerikanische Anthropologe Emilio Moran erläuterte. Und durch den gezielteren Einsatz forstwirtschaftlicher Methoden wäre in diesem Bereich noch eine beträchtliche Ertragssteigerung zu erzielen.
Die besonders von Umweltgruppen aus den USA propagierten sogenannten “Debt-for-nature-swaps” (Auslandsschulden-gegen-Natur-Tausch) wurden auf der Konferenz in Belém als “Mittel der entwickelten Länder, Kontrolle über Gebiete in unter­entwickelten Ländern zu erlangen” abgelehnt. Der katalanische Ökonom Martinez Allier jedoch riet der Umweltbewegung Brasiliens, diese Idee aufzu­nehmen und im Gegenzug aber einen gerechten Preis einzufordern: Wenn die Bedeutung des Amazonas-Waldes für die Lagerung von Kohlen­stoff und für das Weltklima einberechnet wird, müßten die Hauptproduzentenländer von Kohlendioxid alljährlich Zahlun­gen in Millionenhöhe an Brasilien leisten…
Ausgehend von der Erkenntnis, daß Amazonien nicht als ein homogenes Ökosystem betrachtet werden darf, sondern die Besonderheiten der einzelnen Regionen beachtet werden müsseen, wurde die Forderung nach einer “ökologischen und ökonomischen “Zoneneinteilung” (zoneamento) erhoben. Nur durch eine derartige Unterteilung des riesigen Amazonasgebietes ließen sich sinnvolle Aussagen über die unterschiedlichen ökologisch verträglichen Nutzungsmöglichkeiten einzelner Regionen treffen, machte der Geograph Aziz Ab’Saber von der Universität Sao Paulo deutlich.

Lutzenberger als Collors Alibi

Nur am Rande kam bei der Amazonas-Konferenz die Sprache auch auf die Politik der Regierung in Brasilia. Der erst im März gewählte Präsident Collor hatte mit der Ernennung des international bekannten Umwelt­experten José Lutzenberger zum Staatssekretär für Umweltschutz einen Überraschungscoup in Sachen Öko-Image gelandet. Dennoch setze Collors Politik das von der Militärdiktatur implantierte Konzept der Inbesitznahme Amazoniens unverändert fort, kritisierte Fabio Feldman, Abgeordneter der bei den Wahlen im März unterlegenen PT (Arbeiterpartei). Über das “Ministerium für strategische Angelegenheiten” hat das Militär auch heute noch entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung Amazoniens. Und José Lutzenberger – der zu der Konferenz in Belém eingeladen, aber nicht erschienen war – habe für Collor lediglich die Funktion, durch Auftritte auf internationalen Kongressen die Kritik des Auslands zu neutrali­sieren.
Konkrete Ergebnisse konnte das Treffen über die “ökologische Unordnung in Amazonien” keine vorweisen. Die unvermeidliche Schlußresolution faßte in “22 Empfehlungen” so richtiges wie altbekanntes zusammen, von der Forderung nach einem Stopp für Großprojekte und neue Ansiedlun­gen im Amazonasgebiet über die Eindämmung der Landspekulation bis hin zur Kontrolle der Gold­sucher und dem effektiveren Schutz der Indianer- und Natur­schutzgebiete. Befriedigende Antworten, wie all dies denn erreicht werden könne, blieben jedoch aus; die Schlußresolution wird so erst einmal der Planungs­kommission für den nächsten Kongreß zum Thema übergeben, der im Juni 1992 in Rio de Janeiro stattfindenden UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung…

Interview mit Fernández Huidobro: Tupamaros (MLN)

LN: Die Partido Nacional (Blancos) stellt seit März 1990zum drittenmal in diesem Jahrhundert den Präsidenten der Republik. Wie schätzt ihr die Politik der neuen Regierung und die des Präsidenten Lacalles ein ?

Es ist eine Regierung, die die Interessen der Banken repräsentiert, in erster Linie den Finanzsektor. Darüberhinaus ist sie eng mit dem Ausland verbunden, mit den großen internationalen Banken. Es ist eine Regierung, die jetzt schon fast keine politische Unterstützung mehr erhält: Das “Ley de Lemas” unseres Landes (das Wahlgesetz Uruguays, s. LN 186) ermöglicht durch Stimmenakkumulation das Regieren einer Minderheit. Dazu brauchten die Blancos die Stimmen anderer politischer Sektoren, die jedoch in ihren Wahlkampagnen genau entgegengesetzte Programme vertreten haben. Später ergeben sich dann Situationen wie die heutige: Um zu regieren, muß man Wunder vollbringen, da die notwendige politische Unterstützung schwindet.

LN: Gibt es bedeutende Unterschiede in der Wirtschaftspolitik zu der von der 1985-1990 regierenden Colorado-Partei?

Vielleicht mehr Brutalität und Unfähigkeit aufgrund des Fehlens guter Wirtschaftsberater. Die Colorado-Partei -mal abgesehen davon, daß wir große, enorme Diskrepanzen mit ihnen haben -hatte gute Wirtschaftsberater und sie besaß die technischen Mittel, um ihre “Wirtschaftsrezepte” umzusetzen und effizient zu sein. Die Blancos sind grobschlächtiger und ineffizienter. Sie kündigten in ihrem Wahlkampf den Leuten an, daß sie die “harten Rezepte” anwenden würden, versprachen aber damit, die Probleme des Landes zu lösen. Das, was zu erwarten war, ist nun eingetreten: Heute beginnen die Leute zu verstehen, daß diese Rezepte nur eine Neuauflage, allerdings eine noch härtere, der vorangegangenen Politik der Colorados sind. Der Zusammenbruch der Regime in Osteuropa und der Skeptizismus in wichtigen Teilen der uruguayischen Linken machte es möglich, daß die herrschende Klasse merkte, daß der Moment für sie gekommen ist, uns die bittersten “Heilmittel” zu verschreiben. Das ist für sie günstige Moment, den sie nicht verstreichen lassen dürfen, denn übermorgen, wenn die Reihen der Linken wieder fester geschlossen sind, wird es wieder Schwieriger für sie. Deshalb haben sie es so eilig und wollen in nur wenigen Monaten machen, was sie viele Jahre lang versäumt haben und selbst mit der Diktatur nicht geschafft haben.

LN: Sechs Monate nach dem Amtsantritt des Präsidenten Lacalle scheint seine Allianz mit den.Colorados in einer schweren Krise zu stecken. Wie wird sich die “Nationale Übereinkunft” zwischen den beiden traditionellen Parteien in Zukunft darstellen?

Wir dachten, das vor dem Amtsantritt vom Präsidenten so mühsam zusammen-gezimmerte System der politischen Unterstützung würde nicht so schnell auseinanderfallen. Das gesamte uruguayische System ist aufgrund der Wahlergebnisse in der Krise. Das alte Zweiparteiensystem, für das ja eigens das Wahlgesetz gemacht wurde, ist endgültig am Ende. Heute existieren in Uruguay vier wichtige politische Kräfte. Dies führt dazu, daß die Verfassung die für ein Land mit zwei Parteien gemacht wurde, ihren Sinn verliert. Es wird nötig sein, diese Verfassung zu ändern, wofür schon heute politisch mobilisiert wird. Dann werden wir es mit einem Vorschlag der Ultrarechten zu tun haben, die das Regieren von Minderheiten festschreiben will und mit einem Vorschlag, sagen wir einem Volksprojekt, das breite Teile der Bevölkerung -nicht nur der Linken vereinen wird.

LN: In der Hauptstadt Montevideo regiert seit den Wahlen das Bündnis der Linken, die “Frente Amplio”, während die Politik der Zentralregierung des Landes von den traditionellen Parteien gemacht wird.

Tja, das ist ein weiterer Ausdruck der politischen Krise des Systems. Wir haben eine total paradoxe Situation. Da ist einmal die Stadt Montevideo, in der mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt und dann der Rest des Landes, in dem extensive Viehwirtschaft betrieben wird und das praktisch entvölkert ist. Die “Frente Amplio” stellt die Stadtverwaltung für mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Es handelt sich also nicht um irgendeine Stadt. Der Widerspruch zwischen einer ultrarechten Nationalregierung, die mit ihren schmerzhaften “Rezepten” gerade die ärmste Bevölkerungsschicht trifft, die Arbeiterklasse etc. und auf der anderen Seite eine Linksregierung auf kommunaler Ebene. Das kann auf Dauer nicht mehr so weitergehen.

LN: Hat der Zusammenbruch des sog. “real existierenden Sozialismus”in Osteuropa direkte Auswirkungen auf die uruguayische Linke?

Besonders auf die Kommunistische Partei. Sie war immer sehr pro-sowjetisch und pro-stalinistisch, Nicht ganz so auf den Rest der Linken, der eigentlich immer eine sehr kritische Einstellung hatte und deshalb von den Umbrüchen nicht . so tief erschüttert wurde. Aber die KP war immer sehr wichtig innerhalb der uruguayischen Linken -bei der letzten Wahl hatte ihr Wahlbündnis mehr als die Hälfte der Stimmen der “Frente Amplio”. So gesehen führt die Krise der KP schon zu einem schweren Schaden für die Linke des Landes. Die KP hat bis heute noch nicht ihren historischen 22.Kongreß durchgeführt (mittlerweile doch, der tipógrafo) und man weiß noch nicht wie sie ihre Kräfte wieder sammeln wird.

LN: Anscheinend hatte die Wahlniederlage der FSLN in Nicaragua größere
Folgen für die MLN-Tupamaros als der Zusammenbruch der osteuropäischen Kommunistischen Parteien.

Ja, viel mehr. Das war ein schmerzhafter Schlag für uns.Wir fühlten es wie eine eigene Niederlage. Die Krise in den osteuropäischen Ländern macht uns hingegen keine so großen Sorgen. Dort nehmen wir nicht an unseren eigenen Begräbnissen teil. Das sind die Beerdigungen von anderen.

LN: Dennoch ist doch auch in Uruguay ein unübersehbarer Tiefpunkt in der Begeisterungs- und Mobilisierungsfähigkeit der Linken zu spüren.

Das hat viele Gründe. An erster Stelle steht die Wirtschaftskrise. Damit die Leute heute überleben können, brauchen sie zwei oder drei Arbeitsplätze. Das kostet viel Zeit. Außerdem ist es nicht immer richtig zu sagen ‘je mehr Krise, desto mehr politische Mobilisierung”. Ein weiterer Grund sind die Fehler, die die Führungen der Linken gemacht haben: Der Fehler die Menschen nicht an wichtigen Entscheidungen teilnehmen zu lassen und nicht zur Konfrontation zu schreiten, um ein klares Oppositionsprofil zu gewinnen. Das Vertrauen in die “Nationale Übereinkunft” am Ende der Diktatur war zu groß. Wir sind da in eine Falle geraten, die uns die Bourgoisie gestellt hat. Und obwohl zwar die Kommunistische Partei am stärksten betroffen ist, dürfen wir nicht ignorieren, daß auch andere von der ideologischen Krise betroffen sind.

LN: Die MLN hat sich zwei Jahre lang vergeblich um die Aufnahme in die “Frente Amplio” bemüht. Erst letztes Jahr habt ihr mit anderen Gruppen zusammen das “Movimiento de Participación Popular (MPP)” gegründet und wurdet von der Frente aufgenommen. Ihr habt bei den Wahlen teilgenommen, ohne daß Tupamaros/as kandidierten. Führt das nicht zu internen Widersprüchen bei der MLN?

Nein, es führte zu Widersprüchen im MPP. Die MLN hatte sich entschlossen keine eigenen Kandidaten aufzustellen und weigerte sich deshalb auf Listen der MPP eigene, wichtige Leute zu setzen. Diese Entscheidung hatte möglicherweise , ihren Preis bei den Wahlen. (Das Wahlbündnis von Tupamaros, Unabhängigen, revolutionären Gruppen und Trotzkisten (MPP) bekam mit rund 50.000 Stimmen 5%der Gesamtstimmen.r.g) Wir hatten eine Resolution des Zentralkomitees, die noch aus der Zeit vor der Gründung des MPP stammt und darüberhinaus glaubten und glauben wir, mit unserer Entscheidung die Einheit des MPP zu stärken.

LN: Wirst du bei den nächsten Wahlen kandidieren?

Bis dahin ist noch viel Zeit. Ich glaube, die Resolution bleibt gültig. Eine eigene Kandidatur würde mir persönlich nicht gefallen, ich glaube für diese Arbeit nicht berufen zu sein. Ich will aber keineswegs die parlamentarische Arbeit abwerten. Im Gegenteil, ich bewundere die GenossInnen die dort ihre Arbeit machen. Es ist eine sehr aufopferungsvolle und harte Arbeit.

LN: Wenn wir uns das lateinamerikanische Panorama anschauen, so sehen wir, wie ehemals bewaffnete Organisationen wie die M-19,die FSLN und auch die MLN gegenwärtig auf den Weg der Legalität setzen und an Wahlen teilnehmen.

Ja, uns blieb nichts anderes übrig. Wir waren von all’ den Organisationen, auf die du dich beziehst, die erste. Als die Diktatur 1985 zu Ende ging und fast alle unsere Genossinnen aus dem Exil zurückkamen und die Überlebenden die Knäste verließen, war das Land in einer Situation, in der das Volk auf dem Vormarsch gegen den Faschismus war und nicht umgekehrt. Die Geschichte bestätigte die kluge und einheitliche Entscheidung der MLN, im Rahmen der Legalität zu arbeiten. Eine Sache, die wir bis jetzt erfolgreich machen und dabei neue Kräfte sammeln. Für uns ist das keine Frage von Prinzipien, sondern es ist eine Frage der politischen Analyse. Genausowenig war für uns die Frage des bewaffneten Kampfes eine Prinzipienfrage.

LN: Wie beurteilt ihr den von der brasilianischen Arbeiterpartei (PT)im Juli durchgeführten Kongreß der lateinamerikanischen Linken?
Der Kongreß hat eine große Zahl lateinamerikanischer Organisationen, praktisch alle linken Gruppen, zusammengeführt. Es war ein überaus wichtiger erster Schritt, den glaube ich nur eine Partei wie die PT machen konnte.,

LN: Kann die PT mit ihrer Politik, besonders der Gewerkschaftspolitik, ein Beispiel für die Tupamaros sein?

Wir haben sehr viel von den außergewöhnlichen Erfahrungen der gelernt. Brasilien war in seinen revolutionären Bemühungen in den letzten Jahren immer zurückgeworfen worden und plötzlich taucht aus seinem Innersten ein so interessantes Phänomen auf wie die PT. Aber einiges lernt die PT auch von uns…

LN. Im Juli hat die MLN ihre 5.Konvention durchgeführt. Warst Du mit dem
Verlauf und den Ergebnissen zufrieden?

Nein, überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Ich persönlich glaube, das war die schlechteste Konvention, die wir Tupamaros je gemacht haben. Die Diskussionen waren schlecht vorbereitet. Die besten und wichtigsten Themen kamen überhaupt nicht zur Sprache. In der nächsten, der 6.Konvention, werden wir alles Nötige diskutieren.

LN:Angesichts der Wirtschaftspolitik der Regierung hast du öffentlich erklärt, es käme darauf an “jetzt den Kampf zu organisieren”. Der Präsident und die Presse hat das als Provokation aufgefasst. Hat das auch die Linke erschreckt?

Nein, bisher noch nicht. Nachdem diese Parole des MPP ausgegeben wurde, hat die “Frente Amplio” in den letzten Tagen ein paar Schritte unternommen, die eher auf Akzeptanz herauslaufen. Das Problem ist, daß die Bedingungen gegeben sind. Die Volksproteste und die Misere sind offenkundig. Wenn die Linke nicht den Kampf organisiert, dann wird er sich von selbst organisieren …

Neue Nicaragua-Bücher

Zwei neue Nicaragua-Bücher sind im September 1990 erschienen. Der Schweizer Rolf Niederhauser hat in der Sammlung Luchterhand ein Nicaragua Tagebuch veröffentlicht, das von zwei Aufenthalten in Nicagarua berichtet, 1989 und 1990. Und die Edition Nahua hat in der Reihe “Scripte” eine längere Analyse des nicaraguanischen Soziologen Oscar René Vargas zur aktuellen Situation, zu den Gründen der Wahlniederlage der FSLN, zu den beiden Streiks im Mai uns Juli diesen Jahres veröffentlicht. Zwei völlig unterschiedliche Bücher und Vermitt­lungsansätze also, die allerdings beide letztendlich die gleichen Prozesse beschreiben und Antworten auf die gleichen Fragen finden wollen.
“Nahua-Scripte wollen nicht zum x-ten Mal neue Materialberge heranschaffen, die in eine Neuauflage der alten Sprachrohrpolitik münden”, schreibt die Redakteurin in ihrem Editorial, in dem – zum x-ten Mal – die Notwendigkeit des fruchtbaren Gedankenaustausches zwischen hiesiger sozialer Bewegung und Befreiungsbewegung dort im Gegensatz zur Projektion der eigenen Politik­wünsche auf die Befreiungsbewegungen gefordert wird. Angesichts des hohen Anspruchs, den die Redaktion an die Neugestaltung der “Scripte” stellt, verwundert dann allerdings die Wahl dieser Analyse von Oscar-René Vargas, die vor allem über eine zeitlich befristete Aktualität nicht hinausgeht. Der größte Teil des Buches besteht aus einer chronologischen Information über die Ereignisse in Nicaragua von der Regierungsübernahme der UNO am 25. April 1990 bis zum Ende des Generalstreikes im Juli, mit Kommentaren und Bilanzen versehen, die oft so wenig weitblickend wirken, als seien sie am Tage des Ereignisses selbst für die Morgenausgabe der “Barricada” geschrieben worden.
Da, wo es tatsächlich um programmatische Auseinandersetzungen geht – also der Punkt, wo sich lateinamerikanische und europäische Linke noch am ehesten in einem gemeinsamen Dilemma befinden – steht geschrieben:”Ich für meinen Teil gehöre zu denen, die “das Kapital” für einen Gipfelpunkt der klassischen poli­tischen Ökonomie und bis heute für unverzichtbar halte, wenn es um die Anatomie der Wirtschaftsprozesse geht, die jedoch anderseits den Marxismus als fertige und abgeschlossene Weltanschauung für überwunden halten – zum Glück. Er muß weiterentwickelt und angepaßt werden. Auf jeden Fall ist es not­wendig, ihn zu modernisieren und ihn damit zu einem wesentlichen Element der täglichen politischen Praxis machen (S. 45f.).”
Dies ist nun nicht nur eine Binsenwahrheit, es ist sogar eine alte Binsenwahrheit, eine Forderung, die wohl seit mindestens 15 Jahren in der nicht-orthodoxen Linken erhoben wird. “Das Verschwinden des Stalinismus, der die Basis für die antikommunistische Ideologie abgab, eröffnet neue Alternativen für die Umgruppierung der progressiven Kräfte auf internationaler Ebene”, schreibt Vargas an anderer Stelle und meint damit die Verbindung zu anderen Ländern der “dritten Welt”, die durch die “technologische Revolution und die Internatio­nalisierung der Wirtschaft erleichtert werde. Als ob der Antikommunismus eine Reaktion auf den Stalinismus gewesen wäre! Genauso könnte behauptet werden, die US-Aggression gegen Nicaragua wäre eine Reaktion auf die Menschenrechts­verletzungen der SandinistInnen gewesen. Und derZerfall des stalinistischen Systems eröffnet gerade für die nicaraguanische Linke zunächst mal gar nichts außer der klaren Perspektive jedes revolutionären Projekts, keine wirtschaftliche Unterstützung mehr erwarten zu können.
Nein, dem Anspruch der Redaktion und dem Untertitel “Bilanz und Perspek­tiven” wird dieses Buch nicht gerecht; es liefert allerdings eine -streitbare – kommentierte Chronologie der Ereignisse von 100 Tagen UNO Regierung in Nicaragua, die für Interessierte ein brauchbarer Teil des Materialberges aus Lateinamerika zum Studium der dortigen Prozesse ist.
Ganz anders, mit unverhohlen europäischem Blick und in der Form des klas­sischen Reiseberichtes gehalten, beschreibt Rolf Niederhäuser im ersten Teil seines Buches persönliche Eindrücke von seiner Reise nach Nicaragua, Ein­drücke, die jedeR Nicaragua-Reisende nachvollziehen kann. Bisweilen beschreibt er bewußt die Kollision zwischen europäischem Denken und nicaraguanischem Handeln; an einer Stelle des Buches tritt aber die Betrachtungsweise eines euro­päischen Mannes derartig dümmlich hervor, daß sie hier kurzzitiert werden soll. Niederhauser schreibt über den Eindruck, den das Militär aufihn hinterläßt: “Da zudem viele ihre Uniform auch später noch-Männer wie Frauen, wenn sie aus dem Dienst entlassen sind – als billige Arbeitskleidung tragen, hat die Uniform sogar etwas Ziviles – vor allem, wenn Frauen diese Uniform tragen. Wieder und wieder passiert es mir, daß ich auf dieser Straße stehenbleibe , ein wenig ver­stohlen vielleicht, weil ich einige dieser jungen Frauen einfach ansehen muß: ihre schönen dunklen Gesichter, ihr schwarzes Haar, ihre grazile Weiblichkeit in Uniform. Wieso sieht MANN so schöne und selbstbewußte Frauen hier über­haupt fast nur in Uniform?” Auf nach Nicaragua, Jungs, zu den geilen Mandelaugen in Uniform!
Wie gesagt, die dümmste Stelle des Buches, die sonst mit durchaus feinfühlig aufs Papier gebrachten Beobachtungen ein recht plastisches Bild vermittelt – nicht von Nicaragua, aber von Reisen nach Nicaragua. Das ist kein Vorwurf, sondern der Gattung “Reisebericht” immanent.
Der zweite Teil des Buches, seine Reise zu den Wahlen, ist deutlich allgemein­politischer geprägt, vermischt die Darstellung des politischen Geschehens mit den Schilderungen persönlicher Erlebnisse. Wie alle Nicaragua-Interessierten – auch dies kein Vorwurf – überkommt auch ihn die Lust am Spekulieren, wie es in Nicaragua weiterhgehen könnte, wägt auch er Kräfteverhältnisse, politische Spaltungen der UNO, Umstrukturierungs-Diskussionen der FSLN gegenein­ander ab. Problematisch ist jedoch, daß er zu Thesen kommt, die für Nicaragua-Interessierte, nicht nur für weniger Informierte aus den vorangegangenen zwei Dritteln des Buches nicht nachzuvollziehen sind. Die Aussage, die der Verlag im Klappentext als “verblüffendes Ergebnis” präsentiert, ist recht schlicht: “Der Ausgang der Wahlen (…) stellt mitsamt der Niederlage der Sandinisten weniger einen Widerspruch zum sandinistischen Programm dar, als vielmehr dessen schiere Konsequenz – nur daß sich die neue Situation sehr viel komplexer präsentiert als die Schöpfer dieses Programms erträumt haben”. Anders gesagt, bürgerlicher Leser, der Du bist in Deutschland: Guck, die SandinistInnen haben ja wirklich eine Verfassung erlassen, die die Ablösbarkeit der Regierung vorsieht. Nur wollten sie halt gewinnen.
Die Stärke des Buches liegt in den gut zu lesenden Beschreibungen der Eindrücke und Erlebnisse, im eigentlichen Reisebericht, nicht in der Analyse, deren argumentatives Fundament zu stark im Unklaren bleibt. Wer die Literatur-Gattung “Reiseberichte” schätzt, wird in diesem Buch zwar keinen zweiten Mark Twain oder Egon Erwin Kisch, aber einen gut zu lesenden Schweizer in Nica­ragua erleben.

Oscar René Vargas: Nicaragua nach dem Regierungswechsel. Bilanz und Perspektiven; Edition Nahua-Script. September 1990

Rolf Niederhauser: Requiem für eine Revolution. Tagebuch Nicaragua; Sammlung Luchterhand, September 1990

Die neue Rechte: Ihre Ver­sion in Honduras

Callejas und sein Konzept der “nationalen Entwicklung”

Mit dem Amtsantritt von Rafael Leonardo Callejas am 27. Januar dieses Jahres hat sich mehr vollzogen als der schlichte Wechsel der beiden traditionell konser­vativen Parteien im Land des “Bipardismo”. Mit dem Wahlsieg der Nationalen über die Liberale Partei hat sich die neue Rechte erstmals den Weg geebnet, um ihr Konzept der nationalen “Entwicklung” in die Tat umzusetzen. Mit Callejas ist auch der sowohl von den USA wie von internationalen Finanzorganisationen fa­vorisierte Mann an die Spitze der zivilen Regierung getreten.
Die Liberale Partei hatte in den beiden letzten Wahlperioden, zuletzt unter Präsi­dent Azcona, die traditionelle Generation der Oligarchie vertreten. Der neue Prä­sident hat eine Regierungsmannschaft um sich geschart, die, an den Universitäten in den USA ausgebildet, in Punkto Neoliberalismus durchaus mit den Chicago-Boys konkurrieren kann. Neu ist in Honduras die Formulierung eines eigenen Konzeptes von zivilen Kreisen, eine Aufgabe, der sich seit 1963 die Streitkräfte gewidmet haben.
Welche nationalen Interessen hinter der neuen Linie stehen, läßt sich an der Äm­terbesetzung ablesen. Das Finanzministerium wird von Benjamin Villanueva gelei­tet, dem Präsidenten der COHEP, des wichtigsten Unternehmerverbandes von Honduras. Mit Ricardo Maduro hat ein Vertreter des Exportsektors die Leitung der Zentralbank übernommen. Im Präsidentschaftssekretariat waltet Gilberto Gol­stein, ansonsten Unternehmer aus dem Zuckersektor. Die Ausrichtung dieser neuen Generation von Polit-Technokraten ist eindeutig: Öffnung des Landes für Auslandskapital und Investitionen, Privatisierung und Abbau jeglicher Subventio­nen.
Eine Regierungsmannschaft, die als homogen, ja fast als harmonisch zu bezeich­nen ist. Das wundert nicht. Fast alle Kabinettsmitglieder sind ehemalige Mitglieder der seit 1984 verbotenen “Asociación para el Progreso de Honduras”, APROH. Diese in ihrer ideologischen Ausrichtung stark anti-kommunistische Unterneh­mensorganisation initiierte in Zusammenarbeit mit den Streitkräften zu Beginn der 80er Jahre den schmutzigen Krieg gegen die Bevölkerung in Honduras. Die APROH ist aber auch Brutstätte eben dieses Konzeptes von “nationaler Entwick­lung”, wie es seit acht Monaten von Callejas Mannschaft rigoros durchgeführt wird, ungeachtet der Konsequenzen, die es für die Bevölkerungsmehrheit mit sich bringt.

Einheit von ziviler Regierung und Militärs

1983 organisierte sich die APROH offiziell. Von diesem Zeitpunkt an agierte sie dank der engen Verbindungen zu den Streitkräften als Machtinstanz über der zi­vilen Regierung von Roberto Suazo von der Liberalen Partei. Dieser fühlte sich in seiner Position bedroht, befürchtete einen Putsch. Als 1984 der APROH-Präsi­dent Gustavo Alvarez seines Postens als Chef der Streitkräfte enthoben wurde, verlor zugleich die APROH ihre Legalität. Ungeachtet dessen existierte sie bis heute im Halbschatten weiter.
Seit ihrer Gründung ist die Organisation Mitglied der”Confederacioon de Asocia­ciones Unificadas de la Sociedad Americana” (CAUSA), einer Filiale der Moon­sekte.
Das Neue des von APROH ausgebrüteten Plans ist nicht die Interessensallianz von militärischer und ökonomischer Macht, ebensowenig die Weiterführung der Doktrin der nationalen Sicherheit. Neu ist die Integration dieser Elemente in ein Konzept von “nationaler ökonomischer Entwicklung”, das von zivilen Sektoren der Gesellschaft artikuliert wird. Durch demokratisch legitimierte Wahlen abgesegnet, wird es gerade von der Callejas-Mannschaft in die Praxis umgesetzt.
Grundlegend für die neoliberale Strategie in Honduras ist die Doktrin der natio­nalen Sicherheit, um den Protest der Bevölkerung gegen die Regierungspolitik zu zerschlagen. Zudem wurde im Februar dieses Jahres auf einer gemeinsamen Sit­zung von Regierung und höchsten Vertretern der Militärs deren veränderte Rolle festgeschrieben: Sie sollen im Agrarsektor, in Gesundheitsprojekten und in der Erziehung tätig werden, dabei aber ihre militärische Funktion nicht verlieren. Die Militärcamps werden zu Produktionsstätten, das erleichtert den Zugang zu Bäue­rInnenorganisationen und deren Infiltrierung. Die “Einheit der Aktion” von Streit­kräften und ziviler Regierung läßt noch offen, wer letztlich die erste Macht im Land sein wird.

Die “ökonomische Restrukturierung”

Durch die Regierung Callejas sehen die Unternehmer des Exportsektors, die transnationalen Unternehmer und die internationalen Finanzorganisationen ihrer Interessen vorzüglich repräsentiert. Als die vorherige Regierung Azcona den Schuldendienst nicht mehr aufbringen konnte, wurde Honduras im Herbst vergan­genen Jahres international als kreditunwürdig erklärt. Callejas verhandelte bereits im Dezember mit VertreterInnen des IWF, besorgte sich den Segen für sein Maß­nahmenpaket und die Zusage für neue Kredite.
In Venezuela holte er Erkundigungen über die Erfahrungen mit den Maßnahmen à la IWF ein. Am 3. März schließlich wurde vom Nationalkongreß in Honduras ein Maßnahmenpaket zur “ökonomischen Restrukturierung” verabschiedet. Es bein­haltet in erster Linie Steuermaßnahmen, Preiserhöhungen und die vom internatio­nalen Währungshüter geforderte Abwertung des hondurenischen Lempira. Statt zwei müssen nun 4.16 Lempira für einen Dollar über den Tisch geschoben wer­den. Eine Situation, die den Exporteuren nur recht sein kann. Zur Haushaltssa­nierung wurden die Subventionen für Grundnahrungsmittel gestoppt und massen­haft Leute aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Bereits im Frühjahr bewilligte der IWF einen Kredit über 41 Millionen US-Dollar. Mitte September wurde be­kannt, daß auch die Weltbank zur Erhöhung der Auslandsverschuldung wieder beitragen wird. Von einem Kredit über 90 Millionen US-Dollar ist die Rede.
Die Konsequenzen für Honduraner und Honduranerinnen waren gleich nach Verabschiedung des “paquetazo” spürbar. Die Währungsabwertung heizte die In­flation an, die in den ersten sechs Monaten auf 20% stieg, nach nur 2.7% 1987 und 6.6% 1988. Der Abbau von Subventionen erhöht den Druck auf die Preise, während gleichzeitig immer mehr Leute ihren Job verlieren. Mitte des Jahres wurde in Honduras von 60% arbeitslosen Männern und Frauen gesprochen. Nach Informationen von Inseh leben inzwischen 68% der Bevölkerungg unter der Ar­mutsgrenze.
Nur noch 27% der HonduranerInnen können ihren täglichen Lebensbedarf decken. Alarmierend ist die Situation der Kinder. Von 4.5 Mio Menschen in Hondu­ras sind 2.6 Mio Kinder unter 14 Jahren. Im September meldete SHN, das 500.000 Kinder unterernährt sind und jährlich 125.000 Kinder sterben. Es ist nicht zu übersehen, daß das in seinen Auswirkungen inzwischen weltweit bekannte neo­liberale Modell auch in Honduras bereits nach acht Monaten seine Wirkung zeigt.
Kritisiert wird die Regierung nicht nur von VertreterInnen der Volksorganisatio­nen, sondern auch von UnternehmerInnen, die für den internen Markt produzie­ren, von der Kirche und von kritischen WissenschaftlerInnen im Land. Letztere veröffentlichten im April ein Dokument, in dem die Maßnahmen der Regierung aufs schärfste verurteilt werden. Die OekonomInnen sind bekannt für ihre regie­rungskritische Haltung und ihre ständige Präsenz, wenn es um ökonomische Fra­gen geht. Sie kritisieren am Maßnahmenpaket, daß es sich lediglich um kurzfri­stige Planungen gegen das Haushaltsdefizit und Devisenknappheit handele. Es sei aber offensichtlich, daß die Regierung ökonomische Entwicklung mit ökonomi­schen Wachstum verwechsle.

Die Volksbewegung

Seit Verabschiedung des “paquetazo” und der unmittelbaren Verschlechterung der Lebensbedingungen, der massiven Entlassungen von ArbeiterInnen manifestiert sich der Protest der Gewerkschaften und Volksbewegungen in Streiks und Pro­testmärschen. Bereits im April haben sich die Führungsgremien einiger Volksorga­nisationen und Dachorganisationen der ArbeiterInnen zur “plataforma de lucha para democratizar Honduras” zusammengeschlossen. In einem an die Regierung gerichteten Dokument wird diese Politik verurteilt: “Wir möchten die Technokra­ten der Regierung daran erinnern, daß eine halbe Million honduranischer Familien ohne Unterkunft sind und Tausende in Holzhütten ohne fließend Wasser, Elektri­zität und Abwasserleitungen leben. Eine Situation, die in Kontrast steht zu den großen Villen der Reichen… Und das geschieht in einem Land, das genügend na­türliche Ressourcen zur Verfügung hat, um die gesamte Bevölkerung in akzeptab­len Bedingugen leben zu lassen… Schuld ist die herrschende Klasse, die in keinem Moment der Geschichte ihre ökonomische und politische Macht in verantwortli­cher Weise ausgeübt hat…”
Gefordert werden eine Agrar- und Erziehungsreform, Lohnerhöhungen, Preisen­kungen und die Reduzierung der Militärausgaben. Zugleich werden der Regierung von Seiten der Plattform Verhandlungen angeboten. An diesem Punkt macht sich die Kritik von der Basis der Volksbewegung fest. Sie sind nicht mehr bereit, an ei­ner, von der Regierung in der Wahlperiode versprochenen, aber nie eingehalte­nen” Aktion der Konzertation” teilzunehmen. Die “Alianza Popular Unificada” (APU), der gegenwärtig wichtigste nationale Zusammenschluß von Gewerkschaften und Organisationen attestiert der Plattform eine Diskrepanz zwischen Diskurs und Praxis. Während die Basis konkrete Aktionen durchführte, wochenlang streikte, würde sich die Plattform mit Verhandlungen ohne Ergebnis auf- und die Leute hinhalten. Zweifellos bedeutet die Spaltung von Basis und Führung vieler Organi­sationen eine Schwächung der Volksbewegung.
Bereits im März traten die Angestellten des öffentlichen Dienstes im ganzen Land in den Streik, nachdem 12 000 von ihnen entlassen worden waren. Fast gleichzeitig wurde in der Hauptstadt Tegucigalpa ein Protestmarsch organisiert, indem andere Bewegungen ihre Solidarität bekundeten und gegen den “paquetazo” protestierten. Verschiedne Frauengruppen trafen sich Anfang April in der nördlichen Stadt San Pedro Sula zum “Marsch der leeren Kochtöpfe”. StudentInnen, LehrerInnen und Leute aus den Stadtteilbewegungen protestierten in anderen Städten. Bei Straßen­besetzungen in San Pedro Sula wurde gegen die Tariferhöhung der Öffentlichen Verkehrsmittel protestiert. Als das Militär eingriff, wurden ein Mensch getötet und acht verletzt.
Ihren Höhepunkt erreichte die Streikwelle im Juni. Allein neun Streiks wurden in verschiedenen Betrieben im ganzen Land durchgeführt. Am 11.Juni legten die Mitglieder der Gewerkschaft der Krankenhäuser für 26 Tage die Arbeit nieder und demonstrierten gegen die Privatisierungstendenzen im Gesundheitswesen. Am 25.Juni begann der längste Streik der ArbeiterInnen auf den Bananenplantagen der nordamerikanischen Tela Railroad Company, der am 7.August abgebrochen werden mußte. Die ArbeiterInnen hatten zu wenig Unterstützung von anderen Or­ganisationen erhalten. Zugleich hatte die Regierung ein Dekret verabschiedet, das alle Aktionen des Unternehmens legalisiert, die zur Weiterführung der Produktion notwendig seien.
Die Aktionen der ArbeiterInnen und StudentInnen setzten sich auch im Septem­ber fort. StudentInnen besetzten drei Universitäten, um zu verhindern, daß die Regierung in die Uniwahlen einschreitet. ArbeiterInnen der nationalen Elektrizi­tätswerke haben aus Protest gegen die ständige Präsenz der Streitkräfte in den Betrieben ihre Arbeitskräfte ebenfalls verlassen. Die zunehmenden Protestaktionen werden von Seiten des Staates mit immer schäferer Repression beantwortet.

Kein Morgengrauen in Honduras

An Phantasie, was repressive Maßnahmen anbelangt, scheint es weder der Regie­rung noch den Streitkräften zu mangeln. Mit verschiedensten Methoden wird versucht, die Volksorganisationen zu infiltrieren und zu zerschlagen. Bereits einige Male wurden “von oben” Organisationen gegründet, die identische Namen von oppositionellen Bewegungen tragen. Als im März die Direktoriumswahlen der “Vereinigung Öffentlicher Angestellter” (ANDANDEPH) anstanden, organisierte die Regierung kurzfristig einen Parallelkongreß, bestimmte eine neue Führung und entledigte sich auf diese Weise unliebsamer OpponentInnen. Mitglieder anderer Organisationen wurden bedroht oder verschleppt. Der StudentInnenführer der FRU, Roberto Zelaya, wurde im März von “Unbekannten” schwer verletzt. Eine Menschenrechtsorganisation in Honduras vermutet das Bataillon 3-16 der Streit­kräfte dahinter. Denis Hernan Rodriguez von der Bauernorganisation “Campasinos de Honduras” wurde im gleichen Monat tot aufgefunden. Im August nahm das zehnte Bataillon der Infanterie grundlos mehrere Bauern fest. Sie sind seitdem spurlos verschwunden. Anfang September führten die Streitkräfte im Gebiet 30 Kilometer östlich der Hauptstadt eine Suchaktion durch, weil nach offiziellen Aussagen, Mitglieder der revolutionären Bewegung MPL-Chinchonero dort ver­mutet wurden. Tage später wurden Roman Custodio und Anibal Puerto, beide Mitglieder der Menschenrechtsorganisation CODEH, und Matias Funes von der APU grundlos einen Tag lang von den Militärs festgenommen.
Repression in Honduras wird aber auch auf anderen Ebenen praktiziert. Über die Medien wird die Bevölkerung gegen Belohnung dazu aufgerufen, NachbarInnen zu bespitzeln und “Subversionsverdächtige” zu melden. Zugleich beabsichtigt die Re­gierung, das Arbeitsgesetz so zu verändern, daß Organisationen bei Protestaktio­nen für illegal erklärt werden können.
Während seiner Wahlkampagne hatte Callejas verkündet:”Die schwarze Nacht der Verschwundenen bleibt hinter uns.” Ein Morgengrauen in Honduras ist jedoch nicht in Sicht.

Quellen: INSEHInforma 53-59, 1990. Servicio Hondureño de Noticias.

“Concertación” und Gewalt

“Concertación” mal mit, mal ohne sandinistische Gewerkschaften

Nachdem die “Konzertierte Aktion” auf Einladung der Regierung am 20. September ohne die Anwesenheit der sandinistischen Gewerkschaften und Organisationen begonnen worden war (siehe LN 196), hatten sich zunächst die rechte Regierung mit den rechten Unternehmern, den rechten Gewerkschaften unter Aufsicht der rechten katholischen Amtskirche allein konzertiert; dementsprechend langweilig war diese Veranstaltung, deren Choreographie von Propagandaminister Danilo Lacayo geleitet und im staatlichen Fernsehen direkt übertragen wurde. Interessant wurde es für die langsam wegdämmernden Jour­nalistInnen erst, als sich mit einigen kräftigen Böllerschüssen die Anwesenheit der ArbeiterInnen der FNT (Nationalen ArbeiterInnenfront) vor den Türen des Kongreßzentrums ankündigte. die FNT lehnte den von der Regierung verkün­deten Wirtschaftsplan komplett ab und rief stattdessen zu einer Woche des “Nationalen Protests gegen Hunger und Arbeitslosigkeit” auf, die am 1. Oktober beginnen sollte.
Aus Angst vor einer neuen Ausweitung der Proteste – es schien sich ein neuer Generalstreik anzukündigen – trat die Regierung bereits vor Beginn der Aktion in Gespräche ein: Daniel Ortega traf sich mehrmals mit Antonio Lacayo, dem “Präsidialamtsminister” der Regierung Chamorro und eigentlichen Regenten des Landes. Als Ergebnis dieser Unterredungen wurden einige Zugeständnisse und Erleichterungen bekanntgegeben, so zum Beispiel ein vorläufiger Entlassungs­stop im staatlichen Bereich (bis darüber Einigkeit bei der “Concertación” erzielt sei), Erleichterungen in der Bezahlung der überhöhten Wasser- und Stromrech­nungen und ein Sofortprogramm für die von der Trockenheit in Teilen des Lan­des verheerend betroffenen Nordregionen. Die Protestwoche verlief daraufhin glimpflich, und die FNT erklärte schließlich, daß sie unter diesen Bedingungen an der “Concertación” teilnehmen werde.
Die Verhandlungen liefen auch an, Arbeitskommissionen wurden gebildet, um die verschiedenen Bereiche der “wirtschaftlichen und sozialen Konzertierten Aktion” abzudecken. Als die Regierung jedoch offen gegen die vorher gemachten Erklärungen verstieß und auch weiterhin Entlassungen stattfanden, verließ die FNT erneut den Verhandlungstisch und kündigte weiteren Druck von außen an. Bei Redaktionsschluß wurde in den Reihen der FNT ein Wiedereintritt diskutiert.

Terrorakte häufen sich

Dieser Poker um die “Concertación” findet statt vor dem Hintergrund zuneh­mender Gewaltakte. Nachdem im Zuge des Juli-Streiks das rechte Hetzradio “Radio Corporación” durch einen Anschlag zerstört worden war, traf es Anfang Oktober, pünktlich zum angekündigten Beginn der “Nationalen Protestwoche gegen Hunger und Arbeitslosigkeit”, das pro-sandinistische Radio “La Primerí­sima”, dessen Einrichtungen durch einen Sprengstoffanschlag fast vollständig zerstört wurden. Am 14. Oktober explodierte ein Sprengsatz in der Garage des Privathauses von Jaime Cuadra, dem Beauftragten des Innenministeriums in der Region Matagalpa. Während dieser Anschlag wie auch die vorangegangenen gegen die Radiosta­tionen von allen Medien und politischen Kräften einschließlich der FSLN verur­teilt wurde, beschuldigte Cuadra die SandinistInnen als Urheber des Attentats: “Der einzige Feind, den ich habe, ist die FSLN.”
Nur zwei Tage später, am 16. Oktober, zerstörte eine Granate fünf Busse auf einem Busbahnhof der staatlichen Transportgesellschaft ENABUS. Um ENABUS wird nun schon seit Mitte September ein heftiger Konflikt geführt, seit Wochen verkehren die Busse so gut wie gar nicht mehr. Die der FNT angeschlossenen ArbeiterInnen streiken für die Entstaatlichung des Betriebs und seine Umwand­lung in eine Kooperative. Die ArbeiterInnen des betroffenen Busbahnhofs hatten sich nicht an diesem Streik beteiligt. ArbeiterInnen der FNT und der Rechts­gewerkschaft CUS beschuldigen sich gegenseitig der Urheberschaft für den Anschlag. Kardinal Obando y Bravo forderte in seiner Predigt vom 14. Oktober auf, “gegen den Terrorismus zu beten”. Wenn das nutzt…
Vor allem in den ländlichen Gebieten gehen derweil auch die Angriffe der “außer Dienst gesetzten” Contras weiter. Nachdem es bereits zuvor bei einem Überfall auf die Kooperative La Dalia in San Juan del Río Coco im Norden Nicaraguas zu einem dreistündigen Gefecht und Toten gekommen war, stürmten am 1. Oktober rund 200 mit Gewehren, Granaten und Messern bewaffnete (Ex-?)Contras die kleine Ortschaft Waslala in der Region Matagalpa. Nach mehreren Tagen mit Geiselnahmen, Entführungen und Verhandlungsversuchen brachten am 5. Oktober das Sandinistische Volksheer und die Polizei die Situation wieder unter Kontrolle.

Kasten 1:

Carlos Nuñez gestorben
Comandante Carlos Nuñez, eines der Mitglieder der neunköpfigen Nationalleitung der FSLN, ist nach langer Krankheit am 2. Oktober in einem Krankenhaus in Havanna gestorben. Nuñez, der sich vor 20 Jahren als Student dem Untergrundkampf der FSLN-Guerilla anschloß, war seit den Parlamentswahlen 1984 bis zum Mai dieses Jahres Präsident der nica­raguanischen Nationalversammlung und in dieser Funktion führend an der Ausarbeitung der ersten freiheitlichen Verfassung Nicaraguas beteiligt.
Am 3. Oktober wurde der tote Carlos Nuñez nach Managua überführt, wo ihn eine große Menschenmenge am Flughafen erwartete. Ein vierstündiger Trauermarsch, in dem rund 50.000 Menschen “ihren Carlos” zum 15 km entfernten Revolutionsplatz trugen, wurde zu einer “kämpferischen Ehrung für unseren toten Bruder Carlos”, wie Daniel Ortega in seiner Ansprache sagte. Und gewandt an die nicaraguanische Rechte, die zum Tode von Nuñez die Chamorro-Zeitung Prensa triumphierend titeln ließ: Einer der neun ist tot “Sie merken nicht, daß wir nicht nur neun sondern Hunderttausende sind!”Berichtigung: Tinoco, nicht Tirado
In unserem Bericht über die Wahlen für die regionale Leitung der FSLN im Departamento Managua in den letzten LN ist ein vom unseligen Redigenten ver­bockter Fehler zu berichtigen: Nicht das Mitglied der Nationalleitung Victor Tirado ist dort zum Vize gewählt worden, sondern Victor Hugo Tinoco, der in der sandinistischen Regierung Vize-Außenminister war. So sorry, wir bitten um Entschuldigung.

Kasten 2:

Laßt Otmar und Harald wieder arbeiten!
InternationalistInnen verhaftet und von Ausweisung bedroht
Bei einem Empfang der deutschen Botschaft in Managua zum “Tag der Deutschen Einheit” am 3. Oktober protestierte vor den Toren des Veranstaltungs­saales eine Gruppe von Deutschen mit Plakaten und Flugblättern gegen die deutsche Einheit. Das Flugblatt wies – in recht dozierender Manier – auf die Folgen der deutschen Einheit für Nicaragua und andere Länder der “Dritten Welt” hin. Am Rande und von den OrganisatorInnen des Protestes nicht geplant, erkletterte eine Deutsche die Bühne und entriß dem Botschafter das Mikrophon. Daraufhin wurde sie von den Sicherheitskräften der Botschaft festgehalten, später aber wieder laufengelassen. Offenbar auf direkte Anordnung des nicara­guanischen Innenministers Carlos Hurtado wurden im Anschluß an die Veran­staltung drei Deutsche, eine Nicaraguanerin und eine Holländerin festgenommen unter dem Vorwurf, die öffentliche Ordnung gestört zu haben. Diejenige Deutsche, die auf die Bühne gesprungen war, und die Holländerin, die sich offenbar als Journalistin auf der Veranstaltung betätigte – sie war in Nicaragua akkreditiert – wurden bereits zwei Tage später wieder ausgewiesen, ohne eine Möglichkeit der juristischen Verteidigung. Während die Nicaraguanerin nach einem Tag wieder freigelassen wurde, kamen die beiden Deutschen – Otmar Jung, der als Ingenieur seit 1985 in der Kartonfabrik “La Cartonera” in Granada arbeitet und Harald Schöngart, Zimmermanns(und -fraus?)ausbilder in der Holzwerkstatt “Tonio Pflaum” in Monimbó / Masaya – erst fünf Tage später wie­der frei, mit der Auflage, binnen zehn Tagen das Land zu verlassen.
In Nicaragua arbeitende Nicht-Regierungs-Organisationen und Solidaritäts­gruppen sowie die ArbeiterInnen der Werkstätten der beiden protestierten gegen die drohende Ausweisung, auch der offizielle Deutsche Entwicklungsdienst DED setzte sich für sie ein. Nach einem Gespräch mit dem Innenministerium und der letztendlichen Intervention des deutschen Botschafters Boomgarden scheint der­zeit die Chance zu bestehen, daß die Ausweisungsdrohung aufgehoben und der Status der beiden als “Residentes” wiederhergestellt wird.
Unverständlich bleibt, warum diese Aktion überhaupt gestartet werden mußte, ist doch der Kampf um die deutsche Einheit / gegen die Annektion in Deutsch­land selbst, nicht in Managua auszufechten. Wenn Deutsche in Managua Auto­reifen verbrennen, wie bei dieser Aktion geschehen, so ist das eine Art der Anpassung an die Gepflogenheiten des Landes, bei der sich dem Beobachter die Haare sträuben, und: Was früher nur dumm und peinlich war, ist heute sogar gefährlich – deswegen aber nicht weniger dumm und peinlich.

Octavio Paz: Großer Poet -großer – Verwandlungskünstler

Zum Literaturnobelpreis von Octavio Paz

Wird von Octavio Paz gesprochen ist es sehr schwierig, sich der Auseinandersetzung zu entziehen. Eine Persönlichkeit der universellen Kultur und der mexikanischen Politik -und nicht nur deren -,hat er von sich ein so vorteilhaftes Bild geschaffen, das gleichzeitig entgegengesetzt zu seinem wirklichen Ich ist. Octavio Paz kann stolz darauf sein, der am meisten ausgezeichnete Autor der spanischen Sprache zu sein. Zu seinem Unglück kann er aber nicht die höchste Anerkennung bekommen, die es für einen Schriftsteller gibt: die der Leserinnen, die neben seinem Talent die intellektuelle Aufrichtigkeit am meisten schätzen. Paz verkauft sich in der literarischen Welt als marginalisierter Schriftsteller, Rebell, Verteidiger der Freiheit und als unabhängiger Kritiker der Macht und der totalitären Systeme. Eine Gegenüberstellung mit seinem öffentlichen Auftreten, das ihn mit den Mächtigen in Mexiko und der Welt verbindet würde er schwer bestehen. Sag’mir, von wem Du deine Preise bekommst und ich sage Dir, zu welcher Sorte Intellektuellen du gehörst.
Können wir wirklich an die intellektuelle Unabhängigkeit Octavio Paz’ glauben, wenn die mexikanische Regierung ihm alle nur möglichen mexikanischen Preise verliehen hat und sogar noch extra für ihn einen erfunden hat? Wo bleibt da die angebliche Marginalisierung des Poeten, wenn allgemein bekannt ist, daß er mindestens seit den 40-er Jahren dem mexikanischen Staat gedient hat, dessen Kritiker er zu sein behauptet? Paz stand im diplomatischen Dienst und arbeitete in verschiedenen akademischen Institutionen und kulturellen Projekten, die von der Regierung finanziert wurden. So arbeitete er auch an der jüngsten Ausstellung über mexikanische Kunst in New York mit, die das Ansehen der Regierung Salinas de Gortari stärken soll.
Wer kann Octavio Paz bescheinigen, er sei ein kämpferischer und kritischer Intellektueller, wenn er gleichzeitig als Botschafter Mexikos in Indien bis zur allerletzten Minute gewartet hat, um sein Amt seinem Chef Díaz Ordaz zur Verfügung zu stellen, als dieser im Oktober 1968 auf tausende Studierende und BürgerInnen schießen ließ ? In Wirklichkeit war der Rückzug des Botschafters Octavio Paz eine günstige Gelegenheit, um sein internationales Ansehen zu retten. Dieser Rücktritt sollte von da an die Grundlage für die Legende seiner Aufrichtigkeit und Tapferkeit bilden. Dieser Tage erinnern uns die Biographen von O.Paz (siehe auch FAZ, Süddeutsche Zeitung und der Spiegel) mit auffälliger Eindringlichkeit daran, daß Paz aus einer revolutionären und sozial kämpferischen Familie stammt: Sohn eines Kampfgefährten des Bauernhelden Zapatas und Enkel eines Parteigängers Benito Suárez’, der gegen die französische Intervention in den sechziger Jahren des 19.Jahrhunderts gekämpft hat. Ausserdem bereichert eine Tatsache seine besondere Abstammung, die aus der Familie Paz ein Beispiel der geglückten Synthese des Mexikanischen machen: Die Mischung des spanischen.und des indianischen Blutes. Durch diesen Verweis auf seine Abstammung wird der Versuch unternommen, aus Octavio Paz genau die passende Persönlichkeit zumachen und ihn im Namen ganz Mexicos sprechen zu lassen (El laberinto de la soledad). Auch wenn in Wirklichkeit seine Verbindung zu den Armen und der indigenen Bevölkerung Mexikos sich in nichts von der der Mächtigen unterscheidet. Hier kann sehr gut das mexikanische Sprichwort gebraucht werden: Sag’ mir, womit du prahlst und ich sage dir, was dir fehlt.

Paz, ein Mann des Volkes?

Und außerhalb Mexikos? Wissen Sie, wer den Poeten prämiert hat?. Einige nordamerikanische Universitäten, an denen die neuen Eliten Mexikos ausgebildet werden. Die “neuen Mexikaner” von Harvard, Oxford, Yale und Stanford. Sie “modernisieren” Mexiko, in dem sie es verschulden und zu einem Netto-Kapital-exporteur machen. Auch unterstützen sie die “Modernität” und unterzeichen einen Freihandelsvertrag mit den USA, um Mexiko in ein riesiges touristisches Territorium mit genügend billigen und kontrollierbaren Arbeitskräften zu verwandeln.
Eigentümlicherweise haben die Reise von Paz immer offiziellen oder halboffiziellen Charakter und kamen von Regierungen oder Institutionen, konservativen oder offen rechten Gruppen. Dies spricht für sich …. Mit der Rede, die er beim Erhalt des deutschen Buchhandelspreises gehalten hat, stellte sich Paz als Vorkämpfer der Demokratien auf dieser Welt dar und fiel über das “totalitäre” sandinistische Regime her, von dem er sofortige “freie Wahlen” verlangte. Und von da aus ging es weiter gegen Kuba. Um 1987 herum befand sich Paz an der Spitze einer internationalen Gruppe von Intellektuellen, die von dem “Diktator” Fidel Castro ein Plebiszit verlangte, gleich demjenigen von Pinochet in Chile, indem das kubanische Volk seinen “freien” Willen gegenüber dem kommunistischen Regime hätte äußern sollen. Zufall oder nicht, Paz wurde zu einer wichtigen Stimme der nordamerikanischen Politik in Lateinamerika, deren Ziel es ist, mit den von den USA nicht geschätzten Systemen aufzuräumen
Den Eifer, den Octavio Paz an den Tag legt, wenn er saubere, authentische und demokratische Wahlen in Nicaragua, Kuba und in den Ländern des sozialistischen Ostens verlangt, verschwindet sofort, und er wird zum wahren Verwandlungskünstler, wenn es um die gleiche Sache in seinem eigenen Land geht. Logisch: es ist einfacher, den Splitter in seines Mitmenschens Auge zu sehen, als den Balken vor seinem eigenen Auge.
Wie rechtfertigt man jemanden, der das politische System Mexikos einmal als Diktatur bezeichnete, das politische Monopol der P.RI.,den Mangel an Demokratie kritisierte und gleichzeitig, wie durch einen Taschenspielertrick sich über die politischen Rechte des mexikanischen Volkes lustig macht (Posdata). Jetzt ist er Fürsprecher des Modernisierungsprojekts der P.R.I.. Er verteidigt die Legitimität des Regimes von Salinas de Gortari, das durch Wahlbetrug an die Macht gekommen ist,und seine zentrale Stütze während des sich daraus ergebenden Wahlkonflikts in dem Einsatz der Armee und in der Effizienz der polizeilichen Unterdrückung von Dissidenten findet. Das Talent und die Feder Octavio Paz dienen nun dazu, daß das salinistische Regime die Glaubwürdigkeit erhält, die es so nötig braucht.
Können wir uns wirklich einen so “naiven” Paz vorstellen …?O.Paz von einem System verführt dessen Mechanismen der Kooptation (Integration von Oppositionellen) und Korruption -die auch Teil der Preise für Intellektuelle ausmachen -wie er selber ganz klar beschrieben hat (El Ogro Filantripico). Wie funktioniert das mentale Labyrinth dieses Menschen mit den vielen Masken, Gewinner des Nobelpreises durch Täuschung?
Endlich waren die Bemühungen von Octavio Paz nicht umsonst: er genießt Privelegien und Konzessionen. Er verfügt über die Zeitschrift “Vuelta”, die von der Regierung finanziert wird; das Fernsehmonopol (‘Televisa”) stellt ihm eine gute Anzahl an Stunden zur Verfügung und organisiert für ihn Ehrungen. O.Paz hat sich in das unbestrittene Haupt der mexikanischen Kulturbürokratie verwandelt. Viele Privilegien, die er selbst in seiner Kritik an der mexikanischen Bürokratie beschrieben und kritisiert hat,gibt er selbst nicht auf.(El Ogro Filantripico)
Noch eine Täuschung und ich beende diesen Kommentar: Paz hat die Modernität und die Modernisierungsprojekte der mexikanischen Eliten kritisiert. Er hat geschrieben, daß diese Projekte Mexiko die Unabhängigkeit gekostet haben und den Verlust der nationalen Identität (E1 Ogro Filantípico, Corriente Alterna); aber heute tritt er mit einer anderen Maske auf die politische Bühne. Vielleicht seine wirkliche und authentische Maske -die des Legitimators und Ideologen der Modernisierung durch Salinas. Der Poet hat mit seiner Musik den Ohren der Mächtigen Mexikos und der Welt geschmeichelt. Seine Dienste wurden belohnt. Der einzige Preis, der ihm fehlte, der am meisten gewünschte von allen, schmückt jetzt sein gekröntes Haupt. Mit seinen 76 Jahren kann sich Octavio nun in Paz (Frieden) zurücklehnen.

Fujimori aus anderer Sicht

Neue Zeiten: Impressionen und Depressionen

Wenn es auch richtig ist, daß die vom gewählten Präsidenten Alberto Fujimori geführte Bewegung CAMBIO 90 nicht über die rund 2500 ausgebildeten Kräfte, Techniker und Experten verfügt, die benötigt werden, um die Schlüsselstellungen der staatlichen Verwaltung zu besetzen und die zudem nicht über eine parlamentarische Mehrheit verfügt, die ein leichtes Regieren zuließe, die über keinerlei politische Erfahrung verfügt, so ist es ebenso zutreffend, daß es Fujimori verstand, diese Schwächen in ihr Gegenteil zu verwandeln.
Sein erster Vorschlag bezog sich auf die Notwendigkeit einer breit angelegten Zusammenarbeit, zu der er alle politischen Kräfte aufforderte. Antworten ließen nicht auf sich warten: Spezialisten und Techniker unterschiedlichster Provenienz mit Ausnahme der FREDEMO leiteten Fujimori ihre Vorschläge und Kritik zu. Fujimori traf sich mit allen politischen Richtungen inklusive der Izquierda Unida (IU). Es ging nicht mehr darum, für die Regierung irgendeiner politischen Partei aktiv zu werden, sondern um zum Wohl des Landes zu arbeiten. Das Land war von einer Atmosphäre der nationalen Übereinstimmung getragen. Fujimori verfügte über das Vertrauen der PeruanerInnen, ein Vertrauen, das auch unorthodoxe Entscheidungen zuließ, wie etwa die Einladung der Militärs zu folgen und in ihren schwer bewachten “Círculo Militar” umzuziehen, aus Sicherheitsgründen, wie verlautbart wurde. Der künftige Präsident Perus war der einzige Bewerber ohne eine Schar von Sicherheitsleuten, er verfügte weder über einen gepanzerten Wagen noch über kugelsichere Scheiben in seinem Wohnhaus. Nach der freundlichen Atmosphäre im Haus Fujimoris, wo sein jüngster Sohn Erfrischungen und Häppchen an Journalisten und Politiker verteilte, mußten diese sich nun den überzogenen Praktiken der militärischen Sicherheitsfanatiker unterziehen. Fujimori bot diesem heftig kritisierten Umstand Paroli, indem er bei verschiedenen Gelegenheiten das Protokoll durchbrach, um mit Journalisten oder Leuten zu reden und damit seine Leibgarde in nervöse Hektik versetzte. Eine kleine Reaktion von Fujimori genügte, um alle Kritik verstummen zu lassen. Diese kleine Begebenheit stellte keinen Einzelfall im Brechen von Konventionen dar. Zwei Wochen vor seiner Amtseinführung und nach einer detaillierten Analyse der apristischen “Erbmasse” entschied sich Alberto Fujimori für ein weit drastischeres Programm zur wirtschaftlichen Sanierung, als das von seinem persönlichen Berater und Vorsitzenden der Programmkommission von CAMBIO 90, Santiago Roca vorgeschlagene. Mit dieser Entscheidung holte er eine der Fahnen ein, die ihn zu seinem Triumph geleitet hatten, mit anderen Worten, die Alternative der graduellen Anpassung zu der von Vargas Llosa vorgeschlagenen Schockbehandlung.
Es folgten Tage vagen Hoffnung und der Rücktritte. Fujimori hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal die Hälfte seiner Kabinettsmitglieder beieinander. Die Linke konnte sich über ihr Verhalten gegenüber der künftigen Regierung nicht einigen. Fujimori hatte zwei Mitgliedern der Izquierda Socialista (IS) das Energie- und Bergwerksministerium sowie das Landwirtschaftsressort angetragen. Beide Vertreter nahmen das Angebot trotz der vagen Haltung ihres Wahlbündnisses an. Später sollte IS dann verlautbaren, daß die Regierungsbeteiligung seiner beiden Mitglieder auf rein persönlicher Basis stattfinde und das Bündnis in keiner Weise tangiert werde. Zugleich schlug Fujimori Gloria Helfer von Izquierda Unida (IU) als Erziehungsministerin vor. Auch hier dasselbe Spiel: Beteiligung nur auf eigene Verantwortung, obwohl IU nach der Veröffentlichung des Wirtschaftspakets lautstark ihren Rücktritt forderte. Dieses Vorgehen und die Zusicherung von weitestgehendem ministeriellen Handlungsspielraum stellt in der Geschichte der peruanischen Demokratie ein völliges Novum dar. Bislang gab es nur Koalitionen, Allianzen und Absprachen, mittels derer das Land verteilt und die öffentlichen Pfründe besetzt wurden. Fujimori bot nun Handlungsfreiheit ohne Kompromisse und Vorbedingungen an. Der Fall von Gloria Helfer ist in diesem Zusammenhang sehr illustrativ. Es gehörte viel Mut und Kraft dazu, aus der IU auszutreten und zu erklären, nun sei es an der Zeit, für das Land zu arbeiten und das Eintreten für die Wünsche der minderbemittelten PeruanerInnen als Regierungsmitglied in die Praxis umzusetzen; sich nicht länger in Opposition zu üben, sondern nun konkrete Verantwortung zu übernehmen. Die Führung der Linken ist in der Oppositionstradition deformiert worden. Die Linke befand sich in Opposition zur Militärdiktatur, zu den Regierungen Belaúndes und Alan Gracías und will diese Rolle auch unter Fujimori weiterspielen. Alternativen zu nationalen Problemen werden nur aus Anlaß von Wahlen formuliert.

Es ist leicht, mit einem dicken Parlamentariersalär die Oppositionsbank zu drücken.

Unter den Parlamentariern der Linken, die dem Kongreß angehörten und es sind nicht wenige, lassen sich diejenigen, die brauchbare Vorschläge machten, an fünf Fingern abzählen. Das Parlament diente der Linken als Tribüne für die Anklage, ein Umstand, der zeitweise Gewicht hatte. Aber die Parteibasis, die die Linke von 1985 bis zur Wahl Fujimoris zur zweiten politischen Kraft im Land gemacht hatte, forderte mehr als nur parlamentarische Tiraden, sondern konkrete Konzepte zur Veränderung der bestehenden Verhältnisse. In diesem Zusammenhang ist die Entscheidung Gloria Helfers im doppelten Sinn positiv. Zum einen entspricht sie damit den Wünschen der Basis, zu anderen hat sie mit ihrer Haltung dazu beigetragen, daß sich viele der Linken nahestehende Intellektuelle und Spezialisten, Leute mit guten Ideen und dem Willen zur konkreten und verantwortlichen Arbeit nach Jahren folgenloser Predigten dazu entschlossen haben, mit der Regierung zusammenzuarbeiten.
Mit der Verpflichtung von Juan Carlos Hurtado Miller zum Kabinettschef und Wirtschaftsminister konnte Fujimori die Regierungsbildung abschließen. Der bewanderte Premier, Agraringenieur, Wirtschaftswissenschaftler und Spezialist für Öffentlichkeitsarbeit war bis dahin Mitglied der Acción Popular (AP) gewesen, einer Partei, an der rechten FREDEMO-Allianz beteiligt war. Hurtado Miller ist ein typischer Vertreter der politischen Mitte, ein exzellenter Fachmann, der jedoch in der AP und noch viel weniger innerhalb der FREDEMO hervorstach, wo ihn starke Auseinandersetzungen mit dem “Movimiento Libertad” isolierten, der Gruppierung, die von Vargas Llosa geführt wird, oder besser gesagt, geführt wurde. Vargas Llosa schenkte dem von ihm als Leiter einer 14 köpfigen Gruppe ausgearbeiteten Programm zur Agrarentwicklung keinerlei Beachtung. Anscheinend hat Hurtado Miller den Vorstellungen der FREDEMO niemals allzu nahe gestanden.
Fujimori und sein buntes Kabinett auf breiter Basis hatten nicht die Zeit, konsensfähige Alternativen für die wichtigsten anstehenden Probleme des Landes auszuarbeiten. Das gilt insbesondere für den ökonomischen Bereich, der mit den stärksten Erwartungen verbunden war. Am 28. Juli, dem Tag seiner Amtseinführung, gab Fujimori lediglich einige allgemein gehaltenen Erklärungen zu seiner künftigen Politik ab und vermied es, detaillierter zu werden. In einer anschließenden Pressekonferenz gab er bekannt, daß sein ökonomisches Sanierungsprogramm in den ersten Augusttagen vom Kabinettschef vorgestellt werden würde. Vielen wurden die Tage bis zur Fernsehbotschaft des Premiers lang. Alle wußten, daß die Maßnahmen drastisch ausfallen würden. Dennoch waren die PeruanerInnen weit davon entfernt, nun eine kritischere Haltung einzunehmen. In mehreren Meinungsumfragen stimmte ein wichtiger Teil der Bevölkerung der Feststellung zu, Fujimori bleibe kein anderer Ausweg, da Alan García das Land in den Ruin getrieben habe.
Die Reaktionen änderten sich jedoch schlagartig, als Hurtado Miller den Wirtschaftsplan verkündete. Nicht einmal pessimistische Prognosen kamen der Realität nahe. Zusammen mit den extrem harten Maßnahmen erklärte der Premier, das Land verfüge über keinerlei Haushaltsmittel und die Regierung sehe sich gezwungen, eine irreguläre Emission von Zahlungsmitteln vorzunehmen, um die Staatsangestellten bezahlen zu können. Die Wirtschaft bankrott, unbezahlbare Auslandsverschuldung, Embargodrohungen und zusätzlich keine Möglichkeit eines sofortigen Wiedereinstiegs in das Weltwirtschaftssystem; was also tun? Zum Zeitpunkt der Regierungsübernahme belief sich die Devisenmasse der peruanischen Zentralbank auf ganze drei Millionen Dollar. Allein zur Finanzierung des vorgesehenen Agrarprogramms hätten innerhalb von zwölf Monaten 500 Millionen Dollar ausgegeben werden müssen. In diesem Zusammenhang war also die Bekämpfung der Hyperinflation und der Ausgleich des Haushalts der zentrale Punkt des Stabilisierungsprogramms. Eigens zu diesem Zweck konstituierte sich eine Kontrollbehörde, das täglich über die Staatskasse Bilanz hielt und sicherstellen soll, daß Ausgaben und Einnahmen ausgeglichen sind. Dieses Prinzip ist unter großen Opfern bislang durchgehalten worden. Gleichermaßen wurde erklärt, das Notprogramm für den sozialen Bereich (Programa de Emergencia Social, PES) bis Dezember über eine Finanzierungsbasis verfüge.
Zu diesem Notprogramm, das für 12 Millionen extrem arme PeruanerInnen gedacht ist, gibt es einen Punkt hervorzuheben. Zu ihrer Information bat die Regierung verschiedene repräsentative VertreterInnen der Gesellschaft, einen Koordinationsausschuß unter der Leitung eines Regierungsmitglieds zu bilden. Zu den eingeladenen Organisationen gehören unter anderem den UnternehmerInnenverband CONFIEP, die Koordination der Komitees des Milchverteilungsprogramms, die nationale Kommission der Volksküchen, nichtstaatliche Organisationen, Stadtverwaltungen und lokale Administrationen.
Vom Handlungsspielraum dieses Koordinationsausschusses her gesehen, bedeutet seine Konstituierung eine Anerkennung derjenigen Überlebensstrategien, die sich in den letzten zehn Jahren parallel zur öffentlichen Politik als Antwort auf die permanente Krise entwickelt haben. Der wesentliche Unterschied zur Praxis früherer Regierung ist, daß diese immer wieder versucht haben, mittels paternalistischer Hilfsprogramme die autonomen Organisationen der PeruanerInnen zu behindern und zu spalten. Die Bitte der Regierung, den Koordinationsausschuß zu bilden, stellt also die Anerkennung der verschiedensten von Frauen geführten Initiativen dar, die sich als die besseren Formen zum Kampf um die Demokratie erwiesen haben. Der sprichwörtliche Kampf um das tägliche Brot wird damit direkt von der Straße in die Regierung getragen.

Verloren in einer Straße ohne Namen…

Die unmittelbaren Reaktionen der PeruanerInnen nach der Verkündung der Wirtschaftsmaßnahmen illustriert den Gemütszustand der Bevölkerung gegenüber der neuen Regierung. Obwohl feststeht, daß der harte Schlag die PeruanerInnen in einen mehr als besorgten und desolaten Zustand versetzte, so muß doch auch gesagt werden, daß es leicht zu einem sozialen Beben astronomischen Ausmaßes hätte kommen können. Es gab einzelne gewaltsame Auseinandersetzungen und Ansätze zu Plünderungen, die aber die große Mehrheit der Bevölkerung nicht mitrissen. Während eines Besuchs bei den Volksküchen des Stadtteils Villa el Salvador von Lima, fragte ich einen Mann, der in einer langen Warteschlange für seine Portion anstand, was er von dem Zeitungskommentar halte, der die PeruanerInnen als passives und untätiges Volk angesichts solch drastischer Dekrete beschrieb. “Wir werden uns doch nicht dafür umbringen lassen, um Zucker oder Öl für einen Tag zu haben, wir wollen eine andere Lösung.” In der augenblicklichen Phase der täglichen politischen Gewalt ist es wichtig, zweimal nachzudenken, bevor gehandelt wird. Alles andere würde den Vorstellungen von Sendero Luminoso nur entgegenkommen. Die PeruanerInnen scheinen mit der neuen Situation ganz gut umzugehen, ganz im Gegensatz zu den Parteispitzen.
Die ParlamentarierInnen sorgten in derselben Woche für einen schalen Beigeschmack, die gemeinsam mit den Abgeordneten der APRA gegen die Wirtschaftsmaßnahmen auftraten und den schleunigen Rücktritt des Kabinetts forderten. Die PeruanerInnen fragten sich, mit welchem moralischen Recht die APRA mobilisierte, war sie doch die Hauptschuldige am Debakel des Landes. Aber wir fragten uns auch, was da die Linke Arm in Arm mit der APRA tat. Um das Faß voll zu machen, waren auf der Demonstration, zu der die Gewerkschaften der Linken (CGTP) und der APRA (CTP) aufgerufen hatten, mehr ParlamentarierInnen und Journalisten als andere Teilnehmer zu sehen. Den Gipfel politischer Tolpatschigkeit erklomm die Gewerkschaftsführung, als sie die mangelnde Beteiligung der ArbeiterInnen auf die hohen Kosten des Nahverkehrs zurückführen wollte. Diese Art von Aufrufen zum Kampf ohne größere Perspektive locken niemanden mehr hinter dem Ofen hervor. In derselben Woche scheiterte ebenfalls ein von den Staatsangestellten ausgerufener Streik. Was allerdings Erfolg hatte, war ein durch die Stadtteilorganisationen der Frauen organisierter Marsch der “leeren Kochtöpfe”, bei dem die effiziente Umsetzung des sozialen Notprogramms gefordert wurde. Die Schlachten der Straße gewinnen nun die Organisationen der unmittelbar Betroffenen und nicht mehr die großen politischen Zentralen, die zur bloßen Konstruktion verkommen sind. Ein Beispiel: Die für die Organisation des Milchprogramms in Lima zuständige Stadträtin hatte erklärt, in Zukunft würden die Milchrationen nur noch an Kinder unter sechs Jahren verteilt. Am folgenden Tag waren zwölftausend Mütter auf der Straße. Sie erklärten kategorisch, Kind höre man nicht mit sechs Jahren auf zu sein, außerdem müßte das Programm auf stillende Mütter ausgedehnt werden. Zwei Stunden später war die Stadträtin ihren Posten los.

Das neue Parlament: “Offizielle” Sprache Quechua?

Eine Anekdote wurde zu dieser Zeit gerne in Lima zum besten gegeben: Ein bekannter Unternehmer hatte sich entschlossen, auf der Liste der rechten Bewegung “Somos Libres” für den Senat zu kandidieren. “Somos Libres” unterstützte Vargas Llosa, war jedoch nicht Teil der FREDEMO. Seine Frau versammelte die gesamte Dienerschaft des Hauses: Köchin, Chauffeur, Gärtner und Butler. Sie bat sie, doch bitteschön für ihren Mann zu stimmen. In ausgesucht höflicher Form widersprach der Gärtner; leider könne er ihr den Gefallen nicht tun, da er selbst auf der Abgeordnetenliste von CAMBIO 90 für Lima kandidiere. Natürlich hat die Geschichte einen glücklichen Ausgang. Der Gärtner sitzt nun im Parlament und der Unternehmer fiel durch.
Die soziale Zusammensetzung ist etwas neues am Parlament. Die Mehrheit der Neulinge von CAMBIO 90 kommen aus dem Volk, mit viel Energie und Nachdruck, aber ohne Erfahrung in parlamentarischer Polemik. Abgesehen von einigem anfänglichen Durcheinander, das durch die Annahme ausgelöst worden war, der Präsident werde die öffentlichen Positionen mit seinen Leuten besetzen, setzte sich schließlich Fujimoris alte Devise durch: “Öffentliche Ämter werden nicht verteilt oder verschachert, sondern neutrale und gleiche Kriterien müssen für alle gelten”. Die ersten hundert Tage deuten auf eine positive Bilanz hin. Die ParlamentarierInnen von CAMBIO 90 halten mit ihrer Kritik an der Regierung nicht hinter dem Berg und formulieren mit viel Klarheit ihre abweichenden Meinungen ohne jedoch den gemeinsamen Konsens abgesehen von den existierenden Beschränkungen zu verlassen. Diese organische Einheit gibt den Debatten in beiden Häusern des Kongresses eine ungewohnten Pep. Dies hat offensichtlich mit dazu beigetragen, daß das Präsidium beider Häuser von CAMBIO 90 trotz fehlender Mehrheit gestellt wird.
Die FREDEMO ist nach der Rückkehr Vargas Llosas nach Europa bis auf das “Movimiento Libertad” zusammengeschrumpft. Alle ehemaligen Mitgliedsparteien arbeiten unabhängig im Kongreß und die Unterschiede in der Haltung gehen von einem Extrem ins andere. Während die einen nichts mit der Regierung zu tun haben wollen, ohne ihrerseits Alternativen vorzustellen, billigen die anderen gnädig die Vorschläge von CAMBIO 90, mehr aber auch nicht. Die von ihnen erzeugte Polarisierung während des Wahlkampfs kehrt sich nun gegen sie selbst.
Was die Linke anbelangt, so scheint sie in die Dauerkrise geraten zu sein. Nach ihrer demütigenden Wahlniederlage versucht sie in der Rolle der radikalen Opposition verlorenes Terrain wiederzugewinnen. Ein fataler Fehler, denn die PeruanerInnen und die Geschichte haben bereits seit längerer Zeit eine andere Richtung eingeschlagen. Vor allem Izquierda Unida spielt gefährlich mit dem Feuer zugunsten von Sendero. Die große Mehrheit der Parteien der peruanischen Linken hantieren immer noch in unterschiedlichen Abstufungen mit Prinzipien wie der Einheitspartei und dem Demokratischen Zentralismus; sie bezeichnen sich selbst als marxistisch-leninistisch und bei Bedarf auch noch maoistisch. Diejenigen, die das nicht tun, haben sich dieser Terminologie auf eine Weise entledigt, wie man/frau ein abgetragenes Kleidungsstück wegwirft. Ernsthafte Ansätze zum Wandel hat es nicht gegeben. Die Perestroika schmeckt ihnen nicht recht oder sie wird vielleicht nicht richtig verstanden. Sicher ist jedoch, daß die Linke wenig Möglichkeiten hat, einem Fallstrick zu entgehen, falls sie weiter auf Prinzipien und solch orthodoxen Positionen herumreitet. Trotzdem kann nicht behauptet werden, die Linke stelle innerhalb der nationalen Politik nicht dar. Die Beteiligung von drei Linken an der Regierung wird von vielen, vor allem den armen PeruanerInnen, als eine Art Garantie für sie empfunden.

Die heimliche Rechnung Fujimoris

Es ist ein offenes Geheimnis, daß ein Übereinkommen Fujimoris mit der Armee existiert. Dieser Umstand hat Anlaß zu den verschiedensten Kommentaren gegeben, angefangen mit den konservativsten, die eine solche Situation schon aus Prinzip nicht akzeptieren können bis zu den gewagtesten, die sich fragten, welcher der verfassungsgemäßen Präsidenten Perus denn kein Abkommen dieser Art gehabt hätte. Sicher ist, daß Fujimori diesen Pakt geschlossen hat, unklar und der Spekulation überlassen bleibt jedoch sein Ausmaß. So läßt sich auch nur das analysieren, was davon an die Öffentlichkeit gedrungen ist. Es gab Probleme, die den Militärs Kopfschmerzen bereiteten, eines davon war die wachsende Besetzung der Polizeieinheiten mit APRA-Anhängern. Während der Regierungszeit Alan Garcías wurde die Polizei mit leichten und schweren Waffen massiv hochgerüstet und eine Unmenge an neuen Hauptabteilungen geschaffen, die selbstverständlich von Polizeigenerälen geleitet werden mußten. Das bewirkte eine extreme bürokratische Disproportion und die Struktur hörte auf, pyramidenförmig zu sein und ähnelt heute mehr einem Oktogon. Die Armee war nicht bereit, die zunehmende Verflechtung der Polizei mit paramilitärischen Einheiten, an denen die APRA ebenfalls beteiligt ist, weiter zu tolerieren. Angesichts der Schwäche der Regierung Fujimori schlug sie einen Tauschhandel vor: Unterstützung der Regierung für die Besetzung des Innenministeramts. Fujimori konnte an einer APRA-orientierten Polizei ebenfalls nicht gelegen sein und, schlimmer noch, mit der Kenntnis, daß die Regierung nicht in der Lage sein würde, etwas an dieser Situation zu ändern. Die Karten lagen offen auf dem Tisch. In gewisser Weise begünstigten sie Fujimori, da er ja entsprechend der Logik seiner Moralkampagne die Oberkommandierenden der Marine und der Luftwaffe sowie eine Reihe weiterer Generäle abgesetzt hatte, obwohl anscheinend nur einige korrupt waren. Im Rahmen der Reorganisation des Apparats entließ die Regierung beinahe 200 Offiziere der Polizei. Es gab Stimmen, die die Meinung vertraten, Fujimori sei zu weit gegangen und dies sei möglicherweise der Gegenstand des Kontraktes gewesen. Auf kurze Sicht gesehen hat die Regierung sicherlich davon profitiert, muß diese Beziehung aber mit Glacéhandschuhen anfassen, will sie nicht langfristig verlieren.

Krieg oder Frieden: Eine ungewisse Zukunft

Fujimori übernahm die Amtsgeschäfte in einer Situation des verstärkten Rückzugs von Sendero Luminoso. Ein Rückzug, der nicht nur durch das Scheitern der Strategie des erzwungenen Wahlboykotts bedingt war, sondern insbesondere durch das Wahlergebnis selbst: die Mehrheit der sogenannten Roten Zonen, Gebieten unter der anscheinenden Kontrolle von Sendero stimmten überwältigend für Fujimori. In der Mehrzahl der Departements der Zentralanden gewann Fujimori eine solide Mehrheit. Politisch bereits angeschlagen, mußte Sendero den Verlust von Kadern der mittleren und unteren Ebene hinnehmen, die von Armee und Polizei verhaftet wurden. Natürlich gibt es weiter Bombenattentate und Sabotageakte, wenngleich in geringerem Ausmaß als früher. Sie tragen allerdings eine neue Handschrift: die der Verzweiflung. Sendero will um jeden Preis seine Protagonistenrolle erhalten, dies treibt die Organisation zu unkoordinierten und ihre Kräfte übersteigenden Aktionen. Das war bislang nicht geschehen, die Basis ist verunsichert. Dieser Umstand wurde an einem Konflikt unter Senderisten im Gefängnis von Canto Grande deutlich, der mit dem Ausschluß von drei Genossen und ihrem “Umzug” in den Trakt der gewöhnlichen Gefangenen endete. Das heißt nun nicht, daß Sendero etwa geschlagen und seine Tage gezählt seien, es bedeutet lediglich, daß sich Sendero in seiner ersten ernsten Krise befindet und der Grund dafür ist in seiner politischen Niederlage zu suchen.
Der MRTA seinerseits hat nach einem spektakulären Gefängnisausbruch durch einen 320 Meter langen Tunnel, der in dreijähriger Bauzeit entstanden war und durch den 48 MRTA-Gefangene inklusive dem legendären Víctor Polay alias Comandante Rolando entkommen waren, per Video über einen Fernsehkanal den Dialog angeboten. Vorbedingung sei allerdings die vorherige Auflösung der “politisch-militärischen” Kommandos in den Gebieten des Ausnahmezustands. Am 22. September entführte ein MRTA-Kommando den parlamentarischen Geschäftsführer der CAMBIO 90-Fraktion, Gerardo López. Nach einer Woche wurde er freigelassen und einem Fernsehsender mitgeteilt, wo er aufzufinden sei. Von dort direkt in den Sender gefahren und vor Kameras befragt, informierte López über “die Bereitschaft des MRTA, in Verhandlungen mit der Regierung und Vertretern der Basisorganisationen ohne Waffenniederlegung zu treten mit dem Ziel, Übereinstimmung über konkrete Punkte zu erzielen, die zu einem Waffenstillstand in einem Bürgerkrieg führen könnten.” Außerdem bemerkte López, der MRTA sei nicht bereit, direkt mit Fujimori zu verhandeln da sie “der Ansicht sind, daß die politische Persönlichkeit des Präsidenten weder Garantien und Sicherheit noch Glaubwürdigkeit verkörpert. Sie betonen ihre Ablehnung mit dem Argument, daß der Präsident der Bevölkerung ein anderes Programm versprach, als er es jetzt anwendet, was ihn als Gesprächspartner disqualifiziert.” Ihr Hauptinteresse richtet sich unter anderem auf den Vizepräsidenten, Dr. Carlos García oder den Senatspräsidenten, Máximo San Román.
All diese Elemente sind Teil einer neuen politischen Szenerie. Aus diesem Grund steht zu hoffen, daß der neuen Regierung nicht derselbe Irrtum unterläuft wie all seinen Vorgängern, nämlich mit der Anschaffung von Feuerlöschern zu beginnen, wenn das Haus bereits in hellen Flammen steht.

Wahlen:Reaktion und Überdruß

Wenn auch eine endgültige Wahlanalyse noch nicht möglich ist, da in vielen Staaten die Gouverneurswahlen erst Ende November im zweiten Durchgang ent­schieden werden, so sind doch einige Trends deutlich sichtbar. Der große Ge­winner sind die Rechten. Von den 503 Abgeordneten des Parlaments (câmera federal) können 270 Abgeordnete dem Regierungslager zugerechnet werden. Die Partei Collors wird aber nur über etwa 30 Sitze verfügen und geht nicht gestärkt aus den Wahlen hervor. Collor, der scheinbar neue, unabhängige Politiker bleibt also abhängig von einer Koalition mit der traditionellen Rechten, die sich in der PMDB und der PFL zusammenfinden. Dies sind aber genau die Kräfte, die die Regierung Sarney unterstützt hatten, die zum Schluß völlig unpopulär war und auf die Collor in seinem Wahlkampf so heftig einschlug wie auf die Linken. Sie können sich nun genau wie Collor auf ein frisches WählerInnenvotum berufen, ihre Chancen, den unberechenbaren Populisten wieder an die Kandare zu be­kommen, sind erheblich gestiegen. Innerhalb des rechten Lagers gab es eine si­gnifikante Verschiebung zugunsten der PFL, die zum größten Teil aus Politikern besteht, die früher in der Partei der Militärs organisiert waren. Die Überlebens­kraft dieser Rechten ist erstaunlich. Sie haben die Wahl wieder mit den klassi­schen Mitteln gewonnen: Einkaufen lokaler Politiker, konkrete Versprechungen (hier eine Schule, dort ein Krankenhaus) auf lokaler und regionaler Ebene. Die Wahl solcher Politiker ist kaum eine rechts-links Entscheidung. Die Wahlen wa­ren somit im Vergleich zu den Präsidentschaftswahlen – scheinbar – nicht ideolo­gisch geprägt. “Das Beste für Bahia”, solche Parolen bestimmten den Wahlkampf. Damit hat aber weniger die politische Rechte als der “fisiologismo” die Wahlen gewonnen. Ein “fisiologico” ist ein Politiker, für den weder eine Parteibindung oder ideologische Orientierung kennzeichnend ist, als die Organisierung des Zu­gangs zur Macht, die Bedienung der Klientel und das eigene Überleben in politi­schen Funktionen. “Rouba mas faz” – er ist korrupt, aber er macht was, das ist die positive Charakterisierung dieses Politikers. Ein typischer Vertreter solcher Überlebenskünstler, Antonio Carlos Magalhaes (ACM), der eine ungebrochene Karriere seit den Zeiten der Diktatur aufweist, gewann in Bahia die Gouver­neurswahlen locker im ersten Anlauf.
Der kurze Sommer der Linken
Die Arbeiterpartei (PT), deren Kandidat Lula letztes Jahr fast die Präsident­schaftswahlen gewonnen hätte, wird magere 30 Abgeordnete (ca.6%) stellen, und nur in den Amazonas-Bundesstaaten Acre und Amapá gelangen PT-Kandidaten für das Gouverneursamt in die zweite Runde. Die andere Partei, die eine Oppo­sition von links gegen die Regierung verspricht, ist die PDT: Ihr Führer, der Populist Brizola, gewann mit einem hervorragenden Ergebnis in Rio, und in zwei weiteren Bundesstaaten liegen ihre Kandidaten vorne. Aber die PDT wiederholte das Dilemma der Präsidentschaftswahlen: gute Ergebnisse in einigen Staaten und quasi Nichtexistenz in anderen, insbesondere den wichtigen Staaten Sao Paulo und Minas Gerais. Brizola bleibt ein Regionalpolitiker, aber immerhin wird die Fraktion der PDT im Parlament fast doppelt so groß sein wie die der PT. Brizola kann somit seinem Anspruch, Führer und Kristallisationsfigur der Opposition zu sein, neuen Nachdruck verleihen.
Warum aber das schwache Abschneiden der PT? Vielleicht ist die Frage falsch gestellt. Erklärungsbedürftig ist wohl eher, wie es Lula gelingen konnte in einem ganz spezifischen Moment die gesamte Opposition und Unzufriedenheit hinter den Fahnen der PT zu vereinigen. Die PT verdoppelte immerhin ihre Fraktion im Parlament, sie hat ein Ergebnis erreicht, das eher ihre wirkliche Stärke wiedergibt als die Erfolge bei den Präsidentschaftswahlen.
Viel weniger als bei den letzten Wahlen hat die PT von diffusen Stimmungen, der Unzufriedenheit und Wut mit Regierung, Politikern und den Verhältnissen im allgemeinen profitiert. Denn ein hervorstechendes Ergebnis dieser Wahlen ist die riesige Zahl der ungültigen Stimmen, bzw. der Wahlenthaltungen (In Brasilien herrscht strenge Wahlpflicht!). Bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus wählten 65% der WählerInnen nicht oder ungültig, eine für Brasilien unglaubliche Zahl. Warum es der Linken nicht gelang, dieses Potential zu erreichen, ist die große Frage der Wahlanalyse. Ein Grund wird schon sein, daß die PT in wichtigen Städten (Sao Paulo) die BürgermeisterInnen stellt, dort keine Wunder bewirken konnte und somit nunmehr selbst als Teil des politischen Systems erscheint.
Zu den großen Verliererinnen der Wahl gehört auch die PSDB, das sozialdemo­kratische Projekt unter Fernando Henrique Cardoso. Ihr einziger Lichtblick ist Ceará (Ciro Gomes mit 54% Gouverneur), ansonsten zerreibt sich die Partei an der Frage, ob sie die Regierung Collor unterstützen oder fundamentale Opposi­tion machen soll. Der Weg dieser Partei wäre aber genauso eine ausführliche Er­örterung wert wie das Wahlergebnis in Sao Paulo, wo sich der extrem rechte Paulo Maluf und der (bisher völlig unbekannte) Luís Fleury (Kandidat des jetzti­gen Gouverneurs Quércia) in der Stichwahl gegenüberstehen werden. Gewinnt Fleury wird Quércia der große (bürgerliche) Gegenspieler Collors und Favorit für dessen Nachfolge sein. Aber dazu mehr nach dem zweiten Wahlgang.

“Die M-19 war schon immer eine ketzerische Organisation”

“Ein ausgefülltes politisches Leben zusammenzufassen ist keine leichte Aufgabe, denn wenn das Leben von Erfahrungen und Lehren geprägt ist, läßt es sich nicht mehr zusammenfassen.” Mit diesen Worten begann das Gespräch mit Vera Grave Löwenherz, Führungsmitglied der M-19, die vor einigen Monaten den Waffen­stillstand mit der liberalen Regierung Kolumbiens unterschrieben hat und deren Mitglieder heute in der Legalität leben. Nach einer kurzen und und schwierigen Wahlkampagne, in der ihr Präsidentschaftskandidat Carlos Pizarro León-Gómez ermordet wurde, ist die M-19 nun durch die Wahlen Ende Mai dieses Jahres dritte politische Kraft des Landes geworden. Die deutschstämmige ehemalige Guerillakommandantin Vera Grave, in den 70er Jahren Mitbegründerin der Organisation, ist heute Abgeordnete im Repräsentantenhaus.

Vera Grave: Für mich gibt es zwar Brüche und Sprünge im Leben, aber Leben und politische Integration sind eine gemeinsame Entwicklung. So wie der Tag zur Nacht wird, geht man vom Zuhause in die Berge und so verwandelt sich, was du bist und was du glaubst in Projekte, Taten und Verpflichtungen. Ich bin im universitären Umfeld mit der M-19 in Verbindung gekommen, dort, wo die M-19 zu dieser Zeit im kulturellen, kreativen und geistigen Bereich aktiv war. Meine Eltern sind Deutsche. Sie kamen müde von der Verfolgung durch die Nazis nach Kolumbien und suchten neue Horizonte. Wir sind zwei Schwestern und wuchsen hier in Kolumbien in einer deutschen Umgebung auf. Wir besuch­ten die deutsche Schule. Später, während meines Ethnologiestudiums, begann ich meine politische Arbeit im Untergrund mit der Organisation.

Juan Suárez: Die M-19 verfolgte auch als Guerilla eine eigenständige Dialogpoli­tik. Wie bewerten Sie ihre Friedenspolitik im internationalen Kontext heute?

Vera Grave: Seit ihrer Gründung war die M-19 eine ketzerische Organisation und war immer schon “perestroikisch”, indem die Vorgehensweise stets verändert wurde und neue Wege gesucht wurden. Zu einem Zeitpunkt, als der bewaffnete Kampf der Linken in Kolumbien sich in einer Krise befand, entwickelten wir eine neue Form des Kampfes: Während alle anderen Untergrundkämpfer in die Berge gingen, kämpften wir in den Städten. Als wir die Friedensverhandlungen began­nen, war der Krieg noch in vollem Gange. Unsere Friedensvorschläge existieren schon seit mehr als 10 Jahren. Wir haben immer versucht verschiedene Leitbilder zu entwickeln, uns mit einer eigenen Sprache auszudrücken, um von ausländi­schen und traditionellen Modellen freizukommen. In einem Land, in dem sich alle bewaffnen, schlug unsere Organisation die Abrüstung vor, mit all den Fol­gen, die das für die Mitglieder unserer eigenen Organisation hatte. Dieser dia­lektische Moment fiel zusammen mit den Veränderungen der Welt, das bedeutet, mit der Perspektive auf Freiheit und Frieden, dem Zusammenbruch alter Struk­turen und alter Blöcke hin zur Neuordnung der Welt.

J.S.: Was würde die M-19 tun, wenn sie jetzt an die Macht käme, wenn wir davon ausgehen, daß der Krieg auf die Interessen des Kapitals zurückgeht?

Vera Grave: Unsere Wahlkampagne drehte sich um Frieden und Versöhnung, um eine Gesellschaft von Besitzenden. Wir schlagen weder die Enteignung des Besitzes, noch die Aufhebung des Kapitals vor. Wir wollen aus Kolumbien ein Land machen, in dem alle etwas besitzen. In Kolumbien wollen die Menschen Arbeit und Besitz. Doch muß das Privateigentum demokratisiert werden und in die Weltwirtschaft, vor allem in die lateinamerikanische Wirtschaft, integriert werden. Ein fähiger, wirksamer und demokratischer Staat muß entstehen. Es müssen vernünftige Friedensdialoge mit den bewaffneten Gruppen des Landes geführt werden. Es ist richtig, daß der Krieg ein Krieg des Kapitals ist, aber die Pole haben sich verändert. Das Ost-West-Schema paßt nicht mehr. Es ist eine vielpolige Welt entstanden mit verschiedenen Blöcken: dem europäischen, dem asiatischen, dem arabischen, dem kanadisch-nordamerikanischen und, sehr optimistisch gesehen, dem lateinamerikanischen, dem wir alle noch sehr auf die Beine helfen müssen. Vielleicht erlaubt uns diese neue Wirtschaftsordnung die Beziehungen unter den Ländern auszudehnen. Gleichzeitig müssen neue Inve­stitions- und Entwicklungspolitiken erarbeitet werden.

J.S.: Was bedeutet für die M-19 die Besetzung politischer Posten wie der des Gesundheitsministers mit dem Führer der M-19, Antonio Navarro Wolf, oder Ihr Amt als Abgeordnete?

Vera Grave: Wir meinen, daß revolutionäre Prozesse auf verschiedenen Ebenen möglich sind, sowohl von außen, als auch von innen. Wir wollen von der Bühne aus zeigen, daß eine ehrliche und saubere Politik, die die wirklichen Interessen des Volkes vertritt, machbar ist. Das Volk hat uns gewählt, um diese Aufgaben zu erfüllen und hat damit unsere 15-jährige ehrliche und unseren Idealen treu­gebliebene Arbeit belohnt.

J.S.: Wie würde die M-19 mit dem Problem des Drogenhandels umgehen?

Vera Grave: Kolumbien ist zum schwarzen Schaf der Welt geworden. Es wird gesagt, daß die Quelle des Übels und die Schuld bei Kolumbien liegt, obwohl wir alle wissen, daß das Problem weder moralisch noch kolumbianisch ist. Das Pro­blem ist ein wirtschaftliches, bei dem sehr viele Länder nicht nur die Droge kon­sumieren, sondern daraus vor allem wirtschaftliche Vorteile ziehen. Wirtschaftli­che Probleme können aber weder mit Polizeigewalt, noch mit Unterdrückungs­methoden gelöst werden. Wir schlagen deshalb einen Dialog mit den Drogen­händlern vor. Sie sollen ihre Waffen niederlegen, wie sie bereits selbst vorge­schlagen haben. Die Gelder, die sie ins Ausland gebracht haben, müßten in Kolumbien investiert und die Kokapflanzungen durch den Anbau von Nah­rungsmitteln ersetzt werden. Außerdem müßten Erziehungsprogramme auf allen Ebenen durchgeführt werden. Doch vor allem sind politische und soziale Refor­men notwendig.

J.S.: Der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano schrieb über die Verände­rungen in Osteuropa folgendes: “Wir sind zur Beerdigung des Sozialismus ein­geladen, doch die Totenfeier hat sich in ihrem Toten geirrt.” Was denken Sie dar­über?

Vera Grave: Meiner Meinung nach handelt es sich nicht um die Beerdigung des Sozialismus. Die Welt befindet sich in einem Umbruch, was aber nicht bedeutet, daß die Menschen nur das kapitalistische System wollen. Die Menschen wün­schen ein besseres Lebensniveau, mehr Wohlstand, den sie in den sozialistischen Ländern nicht fanden. Wir glauben, vor der Alternative zwischen einer kapitali­stischen oder sozialistisch-demokratischen Gesellschaftsform zu stehen. Dabei gibt es die Möglichkeit, daß der Sozialismus kapitalistische Elemente, wie freie Marktwirtschaft und Konsum, übernimmt. Solange diese Schritte zu einem men­schlicheren Leben führen, bedeuten sie durchaus eine positive Entwicklung der Geschichte. So bedeutet das Zusammenbrechen des geheimen Sicherheits­dienstes, des Bürokratieapparates, der Einheitspartei einen wirklichen Fortschritt für den Sozialismus, solange dieser als demokratisch verstanden wird. Wir sind zur Beerdigung nicht funktionierender Systeme eingeladen.

J.S.: Was erhoffen Sie sich nach der Vereinigung von den Deutschen?

Vera Grave: Ich habe die Hoffnung, daß die Deutschen, obwohl sie zur Zeit damit beschäftigt sind, sich neu zu ordnen, nicht diesen, unseren Teil der Erde, vergessen werden. Wir sind eine Welt und es muß eine Politik des Austausches und der Solidarität mit dem Süden geben. Es ist wahr, daß bei uns im Süden Krieg und Gewalt herrschen, aber wer produziert die Waffen, wer macht Geschäfte mit diesen Kriegen? Unser Kampf gegen den Krieg wird fruchtlos blei­ben, solange die Industrienationen ihre Kriegsgeschäfte betreiben. Ich habe Hoff­nung, daß die friedensschaffenden Menschen im neuen Europa gegen das Geschäft des Krieges kämpfen werden.

J.S.: Frau Abgeordnete Vera Grave Löwenherz, vielen Dank für dieses Gespräch.

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