Fragmente einer Reise

Brasilien im Januar
—– Der 10.000 Cruzados-Schein wurde durch einen Stempel zu 10 Cruzados Novos. Nach der derzeitigen Währung ist er 10 Cruzeiros wert (ca.10 Pfennig). Zum 1.1.91 wurde der Schein durch eine Münze ersetzt, ist aber noch im Umlauf. “Deus seja louvado” (Gott sei gelobt), steht auf dem Geldschein.
—– Die Reklame eines Motels in Rio: “Faça amor, nao faça guerra.” (Mache Liebe, mach nicht Krieg.) – Eine Annonce für Eigentumswohnungen in Búzios: “Hussein, deixe disso… vá pra Búzios!” (Hussein, laß das doch… geh nach Bú­zios!) – Ein kleiner Junge quengelt auf der Straße. Sein Vater droht ihm: “Wenn du nicht gleich aufhörst, schicke ich dich an den Golf!”
—– Im Nordosten herrscht auch in diesem Sommer eine Dürrekatastrophe. Schon im Dezember verteilte Collor Notpakete mit Grundnahrungsmitteln in den ärmsten Gebieten. Jetzt besuchte er ein Bewässerungsprojekt in Pernambuco. Dabei gab er bekannt, daß die Regierung 5,1 Milliarden Cruzeiros für Bewäs­serungs-, Strom- und Wohnungsbauprojekte zur Verfügung stellen will. In der Zeitung ein Bild vom fotogensten und sportlichsten aller Präsidenten. Diesmal fährt Collor allerdings nur einen Traktor.
—– Boom der Caipira-Musik, der brasilianischen “Country-Musik”: “Chitaozinho e Xororó” haben bereits 1,7 Mio. ihrer Platte “Meninos do Brasil” verkauft. “Legiao Urbana”, eine der bekanntesten brasilianischen Rockgruppen, dagegen nur 610.000 Exemplare ihrer Platte “Que país é este?” Die Platte “Purple Rain” von Prince wurde nur 150.000 mal verkauft. Der Star des diesjährigen Sao Paulo Country Festivals ist Almir Satter, Sänger und Held der gerade neu begonnenen Telenovela im Fernsehen.
—– Wenn jemand Fragen zu Deutschland stellt, dann entweder zur Situation nach dem Fall der Mauer, oder zum deutschen Fußball. Der Rückblick 1990 der “Isto é” (einer der größten Zeitschriften) beginnt mit einem Interview mit Elmar Altvater zu den Problemen des vereinten Deutschland.
—– Die Dengue-Epidemie greift um sich. Fast 40.000 Menschen sind schon von dem Virus infiziert, der von Mosquitos übertragen wird und im schlimmsten Fall bis zum Tod führen kann. In einer nationalen Kampagne zur Vernichtung der Mosquitos werden vor allem in Rio, dem Krisenherd, Springbrunnen und Wasser­löcher mit Sand zugeschüttet und große Mengen Insektizide versprüht.
—– Wenn am Kiosk oder im Laden kein passendes Wechselgeld vorhanden ist, gibt es stattdessen Bonbons oder Kaugummis. In der Apotheke darf ich mir als Wechselgeld eine kleine Packung Pillen aussuchen.
—– Die Preiserhöhungen in der ersten Januarwoche waren die höchsten seit Be­ginn des Plano Collor. Die Grundnahrungsmittel wurden durchschnittlich 12,7 % teurer; Bus- und Benzinpreise steigen. Es wird befürchtet, daß die Inflation in diesem Monat auf 22 % ansteigt. Wegen des Krieges und der steigenden Ölpreise, behauptet Ibrahim Eris, Chef der “Banco Central”. Das Wirtschaftsprogramm Collors hat auf der ganzen Linie versagt, behauptet die Opposition. Zélia Cardoso de Mello, die Wirtschaftsministerin, weiß die Lösung: Die Inflation wurde bisher falsch gemessen, jetzt müsse das richtige “Thermometer” gefunden werden.
—– Eine Bekannte erzählt, sie habe vor zwei Wochen nach einer Fete ein Taxi nach Hause genommen. Unterwegs hielt der Taxifahrer an, bedrohte sie mit einem Messer und vergewaltigte sie auf dem Rücksitz. Die Angst davor, bedroht und ausgeraubt zu werden. gehört zum Alltag. Über Vergewaltigungen wird normalerweise nicht gesprochen.
—– Die PT (Arbeiterpartei) gibt derzeit ein klägliches Bild ab. Sie ist aus der öffent­lichen Diskussion fast ganz verschwunden. Das Projekt einer “Parallelregierung” unter Lula ist gescheitert; bei den Gouverneurswahlen im Dezember konnte sie keinen einzigen Kandidaten durchbringen. Während der Gouverneurswahlen in Sao Paulo hat sie sich über der Frage zerstritten, ob sie sich dem Anti-Maluf Bündnis anschließen oder die Wahlen boykottieren sollte. Die Resignation und Orientierungslosigkeit der Linken nach der Wahlniederlage gegen Collor und dem “Ende des Sozialismus” dauert an.
—– Ergebnisse einer Umfage der “DataFolha” am 14.Januar: Sind Sie für oder ge­gen die Entsendung von brasilianischen Truppen in die Golfregion? 82 % sind dagegen, 16 % dafür. Davon befürworten 12 % den Einsatz der Truppen gegen den Irak; 4 % wollen auf der Seite des Iraks kämpfen.
—– “Vestibulares” in Sao Paulo: Aufnahmeprüfungen für die staatlichen und privaten Universitäten und Schulen. Auf einen Studienplatz bewerben sich teil­weise über 80 KandidatInnen. Die Polizei sperrt ganze Straßenzüge ab, damit die BewerberInnen an den Ort der Prüfung gelangen können (Wer kann, fährt in Sao Paulo mit dem Auto). In den Tageszeitungen werden auf Sonderseiten die Prüfungs­aufgaben und die Lösungen veröffentlicht.
—– Die Spekulationen über einen möglichen Kriegsbeginn im Golf veranlassen viele Menschen zu Hamsterkäufen. Es werden vor allem Gasflaschen gekauft, die in den meisten Haushalten zum Kochen verwendet werden. Schon nach zwei Tagen verkaufen Jungen die Gasflaschen am Straßenrand zum dreifachen Preis.
—– Ana arbeitet für ein von der Stadtsverwaltung unterstütztes Videoprojekt. In einem Video-Kino-Bus zeigt sie in Vororten Sao Paulos Videos zu Themen wie Erziehung, Hygiene, Probleme der Wasserversorgung, Umweltverschmutzung und Aids. Ihr Mann Roberto arbeitet bei TV Cultura. TV Cultura versucht als einziger Sender, ein ‘kulturell orientiertes Gegenprogramm’ zu den großen Kommerz-Sendern zu machen (Einschaltquote: 2 %). Roberto und Ana würden nach ‘Berliner Verhältnissen’ zum weiteren Umfeld der Alternativ-Szene gehö­ren. Am letzten Abend des Ultimatums frage ich sie, ob sie von Demonstrationen gegen den Krieg gehört haben. Sie schauen mich ver­wundert an. “Auf der Ave­nida Paulista haben wohl einige Leute ein paar Flug­blätter verteilt”, meint Ana. Roberto sagt: ” Wir Brasilianer haben ein anderes Verhältnis zur Straße als ihr in Deutschland. Jeder wirft bei uns seinen Müll auf die Straße. Die Straße gehört den Armen. Alleine hier in Sao Paulo leben 150.000 Menschen auf der Straße. In einer Situation wie dieser bleiben die Leute zuhause und sehen fern.”
—– Rock in Rio II. Zehn Tage Rockspektakel im Maracana, dem größten Stadion Rios. Neben brasilianischen MusikerInnen und Gruppen wie Lobao, Roupa Nova, Gilberto Gil, Elba Ramalho, Titas und Capital Inicial präsentieren sich inter­nationale Größen, z.B. Prince, Joe Cocker, Santana, Billy Idol, Guns N’Roses, Judas Priest und Deee-Lite.
—– Guilherme, Diplomchemiker, hat seinen Job bei einer brasilianischen Firma in Rio verloren. Dagmar sucht schon seit Monaten nach Arbeit. Während der kurzen Zeit in Brasilien höre ich immer wieder von Entlassungen. – Im Süden Brasiliens werden DeutschlehrerInnen gesucht. Seit letztem Jahr steigt in Rio Grande do Sul die Nachfrage nach Deutschunterricht an staatlichen und privaten Schulen.
—– Überschwemmungen durch anhaltende Regenfälle. In Sao Paulo stehen mehrere Stadtviertel unter Wasser. Einige Bundesstraßen mußten gesperrt wer­den. In Minas Gerais sind 30.000 Menschen obdachlos geworden.
—– Die Wirtschaftsrezession bewirkt eine Expansion des Videomarktes (ohnehin schon an fünfter Stelle weltweit), denn Video ist eine der billigsten Formen, sich zu unterhalten. – Die “außerehelichen Beziehungen” nehmen dagegen mit stei­gender Rezession ab. Der Umsatz von Motels in Sao Paulo sank um 20 %, die Prostituierten verzeichneten einen “deutlichen Rückgang” des Geschäftes. – Nach Untersuchungen von SoziologInnen der USP (Universität Sao Paulo) führten Massenentlassungen in einem Vorort Sao Paulos zu einer stark vermehrten An­zahl von Schwangerschaften und zu erhöhtem Konsum von Telenovelas.
—– Das Ende des Ultimatums erlebe ich mit einigen FreundInnen vor dem Fern­seher. Ich habe das ungute Gefühl, daß ein wenig Enttäuschung mitschwingt, als nach dem Countdown nichts passiert. Auf Manchete wird diese Nacht “Stranger than Paradise” gezeigt, ständig unterbrochen von der Nachricht, daß der Krieg noch nicht begonnen hat.
—– Im Dezember verweigerte Orestes Quercia, Gouverneur von Sao Paulo, den Angestellten im Öffentlichen Dienst ihr 13.Gehalt. Das Geld hat er für die Wahl­propaganda seines Nachfolgers Fleury verpraßt, wird gemunkelt. Nach massiven Protesten zahlte Quercia wenigstens die erste Hälfte des 13.Gehaltes aus. Nun soll aber die Zahlung des Januar-Gehalts um einen Monat verschoben werden.
—– Xuxa, der beliebteste (Kinder-)Fernsehstar, verliert immer mehr an Popula­rität. Auf fast allen Programmen gibt es inzwischen Xuxa-Imitationen. Überhaupt sieht es für den Mediengiganten Globo derzeit gar nicht gut aus. Im Telenovela-Kampf hat ihm der Sender Manchete mit der Novela “Pantanal” Teile seines Stammpublikums abjagen können. – “Brasileiros e Brasileiras” vom Sender SBT, die angeblich brasilianischste Novela, in der nur die Unterschicht vertreten ist, war ein Flop. – An den ersten beiden Abenden nach Beginn des Krieges fallen sämtliche Novelas wegen der Kriegs-Sonderberichterstattung aus. Auf allen Programmen wird CNN übertragen, mit brasilianischer Direktübersetzung. Auch die Tageszeitungen bringen täglich Extrabeilagen oder Sonderausgaben zum Golfkrieg.
—– Am Morgen nach Kriegsbeginn spielen die Kinder auf der Straße vor dem Haus. Sie spielen Krieg: Amerika gegen Irak.
—– In einer Sondersitzung beschließt die Regierung ein Notprogramm zum Ein­sparen von Brennstoffen. Die Versorgung der Tankstellen mit Benzin und Öl wird um 10 % gedrosselt; Gaslieferungen werden um 22 % gekürzt. Tankstellen bleiben ab sofort von 20 Uhr bis 6 Uhr und an Sonn- und Feiertagen geschlossen. Die Gasflaschen enthalten statt 13 Kilo nur noch 10 Kilo; es darf nur noch eine Gasflasche pro KonsumentIn verkauft werden.In einer Live-Ansprache im An­schluß an die Krisensitzung versucht Collor, die Bevölkerung zu beruhigen. Die Öl- und Gasvorräte würden für einige Monate reichen, so daß kein Anlaß zu Pa­nik bestünde. Collor warnt davor, die Gasflaschen zuhause zu horten. In der letzten Nacht ist eine Bar in die Luft gegangen, in der Gasflaschen gelagert waren.
—– Die ersten Auswirkungen des Golfkriegs auf den Karneval in Rio: Der “Clube Monte Líbano”, in der Südzone Rios, wird nach 31 Aufführungen den Namen seines Galatanzes ändern, mit dem er in der Stadt bekannt geworden ist: “Uma noite em Bagdá” (Eine Nacht in Bagdad). Die Aufführung heißt jetzt: “Baile de Gala do Monte Líbano” (Galatanz des Bergs Libanon).
—– Natürlich ist auch Brasilien in das Geschäft mit Rüstungsexporten ver­wickelt. Von 1982 bis 1989 lieferte Brasilien Waffen für 3120 Millionen Dollar in Länder der sog. Dritten Welt und belegte damit den elften Platz in der Welt­rangliste der Waffenexporteure. Der Irak hat vor allem Panzerfahrzeuge und Raketen von Brasilien erhalten. Aber das erfahre ich erst in Deutschland.


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Anti-Imperialismus und Diplomatie

So richtig verstanden hatte es wohl niemand, als in der gespannten Zeit der rechtsextremen Offensive im Oktober/November vergangenen Jahres ausgerechnet der wichtigste Repräsentant der FSLN, der Ex-Präsident Daniel Ortega nicht im Lande war. Doch Ortega reiste in Friedensmission durch die Golfregion, während in Nicaragua ein Bürgerkrieg auszubrechen drohte. Angesichts der internen Probleme Nicaraguas wurde die Krise in der Golfregion erst relativ spät zum Hauptthema der Berichterstattung der nicaraguanischen Medien. Nur in “UNIVISION, einer in den USA produzierten spanischsprachigen Nachrichtensendung, die über den mittlerweile reprivatisierten Kanal 2 des nicaraguanischen Fernsehens allabendlich ausgestrahlt wird, erschienen schon seit Beginn der US-Truppenstationierung in Saudi-Arabien Bilder von Latino-US-Soldaten in der Wüste, die in die Kamera ihre Familie grüßten.
Doch zur echten, auch innenpolitischen Auseinandersetzung über den Golf-Konflikt kam es auch in Nicaragua erst, als der Ablauf des UN-Ultimatums kurz bevor stand. Während die Regierung Vorbereitungen traf, um möglichst schnell die nicaraguanischen Erdölreserven aufzustocken, reiste Daniel Ortega am 8.Januar erneut nach Jordanien und Bagdad, um wie andere internationale Politiker einen letzten Versuch zu einer Friedensinitiative zu starten. Landesinterne Begründung für die intensive Reisetätigkeit des Ex-Präsidenten war der Versuch, das im Esquipulas-Friedensprozeß und im Prozeß der Regierungsübergabe nach den nicaraguanischen Wahlen im Februar 1990 gewonnene internationale Prestige für den Frieden in die Waagschale zu werfen. “Auf den Spuren Carlos Andres Peres’,” so ein anderer Kommentar, sei Ortega unterwegs, um über diplomatische Aktivitäten die Aufnahme der FSLN in die Sozialistische Internationale vorzubereiten. Dafür sprechen die häufigen Treffen Ortegas mit Bonner SPD-Politikern wie Wischnewski und Brandt während seiner Reise.
Anders lesen sich hingegen die nach Kriegsbeginn veröffentlichten Stellungnahmen sowohl der FSLN als auch ihrer Parteizeitung, der Bamcada. In der Zeitung hieß es in einem Leitartikel: “Es ist ein verfluchter Krieg, weil er beschämend und ungerecht ist, sogar skandalös wegen der wirtschaftlichen, zahlenmäßigen und zerstörerischen Überlegenheit der Angreifer; weil er unmoralisch und zynisch ist, denn die niederträchtigsten wirtschaftlichen und politischen Interessen werden als das gemeinsame Wohl der ganzen Menschheit ausgegeben. Durch nichts ist der unbarmherzige Charakter und die doppelte Moral dieses Krieges so deutlich zum Ausdruck gekommen wie durch die Erlaubnis des Sicherheitsrates der UNO für die Aggression gegen Irak, weil er Kuwait besetzte, ein Land, das eine Erfindung der Ölgesellschaften auf irakischem Territorium ist.” (zit. nach ANN, 23.1.91)So versucht dieser Artikel, durch die Übernahme der irakischen Version von der historischen Zugehörigkeit Kuwaits zum Irak den offensichtlichen Konflikt zwischen zwei Grundprinzipien der sandinistischen Revolution zu umgehen: nationale Souveränität und Anti-Imperialismus. Beide Prinzipien haben in Zentralamerika einen natürlichen Feind, die USA. So ist die Tatsache, daß es diesmal die Führung des von Daniel Ortega zum “Brudervolk” erklärten Irak war, die mit der Besetzung Kuwaits ganz offensichtlich die nationale Souveränität eines Nachbarlandes verletzte, im politischen Diskurs einer zentralamerikanischen Befreiungsbewegung zumindest schwer unterzubringen. Der Feind meines Feindes ist mein Freund?
Die Nationalleitung der FSLN gibt in ihrer ersten offiziellen Stellungnahme vom
18. Januar wesentlich differenziertere und moderatere Töne von sich. Es wird betont, daß dieser Krieg ums Öl besonders die Länder der “Dritten Welt” trifft, die weitere Steigerungen des Ölpreises nicht verkraften können. Das Volk Nicaraguas sei wie alle anderen Völker der Welt zur Geisel dieses Krieges geworden.
Die FSLN verurteile die Invasion des Irak in Kuwait genauso wie die US-Invasionen in Panama, Grenada und Nicaragua selbst. Es seien nicht alle diplomatischen Möglichkeiten ausgeschöpft worden, daher müsse sofort ein Waffenstillstand geschlossen werden, um die Suche nach einer politischen Lösung doch noch einmal zu ermöglichen.
Doch wer das Wechselspiel zwischen Barricada-Kommentaren und Nationalleitungserklärungen in Nicaragua über längere Zeit verfolgt hat, wird einschätzen können, daß die Solidarisierung mit dem Irak dem politischen Gefühlsleben der antiimperialistisch-radikalen FSLN-Basis weit mehr entspricht als die diplomatischen Formulierungen der Nationalleitung.
Anders die konservative und regierungsnahe PRENSA, die voll auf US-Kurs steht und Hussein als ein von seinen Eltern verlassenes Kind charakterisierte, daß in jedem Lebensalter Beweise für seine Grausamkeit erbracht habe. Stolz werden in den USA lebende NicaraguanerInnen gezeigt, die als Soldaten der US Armee im Golf eingesetzt sind.
Bereits während der zweiten Jahreshälfte1990 waren die Benzinpreise in Nicaragua auf den vorher unerreichten Stand von 2´5US$ gestiegen. Der Verbrauch ging um 20% zurück und die Inflation kletterte weiter -der Benzinpreis hat eine Leitwirkung für die anderen Preise.


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Ein Jahr Demokratie – geht es uns jetzt besser?

Im ersten Jahr nach den ersten demokratischen Wahlen seit 20 Jahren war es unsere Hauptaufgabe, den Demokratisierungsprozess in das alltägliche Leben der Menschen einzubringen.Stadtverwaltungen und Nachbarschaftsorgansiatioen waren noch von der Diktatur eingesetzt und zum Teil wurden auch Räumlichkeiten und Geldmittel nur für die Anhänger Pinochets zur Verfügung gestellt. Aber, um ehrlich zu sein, die Erfahrung von 17 Jahren autoritärem Regime hat auch in vielen Organisationen sehr undemokratische Strukturen hervorgebracht, Vorsitzende, die sich als Alleinherrscher gebärden, Vetternwirtschaft und gönnerhafte Manieren – und viel autoritäres Gehabe.
Das heißt, wir müssen noch vieles verändern und wir müssen lernen, uns und unser Handeln kritisch zu betrachten und in Frage stellen zu lassen. Und wir müssen die Volksorganisationen entmystifizieren, mit denen wir zusammenarbeiten.
Noch viel schwieriger ist die wirtschaftliche Lage: der Verarmungsprozess der untersten Klassen hat sich 1990 nicht verlangsamt, das Jahr endete mit der hohen Inflationsrate von über 30% (“Inflationsrate der Armen” auf der Basis der 64 wichtigsten Konsumgüter, die die Ärmsten benötigen). Die Arbeitslosenrate sank keineswegs, doch die Löhne sind real niedriger als im Vorjahr.
Bei unserer täglichen Arbeit mit den pobladores in Santiago stellen wir fest, daß es den Leuten schlechter geht als vor einem Jahr: Ende November führten wir eine kleine Umfrage durch bei den Frauen der Volksküchen von Renca/Hirmas. Sie und ihre Familien haben – wenn sie alle Einkünfte aus allen unterschiedlichen Tätigkeiten aller Familienmitglieder, der Erwachsenen, Jugendlichen und Kinder, zusammenzählen und die kleine Unterstützung durch die Stadtverwaltung dazuzählen – ein monatliches Einkommen von $ 19 000 (=ca 100 DM). Der staatlich festgelegte Mindestlohn liegt derzeit bei $ 26 7oo.
Vor einem Jahr, ebenfalls Ende November, machten wir die gleiche Umfrage bei fast den gleichen Leuten. Damals war das Ergebnis, daß sie pro Familie monatlich über ca. $ 16 300 verfügten. Wenn wir die Preissteigerungen für die Hauptnahrungsmittel der Armen und ihre sonstigen wichtigsten Ausgaben (Busfahrten, Schulkosten, Elekrizität, Wasser, Gas) mit nur 35% ansetzen – in Wirklichkeit ist die Verteuerung für die meisten noch höher -, können wir sagen, daß die Familien in Renca monatlich $ 22 005 bräuchten, um unter den gleichen armseligen Bedingungen wie in den letzten Monaten der Diktatur weiterleben zu können – aber sie verfügen nur über durchschnittlich $ 19 000 monatlich.
Die Gruppe Gesundheitserziehung von KAIROS, die die Kinder des Kindergartens in San Luis betreut, alarmierte uns mit der Information, daß fast 80 % der untersuchten Kinder Symptome der Unterernährung, Untergewicht und Entwicklungsstörungen aufweisen. In anderen Worten: Sie bezahlen den Preis für den Hunger, den sie in den ersten Lebensjahren erleiden.
Die schreckliche soziale Schuld bedeutet, daß es 5,5 Millionen (5 500 000) “Arme” in Chile gibt, 44,4 % der Gesamtbevölkerung (1970 betrug der Prozentsatz der “Armen” im Land rund 20 %). Die Forscher von CEPAL, die diese Zahlen vorgelegt haben, nennen als schlimmstes Resultat dieser Verarmung des chilensichen Volkes die Zahl von 16,8 % der Bevölkerung, die in “extremer Armut” leben – d.h., diese Menschen können nicht einmal die Grundernährung von 2 187 Kalorien pro Tag sichern.
Es wäre ungerecht, der “Regierung des Übergangs” von Patricio Aylwin die Schuld an dieser dramatischen Entwicklung zu geben – sie ist ein Erbe der “goldenen Jahre” des ökonomischen Modells der Diktatur, das Erbe einer neoliberalen Politik – und man kann manchmal die Klage hören, daß das alte Regime der neuen Regierung noch nicht mal die schwarze Kasse für die Briefmarken überlassen hat.
Aber es ist uns wichtig, festzustellen, daß neben dem begrenzten politischen Wandel, der in Chile stattfand, das hoch gelobte “Entwicklungsmodell” der neuen Regierung im Makrobereich “Fortschritte” erzielt, Rekordzahlen bei der Ausfuhr von Rohstoffen, Obst, ganzen Wäldern und den letzten Meeresfrüchten und Fischen. Heute können wir stolz sein, außerordentliche Gewinnspannen zu haben in einem Land, in dem es pro Kopf die gleiche Anzahl Farbfernseher gibt wie in den USA und eine beeindruckende Anzahl von Autos und Videogeräten. Wir können stolz sein, daß jeder mittlere Angestellte einer Bank oder eines Betriebes, der sich für wichtig hält, und sogar Kollegen von Hilfsorganisationen, mit drahtlosen Telefonen herumlaufen … aber gleichzeitig ist die Verarmung ebenso beeindruckend wie die “Entwicklung”, das neue Elend ist die arme Schwester des strahlenden Zwillings.
Und bis jetzt sehen wir weit und breit keine Vorschläge oder auch nur den Willen der Verantwortlichen in der Regierung, – und natürlich erst recht nicht bei den Protagonisten des derzeitigen ökonomischen Modells-, ein alternatives Entwicklungsmodell zu fordern und zu fördern – ein Modell, das es wirklich ermöglichen würde, die Armut zu überwinden.


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Wechselnde Konjunkturen im “Vormärz”

Erst Reformen – dann Waffenstillstand

Zur Erinnerung: Im April 1990 vereinbarten die beiden Konfliktparteien in Genf, politische Reformen in den Bereichen Armee, Menschenrechte, Verfassungs-, Justiz- und Wahlsystem sowie Veränderungen der sozialen und ökonomischen Lage zu beschließen. Dabei sollte der UNO-Generalsekretär bzw. sein Vertrauter Alvaro de Soto eine “sehr aktive Rolle” spielen. Neu in der Kette der erfolglosen Verhandlungsrunden seit 1984 war auch die Übereinkunft, daß die oppositio­nellen Parteien und Organisationen sich an dem Verhandlungsprozeß beteiligen sollten. Erst nach diesen Übereinkünften – so die Vereinbarung von Genf – könne es zu Verhandlungen über einen Waffenstillstand und die Integration der FMLN in das legale politische Leben des Landes kommen. Diese Reihenfolge wird von de Soto in einem Beitrag für die Wall Street Journal vom 11. Januar besonders unterstrichen: “Selbstverständlich ist ein Waffenstillstand vor der Verabschie­dung tiefgreifender Veränderungen wenig wahrscheinlich.”
Schon nach den ersten Zusammenkünften wurde deutlich, daß die Militärs und die Regierung nicht die geringste Bereitschaft zeigten, in dem zentralen Punkt der Säuberung der Armee einzulenken. Im Oktober, als nicht mehr zu verheimli­chen war, daß die Ermittlungen gegen die Verantwortlichen und Hintermänner des Mordes an den Jesuiten im Sande verlaufen würden, verkündete die US-Regierung die Kürzung der Militärhilfe um 50% auf 42,5 Mio US-$. Einen Monat später lancierte die FMLN eine begrenzte militärische Offensive, in der sie sich auf militärische Ziele in wenig besiedelten Regionen konzentrierte um zu ver­hindern, daß die Armee die Zivilbevölkerung als Faustpfand benutzt, wie sie es mit den Bombardierungen von San Salvador im November 1989 getan hatte. Dabei setzte die FMLN erstmals Boden-Luft-Raketen ein, die die absolute Luft­hoheit der Armee empfindlich einschränkten. Ziel der FMLN-Aktivitäten ein Jahr nach den Jesuitenmorden war die Bestrafung der Militärs und ein verstärkter Druck zugunsten eines Verhandlungsfortschrittes noch vor den Wahlen. Das dahinter stehende Kalkül war durchaus plausibel: Immerhin hatte die 1989er Offensive den Weg für die Verhandlungen unter UNO-Aufsicht geebnet.

Teilnehmen oder nicht?

Die Verknüpfung der Verhandlungen mit den Märzwahlen tritt seit Monaten immer stärker in den Vordergrund. In der Frage Teilnahme der Opposition oder nicht scheiden sich jedoch die Geister (Vgl. LN 198). Die KP-nahe Oppositions­partei UDN kündigte bereits ihre Wahlteilnahme an, während verschiedene Gewerkschaften und Gewerkschaftsverbände betonen, daß die Wahlen in der aktuellen Situation keinerlei friedensstiftende Funktion haben könnten. Auf der anderen Seite geben einzelne Funktionäre des von den Christdemokraten (PDC) gegründeten Gewerkschaftsverbandes UNOC und einer weiteren ArbeiterInnen­vertretung (CTS) bekannt, daß sie auf der Liste der PDC kandidieren werden, was die Zusammenarbeit mit der Mehrheit der Gewerkschaften gefährdet. Diese befürchten wie die FMLN, daß die bescheidenen Reformen des Wahlrechtes (z.B. Erhöhung der Parlamentssitze von 60 auf 84, verstärkte WählerInnenregistrie­rung, begrenzte Wahlpropaganda) kaum ausreichen werden, um das Klima des Terrors zu beseitigen. Darüber hinaus ist auch kaum zu erwarten, daß die Regie­rungspartei ARENA sich an all die Vereinbarungen halten wird. So beklagten die wichtigsten Oppositionsparteien (PDC, UDN und das linke Wahlbündnis Con­vergencia Democrática – CD -) bereits Anfang Januar den vereinbarungswidrigen frühen Beginn der Wahlkampagne durch ARENA.
Um wählen zu können, müssen die Wahlberechtigten im Wahlregister stehen. Wer registriert ist, kann einen Wahlausweis beantragen, der erst die Stimmab­gabe ermöglicht. Gemeinsam mit ARENA ist beschlossen worden, daß alle, die lediglich im Wahlregister stehen, wählen können, wenn die Differenz dieser Gruppe zu jenen, die bereits über einen Wahlausweis verfügen, am 17. Februar mehr als 10% ausmacht. Ob sich die Regierungspartei am 17. Februar noch an diese Vereinbarung erinnern möchte, darf ebenfalls bezweifelt werden. Mögli­cherweise ist der Bruch dieser Übereinkunft die letzte Klippe, an der die Opposi­tion (gemeinsam oder einzelne Parteien?) aus dem Wahlprozeß aussteigen kön­nen, um diesem Urnengang insgesamt seine Legitimation zu entziehen.
Mittlerweile haben PDC und CD (am 19. Januar) in einer gemeinsamen Erklä­rung verbreiten lassen, daß die Auflösung aller paramilitärischen Gruppen die Mindestbedingung für ihre Teilnahme an den Wahlen sei. Ob diese – unter den gegebenen Bedingungen – unrealistische Forderung einen Ausstieg dieser Par­teien vorbereiten soll, darf allerdings angesichts der wankelmütigen PDC in Frage gestellt werden. Mit wachsender Spannung wird darauf gewartet, daß die FMLN ihre Position zu den Wahlen definiert.

Wechselwirkungen

Das Problem liegt auf der Hand: Aller Voraussicht nach werden die Wahlen stattfinden. Sie werden keinesfalls frei und gleich und vermutlich noch nicht einmal geheim sein (Vgl. LN 191). Dennoch wird der Ausgang der Wahlen erhebliche Rückwirkung auf den Verhandlungsprozeß haben, wenn die Opposi­tionsparteien teilnehmen und damit grundsätzlich ihr Einverständnis dokumen­tieren. Gewinnt ARENA, wird sie mit einem Hinweis auf das Wahlergebnis wei­terhin Verhandlungsfortschritte torpedieren. Gewinnt trotz aller Behinderungen und Einschüchterungen die Opposition in der einen oder anderen Konstellation, könnte eine neue und durchaus vielversprechende Dynamik in diesem Prozeß entstehen.
In diese außerordentlich schwierige Situation fielen nun im Januar einige bemer­kenswerte Ereignisse:
– Mit dem nicaraguanischen Raketendeal, der nur durch die offene Kollaboration der Sowjetunion mit den USA an die Öffentlichkeit geraten konnte, bekommen die USA das erste Mal den langersehnten Beweis, daß nicaraguanische Stellen (Einzelpersonen?) die FMLN mit Waffen versorgten.
– Am 2. Januar schoß eine FMLN-Einheit einen Hubschrauber ab, in dem sich drei US-Militärberater befanden. Wie die FMLN inzwischen zugab, überlebten zwei von ihnen den Absturz; sie wurden später im Widerspruch zu den Genfer Konventionen zur Behandlung von Kriegsgefangenen getötet.
– Baker und Schewardnadse gaben eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie – eindeutig gegen den Geist der vereinbarten Verhandlungslogik – einen Waffen­stillstand noch vor den Wahlen fordern.
Die Ereignisse wurden weidlich ausgeschlachtet, um die FMLN als politische Kraft zu marginalisieren. Natürlich fragt niemand, was die US-Berater im Hub­schrauber taten; natürlich schweigen die USA zu den Folterungen an FMLN-Angehörigen in den salvadorianischen Kerkern, niemand erinnert sich mehr an die Aussagen ehemaliger Angehöriger der salvadorianischen Sicherheitskräfte, nach denen US-Militärberater bei Folterungen zugegen waren, diese sogar ange­ordnet und geleitet haben. Die Zeichen stehen auf Sturm; Schadensbegrenzung ist angesagt. Die FMLN hat bereits ein unabhängiges Gerichtsverfahren ange­kündigt, in dem mit großer Wahrscheinlichkeit die zwei mutmaßlichen Mörder der Militärberater verurteilt werden. Diese schnelle Reaktion wird von vielen Seiten positiv aufgenommen, zumal am 9. Januar zwei Staatsanwälte, die mit dem Fall der Jesuiten befaßt waren, zurückgetreten sind. Sie begründeten ihren Schritt mit der Unmöglichkeit, die Ermittlungen gegen den Widerstand des Generalstabes zu führen. Nur die Militärs besäßen den Schlüssel zur Enthüllung der Hintergründe des Massakers.

Kein “Jesuitenfall der FMLN”

Erzbischof Rivera y Damas und Oppositionspolitiker lobten den Rücktritt der Staatsanwälte als sehr mutig und strichen die Unterschiede bei den Ermittlungen im Fall der Jesuiten und der Militärberater heraus. Mit diesen Äußerungen traten sie auch Vorwürfen entgegen, die FMLN habe nun in ihren eigenen Reihen einen “Jesuitenfall” produziert und damit jede Legitimation verwirkt, Menschenrechts­verletzungen der Armee anzuklagen.

Die Einsamkeit der “Dritten Welt”

Die angekündigte Wiederaufnahme der vollen Militärhilfe durch US-Außenmi­nister Baker aufgrund der obengenannten Vorkommnisse stieß in El Salvador und in Washington auf Protest und Besorgnis. Die Washington Post warnte am 8. Januar davor, kurz vor den Wahlen eine so eindeutige Wahlkampfunterstützung für ARENA zu leisten wie es die Wiederaufnahme der Hilfe wäre. Repräsentan­ten des Gewerkschaftsdachverbandes UNTS und anderer Einzelgewerkschaften betonten, daß die Wiederaufnahme der Militärhilfe lediglich die Jesuitenmörder ermutigen und stärken würde und eine politische Lösung des Konfliktes in weite Ferne rücken würde. Allerdings ist die Entscheidung noch einmal bis nach den Wahlen vertagt worden. Das Signal an die FMLN ist deutlich: “Wenn Ihr die Wahlen boykottiert, wird das Geld wieder zu 100% ausgezahlt werden”. Darüber hinaus wird die FMLN implizit aufgefordert, innerhalb der nächsten 60 Tage einem Waffenstillstand zuzustimmen – unabhängig vom Verlauf der Verhand­lungen. Falls es in dieser Frist zu keinen substantiellen Verhandlungsfortschritten kommt, widerspräche ein Waffenstillstand Geist und Buchstabe des UNO-Ver­handlungsprozesses, den sowohl die USA wie die Sowjetunion vorgeben zu unterstützen.


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Rechtsstaat und Revolution

Aufgeflogen war die Raketenlieferung an die FMLN, nachdem das salvadorenische Militär Reste einer von der FMLN abgefeuerten SAM 14-Rakete gefunden und an die USA weitergeleitet hatte. Die Sowjetunion identifizierte auf Anfrage der USA die Rakete anhand ihrer Fabrikationsnummer als Teil einer Raketenlieferung an Nicaragua aus dem Jahre 1986.
In ungewöhnlich scharfer Form verurteilte die Generalkommandatur des Sandinistischen Volksheeres die eigenmächtige Raketenlieferung durch vier ihrer langgedienten Offiziere. Deren Vorgehen stelle einen Angriff auf den revolutionären Prozeß in Nicaragua und den Frieden Zentralamerikas dar. Ex-Präsident Daniel Ortega warf den inkriminierten Offizieren Unverantwortlichkeit vor und befürchtete, daß die USA nunmehr die Sowjetunion dazu drängen werde, alle Raketen aus Nicaragua zurückzufordern..
Das sowjetische Militär entsandte wenige Tage nach Bekanntwerden der Waffenlieferung eine Kommission nach Nicaragua: laut Vertrag durften die von der Sowjetunion an Nicaragua gelieferten Waffen nicht weitergegeben werden.

Die Entpolitisierung des EPS

Die Raketenaffaire lieferte den USA und der ultrarechten Fraktion in der regierenden Rechtsallianz U.N.O. (Nationale Oppositions-Union) um den Vizepräsidenten Godoy neue Argumente in ihrem Versuch, den sandinistischen Ex-Verteidigungsminister Humberto Ortega von der Spitze des EPS abzulösen und eigene, von ihnen selbst kontrollierte Einheiten aufzubauen.
An der integrität der nach der Revolution aufgebauten Streitkräfte hat die FSLN naturgemäß ein vitales Interesse. Die ‘Professionalisierung” des EPS, d.h. sein Charakter als nationales, “unpolitisches”, Verfassung und Regierung verpflichtetes Militär, stand laut Humberto Ortega sogar unabhängig von der sandinistischen Wahlniederlage des vergangenen Februars auf der politischen Tagesordnung. Kürzlich konnte die FSLN zwei Erfolge im ständigen Tauziehen um das EPS erringen: Bei der Haushaltsdebatte Ende letzten Jahres wollten die Abgeordneten der U.N.O.-Parteien drastische Mittelkürzungen für das EPS verfügen, scheiterten aber am Veto der Präsidentin Violeta Chamorro und einer neuerlichen Abstimmung, die die Militärkürzungen in erheblich geringerem Umfang vornahm. Zudem wurde die gesamte EPS-Führung von der Präsidentin in ihren Ämtern wieder bestätigt, das Verteidigungsministerium bleibt weiterhin von der Präsidentin selbst verwaltet.
Während die Attacken von Verbänden der ehemaligen Contra in verschiedenen Landesteilen anhalten und die Kriminalitätsrate weiterhin steigt, schreitet die nach den Wahlen zwischen neuer Regierung und FSLN vereinbarte Reduzierung des EPS voran. Von 90.000 im Januar 1990 ist das EPS nun auf 28.000 Mitglieder. und zur kleinsten Armee Zentralamerikas geschrumpft. Zudem geben viele PolizistInnen ihren Dienst in der Sandinistischen Polizei auf, da die Gehälter kaum zum Überleben reichen.

Revolutionäre Prinzipien im Wandel der Zelten

Trotz der nach wie vor gespannten Situation im Land und der permanenten Versuche von seiten der Ultrarechten, die Sicherheitskräfte zu destabilisieren, wurde die Verhaftung der 4 Offiziere. die die Raketenlieferung an die FMLN mit revolutionären Prinzipien begründeten, vor allem aber der verurteilende Ton des entsprechenden EPS-Kommuniqués von Teilen der FSLN scharf kritisiert. Die “Sandinistische Jugend solidarisierte sich mit den Verhafteten und berief sich auf das Verfassungsgebot der internationalen Solidarität. Arián Meza, der Rechtsberater der sandinistischen Gewerkschaft CST,erlaubte sich den Hinweis, daß auch der Befreiungskampf der FSLN illegal war, und verwahrte sich gegen die moralische Disqualifizierung der Verhafteten, wie sie das EPS-Kommuniqué nahegelegt hatte. Auch innerhalb des EPS rührt der Waffentransfer an zweifelsohne bestehende Meinungsverschiedenheiten, die mit der Entlassung
des dem radikalen Flügel der FSLN zuzurechnenden Luftwaffenchef Pichardo im vergangenen Jahr (vgl. LN 196) ihren Höhepunkt erfahren hatten. Pikanterweise zählt mit dem schon im September in Ruhestand versetzten Ex-Major Odell Ortega einer der engsten Vertrauten Pichardos zu den Verhafteten. “Im EPS bekennt niemand mehr Farbe”, machte Odell seinem Unmut über die Entpolitisierung des EPS Luft.
Einig waren sich die meisten KommentatorInnen darin, daß die Unterstützung der FSLN für den Befreiungskampf E1 Saivadors in der Forcierung einer Verhandlungslösung bestehen müsse. Die Waffenlieferungen seien ein Verstoß gegen das Abkommen von Esquipulas, der nicht damit begründet werden könne, daß sich außer Nicaragua kein Land der Region, am wenigsten die USA an Esquipulas gehalten hätten.

Antiimperialismus und Soziale Marktwirtschaft -Die Programmdebatte in der FSLN

Die Diskussion um den Raketentransfer wird vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um die Neuorientierung sandinistischer Politik geführt, die -wenige Monate vor dem Programmkongreß der FSLN -zunehmend an Tempo und Scharfe gewinnen. Manche Kommentare konstatierten in den vergangenen Wochen eine tiefe Identitätskrise der FSLN, andere fanden gerade in der Gegensätzlichkeit der Positionen Positives.
Victor Tirado, Mitglied der nunmehr 7-köpfigen Nationalleitung der FSLN, erklärte den Antiimperialismus mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus für gestorben und sah in freien Wahlen, der sozialen Marktwirtschaft und regionaler Zusammenarbeit den derzeitigen Rahmen für die Politik Nicaraguas. “Was wir in der Vergangenheit als bürgerlich und reaktionär einschätzten, müssen wir heute als Mittel des revolutionären Kampfes im Rahmen der internationalen Legalität betrachten.” Nationalleitungs-Kollege Luis Carrión widersprach Tirados These vom verblichenen Antiimperialismus entschieden: “Der Antiimperialismus verliert erst dann seine Gültigkeit,. wenn der Imperialismus aufhört, Imperialismus zu sein.”
Die Raketenaffaire hat jedenfalls weiteren Zündstoff in die programmatischen Diskussionen der FSLN gebracht.
Die FMLN äußerte sich sehr zurückhaltend zum Waffentransfer. In einem Kommuniqué wies sie die Aussage der verhafteten nicaraguanischen Militärs zurück, FMLN-Kommandant Villalobos sei direkt an der Abwicklung des Geschäftes beteiligt gewesen: vielmehr hätten mittlere Führungskader in der Angelegenheit auf eigene Faust gehandelt.
Immerhin bedeuten die Boden-Luft-Raketen, wie die FMLN mit ihrer Offensive vom vergangenen November bewies, einen enormen militärischen Trumpf. Ein beträchtlicher Teil der SAM-Raketen stammt übrigens nicht aus Beständen des EPS, sondern -wie FMLN-Kommandant Facundo Guardado in einem Interview betonte -von den USA: die hatten die Raketen an die Contra geliefert, welche sie dann an die FMLN verkaufte.
Das Verhalten der UDSSR, die den USA bereitwillig bei der Identifizierung der Raketen zur Hand ging und sich nur sehr zurückhaltend zur US-Politik in E1 Salvador. und Zentralamerika äußerte, wurde in Kommentaren der sandinistischen Presse als unangenehmer Nebenaspekt der Raketenaffaire bewertet. Der Rechtsberater der Nationalen Arbeiterfront (FNT) Augusto Zamora schrieb in Barricada: “Was die UDSSR gemacht hat, zeigt, wie einsam wir jetzt in der Dritten Welt sind. Mit Bestürzung erleben wir die Kollaboration der Mächtigen, bei der wir, die Schwachen, die Verlierer sind.”
Diese Bitterkeit war in den meisten Kommentaren zu spüren; gerade auch in jenen, die keine Alternative zum Vorgehen der EPS-Führung sahen in einer Situation, da die Stabilität des nicaraguanischen Militärs, abhängig von seiner Loyalität zu Verfassung und Regierung, unabdingbar für die Stabilität Nicaraguas ist.


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Wirtschaft: Enormer Rückschritt und keine Hilfe aus dem Ausland

LN: Wie läßt sich die derzeitige wirtschaftliche Situation Nicaraguas charakterisieren?

Rosa María Renzi: Ich würde sagen, daß die Wirtschaft dieses Jahr einen enormen Rückschritt erfahren hat. Das wichtigste Problem ist der hyperinflationäre Prozeß. Wir glauben, daß die Inflation dieses Jahr mit Ca12.300 Prozent abschließen wird. Das bedeutet im Jahresdurchschnitt49% Inflation monatlich. Das läßt den Aufbau einer stabilen internen ökonomischen Situation nicht zu. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einige sind objektiv gegeben: Das Staatsdefizit betrug 1989 5% des Bruttoinlandsproduktes (BIP);1990 könnte es bei 10-12% liegen. Das hebt den Inflationsdruck extrem an.
Dennoch glaube ich, daß es einige subjektive Gründe gibt, die schwerer wiegen, und das ist die Erwartung der Bevölkerung im allgemeinen. Es gab keine klaren Signale, kein Programm, widersprüchliche Aussagen in punkto Wirtschaft, große Unsicherheit über das Erlangen ausländischer Hilfe…

Die Inflation in den Köpfen.

LN: Warum ist Nicaragua zur Zeit das teuerste Land Zentralamerikas?
Warum hat auch der Dollar so rapide an Kaufkraft verloren?

R.M.R.: Zuerst die Überbewertung des alten Cordoba: Das hat dazu geführt, daß die nationalen Produkte gegenüber den Importen teurer sind. Zweitens hat die Dollarisierung des Landes die Menschen jeglichen Maßstab verlieren lassen, das Preisgefüge ist durcheinander. Die Existenz mehrerer Währungen -eines alten Cordobas, der ständig abgewertet wird, eines neuen Cordobas, der immer noch nicht eingeführt ist -die Zweifel, ob er nun eine 1:1-Parität zum Dollar haben wird oder nicht, bewirken, daß die Inflationserwartung der Bevölkerung sich auf die neue Währung und sogar auf den Dollar überträgt. Weil die Bevölkerung sich vor zukünftigen Abwertungen schützen will, die es auch für den Gold-Cordoba geben könnte, erhöhen sie auch die Preise in Gold-Cordoba ständig. Die Leute wissen, daß es keine Reserven gibt, um die 1:1-Parität aufrechtzuerhalten. Die wenigen, die Gold-Cordoba erhalten, wechseln sie sofort in Dollar, denn sie wissen, daß das die einzige Währung ist, die einigermaßen den Wert behält. Es ist praktisch eine “Panamaisierung”Nicaraguas, was den Geldumlauf angeht.

Vom Versagen der staatlichen Steuerungsinstrumente

LN: Als ehemalige Mitarbeiterin des Planungsstabes kennen Sie die Instrumente sehr genau, die dem Staat zur Steuerung der Wirtschaft zur Verfügung stehen. Welche Instrumente könnten jetzt benutzt werden, und mit welcher Zielsetzung?

R.M.R.: Das Problem ist, daß viele Instrumente nicht die gewünschten Ergebnisse zeigen. Die sandinistische Regierung hat 1989 eine sehr dynamische und aktive Wechselkurspolitik betrieben. Dennoch ist die Inflation während des gesamten Jahres weniger gestiegen als die Abwertung, so daß es eine reale Abwertung gegeben hat und die Exporte gesteigert wurden. In diesem Jahr, in dem die Regierung das Gleiche tun wollte, hat die Inflation die gesamten Gewinne, die durch die Wechselkurspolitik erzielt werden sollten, aufgefressen.
Das hängt also nicht nur von der Benutzung der Steuerungsinstrumente ab. Die Maßnahmen können noch so rigide sein, aber wenn sie die soziale Stabilität in Gefahr bringt, sind sie kontraproduktiv. Es muß ein Mittel gefunden werden, um wirtschaftliche Stabilität und gleichzeitig positive soziale Effekte zu erreichen, damit nicht eine soziale Destabilisierung die wirtschaftliche Entwicklung in Gefahr bringt.

International ins Abseits gedrängt

LN: Obwohl es in Nicaragua einen politischen Wechsel im Sinne der kapitalistischen Industrieländer gegeben hat, stellt sich die Situation der Finanzhilfe überaus schwierig dar. Welche Bedeutung haben in diesem Sinne die Veränderungen in Osteuropa?

R.M.R.: Große. Einerseits, weil die Hilfe der sozialistischen Länder vor allem in den letzten fünf Jahren für die Stabilität Nicaraguas -wenn man davon überhaupt sprechen kann -entscheidend war. Die Erdölversorgung war komplett von der UdSSR und den anderen sozialistischen Länder garantiert, und Rohstoffe, Maschinen, Ersatzteile und andere Materialien kamen zu sehr günstigen Bedingungen aus diesen Ländern.
In diesem Jahr waren bereits einige Auswirkungen zu spüren, allerdings noch in geringerem Ausmaß. Von allen Hilfen war die sowjetische die wichtigste, und diese war bis zum Jahr 1990 vertraglich festgelegt. Dieses Jahr wurden 300.000 t Rohöl importiert. Die restlichen Länder trugen nicht mehr zur Versorgung bei, aber die aus der UdSSR gelieferte Menge bedeutet 40-50% der benötigten Jahresquote. Und auch die anderen Waren sind -mit einigen Schwierigkeiten -eingetroffen. Es wird sehr schwierig sein, für das nächste Jahr die gleichen Bedingungen zu erhalten.
Außerdem konzentrieren sich die Interessen der Welt auf die Länder des Ostens, die aufgrund ihrer Strukturen eine schnelle Amortisierung von Investitionen garantieren.

LN: Die “Konzertierte Aktion”ist hier oft halb im Scherz als “nicht-traditionelles Exportprodukt” bezeichnet worden, um dem Ausland vorzuführen, es gebe in Nicaragua soziale und politische Stabilität. Durch die Aktionen der Contra im November 1990 ist sehr deutlich geworden, daß das nicht so ist. Wie sehen Sie also jetzt die Wirkung der “Konzertierten Aktion” auf mögliche ausländische Geldgeber?

R.M.R.: Obwohl zunächst die “Konzertierte Aktion” tatsächlich im Hinblick auf ihre Außenwirkung initiiert wurde, um irgendein Papier zu unterschreiben und damit hausieren zu gehen, hat die Praxis den Inhalt verändert. Wenn Du Dich erinnerst: An der ersten Sitzung nahmen die FSLN, bzw. ihre Organisationen, nicht teil. Dann gab es einen Prozeß der Annäherung und der Verhandlung und schließlich dauerte der ganze Vorgang, den man auf eine Woche geplant hatte, mehr als einen Monat. Ich würde sagen, daß das Endprodukt schließlich nicht mehr nur das Papier fürs Ausland ist, sondern tatsächlich der erste Schritt, um ein wenig ein Klima der politischen und sozialen Stabilität in diesem Land zu schaffen. Die Bevölkerung hat hier seit dem Amtsantritt der neuen Regierung praktisch nicht eine Woche Ruhe gehabt, wo jemand hätte sagen können: “Gut, jetzt an die Arbeit”. Ich glaube, daß die “Konzertierte Aktion” hier einen Spielraum geschaffen hat.
Trotzdem beweist das Treffen der Geberländer in Paris, daß das Ausland nicht wegen der “Konzertierten Aktion” plötzlich Antworten bereit hält. Sie wollen zunächst einmal sehen, ob es funktioniert. Der Konflikt in der V.Region (s. LN 198)war nicht sehr hilfreich. Für Paris wurde ein Wirtschaftsprogramm verlangt, und bevor sie nicht klare erste Resultate gesehen haben, werden sie gar nichts geben. Deshalb glaube ich, daß die wirtschaftliche Situation im nächsten Jahr sehr kritisch wird, vor allem in der ersten Jahreshälfte, denn wenn die nächste Konferenz im März stattfindet, wird kaum vor Juni Geld hier eintreffen. Es gibt andere, die auf neue Mechanismen mit der Weltbank für neue Kredite vertrauen. Das ist natürlich Quatsch, denn wenn man sich diese Kredite anschaut, dann sind sie alle für die Schuldentilgung da.

FSLN -noch kein Wirtschaftskonzept

LN: Die internationalen Bedingungen sind objektiv gegeben, für jede nicaraguanische Regierung. Was wäre denn das Wirtschaftskonzept einer FSLN-Regierung nach gewonnenen Wahlen gewesen?

R.M.R.: Tatsächlich ist es so, daß unser Konzept noch auf einer nicht so stark veränderten Weltsituation aufbaute. Die Ereignisse in Osteuropa sind in so schneller Abfolge eingetreten, wie sie niemand jemals vorausgesehen hätte. Die FSLN wußte -die Perestroika hatte ja schon begonnen -daß wir in einen schwierigen Prozeß eintreten würden. Aber wir glaubten, daß die Anpassungsmaßnahmen des Jahres 1990 wie eine Visitenkarte gegenüber der internationalen Gemeinschaft und gegenüber den internationalen Finanzorganisationen wirken würden.
Wir glaubten, obwohl wir den Marktmechanismen mehr Gewicht gaben, daß der Staat nach wie vor eine wichtige Rolle spielen müsse: ein orientierender und steuernder Staat, der sich vor allem um die ärmsten Sektoren kümmert. Wir dachten an ein kombiniertes Modell.

LN: Hat sich die Diskussion innerhalb der FSLN über die Wirtschaftspolitik in den letzten Jahren verändert oder gab es bis zum Schluß die gleiche Fraktionierung einer sozialistischen Orientierung nach altem Schema auf der einen und eines “pragmatischen” Flügels auf der anderen Seite? Die Ergebnisse dieser Differenzen waren ja auch, daß die Anpassungsprogramme von 1985 und 1988 nie radikal durchgeführt, sondern ziemlich halbherzig angegangen wurden.
R.M.R.: Es gab tatsächlich einen Sektor der Frente, der ein Modell á la Cuba oder á la UdSSR wollte, also gemäß den bekannten alternativen Wirtschaftsmodellen. Wir -die “PragmatikerInnen”-sagten, daß wir nicht den reinen Kapitalismus, aber ein Zwischenstadium versuchen müßten.
1985 begannen sich die Probleme deutlich zu zeigen, die durch eine sehr ausgedehnte Subventionspolitik, kombiniert mit einem Krieg und dem Wirtschaftsboykott entstanden waren. Es mußte ein Anpassungsprogramm angegangen werden, aber verbunden mit dem Versuch, die Folgen für die Bevölkerung so klein wie möglich zu halten. Dieses Programm war also halbherzig, hart auf der einen Seite, abfedernd auf der anderen, ein Gemisch, das schließlich nicht zu den gewünschten Ergebnissen führte.
1988 gab es diese Elemente zwar auch, aber die Anwendung der Maßnahmen machte offensichtlich, daß es soziale Sektoren mit direkt entgegengesetzten Interessen gab. Der Druck dieser verschiedenen Interessengruppen hat nicht zugelassen, daß das Programm wie vorgesehen durchgeführt werden konnte. Das war kein Problem der unterschiedlichen Konzeptionen der Führung mehr, sondern ein Ausdruck der Basis der verschiedenen sozialen Sektoren. Und Ende 1988 gelangte die Wirtschaft dann durch den Hurrikan in die absolute Krise. Eine Durchführung des Programms war nicht mehr möglich. All diese Elemente und die Auswertung der Erfahrungen brachten uns 1989 zu einem viel rigideren Programm, im Bewußtsein, daß es ernste Konsequenzen haben würde.

LN: Vor kurzem gab der Comandante Victor Tirado ein Interview, in dem er sich geradezu als Apologet der sozialen Marktwirtschaft präsentiert. Glauben Sie, da8 das ein realistisches Konzept für Nicaragua sein könnte?

R.M.R.: Die revolutionären oder progressiven Kräfte dieses Landes müssen als Ziel haben, daß es eine Verteilung des vorhandenen Reichtums mehr in einem Maße gibt, wie es z.B. in den skandinavischen Ländern erreicht worden ist. Trotzdem sind wir uns darüber bewußt, daß das eine Utopie bleibt, solange es keinen wirtschaftlichen Fortschritt gibt. Ich habe kein klares Modell im Kopf, aber ich denke, daß das nicht nur in Nicaragua so ist, sondern eine Krise ganz Lateinamerikas. Der Kapitalismus in Reinform oder der Sozialismus in der bisher praktizierten Form sind beide nicht gut. Also muß eine Zwischenform gefunden werden.

Privatbanken gegen Schlamperei -Subventionen für Grundnahrungsmittel

LN: Zur Zeit werden die Türen für ein neues Finanzsystem unter Einschluß des Privatsektors geöffnet. Welche Effekte kann das haben? Einer der ersten Schritte sandinistischer Wirtschaftspolitik war die Verstaatlichung der Banken. War es ein Fehler, diese Verstaatlichung aufrechtzuerhalten?

R.M.R.: Die Idee der Verstaatlichung der Banken und des Außenhandels war, die oligarchisch konzentrierte Macht über den nationalen Reichtum zu brechen, und die Dienstleistungen des Finanzwesens sowie die Gewinne des Außenhandels im Interesse der Mehrheit zu nutzen. Das war richtig, umso mehr während des Krieges, denn die wenigen Devisen konnten nicht einfach den Marktmechanismen ausgesetzt werden.
Wir haben bereits 1989 die Notwendigkeit einer größeren Öffnung des Finanzwesens formuliert. Es sollte eine Konkurrenz geschaffen werden, damit die Verfilzung, Verbürokratisierung und Schlamperei innerhalb des Finanzwesens aufhört. Wir wollten das Finanzsystem dynamischer machen. Wir hatten die Ziele bereits definiert, nur die Maßnahmen noch nicht, z.B. ob wir Privatbanken zulassen sollten.
Ich sehe es nicht prinzipiell als negativ an, wenn in einem Land Privatbanken aktiv werden. Voraussetzung ist allerdings, daß es eine übergeordnete Instanz gibt, die auf die Wahrung der nationalen Interessen achtet. Die staatlichen Banken müssen effizienter werden, um nicht zu verschwinden. Wenn das nicht geschieht, sehe ich die Konsequenzen sehr negativ. Es wird vielleicht keine Wiederholung der Vergangenheit, aber doch etwas sehr ähnliches geben: Daß die Banken sich in ein Instrument weniger Reicher verwandeln, die Kredite nur an die mit ihnen liierten Sektoren vergeben und die kleinen und mittleren Produzenten vergessen.

LN: Es gab dieses Jahr bereits große Probleme mit der Finanzierung gerade der kleinen und mittleren Produzenten und der Kooperativen. Durch die Dollarisierung der Kredite verloren zahlreiche Kleinproduzenten viel Geld. Ist es in einem Land mit einer derartigen Produktionsstruktur möglich, eine Kreditpolitik ausschließlich nach dem Kriterium der Rentabilität zu machen?
R.M.R.: Zum einen gibt es in diesem Land tatsächlich einige rentable Produktionszweige. Das Problem ist die Transparenz; darin liegen auch Ineffizienzen der alten Regierung: Man untersuchte nicht genau, welche Sektoren rentabel sind. Das wäre mein Konzept: Eine staatliche Bank kann effizient sein, indem sie den rentablen Unternehmen hohe und reale Zinsen für die Kredite abverlangt. Und damit könnten Präferenzbedingungen für Kleinproduzenten finanziert werden. Das ist eine Form.
Die andere Form wäre, daß alle nach Rentabilitätskriterien und mit realen Zinsen vergeben werden, es aber eine direkte staatliche Subvention gibt. Diese muß dann allerdings sehr gezielt, sehr punktuell und mit einem zeitlich absehbaren Ende stattfinden, eine Art finanzieller Anschub, der die Leute befähigt, selbständig aus der Situation herauszukommen. Ich glaube, daß die objektive strukturelle Rückständigkeit unserer Produktion kein massives Wachstum der Produktion ohne gezielte Subvention zuläßt.


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Ein Jahr unter US-geschützter Demokratie

Regierung von US-amerikanischen Gnaden

Am Nachmittag des 20.Dezember 1989 wurden die drei Kan­didaten der Opposi­tion, Guillermo Endara, Ricardo Arias Calderón und Guillermo (Billy) Ford vom Chef der Südko­mandos der US-Streitkräfte nach Fort Clayton eingela­den. “Sind Sie bereit Ihre Posten einzunehmen?”, lau­tete dort die Frage an die panamaischen Politiker. Sie waren bereit. Heute besetzen die zuvor in der “Demokratischen Allianz der Zivilen Opposition” (ADOC) zusammengeschlossenen politischen Kräfte die wichtig­sten Regierungsposten. (siehe LN 193) Guillermo Endara, poli­tischer Zögling des großen Mannes der panamaischen Politik und Begründer des Panameñismo Arnulfo Arias, ist heute Präsident. Er ist es jedoch nur von “US-amerikanischen Gnaden”, denn mit einer verstärkten Besatzungsmacht im Land ist der Hand­lungsspielraum der Regierung eingeschränkt. Der Panameñismo, die über Jahrzehnte die panamaische Politik bestimmende Bewegung, befindet sich seit dem Tod seines Grün­dungsvaters Arias 1988 in der Krise. Inwischen ist er in vier Fraktionen zersplittert.
“Der Panameñismus ist in der Regierung, aber er hat keine Macht”, bestärkt Royo Linares, Rechtsanwalt und unabhängiger Politiker aus dem panameñistischen Lager, diese Tatsache und fügt hinzu: “Man muß kein besonders scharfer Beob­achter sein, um festzustellen, daß die Arnulfisten, die Endara begleiteten, nicht in hohen Führungspositionen zu finden sind, und daß die arnulfi­stische Basis durch die Parteien der Regierungsallianz verdrängt worden sind – insbe­sondere durch die Christ­demokratie, die bei den Wahlen 1989 (als die Arnulfi­sten selbst nicht zu den Wahlen zugelassen waren – V.H.) am meisten durch die Arnulfisten begünstigt wor­den ist.”
Tatsächlich haben die Christdemokraten (PDC) unter Füh­rung von Arias Calde­rón, dem jetzigen Ersten Vizepräsi­denten, zudem Justiz- und Innenminister, aus heutiger Sicht gute Chancen, die Partei der Zukunft zu sein. Sie sind die zur Zeit am besten organisierte Partei und erfreuen sich ausländischer Unterstützung.

Die Auseinandersetzungen um die Streitkräfte

Stolperstein könnte für die PDC jedoch der Aufbau der “Fuerza Publica” sein, die an die Stelle der alten Streitkräfte getreten ist. Dafür nämlich ist ihr Par­teiführer Calderón zuständig. Laut Dekret Nr. 38 soll den neuen “Öffentlichen Ordnungs­kräften” die Aufgabe zukommen, “die demokratischen Institutionen zu schüt­zen” und für den Fall eines “Krieges oder der Störung der öffentlichen Ordnung” die Einsatzkräfte zu verstär­ken.
Vielleicht die entscheidendste Konsequenz der US-Inter­vention war die Auflö­sung der panamaischen Streit­kräfte. Sie waren bisher Garant für eine eigenstän­dige panamaische Politik gewesen und seit Ende der 60er Jahre bildeten sie die ent­scheidende Machtstütze des nationalpopulistischen Regimes Omar Torijos’. Un­ter dem Namen “Panamaische Verteidigungskräfte” hatte Noriega in ihnen sei­nen bedeutendsten Rückhalt gefunden.
Der Christdemokrat Arias Calderón war bereits Mitte des Jahres heftig kritisiert worden, weil er Teile der alten Armee in die neuen Polizeikräfte übernehmen wollte. Obwohl die ehemaligen “Verteidigungskräfte” in vier polizeiliche Dienste unter getrenntem Kommando von Regierung, Justiz und Präsidentschaft gesplittet werden sollten, fürchteten die anderen politischen Kräfte, daß die Christdemokratie sich hier einen Garanten ihres eigenen “demokratischen” Pro­jektes heranziehen wolle. In den bisherigen “Fuerzas de Defensa de Panamá” (FDP) selbst finden sich unterschiedliche Interessensgruppen: die während der Noriega-Herrschaft exilierten Offi­ziere, die Offiziere, die an der Miltärrevolte am 16.März 1988 beteiligt waren, die Offiziere, die an der Militärerhebung vom 3.Oktober 1989 gegen Noriega mitwirkten und die Offiziere, die nach der Inva­sion die neue Regierung anerkannt hatten und mit ihr zusammenar­beiten woll­ten.
Inzwischen mußten bereits drei neu eingesetzte Chefs der Fuerza Publica entlas­sen werden.
Die Unruhe in den neuen Polizeikräften fand ihren Höhe­punkt in einem Mili­täraufstand am 5. Dezember. Der erst im September von seinem Posten als Chef der Fuerza Publica enthobene Eduardo Herrera hatte mit seinen Leuten das Haupt­quartier der panamaischen Staatspolizei besetzt. Nach kurzer Zeit umstellten US-Truppen jedoch das Gebäude und bereiteten dem Aufstand ein rasches Ende. Der ehemalige Oberst der panamaischen Streitkräfte war Mitstrei­ter Manuel Noriegas gewesen. 1988 wurde er von diesem jedoch auf einen Bot­schafterposten nach Israel abgeschoben. Im Verlaufe desselben Jahres noch organi­sierte er einen von der CIA geplanten Putsch gegen Noriega. Nach dessen Scheitern lebte Her­rera in Miami und kehrte am 20.Dezember mit den US-Invasi­onstruppen in seine Heimat zurück. Im Oktober nun war er unter dem Vorwurf, er plane die Desta­bilisierung der Regierung Endara, in Haft genommen worden. Mit Unterstüt­zung von außen gelang ihm jedoch die Flucht von der Gefangenen­insel Coiba. Es sei ihm um eine bessere Besoldung der neuen “Öffentlichen Ord­nungskräfte” gegangen, die ihn zu ihrem neuen Sprecher ernannt hätten. Er wolle mehr Respekt gegenüber dieser Institu­tion erreichen und fordere eine nationalisti­schere Hal­tung der neuen Führung. (Siehe dazu den Kommentar im Kasten)

Die Wirtschaftspolitik der Regierung

Der aus der als neoliberal bekannten Molirena-Partei kommende Guillermo Ford ist als Planungsminister für die Wirtschaftspolitik der Regierung Endara verantwort­lich. Er setzt mit seiner Politik auf totale Liberali­sierung und Deregu­lierung der Wirtschaft. Der Wieder­aufbau des durch das Wirtschaftsembargo der USA und die spätere Invasion stark geschädigten Landes soll durch die Steige­rung der Exporte, die Privatisierung der Staatsbetriebe und den Abbau gewerk­schaftlicher Rechte erreicht werden.
Folgt die Wirtschaftspolitik der Regierung auch in Zu­kunft der von “Billy” Ford vorgelegten “Nationalen Strategie zur Entwicklung und Modernisierung”, so steht die Liberalisierung des Arbeitsmarktes oben an. Der Codigo de Trabajo, also die arbeitsrechtlichen Bestim­mungen, Errungenschaft aus den Zeiten des Torrijismus, sollen abgebaut werden. Im Dokument heißt es wörtlich: “Die Politik der frühzeitigen Pensionierung, die exzes­sive Erweiterung staatlicher Beschäfti­gung und die Aus­dehnung der Schulpflicht haben das Arbeitsangebot redu­ziert, indem man Personen im arbeitsfähigen Alter vom Arbeitsmarkt abgezogen hat.” Hier ist zugleich eine weitere wirtschaftsstrategische Linie angedeutet: Die Pri­vatisierung der Staatsbetriebe – auch über die “Deregulierung” der Kanalzone selbst wird bereits dis­kutiert – und der Abbau sozialer Leistungen. Wirt­schaftswachstum erhofft sich die Regierung allein durch die Expansion der Exporte. Innerhalb von nur drei Jah­ren sollen dagegen alle Schutzzoll-Maß­nahmen für ein­heimische industrielle und landwirtschaftliche Produ­zenten fal­lengelassen werden.
Panamas Außenschuld beträgt knapp 7 Mrd. US-Dollar und gegenüber den internationalen Finanzorganisationen ist die Position der panamaischen Regie­rung nicht minder deutlich: “Panama erkennt die gesamte existierende Ver­schuldung an und wird in Verhandlungen versuchen, die weitere Begleichung der Schuld zu klären”, soweit das ministeriale Dokument. Diese wirtschaftliche Strategie spiegelt sich in einer Übereinkunft zwischen der pana­maischen Regie­rung und der US-amerikanischen Behörde AID wider, in der die wirtschaftliche Hilfe des “großen Bruders” festgelegt wurde. In diesem “Programm zur wirt­schaftlichen Wiederbelebung” finden sich zwei be­deutende programmatische Aussagen: Die Normalisierung der Beziehungen zu den internationalen Fianzorganisa­tionen (IWF und Internationale Bank für Wiederaufbau und Ent­wicklung BID) und die Unterstütung des Investi­tionsetats der panamaischen Regierung. Dazu gehörten bisher: eine Zahlung von 130 Mill. US-Dollar, um die ausstehenden Zahlungen Panamas bei den internationalen Finanzorganisationen begleichen zu können, sowie wei­tere 113,85 Mill. US-Dollar in drei Tranchen, um die Investitionstätigkeit der Regierung zu steigern. Im Vergleich dazu belaufen sich die Schäden, die Panama durch das US-Wirtschaftsembargo und die darauf­folgende Invasion entstanden sind, auf ca. 4 Mrd. US-Dollar.
In den letzten Monaten ist es in der Regierung und im Parlament zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den politischen Parteien gekommen. Das natio­nale Unterneh­mertum in Industriesektor und Landwirtschaft kriti­siert heftig die Pläne der Regierung. Für sie würde der Wegfall der Zollprotektion das Ende bedeuten. Nach den vollmundigen Versprechungen der US-Regierung über wirt­schaftliche Hilfe sind sie über die bisher erfolgten Zahlungen enttäuscht.
Die katastrophale soziale Lage der Masse der Bevölke­rung ist unübersehbar. Die Entlassung von 20 000 Beschäftigten – nach Angaben der Gewerkschaft der Staatsangestellten (FENASEP) gibt es allein in diesem Sektor inzwischen 5000 Beschäftigte weniger – hat die Arbeitslosigkeit drastisch ansteigen lassen. Sie liegt nach Angaben der Nachrichtenagentur IPS inzwischen bei 40% und betrifft bereits 308 000 Personen. Von der Ar­beitslosigkeit besonders betroffen sind außer den Staatsangestellten die im Handel Beschäftigten im Zen­trum der Hauptstadt. Hier waren die meisten Läden nach den umfassenden Plünderungen in den Tagen nach der Invasion von den Unternehmern ganz geschlossen worden. Selbst nach Angaben des Ökonomen und Assessors von Arias Calderón leben in Panama zur Zeit 112 500 Fami­lien in extremer Armut. Das sind ca. eine halbe Million Menschen bei einer Gesamtbevölkerung von nur 2,37 Mil­lionen (Stand 1989). Aufgrund der angespannten sozialen Lage hat sich die Anzahl der Dieb­stähle, bewaffneten Raubüberfälle auf Banken und Lebensmittelgeschäfte und Morde stark erhöht. Die Polizei kann die Sicherheit auf den Straßen nicht mehr garantieren. Im Distrikt San Miguelito und Colón, in denen die meisten Delikte ver­übt wurden, haben sich bereits bewaffnete Bürgerwehren gebildet. Juan Champsaur, Direktor des “Nationalen Systems zum Schutz der Zivilbevölke­rung” (SINAPROC) zeigt sich besorgt: “Wenn sich diese Entwicklung fort­setzt, kann es zur Bildung von Todesschwadronen kom­men.”

Wachsender nationalistischer Widerstand und sozi­aler Protest

Die Proteste der Bevölkerung gegen die Regierungspoli­tik haben sich in den letzten Monaten verstärkt. Bis Mitte des Jahres hatten bereits die Kriegsflücht­linge und Angehörigen der Opfer durch vereinzelte Demonstra­tionen auf ihre miserable Lage aufmerksam gemacht. Stu­denten waren für bessere Ausbil­dungsbedingungen auf die Straße gegangen, ebenso wie Krankenschwestern und Ärzte für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Bishe­rige Höhepunkte waren die Großdemonstration am 4. Dezember, bei der ca. 100 000 Menschen gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung und die Anwesenheit der US-Trup­pen in Panama demonstrierten. Zum 24-stündigen Generalstreik am 5. Dezember riefen 68 Gewerkschaften gemeinsam auf. Sie bildeten eine einheitliche Front gegen die Regierungspolitik.
Zwar hat sich die Protestbewegung verbreitert, dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich die Oppositionsbewegung noch ganz am Anfang eines Erneue­rungsprozesses befindet. So ist die Gewerkschaftsbewe­gung erneut gespalten. Wie bereits unter der Noriega-Diktatur unternehmen erneut einige Gewerkschaften den Versuch einer Reorganisierung der Gewerkschaftsarbeit. So haben sich verschiedene Gewerkschaften der Staatsan­gestellten, der Eisenbahner, der Hafenarbeiter und Uni­versitätsangestellten sowie der “Central Auténtico de Trabajadores Independientes” (CATI) zur “Unión General de Trabajadores” (UGT) zusammengeschlossen. Sie machen Front gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung, die geplanten Veränderungen der Arbeitsbestimmungen, for­dern ein Moratorium für die Schuldenzahlung und für die Entschädigung der Kriegsflücht­linge. Ihr Ziel ist es, “die Gewerkschaftsbewegung von jenen Führern zu be­freien, die sie 18 Jahre lang an ein Projekt gebunden haben, daß von den Kasernen aus für den Rest der pana­maischen Gesellschaft vorgezeichnet worden ist”. Eine Absage an den Torrijismo also und an die Gewerkschaftsfüh­rer, die mit Noriega kollaborierten. Aber bis zum Auf­bau einer autonomen Gewerkschafts­bewegung ist es noch ein langer Weg.

Kasten

Panama – ein Jahr danach

Im folgenden dokumentieren wir in Auszügen einige Einschätzungen des Sozial­wissenschaftlers Raúl Leis vom “Centro de Estudios y Acción Social” (CEASPA) zur letzten Militärrevolte und zur Rolle der Opposition in Panama.
Die Opposition des Volkes
Die Regierung wurde bisher von der Nichtexistenz einer relevanten und organi­sierten Opposition begünstigt, die es versäumte, die Schwäche der Regierung Endara auszunutzen. Der “Partido Revolucionario Democratico” (PRD), die die Regierung Noriegas stützte, befand sich in einem Zustand politischer Lähmung. Die Linke war schwach und gespalten und die Volksbewegung war unorgani­siert und in den Jahren der Diktatur kooptiert. Jeden zwanzigsten des Monats gab es jedoch Protestdemonstrationen gegen die Invasion, und es entwickelten sich Mobilisierungen zu bestimmten Themen. Diese verschiedenen Aktionen gewannen an Kraft, bis in der Koordination eine Einheit verschiedener Kräfte erreicht wurde, die fast ein Jahr nach Invasion zu einem Generalstreik aufrufen konnten, der materielle Forderungen mit dem Einklagen der nationalen Souverä­nität verband. Die Regierung und die USA sahen sich also mit einer kohärent organisierten Opposition konfrontiert, organisiert jedoch eher als soziale (Volksorganisationen und -gruppen), denn als politisches Subjekt (Parteien, Avantgarde) Dieses Subjekt besaß außerdem eine Volks- und in gewissem Sinne nationale Identität. Das heißt, es handelte sich nicht um eine “trinkbare” und moderate Opposition, in der Lage, die Regierung zu stellen, sondern um eine schwarze, indianische und arme Opposition mit patriotischem Geist.
Das Manöver
Es war also nötig, diese Opposition aufzuhalten. Wie das aber in einem Moment anstellen, in dem die Popularität der Regierung extrem niedrig ist? Eine “Verschwörung” in die Wege leiten, beide Sachen zusammenbringen: Putsch und Streik, und die soziale Bewegung, die sich um die Koordination gebildet hat, praktisch außerhalb des Gesetzes stellen.
Das erklärt die merkwürdige Flucht des Oberst Herrera aus einem Gefängnis, das von US-Basen umgeben ist, seine Erhebung mit einer Gruppe von Leuten, die außerdem nur grundlegedne materielle Forderungen stellten und nicht an die Macht drängten. Diese Aktion beeinträchtigte den Streik, denn viele fürchteten ihre Entlassung und wollten sich nicht an einer aufrührerischen Bewegung betei­ligen. Dafür gab es einen Vorläufer, als am 16. Oktober eine große Gewerk­schaftsdemonstration stattfand, die zur Gründung der Koordination führte: Die Regierung beschuldigte Herrera der Konspiration (er wurde daraufhin festge­nommen) und bezog Gewerkschaftsführer in die Anschuldigung mit ein.
Es ist gut, sich daran zu erinnern, daß sich Herrera in den letzten Monaten des Noriega-Regimes in der Opposition befand und, daß er mit der Zustimmung der USA sieben Monate lang die neue Polizei leitete, bis es zu Reibungen zwischen ihm und Endara kam.
Aber es gibt Schüsse, die nach hinten losgehen. Die Mehrheit der Panameños und Panameñas wies das Manöver zurück und empfand die Militäraktion der USA wie “einen kleinen 20. Dezember”. Unter dem Strich blieben ein Toter und mehrere Verletzte, Ausgangssperre in einem Armenviertel und die Bevölkerung, die lautstark gegen die Präsenz der USA protestierte. Die Regierung Endara stellte erneut ihre Unfähigkeit, Schwäche und Abhängigkeit unter Beweis, da sie wiederum auf ein ausländisches Heer zurückgreifen mußte, während sie pro­klamierte, daß die Militärs der panamaischen Polizei der Regierung loyal gegenüberstünden. Das Manöver scheint das Markenzeichen des Geheimdienstes des Südkommandos zu tragen, der wegen seiner Effizienz bei verschiedenen Gelegenheiten militärische Preise erhalten hat.
Panorama
Ein Jahr nach der Invasion ist Panama ein besetztes Land mit einer bevormun­deten Regierung, die entschlossen ist, eine gegen das Volk gerichtete antinationale Politik der Strukturanpassung zu betreiben. Wir haben eine immer elitärere und begrenztere Demokratie, die den sozialen Akteuren immer weniger Spielraum läßt. Andererseits nehmen die Proteste und das Organisationsniveau zu, aber es handelt sich um Proteste, die wenig Alternativvorschläge entwickeln; eine Situation, die anscheinend für viele Länder gilt.
Ein Jahr nach der Invasion fehlt Panama das wichtigste Attribut einer Nation: seine Souveränität. Ohne sie hat eine Nation keine Seele. Die USA halten entgegen völkerrechtlichen Verträge das Land militärisch besetzt – auf Bitte einer Regierung, die zwar gewählt war, aber auf dem Teppich einer Invasion zur Macht kam und in einer nordamerikanischen Militärbasis vereidigt wurde. Die USA bestimmen den Ablauf auf der offiziellen Bühne, die US-Obristen begleiten die Minister auf den Reisen ins Landesinnere und setzen sich als Berater in den öffentlichen Institutionen fest. Um einen Diktator zu stürzen, ruinierten die USA ein Land, verteiften die Armut, entzogen einer Regierung die Legitimität, die sie ursprünglich besaß, und machte aus einer Nation ein Protektorat und eine Kolonie. Panama, das in der Zeit der Torrijos-Carter-Verträge eine Art Test für eine neue Form der Zusammenarbeit war, wurde in der Ära Bush-Noriega-Endara zum Schauplatz eines blutigen Konflikts.
Ein Jahr nach der Invasion lebt Panama. Der Schaum auf dem Bier ist abgesunken. Viele Panameños und Panameñas, die Invasion und Befreiung verwechselten, sehen jetzt klar. Wir werden immer mehr, die wir ein freies Vaterland ohne ausländische Herrschaft wollen, ein Land, in dem das Volk sein Schicksal selbst bestimmt und eine wirkliche Demokratie.
Raúl Leis / Übersetzung: Jürgen Weller


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Wahlen: Die Macht wird nicht an den Urnen erobert

Am 11. November erlebte Guatemala ein weiteres Mal allgemeine Wahlen.
Diesmal traten zwölf Kandidaten an, die “Interessen des Volkes” zu vertreten. Zwei Militärs und zehn Zivile von 17 Parteien boten Allheilmittel an: von kon­zeptlosen SozialdemokratInnen bis zu KandidatInnen mit dem Vorzeichen “christlich”, und natürlich den unvermeidlichen VertreterInnen der “harten Hand”, angeführt von den Militärs. Von den 3,2 Millionen beim Wahlregister eingeschriebenen GuatemaltekInnen enthielten sich 44 Prozent der Stimme, in einigen Provinzen auf dem Land waren es über 70 Prozent. Darüberhinaus hat­ten sich ungefähr anderthalb Millionen Wahlberechtigte nicht einmal einge­schrieben. Der wirkliche Anteil der Enthaltungen lag also bei circa 70 Prozent.
Die beiden Kandidaten, Jorge Carpio von der Nationalen Zentrumsunion (UCN) und Jorge Serrano Elías von der Bewegung der Solidarischen Einheit (MAS) ver­treten die “neue” oder sogar “progressive” Rechte. Carpio, Bruder des augen­blicklichen Vizepräsidenten, Roberto Carpio, taucht täglich in seiner Zeitung “El Gráfico” auf und ist als Sportmäzen und Verteidiger des
Wirtschaftsliberalismus bekannt. Gegenkandidat Serrano hat enge Beziehungen zu fundamentalistischen Sekten in den USA. Er war seit 1983 im Staatsrat von Ex-Diktator Ríos Montt bis ein erneuter Staatstreich den Diktator, mit dem Serrano religiöse Erleuchtungen teilt, absetzte. Außerdem war er Berater des militärischen Geheimdienstes. Als Mitglied der Nationalen Versöhnungskom­mission und durch einen geschickt geführten Wahlkampf, der die direkte Kon­frontation mit anderen Kandidaten vermied, konnte er wieder politischen Boden gutmachen. Die Zeitung El Gráfico im Besitz von Jorge Carpio und die evangeli­schen Kanzeln der Kirche Elim, der Jorge Serrano angehört, sind die Tribünen, von denen aus die beiden Gewählten in den nächsten Wochen die Bevölkerung von ihrer Berufenheit überzeugen wollen, bevor am 6. Januar das Präsidentenamt endgültig für 1991 bis 1995 einem dieser Rechten zugesprochen werden wird, die entweder Jesus Christus oder Milton Friedman nachbeten.
Unabhängig von den Persönlichkeiten der Kandidaten werden zwei Elemente Sieg oder Niederlage bestimmen: Die 44 Prozent der eingeschriebenen Wähler­Innen, die sich bei der ersten Runde enthalten haben werden heiß umworben sein, ebenso wie die Unterstützung der anderen wichtigen Parteien, besonders der Partei der Nationalen Aktion (PAN), die große Sympathien in der Hauptstadt genießt, und der Christdemokratischen Partei (DC), die trotz ihrer Niederlage einige Bastionen auf dem Land halten konnte.

Der Dialog auf dem Weg in die Sprachlosigkeit

Darüberhinaus ist der Krieg zum zentralen Thema der Wahlen geworden. Für die guatemaltekische Bevölkerung hängt der Aufbau einer “realen Demokratie” vom Ende des Krieges ab, und dieses ist wiederum von der Entwicklung des Dialogprozesses abhängig. Der Dialog hat im März in Oslo mit dem “Abkommen über die Suche nach Frieden mit politischen Mitteln” begonnen, unterzeichnet von der Nationalen Versöhnungskommission und der Revolutionären Nationa­len Einheit Guatemalas (URNG), in der die Guerilla-Gruppen zusammenge­schlossen sind. Seitdem haben sich viele gesellschaftlich wichtige Gruppen mit der UNRG an einen Tisch gesetzt: die Parteien , die großen und mittleren Privat­unternehmerInnen, die religiösen Gruppen, die Volksorganisationen, Gewerk­schaften und Universitäten. Jetzt steht das Zusammentreffen mit der Regierung und dem Militär aus. Serrano und Carpio hatten eingewilligt, sich schon im Dezember gemeinsam mit dem amtierenden Präsidenten Cerezo mit der Gene­ralkommandantur der URNG zu treffen.
Der bisherige Präsident Cerezo war vor vier Jahren noch mit dem Versprechen angetreten, die Macht der Militärs einzuschränken und gegen die Menschen­rechtsverletzungen vorzugehen. Er wollte damit das Land in der Weltöffentlich­keit wieder hoffähig machen. Sein Scheitern wird durch Tausende von nie aufge­klärten Morden und Entführungen überdeutlich belegt. Die Präsidentschaftskan­didaten 1991 versprechen nicht einmal mehr, dies alles zu ändern. Serrano sagte in der ersten Pressekonferenz nach der Wahl: “..man muß anerkennen, daß die Militärs die Macht haben. Eine zivile Regierung hat nur die Wahl, sich gegen sie zu stellen und zu scheitern, oder mit ihnen zusammenzuarbeiten.”
Nachdem der Menschenrechtsbeauftragte harte Kritik an den Militärs geübt hatte und das Ansehen der Armee damit auch auf konservativer Seite litt, haben die Kandidaten ihre ursprüngliche Zustimmung zu einem Treffen mit Cerezo und der UNRG nun plötzlich wieder zurückgezogen. Offenbar soll die harte Linie des Kampfes gegen die Guerilla wiederbelebt werden, zurück also zu den ewigen Werten der Retter des Vaterlandes. Der Chef des Generalstabs, Roberto Mata, erklärte schon im November, die Regierung könne nur mit entwaffneten Gruppen in den Dialog treten. Der harte Standpunkt wird nun auf einmal wieder von der zivilen Rechten mitgetragen. Auch der Präsident der Zentrale der Unter­nehmerInnen, Jorge Briz, wandte sich mit der Forderung nach Waffenniederle­gung der Guerilla an die Öffentlichkeit. Die Nationale Versöhnungskommission ist damit brüskiert worden. Die vorsichtigen Hoffnungen auf die Möglichkeit eines Dialoges zur Beendigung des Krieges drohen sich dem Nullpunkt zu nähern.


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Rechtsextreme Offensive vorerst gebremst

Mit einer Bilanz von zehn Toten und mindestens 50 Verletzten ist die im vergan­genen Monat gestartete Rebellion von Ex-Contras und rechtsextremen U.N.O.-Politikern beendet worden (s. LN 198). Ein großer Konvoi aus Militär- und Polizeifahrzeugen konnte am 17. November ohne größere Zwischenfälle die von den re-mobilisierten Contras praktisch zwei Wochen lang blockierte Straße von Managua in Richtung Atlantikküste räumen. Die reaktionären U.N.O.-Politiker, die in den moderaten Kräften der Chamorro-Regierung zu bekämpfende Pseudo-Sandinisten sehen, beklagten in der Folge die Räumung durch die – sandinisti­schen – Sicherheitskräfte als eine “militaristische Aktion gegen zivilen Protest” und nannten die Präsidentin eine “Verräterin”.
Zwar hat die Regierung als Zugeständnis an die Rebellen eine deutliche Reduzie­rung des Militärs in der Region Chontales zugesagt, die das Zentrum des rechten Aufstands bildete. So werden 18 der 34 Kasernen in der Region vom Sandinisti­schen Volksheer geräumt und für zivile Zwecke zur Verfügung gestellt. Dennoch ist der Versuch der reaktionären U.N.O.-Politiker und Contra-Führer fehl­geschlagen, über den Druck der bewaffneten Ex-Contras die Regierung quasi per Staatsstreich zu beseitigen. Und daß es den rechten Políticos tatsächlich um eben dieses ging, bestätigen zumindest die Erklärungen des ehemaligen Contra-Führers Aristides Sánchez, bei dem eine Polizei-Razzia ein ansehnliches Waffen­lager fand und der nun wegen versuchten Umsturzes gegen die Regierung
Chamorro angeklagt ist. In seiner schriftlichen Aussage nannte Sánchez die U.N.O.-Hardliner Vize-Präsident Godoy und den Bürgermeister Managuas Arnoldo Alemán sowie den Ex-Contra-Boß Oscar Sovalbarro (alias “Ruben”) als Hauptbeteiligte an dem militärischen Putsch-Plan.
Nach dem Scheitern ihrer Rebellion setzen Alemán und Godoy verstärkt auf den Aufbau einer organisierten Parallelmacht gegen die Regierung Chamorro. So gründeten sie direkt im Anschluß an die Räumung der Straßenblockaden die “Bewegung: Retten wir die Demokratie!”, die immerhin 35 der landesweit mehr als 90 U.N.O.-Bürgermeister Nicaraguas versammelt. Wenn es nach ihnen geht, sollte der Soziologe Oscar René Vargas mit der Befürchtung Recht behalten, daß auf “diesen Versuch eines Staatsstreichs andere folgen werden”. Und für das Problem der Landverteilung, das in diesem Falle als Vehikel zur Mobilisierung der entwurzelten Ex-Contras diente, ist eine Lösung nicht absehbar.
Quelle: ann

Richtigstellung der Vorgänge in der deutschen Botschaft in Managua am 3. Oktober

Im November-Heft erschien unter der Überschrift “Laßt Otmar und Harald wie­der arbeiten!” (S. 55) ein kommentierender Bericht über die Ausweisung von InternationalistInnen aus Nicaragua, die gegen die Vereinigungsfeier in der deut­schen Botschaft protestiert hatten. Hierzu eine Stellungnahme eines der Betroffe­nen, Otmar Jung.

Für den 3. Oktober 1990 wurden alle Deutschen in Nicaragua zur Feier des Tages der deutschen Einheit eingeladen. Der deutsche Botschafter, Boomgaarden, und Frau laden zu einem Empfang und Festakt ein, hieß es auf der Einladungskarte, die man erst nach vorherigem Vergleich der Personendaten mit dem Strafregister in der deutschen Botschaft bekam.
3.10. Mittwoch: Das Fest findet in einem Kongreßzentrum in Managua statt. Die Menschen, die dieser deutschen Einheit nicht ungeteilte Zustimmung zollen, ent­falten Transparente vor dem Eingang und verteilen Flugblätter, auf denen sie ihre Kritik ausdrücken. Danach verlassen sie das Fest. Einige Zeit später ersteigt eine Deutsche das Podium und versucht während der Rede des deutschen Bot­schafters, sich des Mikrofons zu bemächtigen. Sie wird sofort von Sicher­heitskröften abgeräumt.
Kurz nach dieser Aktion entschuldigt sich der nicaraguanische Innenminister Car­los Hurtado beim deutschen Botschafter für den Vorfall. Im Gegenzug be­schwert sich Herr Boomgaarden wegen des nicht vorhandenen Polizeischutzes, obwohl er diesen angefordert hatte. In der Folge werden 5 Personen festgenom­men: eine Nicaraguanerin, eine holländische Journalistin und drei Deutsche. Begründung der Festnahme: Befehl des Innenministers Carlos Hurtado. Begrün­dung der nachfolgen­den Inhaftierung: öffentliche Unruhestiftung.
4.10. Donnerstag: Der Botschafter wird von einem Journalisten auf die Verhaf­tung hingewiesen.
5.10. Freitag: Eine Gruppe Deutscher wird beim nicaraguanischen Innenministe­rium vorstellig und kann dem Pressesprecher den Sachverhalt schildern. Dieser will sich dann die polizeilichen Unterlagen durchsehen und verschiebt danach das geplante Gespräch auf Montag. Während der Wartezeit antwortet die Sekre­tärin den Deutschen auf die Frage nach neuen Informationen, daß man noch auf einen Anruf der deutschen Botschaft warte.
Der Versuch der Gruppe, Boomgaarden telefonisch zu erreichen, scheitert. Bei dem darauffolgenden Besuch in der Botschaft weigert sich Herr Boomgaarden, mit ihnen zu reden, weil er sich im Aufbruch befände. Er bittet sie, am Montag erneut vor­zusprechen.
Die inhaftierte Nicaraguanerin wird nach Hause geschickt. Anklage wird nicht er­hoben, da eine Straftat nicht begangen wurde.
6.10. Samstag: Die holländische Journalistin und die mit ihr inhaftierte Deut­sche bringt man am Morgen zum Flughafen, von wo aus sie am Nachmittag nach Panama ausgewiesen werden.
7.10. Sonntag: In einem Telefongespräch weist der Botschafter jegliche Verwick­lung der Botschaft in diesen Fall von sich. Abends kommt ein Polizist ins Kran­kenhaus, in dem einer der beiden festgehaltenen Deutschen wegen seines mittler­weile schlechten körperlichen Zustands auf der Intensivstation liegt, und fragt die diensthabende Ätin, ob der Patient am Montagmorgen reisefähig für eine Flugreise sei.
8.10. Montag: Die beiden Inhaftierten werden freigelassen mit der Auflage, bin­nen 10 Tagen das Land zu verlassen. Abends meldet das staatliche Fernsehen in seinen Nachrichten, daß die Abschiebung der beiden Frauen auf Petition des deut­schen Botschafters erfolgt sei.
9.10. Dienstag: In einem Gespräch mit Herrn Haupt, dem Botschaftssekretär, wird ihm die vorabendliche Notiz zur Kenntnis gebracht. Er reagiert beunruhigt und versichert, daß von der deutschen Botschaft keinerlei Bestrebungen in dieser Richtung ausgegangen seien und auch nicht ausgehen könnten. Offiziell sei die deutsche Botschaft nämlich nicht von der Inhaftierung der 3 deutschen Bürger unterrichtet worden, somit seien ihnen die Hände gebunden.
In den abendlichen staatlichen Fernsehnachrichten tritt dann der Sprecher des Inneministeriums in einem Interview vor die Kamera und erklärt, die Auswei­sung der beiden Frauen sei eine souveräne Entscheidung Nicaraguas gewesen.
Die Angelegenheit wird an die Ausländerbehörde verwiesen.
10.10. Mittwoch: Die zwei von der Ausweisung Betroffenen stellen eine Antrag bei der deutschen Botschaft, damit sich diese um den Fall kümmere. In einem Schrei­ben bittet die Botschaft dann die entsprechende nicaraguanissche Regierungs­stelle, den Fall gemäß den rechtsstaatlichen Mitteln zu behandeln, was in einem Antwortbrief auch zugesichert wird.
15.10. Montag: Den 2 Betroffenen wird die Möglichkeit eines Einspruchs gegen die Ausweisung eingeräumt.
19.10. Freitag: Der Pressesprecher des Innenministeriums erklärt in einem Rund­funkinterview, daß die rechtlichen Aspekte des Falles von der Ausländerbehörde geprüft und dann nach Recht und Gesetz eine Entscheidung gefällt werde. Abschließend fügt er jedoch hinzu, daß vor allem die Arbeitsaktivitäten der bei­den Beschuldigten Berücksichtigung bei der Entscheidung fänden!
25.10. Donnerstag: Den beiden Deutschen wird die Aufenthaltserlaubnis wieder erteilt.
Das Verhältnis der nicaraguanischen Regierung zur deutschen Botschaft erinnert eher an einen Kolonialstatus als an einen souveränen Staat. Daß es so ist, hängt mit der wirtschaftlichen Lage und den Geldnöten Nicaraguas zusammen. Der deut­sche Botschafter fördert dies und nutzt die Situation aus, indem er den nicara­guanischen Innenminister in Zugzwang bringt und die Festnahme friedli­cher Andersdenkender fördert.
Es wäre Herrn Boomgaarden möglich gewesen, in Ausübung seiens Hausrechts auf eine Verfolgung zu verzichten. Von einem Diplomaten seines Ranges sollte man eben auch erwarten können, daß er persönliche Abneigungen nicht der gastgebenden Regierung als politische Handlunganweisung aufnötigt, auch wenn diese vorder­gründig dafür empfänglich ist.
Wozu sollte die deutsche Botschaft sich wohl am 5.10. gegenüber dem Innenmini­sterium äußern? In Nicaragua wird sicher ohne Zustimmung des deut­schen Botschaf­ters kein Deutscher ausgewiesen. Die letztendliche Annullierung der Ausweisung konnte nur durch den Druck der nicaraguanischen Öffentlich­keit, der öffentlich vorgetragenen Bedenken vieler Hilfsorganisationen in Nicara­gua und vor allem durch den Einfluß des Bonner Auswärtigen Amtes auf die nicaraguaniscshe Außen­stelle erreicht werden. Letztgenannte Aktivität kam allerdings nur durch die zahlreichen privaten und öffentlichen Interventionen in der BRD beim Außenmini­sterium zustande.
El juego sigue!

In dem kritisierten Artikel der Lateinamerika Nachrichten 197 heißt es:
“Unverständlich bleibt, warum diese Aktion überhaupt gestartet werden mußte, ist doch der Kampf um die deutsche Einheit / gegen die Annektion in Deutschland selbst, nicht in Managua auszufechten.”
Von diesem Satz distanziert sich die Redaktion der Lateinamerika Nachrichten. Daß auch namentlich nicht gekennzeichnete Artikel nicht die Meinung “der Redaktion” sind, ist in den Lateinamerika Nachrichten selbstverständlich.
Die Redaktion

Private Banken dürfen wieder
Das seit der Sandinistischen Revolution staatliche Bankenwesen Nicaraguas, das Sistema Financiera Nacional (SFN), wird in absehbarer Zukunft Konkurrenz durch Privatbanken erhalten. Dies ergibt sich aus dem im September mit der sandinisti­schen Opposition ausgehandelten Konzertationsabkommen, in dem es heißt: “Die Regierung kann im Rahmen der Verfassung Nicaraguas private Geldinstitute zulassen. Durch entsprechende Vorschriften wird garantiert, daß das staatliche Finanzsystem weiter seine Funktion als Hauptstütze der Landwirtschaft, der Industrie und des Handels efüllt.”
Während aus Gewerkschaftskreisen Stimmen laut wurden, die einen Rückfall in das somozistische Bankenwesen befürchten, scheint die FSLN weitgehend mit dieser Kompromiß-Formel leben zu können, die fast alles den zukünftigen Auseinandersetzungen überläßt. Denn bereits vor den Wahlen arbeitete die sandinistische Regierung an Plänen zur Liberalisierung des Bankenwesens, um es wirtschaftlich effizienter zu machen und den Banken des Sistema Financiera Nacional größere Unabhängigkeit zu geben. Die FSLN ist auch nicht (mehr) prin­zipiell gegen private Banken. Und die Concertacións-Formulierung gibt den SandinistInnen eine nicht unwichtige politische Karte in die Hand, denn der Artikel 99 der nicaraguanischen Verfassung unterstellt die Zentralbank und das Nationale Finanzsystem “unwiderruflich” dem Staat. Die FSLN kann, so die Spekulation über den bevorstehenden Polit-Poker, als Preis für ihre Zustimmung zu einer – ohne sie unmöglichen – Verfassungsänderung weitreichende Garantien für den Erhalt des Sistema Financiera Nacional fordern.


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Collor erblaßt

Sao Paulo: Ultrarechter scheitert knapp

Im Mittelpunkt des Interesse stand der Ausgang des zweiten Wahlgangs in Sao Paulo, wo sich der ultrarechte Paulo Maluf und Luiz Fleury ein Kopf-an-Kopf-Rennen lieferten. Maluf von der PDS, der Nachfolgeorganisation der Staatspartei der Militärs, verlor schließlich ganz knapp gegen einen Kandidaten, dessen poli­tisches Profil schwer auszumachen ist. Fleury ist ein Produkt des bisherigen Gouverneurs von Sao Paulo, Quercia, und stammt aus der PMDB, der Partei also, die vor Collor die Regierung stellte. Aber auch diese Zuordnung sagt wenig aus, man spricht schon vom Phänomen des “Quercianismo”. Quercia ist es mit diesem Wahlergebnis gelungen, sich zu Kristallisationsfigur der konservativen Collor – Gegner aufzubauen. Er ist damit (vorläufig) der Führer der bürgerlichen Oppo­sition, einem diffusen Haufen, der eher durch die Gefolgschaft zu Quercia als durch ein politisches Programm gekennzeichnet ist.
Der zweite große Gewinner der Wahlen ist zweifelsohne Leonel Brizola, der nun beanspruchen kann, die linke Opposition anzuführen. Der unberechenbare Popu­list wird Gouverneur von Rio, und im zweiten Durchgang gewannen seine Kandidaten in Rio Grande do Sul und Espirito Santo. Allerdings ändern auch diese Erfolge nichts an Brizolas grundlegendem Dilemma: Er ist immer für einen Wahlsieg in einigen Bundesstaaten gut, in anderen ist er aber praktisch nicht exis­tent – In Sao Paulo gab sein Kandidat frustriert auf, weil er in den Umfragen bei 1% herumkrebste. Brizola bleibt ein – wichtiger – Regionalcaudillo, dessen Partei (PDT) zudem ganz im Schatten seiner Person steht.

Wahlen in Amazonien: Straßen und ein Galileo der hohlen Bäume

Die PT (Arbeiterpartei) konnte keinen einzigen Gouverneursposten erringen. Nur in Acre ging ein Kandidat (Jorge Viana) mit Hoffnungen in den zweiten Wahlgang. Ein kleines Wunder ist es schon, daß im Amazonasstaat Acre, der Heimat von Chico Mendes, ein Kandidat mit einem pointiert ökologischen Pro­gramm 42,5% der Stimmen erringen konnte. Aber das reichte eben nicht. Die Hauptforderung seines siegreichen Kontrahenten war der Ausbau der Bundes­straße 364, die Amazonien mit der Pazifikküste – und das heißt den japanischen Holzhändlern – verbinden würde.
Damit ist ein zweiter Amazonienstaat durch einen Kandidaten erobert worden, der einen explizit antiökologischen Wahlkampf führte. “Ich werde für Menschen regieren, nicht für Bäume und Tiere” – war der demagogische Wahlkampfslogan von Gilberto Mestrinho, der schon im ersten Durchgang die Wahlen im Bundes­staat Amazonien gewonnen hatte. Mestrinho fiel im Wahlkampf durch besonders absurde Äußerungen auf. So forderte er die massenhafte Jagd auf Krokodile, weil diese schon tausende von Brasilianern getötet hätten und behauptete, die meisten Bäume Amazoniens seien eh durch Termiten hohlgefressen und müßten deshalb gefällt werden. Von Newsweek auf diese “Theorie” angesprochen, verkündete er: “Die Leute mögen mich verspotten. Die Leute haben auch über Galileo gelacht.”

“Brasil Novo” schreitet voran: Produktion sinkt, Inflation steigt

Es ist schon kurios: Die beiden Kontrahenten der letzten Präsidentschaftswahlen, Collor und die linken Kräfte, geführt von der PT, sind die gemeinsamen Verliererin­nen der Wahl. Die PT ist zudem in schwere innerparteiliche Konflikte gestürzt worden. Anlaß war die Bündnispolitik: Wann soll die Partei mit bürger­lichen Kandidaten Bündnisse schließen? – das war immer wieder die Streitfrage. Zahlreiche linke Gruppierungen in der Partei lehnten jegliche Bündnispolitik ab – und gerieten damit in Konflikt mit der Parteiführung. Aber selbst die wollte in Sao Paulo nicht zur Wahl Fleurys als “kleinerem Übel” aufrufen. Wichtige PT-PolitikerIn­nen in diesem Staat ließen dennoch mehr oder weniger offen ihr Votum für Fleury durchblicken – und werden jetzt von der Parteiführung ver­folgt. Am weitesten ging der Bürgermeister von Campinas, Bittar, der Fleury öf­fentlich unterstützte und dafür als Gegenleistung unter anderem Gelder für das städtische Krankenhaus erhandelte. Verständlicher Pragmatismus, oder ist die PT nun auch auf dem Weg, in die Kungelpolitik einzusteigen?
Aber ernsthafter sind zu Zeit die Probleme für den Strahlemann Collor. Er steht ohne (sichere) parlamentarische Mehrheit da, auch die anderen bürgerlichen Poli­tiker können sich nun auf das Mandat der WählerInnen berufen und werden gestärkt um persönliche und lokale Pfründe kämpfen. Zudem gerät das angeb­lich so radikale Wirtschaftsprogamm (der Plan “Brasil Novo”) zusehends unter die Räder. Das Bruttoinlandsprodukt wird 1990 nach offiziellen Zahlen um 3,8% sinken, die schlimmste Rezession seit 1981. Noch drastischer ist der Einbruch bei der Industrieproduktion und das Pro-Kopf-Einkommen wird um 6% niedriger liegen als im Vorjahr. Nun wollte Collor durchaus eine Rezession in Kauf neh­men, das Problem ist nur, daß die “Stabilisierung” der Wirtschaft nicht in Sicht ist: Die Inflation liegt im November bei 16,8% und ist in den letzten Monaten ste­tig gestiegen. Collor ist dabei, die politische und ökonomische Kontrolle zu ver­lieren. Jüngst sagte sich sein bisheriger Führer im Parlament von ihm los und bezeichnete ihn öffentlich als verrückt. Man spricht bereits von der “Sarneyisierung” der Regierung Collor: Der vorherige Präsident Sarney hatte sich nach dem Scheitern seines Wirtschaftsplanes nur noch konzeptionslos durch die Amtsperiode durchgewurstelt. Aber Sarney brauchte zwei Jahre, um am Ende seines (bürgerlichen) Lateins zu sein, Collor hat erst neun Monate hinter sich.


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Veränderungen absehbar

Ankunft in Havanna

An meinem dritten Abend in Havanna war ich bei alten Freunden zum Abendessen eingeladen. Sie fragten mich, was ich über die Veränderungen seit meinem letzten Besuch 1983 dachte. Während der ersten Tage hatte ich einen Regierungsfunktionär nach dem anderen interviewt und den Eindruck gewonnen, die Revolution sei nicht nur gesund und munter sondern geradezu blühend. Trotz Unsicherheiten über die wirtschaftliche Zukunft gehe die Regierung mit ehrgeizigen Plänen voran. Die Menschen liebten Fidel Castro und die Revolution und hätten kein Interesse an politischen Reformen. Im Hotel war das Essen reichlich, und die Läden waren voll mit Waren.
“Was für Veränderungen?” fragte ich. “Alles sieht doch noch genauso aus.” Schockiert sahen mich meine Freunde an. Ein Freund, den ich für einen überzeugten Revolutionär halte, schlug die Hände vor’s Gesicht und seufzte: “Ach Medea, mit wem hast du bloß geredet?”
Den Rest des Abends diskutierten wir über die unglaublichen Veränderungen in der sozialistischen Welt, die Nachwirkungen des “Ochoa-Skandals”, den Zustand der Wirtschaft und die Vor- und Nachteile einer Einparteienregierung. Anders als die Regierungsvertreter hatten meine Freunde keine fertigen Antworten parat.
Nach diesem Abend verbrachte ich weniger Zeit mit Funktionären und fuhr mehr in Bussen oder saß in Cafés, um mit so vielen Leuten wie möglich ins Gespräch zu kommen. In der Tat hat sich viel verändert. Verschwunden ist der blinde Optimismus der früheren Jahre. Dinge, die früher selbstverständlich waren, werden nun in Frage gestellt. Ein großes Suchen ist im Gange.

“Gott existiert nicht”

Wegen der schnellen Veränderungen in Osteuropa und der Sowjetunion fühlen sich viele KubanerInnen verunsichert und alleingelassen. Die Lehrerin Mirta Pérez formulierte das so: “Es ist, als hätten wir unser ganzes Leben lang an Gott geglaubt und dann eines Tages gemerkt, daß Gott nicht existiert.”
Die Wahlen in Nicaragua rieben noch Salz in die Wunden. Schließlich waren Nicaragua und Kuba die einzigen sozialistischen Länder Lateinamerikas. Die Niederlage der Sandinisten hat – vorsichtig formuliert – den Selbstzweifel in Kuba verstärkt.
Dazu kommt die noch immer andauernde Wirkung des “Ochoa-Skandals”. (Im Juli 89 wurden General Ochoa, einer der höchsten Militärs Kubas und Mitkämpfer Fidels, und drei weitere Offiziere des Drogenhandels überführt und hingerichtet.) “Jahrelang beschuldigten die USA Kuba des Drogenhandels, und wir schrien, das sei nur Yankeepropaganda. Du kannst dir vorstellen, wie uns zumute war, als wir erfuhren, daß ein Teil der Vorwürfe zutrifft. Und Kuba ist nicht wie die USA, wo man die Person von der Regierung trennen kann. Hier sind die Personen die Regierung und ihre Handlungen werfen ihr Licht auf das ganze System,” sagte ein Freund, der zwei Jahre lang unter Ochoa in Angola gekämpft hatte.
Auf die neue Situation – die durch verschärfte Aggression der USA noch kompliziert wird – hat die Regierung reagiert, indem sie die Reihen fester schloß und die Bevölkerung zu mehr Loyalität und Einheit aufforderte. Andererseits rief die Kommunistische Partei während meines Aufenthaltes zu ihrem vierten Parteikongress im März 1991 auf. Im Aufruf ist die Rede davon, wichtige Aspekte des kubanischen Systems neu zu überdenken: Die Presse, Wahlen, Diskriminierung der Religion und Maßnahmen, um die Korruption auszumerzen. Die Partei fordert zu breiter öffentlicher Diskussion über diese Punkte auf: “Wir bitten das Volk, wie wir es vorher nie getan haben, zu beurteilen, was wir bisher geleistet haben und vorzuschlagen, wie wir weiter verfahren sollen,” sagte der verantwortliche Parteiideologe Carlos Aldana.

Der Sozialismus steht nicht zur Debatte

Dies aber geschah gleichzeitig mit dem Verbot der sowjetischen Zeitschriften Sputnik und Moskau News, nachdem diese mehrere kritische Artikel über Kuba veröffentlicht hatten. Fidel Castro selbst begründete das Verbot damit, daß “die Hand des Imperialismus, der Reaktion und der Konterrevolution” hinter den Artikeln stehe.
Die Diskussion in den Stadtteilorganisationen über die Erneuerung kam zunächst überhaupt nicht in Gang, teils, weil man nicht gewöhnt war, kritisch Stellung zu nehmen, teils aus Angst vor Repression.
Die Regierung betont, daß das sozialistische System Kubas selbst nicht zur Debatte steht, ein Mehrparteiensystem nicht in Frage kommt. Aber auch innerhalb dieser Begrenzung gibt es ja genug zu diskutieren. Vermutlich dürfen in Zukunft religiös Gläubige, die bisher diskriminiert wurden, Parteimitglieder werden. Und wahrscheinlich wird bei örtlichen Parteiwahlen die geheime Stimmabgabe eingeführt, wo bisher fertig vorgestellte Listen per Handzeichen abgesegnet wurden. Die im Fernsehen übertragenen Debatten zur Vorbereitung des Parteikongresses 91 schließen auch Kritik an Korruption, Ineffizienz, Faulheit und Mangel an Demokratie ein.
Doch die Einheit ist wichtiger als die Toleranz, wenn es um die geht, die radikalere Veränderungen wollen. Die Handvoll Menschenrechtsgruppen, die in den letzten drei Jahren entstanden, hatten noch vor einem Jahr nie vorher gekannte Freiheiten. Sie konnten mit ausländischen JournalistInnen sprechen und herumreisen und die kubanische Regierung kritisieren. Nun sind einige von ihnen für viele Jahre im Gefängnis und einige haben Asyl in europäischen Botschaften gesucht. Nur ein paar hundert KubanerInnen sind offen in Opposition, doch es ist schwer zu ermessen, wie viele heimliche Unterstützer sie haben. Ein US-Politiker beklagte, sie stritten mehr untereinander als über das System, und unter ihnen sei keiner vom Format eines Havel oder Sacharow.
Während meines Besuchs im März demonstrierten 500 wütende KubanerInnen vor dem Haus, in dem ein Treffen der DissidentInnen stattfand und verlangten, dieser Abschaum solle auseinandergetrieben werden. Es bleibt die Frage, ob die Menschen wegen der DissidentInnen empört sind, wie die Presse berichtete. Oder ob die Regierung solche Gegendemonstrationen organisiert.
Die DissidentInnen in Kuba sind das eine Extrem einer Gesellschaft, die zweifellos polarisiert ist zwischen denen, die die Regierung Revolutionäre und Konterrevolutionäre nennt. Mein Freund Roberto Telles ist Mechaniker und fest auf der revolutionären Seite verankert. Um mich zu empfangen, bereiteten er und seine Familie ein Essen vor, bei dem der Tisch fast zusammenbrach unter den vielen Speisen. “Damit du siehst, wie die Kubaner verhungern,” lachte er und rieb sich seinen rundlichen Bauch. Doch Robertos Famile kann vor allem deshalb gut essen, weil seine Schwiegermutter Zeit genug hat nach nichtrationierten Lebensmitteln zu suchen.
KubanerInnen, die im Ausland als Soldaten, Lehrer oder im Gesundheitswesen waren sind meist überzeugte Revolutionäre. “Wenn du einmal die Armut in Angola kennengelernt hast, und die Ungerechtigkeit der Welt, dann weißt du, was du der Revolution verdankst.”
Am anderen Ende der Skala sind die Unzufriedenen: Während meines Aufenthaltes in Havanna wurde ich zweimal von jungen Männern angesprochen, die das Land verlassen wollen. Einer hat seine Schulbildung abgebrochen und nun einen schlechten Job auf dem Bau. Immer, wenn ich an der Baustelle vorbeikam, stand er herum mit einem Becher Kaffee und einer Zigarette und redete von einem Onkel, der in New York Millionär geworden sei.
Der andere ist Portier im Hotel. Sein Problem ist nicht die Arbeit ohne Aufstiegschancen, sondern, daß er seine Jugendliebe heiraten will und sie keine Wohnung bekommen. “Keiner von uns kommt mit der anderen Familie aus, und um eine Wohnung zu bekommen, müssen wir zehn Jahre warten – und dann noch Glück haben.” Er meint, die einzige Lösung sei es, zu den Verwandten nach Miami auszuwandern und dort sein Glück zu versuchen.

“Revolution oder Tod läßt mich kalt”.

“Andere, die ich traf, wollen in Kuba bleiben, sind aber so ermüdet vom mühseligen Alltag, daß der Sinn der Revolution verlorengegangen ist. Ich war erschrocken, als ich eine alte Freundin besuchte, die früher in der Kommunistischen Jugend aktiv war. Nun ist sie Lehrerin, hat zwei kleine Kinder und findet das Leben erheblich schwieriger als zuvor. Nachdem ich mir ihre Klagen über Versorgungsmängel und entnervende Bürokraten angehört hatte, fragte ich sie, ob sie noch wie früher hinter den Gedanken der Revolution stehe. “Ehrlich gesagt,” sagte sie müde, “das ganze Geschrei um ‘Revolution oder Tod’ läßt mich kalt. Ich würde sagen, ich bin jetzt unpolitisch. Es interessiert mich mehr, Essen auf den Tisch zu kriegen, als für den Sozialismus zu sterben.”
Die Regierung versichert, die Unzufriedenen seien ein winziger Prozentsatz der Bevölkerung. Ein Regierungssprecher nannte 98% auf seiten der Regierung, andere sagen, die Zahl liege eher bei 70%, mit 2o% Unpolitischen und 1o% GegnerInnen der Revolution. Aber auch AnhängerInnen der Revolution fragen sich, ob wirklich noch die Hälfte der Bevölkerung dahinter steht. Seit den Wahlen in Nicaragua weiß man nun auch nicht mehr, ob die Millionen Menschen, die sich bei revolutionären Kundgebungen versammeln, auch wirklich hinter der Revolution stehen.
Angesichts des gegenwärtigen Einparteiensystems und des Fehlens von Meinungsumfragen zu kontroversen Themen kann niemand wissen, welcher Prozentsatz KubanerInnen für oder gegen die Revolution ist. Diejenigen, die einen baldigen Zusammenbruch des Systems erwarten, leben jedenfalls in einem Traumland. Sogar Gustavo Arcos, Führer des Kubanischen Menschrechtskomitees, stellte fest, daß ein erheblicher Prozentsatz des Volkes hinter der Revolution und ihren Führern steht. Es habe wenig Sinn, eine starre Definition von Revolutionären und Konterrevolutionären aufrechtzuerhalten. Stattdessen rief er zum Dialog aller Gruppen einschließlich der Regierung auf.
Offenbar haben die starren offiziellen Kategorien tatsächlich immer weniger Sinn. Die Mehrzahl der KubanerInnen steht wahrscheinlich dazwischen. Sie erkennen die positiven Errungenschaften der Revolution an und bezeichnen sich als SozialistInnen, haben aber gleichzeitig viele Klagen über ihr System und wissen nicht, wie es besser funktionieren könnte.

“100% fidelista”

Die Person Fidel Castro hält das Ganze zusammen und gibt der sonst beunruhigenden Welt eine Kontinuität. Ein Zeitungsverkäufer, mit dem ich über den Umsturz in den sozialistischen Ländern sprach, formulierte das so: “Ay, chica, ich verstehe nicht, was in der Welt vorgeht. Ich weiß auch nicht mehr, was Kommunismus ist. Aber eines weiß ich genau: Ich bin 100% fidelista.”
Die meisten KubanerInnen, mit denen ich sprach, haben weiterhin eine sehr gute Meinung von Fidel, ihrem comandante. Wenige ziehen die Schlußfolgerung, die für eine Beobachterin von außen so einleuchtend ist: Ein starker Führer, der so viele der wichtigen Entscheidungen im Land fällt, bringt gleichzeitig eine erdrückende Bürokratie mit sich, die zu keinen Risiken bereit und in der Lage ist.
Der Parteiideologe Ramón Suárez gibt zu, daß die Umwälzungen im Osten Europas eine Warnung für die Politiker in Kuba waren. “Hier ist alles anders als in Osteuropa, aber wir untersuchen, wie es dazu kommen konnte, daß die Parteien so verknöcherten, wie sie den Kontakt zum Volk verloren. Wenn man mit ArbeiterInnen in Osteuropa oder sogar in der Sowietunion sprach, konnte man merken, wie gering der Einfluß der Partei war. Die ArbeiterInnen hatten keine sozialistischen Wertvorstellungen. Deshalb sagen wir unseren Parteimitgliedern, sie sollen mehr mit den ArbeiterInnen am Arbeitsplatz, in den Fabriken und in den Schulen reden und die wirklichen Probleme der Leute besprechen – wie die Produktion läuft, die Wohnungssituation, ihren Zugang zu Lebensmitteln und Kleidung. Wir müssen ständig Kontakt halten mit den Menschen und sicherstellen, daß ihre Angelegenheiten ernstgenommen werden.
Ein anderes Problem der europäischen Parteien war, daß ihre Führung sich nicht erneuerte. Und bis vor wenigen Jahren war das in Kuba ja auch so. Aber uns ist das klargeworden und wir nehmen nun junge Leute auf allen Ebenen in die Gremien.”
Roberto Robaina, der 32-jährige Vorsitzende der Kommunistischen Jugend (UJC) in Havanna wird als der beste der neuen Generation angesehen. In T-shirt, Jeans und Turnschuhen bekleidet und inmitten eines lebendigen Kommens und Gehens wirkt er völlig anders als die üblichen kubanischen Parteifunktionäre. Er gilt als “Reformer” und äußert seine Kritik – auch gegenüber Fidel Castro. Für ihn ist das Hauptziel, die Jugend davon zu überzeugen, “die Revolution zu lieben.” Er versucht, dies zu erreichen, indem er statt der alten langweiligen und obligatorischen endlosen Sitzungen Musikveranstaltungen und Feste macht, wo weniger geredet als getanzt wird.
Die Frage der Einheitspartei ist weiterhin tabu in Kuba. Dennoch meinen einige KubanerInnen, kleinere Parteien sollten zugelassen werden, auch wenn natürlich die Vorherrschaft der Kommunistischen Partei damit nicht infrage gestellt werden soll. Andere fürchten die Propagandamaschinerie, die die USA zugunsten anderer Parteien in Gang setzen würden. Dann ginge die nationale Souveränität gleich mit dem Sozialismus verloren.

Das kubanische Dilemma

Das ist das große Dilemma Kubas: Was ist die größere Bedrohung für die Revolution, eine Öffnung des politischen und wirtschaftlichen Systems oder das Aufrechterhalten einer starren Kontrolle? Viele Faktoren sprechen dafür, daß es auf die starre Kontrolle hinauslaufen wird. Ein Grund ist, daß die kubanische Regierung sich weigert, solche Veränderungen durchzuführen, die scheinbar durch äußeren Druch aufgezwungen werden sollen – von den USA, der Sowjetunion oder, noch schlimmer, von den Exilkubanern. Seit 200 Jahren ist Kubas nationale Identität auf der Opposition zum Rest der Welt begründet.
Ein weiteres Hindernis für Reformen hat mit dem machismo zu tun. Wenn mann einmal einen Weg eingeschlagen hat, dann kann mann nicht mehr zurück. Genau das ist die Guerilla-Mentalität und leider scheint Fidel Castro nach eben diesem Motto zu handeln. Manche haben Angst, daß er auf das einzige richtige Ende für einen Revolutionär hinarbeitet – in Flammen aufzugehen. Socialismo o muerte.
Das wichtigste Hindernis für Reformen ist die Feindschaft der USA, die die Einheit wichtiger erscheinen läßt als die Toleranz. “Wenn die Yankees ein kubanisches Schiff mit Maschinengewehren beschießen, oder wenn Bush einen Ballon in den Himmel schickt, um uns TV Martí aufzudrücken, dann verlieren meine Konflikte mit den Dogmatikern an Bedeutung. Dann will ich nur noch einem Scheißamiledernacken auf die Fresse hauen”, sagte ein Reformanhänger.
Veränderungen sind unausweichlich. Wenn die Kommunistische Partei Kubas nicht in der Lage ist, einen wirtschaftlichen und politischen Reformprozess einzuleiten, kann Kubas großartiges Experiment am Ende sein. Anders als die osteuropäischen und sowjetischen Kommunisten genießt die kubanische Partei noch viel Ansehen. Wenn die Sorgen und Bedürfnisse der Kubaner ernstgenommen werden und Reformen stattfinden, wird die Revolution nicht nur besser imstande sein, die US-Aggressionen zu überstehen, sondern sie kann auch weiter den Rest der Dritten Welt inspirieren.


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Die Linke und das Ende des europäischen Sozialismus

Die PT – eine sozialistische Partei neuen Typus?

Es lohnt sich, gerade die Diskussion innerhalb der PT etwas näher zu betrachten, da diese Partei nicht in den Rahmen der traditio­nellen kommunistisch-sozialistischen Parteien in Lateinamerika paßt und eine Massenpartei ist, deren Kandidat Lula im letzten Jahr fast die Wahlen gewonnen hätte. Während des Präsidentschafts­wahlkampfes war die PT gezwungen, sich intensiv damit auseinander­zusetzen, wie eine sozialistische Alternative für Brasilien auss­sehen könnte und mußte Angriffe kontern, sie wolle in Brasilien das überholte Gesellschaftsmodell einführen, das in Europa gerade zu Grabe getragen werde.
Die PT entstand 1980 als ein Zusammenschluß von Menschen aus der neuen Gewerkschaftsbewegung, links-katholischen Kreisen und Intel­lektuellen. Zahlreiche Basisinitiativen, oft beeinflußt von den links-katholischen Strömungen, schlossen sich der Partei an oder verstanden sich als PT-nahe. Nicht in die Partei gingen hingegen die beiden (damals noch verbotenen) kommunistischen Parteien. Nach einem schematischen Etappenmodell wollten sie in der bürgerlichen Oppositionspartei PMDB zunächst für eine demokratische Umwälzung kämpfen.
Die PT verstand sich von Anfang an als eine Partei mit einer besonderen Bindung an die sozialen Bewegungen und zu Beginn bestimmte das Verhältnis zu den “Bewegungen” die internen Diskus­sionen der Partei: Soll sie nur ein Sprachrohr der Bewegungen sein oder eine eigenständige politische Kraft – eine Diskussion, die sehr an die Gründungszeiten der Grünen erinnert. Von den Grünen unterscheidet sich aber die PT radikal in einem Punkt: Prägend waren die Erfahrungen der neuen, kämpferischen Gewerkschaftsbewe­gung im industrialisierten Sektor Brasiliens. Ist der Kampf gegen Atomkraftwerke die Gründungssage der Grünen, so sind es die Streiks der MetallarbeiterInnen für die PT. In der PT waren und sind auch Kräfte – vor allem unter den Intellektuellen – vertre­ten, die traditionellen marxistischen Orientierungen anhängen, sowie einer recht bedeutsame trotzkistische Strömung.
Die Organisation verschiedener “Tendenzen” innerhalb der Partei ist erlaubt, und tatsächlich ist die PT in eine Vielzahl von Srö­mungen aufgegliedert, die sich zum Teil heftig bekämpfen. Immer­hin: Die PT ist eine Partei, die internen Pluralismus zuläßt und nicht nach den Prinzipien des “demokratischen Zentralismus” aufge­baut ist. Das heißt auch, daß in vielen Fragen eine Position der PT nur schwer auszumachen ist. Gerade in vielen Punkten, die Deut­sche immer wieder interessieren, ist die PT zutiefst gespalten: der Ökologie und dem Verhältnis zur Frauenbewegung. Selbst Grund­forderunge wie das Recht auf Abtreibung haben es in der PT schwer, da hier die progressiven Katholiken an ihre Grenzen geraten. Aber auch solche Diskussionnen werden innerhalb der PT geführt und in letzter Zeit konnten Feministinnen in der PT an Boden gewinnen, zum Beispiel daurch, daß eine erklärte Feministin zur Frauenbeauf­tragten in Sao Paulo ernannt wurde.
Die PT hat sich in vielen Positionspapieren (nicht aber in ihrem Gründungsdokument!) zum Ziel einer sozialistischen Gesellschaft bekannt. Sie hat sich mit der polnischen Solidarnosc solidari­siert, gar Kampagnen zu ihrer Unterstützung in Brasilien gestartet – ein demonstrativer Akt der Abgrenzung zum real existierenden Sozialismus (Später sind die Beziehungen zur Solidarnosc aus ver­ständlichen Gründen abgekühlt). Auf der anderen Seite hat die PT intensive Beziehungen zu den kommunistischen Parteien Osteuropas unterhalten und zahlreiche PT Funktionäre besuchten Schulungskurse in der DDR. Diese seltsame Ambivalenz von Distanz und Nähe bestimmte auch das Verhältnis zu Kuba. Die Offenheit der PT macht natürlich auch in den verschiedensten Lagern Appetit. Auf dem letzten Parteikongreß (1990) waren zum Beispiel die SPD (als ein­zige deutsche Partei!) und die kommunistische Partei Nordkoreas vertreten.

Sozialismus + Demokratie + Pluralismus

Diese Formel wird in den meisten Beiträgen als Lösung des Problems angeboten. “Der Pluralismus ist unvermeidbar”, ist ein Interview mit dem Generalsekretär der PT, José Dirceu überschrieben. “Ich glaube, daß die leninistischen Konzeption von der Diktatur des Proletariats, nicht wie sie gedacht war, sondern wie sie verwirk­licht wurde, überholt ist. Sie oktroyiert eine staatliche Presse, die Abwesenheit von Opposition, ein Einparteiensystem und Plan­wirtschaft.Die Gesellschaft muß sich demokratisch entwickeln.” Seine Vorstellung von Demokratie konkretisiert Dirceu folgenderma­ßen: “Die Opposition hat das Recht zu existieren. Sie muß alle individuellen und kollektiven Rechte ausüben können, die in der Verfassung garantiert sind. Ihr muß auch die Freiheit eingeräumt werden, den Weg der Rückkehr zum Kapitalismus einzuschlagen. Es ist bewiesen, daß die kulturellen Unterschiede innerhalb der Bevölkerung, insbesondere innerhalb der Arbeiterklasse, es einem großen Teil der Menschen unmöglich machen, die Macht über die direkte Demokratie auszuüben, also durch Plebiszite oder Referen­dum. Somit ist die repräsentative Demokratie eine Notwendigkeit. Es ist ein Fehler der Sozialisten, ein fundamentales Instrument zur Erzielung von Legitimität und Konsens zu vernachlässigen: die Abstimmung in einer repräsentativen Körperschaft.”
Es ist die Kombination von Verfassungsrechten und repräsentativer Demokratie, die autoritäre Verzerrungen bannen soll. Im Scheitern des autoritären Sozialismus sehen einige Beiträge denn auch eine Chance: der Sozialismus muß nun endlich eine untrennbare Verbin­dung mit der Demokratie eingehen und kann gerade dadurch an Attraktivität gewinnen. “Der Zusammenbruch der sozialistischen Regimes in Osteuropa hat eine extrem positive Seite: Überkommene und nicht mehr aktuelle Ideen müssen neu überdacht werden.”(Luis Alberto Gomes) Zwar hatten die Marxisten, wie Herbert de Souza ausführt, immer schon die Demokratie im Munde geführt, aber eine im Grunde taktische Position zur Demokratie eingenommen und damit ihre Reichweite und Radikalität vermindert. Das Ergebnis war “Gleichheit ohne Partizipation und Solidarität ohne Freiheit.”
“Man kann sagen, daß die brasilianische Linke die Realität der brasilianischen Gesellschaft nie unter dem Blickwinkel der Demo­kratie analysiert hat. Generell war die Linke eher in der Lage, die Entwicklung des Kapitalismus zu verstehen als diese Entwick­lung unter dem Blickwinkel der Demokratie zu analysieren.” Oder noch einmal zugespitzt: Die Frage des Sozialismus hat nur Sinn als Frage der Demokratie. Der Sozialismus muß – und tut es auch schon – seinen Namen neu diskutieren. Der wahre Name des Sozialismus ist Demokratie.” An diesen Stellungnahmen überrascht vielleicht, wie unproblematisiert mit dem Konzept der (repräsentativen) Demokratie umgegangen wird. Allerdings betonen die Autoren immer wieder, daß die bürgerliche Demokratie keine Alternative sein kann, da sie vor den Fabriktoren aufhöre und eine Demokratie ohne soziale Gerech­tigkeit keine wirkliche Demokratie sei. Dirceu problematisiert, ob es jetzt überhaupt einen demokratischen Staat gäbe. Das würde ja voraussetzen, daß die Bourgeoisie bereit wäre friedlich einen übergang zu einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft zuzulassen. “Aber wenn das Volk in kapitalistischen Ländern die Macht ergreift, dann holen sie das Heer und veranstalten wahre Massaker, wie sie es schon in verschiedenen Ländern Lateinamerikas gemacht haben.” Diese Frage müsse noch gelöst werden.
Das glaubhafte Bekenntnis zu einem demokratischen Sozialismus fällt der PT sicherlich nicht schwer, wie die kurze Charakterisie­rung der Partei zeigt. Daher wohl auch das Bemühen, diesen Punkt in den Mittelpunkt der Debatte zu rücken. In einigen Stellungnah­men scheint aber auch durch, daß die Fragen doch komplizierter sind: Schließlich forderten “die Massen” in Osteuropa nicht den demokratischen Sozialismus, sondern den Kapitalismus.

Sozialismus ohne Planwirtschaft?

In die Krise geraten ist doch auch eine Grundannahme aller sozia­listischen Konzepte: daß eine zentrale Planung und gesellschaftli­che Kontrolle der Produktion geboten sei, um den Übeln der Markt­wirtschaft beizukommen. Dieser Punkt wird in den meisten Stellung­nahem weniger ausführlich diskutiert. José Dirceu will an der Grundentscheidung für Planwirtschaft festhalten. “Ich glaube nicht, daß die Planung in sozialistischen Ländern aufgegeben wer­den darf (ich spreche von strategischer Planung) und obwohl ich die Beibehaltung des Kollektiveigentums an den wichtigsten Produk­tionsmitteln verteidige, ist es nicht vorstellbar, da? es möglich sein kann, die Produktivkräfte zu entwicklen, ohne kleines und mittleres Eigentum zuzulassen – oder anders gesagt: ohne die Exi­stenz von Privateigentum an Produktionsmitteln und Gütern.” Die Kombination von Wirtschaftsdemokratie, Planung und Privateigentum soll sowohl Bürokratisierung wie die Anarchie des Marktes beseiti­gen. “Ich glaube nicht, daß in den nächsten fünfzig Jahren irgend­eine Gesellschaft voranschreiten kann, ohne Kollektiveigentum mit mittlerem und kleinem Privateigentum zu verbinden.”

Der Marxismus – ein toter Hund?

Die PT-Dikussion bewegt sich – das ist unschwer zu erkennen – im Rahmen einer klassisch-sozialistischen Denktradition, die durch den Marxismus geprägt ist. ßkologie oder feministische Kritik spielen bei den durchweg männlichen Autoren keine Rolle. So kann es auch nicht überraschen, daß eine Krise des Marxismus konsta­tiert und erörtert wird. In Deutschlund scheint diese Frage ja – um im Tierreich zu bleiben – keinen Hund mehr hinter dem Ofen her­vorzulocken, die große Debatte dieses Jahrhunderts ist nicht ent­schieden worden, sondern siecht an Desinteresse dahin. Anders in Brasilien: “Die Krise des ‘realen Sozialismus’ ist vor allem die Krise des orthodoxen Marxismus… Der orthodoxe Marxismus ist heute nicht mehr als eine Philosophie des bürokratischen Konserva­tivismus…Die Kritik dieses Marxismus ist der Ausgangspunkt für die Formulierung einer revolutionären Alternative, die zugleich humanistisch und universal ist.” Man müsse den Kopf befreien von der Diktatur der “gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten” um zu einer “antideterministischen und libertären” Konzeption zu gelan­gen. Es gelte den Weg weiterzuverfolgen, den Gramsci eröffnet habe.(So Ozeas Duarte, einer der Herausgeber von “Teoria & Debate”) In einem anderen Beitrag fordert Augusto de Franco (Mitglied des Leitungsgremiums der PT), “die alte Fibel zu zerrei­ßen, die darauf basiert, der Marxismus-Leninismus sei eine wissen­schaftliche Theorie.” Besonders in diesem Beitrag wird nicht erst der Stalinismus als das Übel ausgemacht: “Die Geschichte zeigt, daß es weder vor noch nach 1917 eine Politik gab, die unabhängige und autonome Organisationen der Arbeiter aufbaute als Keimformen von Organisationen der Leitung und der Macht in der Gesellschaft.” Diese Äußerungen haben heftigen Widerspruch eines anderen Lei­tungsmitgliedes (Joao Machado) provoziert. Für ihn brach Stalin mit der gesamten marxistischen Tradition und errichtete eine büro­kratische Diktatur, die sich gerade über die physische Liquidie­rung der alten Garde des Bolschewismus etablierte. Der Stalinismus stelle einen radikalen Bruch mit der Tradition des Marxismus dar, die Kritik am real existierenden Sozialismus gäbe daher nichts her für die Kritik am Marxismus. “Daher haben wir bei der immensen Aufgabe, einen demokratischen, revolutionären und libertären Bezugsrahmen zu errichten, einen fundamentalen Stützpunkt in der marxistischen Tradition, die wir mit aller Energie vom Stalinismus unterscheiden müssen.”

Wir haben eine Mappe bereitgestellt, in der die Beiträge, auf die hier Bezug genommen wird, kopiert sind. Die Mappe enthält auch den vollen Wortlaut des Dokuments “O socialismo petista”. Alle Beiträge sind auf portugiesisch! Zu beziehen über den LN Vertrieb gegen Rechnung (DM 10,- plus Versandkosten) oder gegen DM 10,- Vorauskasse!

Kasten 1:

Dokumentation

O Socialismo petista

Dokument des 7.Nationalen Kongreß der PT (Juni 1990) Auszüge
Die PT entstand bereits mit radikaldemokratischen Vorschlägen. Unsere Ursprünge liegen im Kampf gegen die Militärdiktatur und Repression der Bourgeoisie. Auf der Straße und an unseren Arbeitsplätzen forderten wir die politischen Freiheiten und sozia­len Rechte. In den 10 Jahren ihrer Existenz war die PT immer an der Spitze der Kämpfe für die Demokratisierung der brasilianischen Gesellschaft … Aber die demokratische Verpflichtung der PT geht hinaus über die Parolen, die sie verteidigte und verteidigt. Auch unsere interne Organisation drückt die Verpflichtung zu einer freiheitlich orientierten Politik aus. Den monolithischen Hierar­chien traditioneller Parteien – und vieler linker Gruppierungen – abgeneigt, unternimmt die PT Anstrengungen, die interne Demokratie zu stärken. Dies ist die unabdingbare Voraussetzung für eine demo­kratische Praxis im sozialen Leben und bei der Ausübung der Macht. Diese fundamentale Verbindung mit der Demokratie verpflich­tete uns zum Antikapitalismus, wie sie auch unsere antikapitali­stische Opposition in unserem demokratischen Kampf stimulierte.
Die PT identifiziert sich mit den Kämpfen der Arbeiter und der Völker für ihre Befreiung und für den Sozialismus … Seit ihrer Gründung betrachtet die PT die Mehrheit der Erfahrungen des soge­nannten realen Sozialismus als eine Theorie und Praxis, die nicht in Einklang ist mit den humanistischen, libertären und egalitären Ideen des Sozialismus. Der Sozialismus, im Sinne der PT, wird radikal-demokratisch sein oder er wird kein Sozialismus sein … Aber was für ein Sozialismus? Für welche Gesellschaft, welchen Staat kämpfen wir? … Das 5. Nationale Treffen präsentierte den Arbeitern unseres Landes das grundlegende ideologisch-politische Profil unserer Vision: Um den Kapitalismus auszulöschen und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu beginnen, bedarf es an erster Stelle einer radikalen politischen Veränderung: die Arbeiter müssen zur hegemonialen Klasse in der zivilen Gesell­schaft und in der Staatsmacht werden.
Der Sozialismus, den wir herbeisehnen, kann es nur geben mit einer demokratischen Organisation der Wirtschaft … Eine Wirtschaftsdemo­kratie, die ebenso die perverse Logik des Marktes wie auch die unerträgliche, autoritäre staatliche Planung der sogenannten sozialistischen Wirtschaften überwindet … Wir kämpfen für einen Sozialismus, der nicht nur die demokratischen Freiheiten,die in der kapitalistischen Gesellschaft errungen wurden, bewahren muß, sondern sie erweitert und radikalisiert.

Dies sind nur kurze Auszüge aus einem erheblich längerem Dokument.

Kasten 2:

Die Haupttendenz in der Welt ist Sozialismus

Die abweichende Meinung der Trotzkisten

In einem Interview mit “Teoria & Debate” stellt der Sprecher der größten trotzkistischen Tendenz innerhalb” der PT (Convergencia Socialista), Valerio Arcary, seine Sichtweise der Dinge dar:
“Noch nie in unserem Jahrhundert war die Lage für den Kampf um den Sozialismus so günstig. Ich werde eine noch schockierendere Fest­stellung machen: Nie war der Osten so dem Sozialismus zugeneigt! Denn die Massen sind in Bewegung und ein grundlegendes Element im Marxismus ist das Ver­trauen, daß die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter sein kann … Das Proletariat hat sich in Bewegung gesetzt. Das ist ein Beispiel für die ganze Welt … Die Massen wollen den Kapitalismus? Nein. Die Massen wollen nicht den Kapitalismus. Die Massen wollen bessere Lebensbedingungen. Es gibt eine Explosion von Freiheiten in Osteuropa. Es sind Freiheiten, die auf dem Weg, der zur Revolution führt, erobert worden sind. Im Kampf für ihre Forde­rungen haben die Massen die Illusion, ihre Länder könnten sich in ein Frankreich, in eine Schweiz verwan­deln … Es gibt Illusionen, aber es gibt auch Mobilisierung. Die Revolution geht weiter. Der Aufstand gegen die bürokrati­schen Dik­taturen war nur ein Moment.”

Teoria & Debate 10, Mai 1990


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Die Linke im Bann der verfassunggebenden Versammlung

“Im Establishment herrscht Angst und Zittern” und der rechtsgerichtete Kolumnist D’Artagnan der konservativen Tageszeitung E1 Tiempo bringt es auf den Punkt: “Werden wir zusehen müssen, wie die Verursacher des Holocausts des Justizpalasts (‘) als Mitglieder in unsere verfassungsgebende Versammlung gewählt werden?” Gemeint sind Exguerilleros der linkspopulistischen M-19, die im März 1990 abgerüstet und legalisiert wurde und heute als reputierliche Mittelklassepartei mit ihren Augenaufschlägen vor der deutschen Sozialdemokratie und ihren Diskursen von einem “demokratischen Kapitalismus” nicht nur die traditionelle und revolutionäre Linke aus der (Ver-) Fassung bringt. Auch gewählt wird schon wieder: das Volk hat es so gewollt. Von einer Studentenbewegung lanciert und als Initiative der hijos de papi (Muttersöhnchen der Reichen) gutwillig von Präsident Barco gegen Ende seiner Amtszeit aufgenommen (er hatte ja nichts mehr zu verlieren), fand bei den Gemeinde-und Parlamentswahlen im März (inoffiziell auf Initiative von Studenten und Volksorganisationen), sowie bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Mai (offiziell durchgeführt und ausgezählt) eine Volksabstimmung über die Konstitution einer verfassunggebenden Versammlung statt, “um die partizipative Demokratie zu stärken, ja/nein”. In der Gewißheit, mit den traditionellen klientelistischen Hilfsmitteln (auf gut deutsch: Stimmenkauf gegen Geld, Einflug und Pöstchen) und der konservativen Presse noch genügend Steuerungskraft zu besitzen, ließen sich die traditionellen Parteien sogar auf eine direkte Wahl der zukünftigen Verfassungsmütter und -väter ein -nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in Europa ein ungewöhnlicher Vorgang. Die Versammlung soll nach ihrer Wahl am 6. Dezember in völliger Selbstbestimmung das erstarrte und korrumpierte politische System reformieren und, soweit gehen heute die Erwartungen, einen neuen “Sozialpakt” auf einer völlig erneuerten verfassungsrechtlichen Grundlage in dem von politischer Gewalt zerrütteten Land möglich machen.
Zu Beginn schien grundsätzliche Skepsis noch angebracht, war doch zu erwarten, daß es der Konservativen und Liberalen Partei, den traditionellen Eliten, gelingen würde, das Vorhaben für sich zu instrumentalisieren. Doch schon heute hat die Asamblea Constituyente auf der politischen Bühne so viel in Gang und gleichzeitig durcheinander gebracht, daß Konservativen und Liberalen in weiten Bereichen die Kontrolle entglitten zu sein scheint und ihre alten Muster, nach denen sie jahrzehntelang gemeinsam Politik machten, nicht mehr gelten. Und das Allerschlimmste im Sinne des eingangs zitierten Kolumnisten: In den Umfragen liegt die M-19 vor Liberalen oder Konservativen in der Gunst des Wahlvolkes. Ihre Liste, angeführt von Antonio Navarro Wolf, birgt in der Tat Überraschungen: angeschlossen haben sich ihr drei Liberale, der progressiv- konservative Alvaro Leyva Durán und der bekannte Soziologieprofessor Orlando Fals Borda. Doch auch links von der M-19 hat sich Interessantes getan, wurden alte Unvereinbarkeiten linken Sektierertums aufgegeben. So haben Kommunisten, Sozialisten, Castristen und Unabhängige sich in einer Liste geeint und setzen alles daran, mit ihrem Spitzenkandidaten Alfredo Vásquez Carrizosa, Ex-Außenminister und Vorsitzender des Permanenten Komitees zur Verteidigung der Menschenrechte, mit neuer Offenheit und Toleranz als linke Alternative ernst genommen zu werden. Egal ob revolutionäre, dem Guerillakampf verbundene und bisher abstentionistische Kräfte wie A Luchar, reformistisch orientierte Kommunisten oder konziliante, bezüglich ihrer Herkunft schwer erkennbare Exmaoisten: sie legen in diesem Jahr ohne Ausnahme den Schwerpunkt ihrer politischen Arbeit und mehrheitlich auch ihre Hoffnungen (also nicht nur Taktik) in eine verfassungsrechtliche Reform, verstanden als zukünftige Grundlage für einen Umbau der Gesellschaft, der als nicht mehr hinausschiebbar wahrgenommen wird. Kein Wunder: Kolumbien hat im lateinamerikanischen Vergleich die höchste Mordrate, die höchste Boden(Besitz-)konzentration und die unerbittlichsten neoliberalen Wirtschaftssitten in Gestalt des Drogenhandels. Doch wie kam es zu den programmatischen und organisatorischen Veränderungen in der Linken? Ein Blick zurück kann vielleicht ansatzweise eine Antwort geben.
Seit Ende der 50er Jahre bis in die Gegenwart wurde Kolumbien durch ein ausschließliches Zweiparteien-System (dem sogenannten Bipartidisrno) beherrscht, das in der Nationalen Front institutionell und auch verfassungsrechtlich bis 1978 abgesichert war. Nach der bürgerkriegsähnlichen Violencia der 40er und 50er hatten sich die verfehdeten Liberalen und Konservativen Parteien auf dieses Modell der Kooptation und paritätischen Amterbesetzung geeinigt, nach-dem der damalige Konflikt klassenspezifische Dimensionen angenommen hatte. Die Nationale Front sicherte nicht nur jahrzehntelang das trügerische Bild einer stabilen Präsidialdemokratie, sie garantierte und reproduzierte immer wieder auch den Ausschluß oppositioneller politischer Bewegungen. In diesem Kontext ist die marginale Entwicklung der Linken zu sehen, die sich, von der halblegalen und isolierten Kommunistischen Partei einmal abgesehen, nie im legalen Raum als Volks-oder Massenpartei über punktuelle historische Momente hinaus institutionalisieren konnte. Entweder wurde sie in die Illegalität (zur Guerilla) getrieben wie die Volksbewegung der Frente Unido um Camilo Torres (er ging zur ELN und fiel wenige Monate später), oder sie wurde von den traditionellen Parteien gespalten, korrumpiert und aufgesogen wie die “Revolutionäre Liberale Bewegung” MRL -Prozesse, die Mitte der sechziger Jahre stattfanden. Oder sie zerbrach an institutionellen Hürden, Wahlbetrug und fehlendem inneren Zusammenhalt wie die populistische ANAPO und ihr sozialistisches Strömungsanhängsel im Jahr 1970 (das zur Geburtsstunde der M-19 wurde), oder, letztes Beispiel, sie wurde in einem strategisch geführten Schmutzigen Krieg physisch liquidiert, wie die Unión Patriótica (UP)der 80er Jahre. Die UP war als legales Projekt der Kommunistischen Partei und der kommunistischen Guerilla aus dem “Friedensprozeß” unter dem damaligen Präsidenten Betancur hervorgegangen. (Anderen Guerillaorganisationen wie der M-19 -deren Popularität damals schon weit in die Mittelschichten hinein reichte -gelang die Konstitution einer legalen politischen Partei zu diesem Zeitpunkt aufgrund der massiven Verfolgung durch Todesschwadronen nicht). Bei den Präsidentschaftswahlen 1986 gelang es der UP noch mit Jaime Pardo Leal(1987 ermordet) für kolumbianische Verhältnisse beachtliche 4,5% der Stimmen zu erringen. Bei den Wahlen 1990 war sie für eine Kandidatur physisch nicht mehr in der Lage: ihr Kandidat Bernardo
Jaramillo wurde schon vorher umgebracht. Obwohl -oder gerade weil? -sich die politischen.Morde vorwiegend gegen die perestroikos,die Vertreter einer politischen Öffnung richteten, brachte die Perestroika-Diskussion in den letzten zwei Jahren die Linke erneut in Bewegung. Doch auch die Friedensverhandlungen, die die M-19 mit der Regierung Barco ab dem Frühjahr 1989 führte, beeinflusste die “Öffnungsdiskussion”der Linken und führte zu einem neuen Stellungbeziehen in der Frage des bewaffneten Kampfes -in klarer Abgrenzung zur M-19. “Keine Verhandlungen, keine Waffenniederlegung, ohne daß die Oligarchie zu Verhandlungen über soziale und politische Reformen bereit ist”, blieb die Devise. Nichtsdestoweniger wird unter Marxisten diverser Richtungen immer mehr der orthodoxe Diskurs durch eine allgemein-verständlichere Sprache abgelöst und der Avantgarde-Anspruch immer mehr durch die Idee der “kollektiven Avantgarde”. Diskussionen um eine Demokratisierung der Partei-bzw. Organisationsstrukturen sind in Gang.
Die M-19 hingegen hat in dieser Zeit vorgeführt, wie es geht, mit möglichst viel Prinzipien in möglichst kurzer Zeit zu brechen -und damit Wähler zu gewinnen: Bei den Präsidentschaftswahlen am 27. Mai verwies sie den offiziellen Kandidaten der Konservativen Partei auf den vierten Platz und errang auf Anhieb 12,5 % der Stimmen. Nicht nur, daß sie das Ende des Guerillakampfes in Lateinamerika ausrief und in einer parlamentarischen Demokratie -einer reformbereiten natürlich -nur noch Gutes sah. Nein, sie bekennt sich auch (laut Wahlprogramm) zu einem “Kapitalismus der Besitzenden”, einem Kapitalismus, “in dem alle reale Chancen auf Eigentum haben”. -Doch vielleicht hatte sie genau das unter “Volksmacht” immer verstanden? Und wenn in diesem Versprechen vielleicht gerade ihr Erfolgsgeheimnis läge?
Sicher ist, daß die alte, sich mühsam reformierende Linke, zwischen Neid auf die Popularitätswelle der Eme und Ablehnung von deren Anbiederung an die Macht, gleichzeitig vom Erfolg des Zivilismus und des demonstrierten Glaubens an eine Reformierbarkeit des abgewirtschafteten Systems in den Bann gezogen wird. Doch auch wenn diese Hoffnung berechtigt ist, wenn es gelingen sollte, mit neuen Mehrheitsverhältnissen die Verfassung des Landes zu reformieren und das Legitimationsdefizit der alten Eliten für eine Demokratisierung von Politik und politischer Kultur zu nutzen: Die Macht über die materiellen Reichtümer und zu deren Umverteilung ist damit noch nicht in anderen Händen.

(‘) Im November 1985 wurde der Justizpalast von der M-19 besetzt. Bei der Gegenoffensive der Streitkräfte kamen über 100Menschen ums Leben; zahlreiche Personen, Guerilleros wie Zivilisten, wurden vom Militär verschleppt und zu Tode gefoltert.


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Ökologie in Unordnung

“Die Entwicklungsprojekte der letzten 25 Jahre für Amazonien sind durchweg gescheitert”, darin herrschte weitgehende Einigkeit unter den RednerInnen und Zuhöre­rInnen. Tatsächlich ein “gemeinsames Nachdenken über Entwicklungsalternativen für Amazonien” in Gang zu bringen, wie es die 5-tägige, unter anderem von der UNESCO, der Orga­nisation Amerikanischer Staaten (OAS) und der US-amerikanischen FORD-Stiftung unterstützte Tagung als Ziel formuliert hatte, erwies sich in der Folge jedoch als ein schwieriges Unterfangen.
Bei den Podiumsdiskussionen, die Politiker und WissenschaftlerIn­nen, Holzexporteure und IndianerInnen zusammenbringen sollten, kam eine echte Debatte nur ansatzweise zustande. Die einzelnen Statements waren von sehr unter­schiedlicher Qualität, nur selten aufeinander bezogen, und auch viele interessante Beiträge endeten eben an dem Punkt, wo eine Diskussion über Entwicklungs­alternativen hätte beginnen müssen. So etwa die bedenkenswerte Überlegung des Vertreters des anthropologischen Museums von Belém: Wenn jetzt viele im Norden so gerne davon reden, “von den Indianern zu lernen”, wie sieht es dann eigentlich mit den “intellectual property rights”, den Rechten der intellektuellen Urheberschaft und des geistigen Eigentums aus? Sicherlich ist dies eine Vorstel­lung, die der internationalen Pharmaindustrie mit ihren großen Interessen an pflanzlichen Wirkstoffen aus Amazonien wenig gefallen wird.

Sammelreserven und CO2-Lager

Ein anderer Ansatzpunkt, der ein positives Echo fand, waren die “Sammelreserven”, wie sie beispielsweise auf Druck der Kautschukzapfer in dem brasilia­nischen Bundesstaat Acre einge­richtet wurden. Diese Schutz­gebiete, in denen die Nutzung des tropischen Regenwalds nicht in seiner Vernichtung besteht, bringen auch fast in jedem Falle mehr ökonomischen Gewinn als die extensiven Viehweiden auf gerodetem Urwaldland, wie der nordamerikanische Anthropologe Emilio Moran erläuterte. Und durch den gezielteren Einsatz forstwirtschaftlicher Methoden wäre in diesem Bereich noch eine beträchtliche Ertragssteigerung zu erzielen.
Die besonders von Umweltgruppen aus den USA propagierten sogenannten “Debt-for-nature-swaps” (Auslandsschulden-gegen-Natur-Tausch) wurden auf der Konferenz in Belém als “Mittel der entwickelten Länder, Kontrolle über Gebiete in unter­entwickelten Ländern zu erlangen” abgelehnt. Der katalanische Ökonom Martinez Allier jedoch riet der Umweltbewegung Brasiliens, diese Idee aufzu­nehmen und im Gegenzug aber einen gerechten Preis einzufordern: Wenn die Bedeutung des Amazonas-Waldes für die Lagerung von Kohlen­stoff und für das Weltklima einberechnet wird, müßten die Hauptproduzentenländer von Kohlendioxid alljährlich Zahlun­gen in Millionenhöhe an Brasilien leisten…
Ausgehend von der Erkenntnis, daß Amazonien nicht als ein homogenes Ökosystem betrachtet werden darf, sondern die Besonderheiten der einzelnen Regionen beachtet werden müsseen, wurde die Forderung nach einer “ökologischen und ökonomischen “Zoneneinteilung” (zoneamento) erhoben. Nur durch eine derartige Unterteilung des riesigen Amazonasgebietes ließen sich sinnvolle Aussagen über die unterschiedlichen ökologisch verträglichen Nutzungsmöglichkeiten einzelner Regionen treffen, machte der Geograph Aziz Ab’Saber von der Universität Sao Paulo deutlich.

Lutzenberger als Collors Alibi

Nur am Rande kam bei der Amazonas-Konferenz die Sprache auch auf die Politik der Regierung in Brasilia. Der erst im März gewählte Präsident Collor hatte mit der Ernennung des international bekannten Umwelt­experten José Lutzenberger zum Staatssekretär für Umweltschutz einen Überraschungscoup in Sachen Öko-Image gelandet. Dennoch setze Collors Politik das von der Militärdiktatur implantierte Konzept der Inbesitznahme Amazoniens unverändert fort, kritisierte Fabio Feldman, Abgeordneter der bei den Wahlen im März unterlegenen PT (Arbeiterpartei). Über das “Ministerium für strategische Angelegenheiten” hat das Militär auch heute noch entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung Amazoniens. Und José Lutzenberger – der zu der Konferenz in Belém eingeladen, aber nicht erschienen war – habe für Collor lediglich die Funktion, durch Auftritte auf internationalen Kongressen die Kritik des Auslands zu neutrali­sieren.
Konkrete Ergebnisse konnte das Treffen über die “ökologische Unordnung in Amazonien” keine vorweisen. Die unvermeidliche Schlußresolution faßte in “22 Empfehlungen” so richtiges wie altbekanntes zusammen, von der Forderung nach einem Stopp für Großprojekte und neue Ansiedlun­gen im Amazonasgebiet über die Eindämmung der Landspekulation bis hin zur Kontrolle der Gold­sucher und dem effektiveren Schutz der Indianer- und Natur­schutzgebiete. Befriedigende Antworten, wie all dies denn erreicht werden könne, blieben jedoch aus; die Schlußresolution wird so erst einmal der Planungs­kommission für den nächsten Kongreß zum Thema übergeben, der im Juni 1992 in Rio de Janeiro stattfindenden UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung…


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Interview mit Fernández Huidobro: Tupamaros (MLN)

LN: Die Partido Nacional (Blancos) stellt seit März 1990zum drittenmal in diesem Jahrhundert den Präsidenten der Republik. Wie schätzt ihr die Politik der neuen Regierung und die des Präsidenten Lacalles ein ?

Es ist eine Regierung, die die Interessen der Banken repräsentiert, in erster Linie den Finanzsektor. Darüberhinaus ist sie eng mit dem Ausland verbunden, mit den großen internationalen Banken. Es ist eine Regierung, die jetzt schon fast keine politische Unterstützung mehr erhält: Das “Ley de Lemas” unseres Landes (das Wahlgesetz Uruguays, s. LN 186) ermöglicht durch Stimmenakkumulation das Regieren einer Minderheit. Dazu brauchten die Blancos die Stimmen anderer politischer Sektoren, die jedoch in ihren Wahlkampagnen genau entgegengesetzte Programme vertreten haben. Später ergeben sich dann Situationen wie die heutige: Um zu regieren, muß man Wunder vollbringen, da die notwendige politische Unterstützung schwindet.

LN: Gibt es bedeutende Unterschiede in der Wirtschaftspolitik zu der von der 1985-1990 regierenden Colorado-Partei?

Vielleicht mehr Brutalität und Unfähigkeit aufgrund des Fehlens guter Wirtschaftsberater. Die Colorado-Partei -mal abgesehen davon, daß wir große, enorme Diskrepanzen mit ihnen haben -hatte gute Wirtschaftsberater und sie besaß die technischen Mittel, um ihre “Wirtschaftsrezepte” umzusetzen und effizient zu sein. Die Blancos sind grobschlächtiger und ineffizienter. Sie kündigten in ihrem Wahlkampf den Leuten an, daß sie die “harten Rezepte” anwenden würden, versprachen aber damit, die Probleme des Landes zu lösen. Das, was zu erwarten war, ist nun eingetreten: Heute beginnen die Leute zu verstehen, daß diese Rezepte nur eine Neuauflage, allerdings eine noch härtere, der vorangegangenen Politik der Colorados sind. Der Zusammenbruch der Regime in Osteuropa und der Skeptizismus in wichtigen Teilen der uruguayischen Linken machte es möglich, daß die herrschende Klasse merkte, daß der Moment für sie gekommen ist, uns die bittersten “Heilmittel” zu verschreiben. Das ist für sie günstige Moment, den sie nicht verstreichen lassen dürfen, denn übermorgen, wenn die Reihen der Linken wieder fester geschlossen sind, wird es wieder Schwieriger für sie. Deshalb haben sie es so eilig und wollen in nur wenigen Monaten machen, was sie viele Jahre lang versäumt haben und selbst mit der Diktatur nicht geschafft haben.

LN: Sechs Monate nach dem Amtsantritt des Präsidenten Lacalle scheint seine Allianz mit den.Colorados in einer schweren Krise zu stecken. Wie wird sich die “Nationale Übereinkunft” zwischen den beiden traditionellen Parteien in Zukunft darstellen?

Wir dachten, das vor dem Amtsantritt vom Präsidenten so mühsam zusammen-gezimmerte System der politischen Unterstützung würde nicht so schnell auseinanderfallen. Das gesamte uruguayische System ist aufgrund der Wahlergebnisse in der Krise. Das alte Zweiparteiensystem, für das ja eigens das Wahlgesetz gemacht wurde, ist endgültig am Ende. Heute existieren in Uruguay vier wichtige politische Kräfte. Dies führt dazu, daß die Verfassung die für ein Land mit zwei Parteien gemacht wurde, ihren Sinn verliert. Es wird nötig sein, diese Verfassung zu ändern, wofür schon heute politisch mobilisiert wird. Dann werden wir es mit einem Vorschlag der Ultrarechten zu tun haben, die das Regieren von Minderheiten festschreiben will und mit einem Vorschlag, sagen wir einem Volksprojekt, das breite Teile der Bevölkerung -nicht nur der Linken vereinen wird.

LN: In der Hauptstadt Montevideo regiert seit den Wahlen das Bündnis der Linken, die “Frente Amplio”, während die Politik der Zentralregierung des Landes von den traditionellen Parteien gemacht wird.

Tja, das ist ein weiterer Ausdruck der politischen Krise des Systems. Wir haben eine total paradoxe Situation. Da ist einmal die Stadt Montevideo, in der mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt und dann der Rest des Landes, in dem extensive Viehwirtschaft betrieben wird und das praktisch entvölkert ist. Die “Frente Amplio” stellt die Stadtverwaltung für mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Es handelt sich also nicht um irgendeine Stadt. Der Widerspruch zwischen einer ultrarechten Nationalregierung, die mit ihren schmerzhaften “Rezepten” gerade die ärmste Bevölkerungsschicht trifft, die Arbeiterklasse etc. und auf der anderen Seite eine Linksregierung auf kommunaler Ebene. Das kann auf Dauer nicht mehr so weitergehen.

LN: Hat der Zusammenbruch des sog. “real existierenden Sozialismus”in Osteuropa direkte Auswirkungen auf die uruguayische Linke?

Besonders auf die Kommunistische Partei. Sie war immer sehr pro-sowjetisch und pro-stalinistisch, Nicht ganz so auf den Rest der Linken, der eigentlich immer eine sehr kritische Einstellung hatte und deshalb von den Umbrüchen nicht . so tief erschüttert wurde. Aber die KP war immer sehr wichtig innerhalb der uruguayischen Linken -bei der letzten Wahl hatte ihr Wahlbündnis mehr als die Hälfte der Stimmen der “Frente Amplio”. So gesehen führt die Krise der KP schon zu einem schweren Schaden für die Linke des Landes. Die KP hat bis heute noch nicht ihren historischen 22.Kongreß durchgeführt (mittlerweile doch, der tipógrafo) und man weiß noch nicht wie sie ihre Kräfte wieder sammeln wird.

LN: Anscheinend hatte die Wahlniederlage der FSLN in Nicaragua größere
Folgen für die MLN-Tupamaros als der Zusammenbruch der osteuropäischen Kommunistischen Parteien.

Ja, viel mehr. Das war ein schmerzhafter Schlag für uns.Wir fühlten es wie eine eigene Niederlage. Die Krise in den osteuropäischen Ländern macht uns hingegen keine so großen Sorgen. Dort nehmen wir nicht an unseren eigenen Begräbnissen teil. Das sind die Beerdigungen von anderen.

LN: Dennoch ist doch auch in Uruguay ein unübersehbarer Tiefpunkt in der Begeisterungs- und Mobilisierungsfähigkeit der Linken zu spüren.

Das hat viele Gründe. An erster Stelle steht die Wirtschaftskrise. Damit die Leute heute überleben können, brauchen sie zwei oder drei Arbeitsplätze. Das kostet viel Zeit. Außerdem ist es nicht immer richtig zu sagen ‘je mehr Krise, desto mehr politische Mobilisierung”. Ein weiterer Grund sind die Fehler, die die Führungen der Linken gemacht haben: Der Fehler die Menschen nicht an wichtigen Entscheidungen teilnehmen zu lassen und nicht zur Konfrontation zu schreiten, um ein klares Oppositionsprofil zu gewinnen. Das Vertrauen in die “Nationale Übereinkunft” am Ende der Diktatur war zu groß. Wir sind da in eine Falle geraten, die uns die Bourgoisie gestellt hat. Und obwohl zwar die Kommunistische Partei am stärksten betroffen ist, dürfen wir nicht ignorieren, daß auch andere von der ideologischen Krise betroffen sind.

LN: Die MLN hat sich zwei Jahre lang vergeblich um die Aufnahme in die “Frente Amplio” bemüht. Erst letztes Jahr habt ihr mit anderen Gruppen zusammen das “Movimiento de Participación Popular (MPP)” gegründet und wurdet von der Frente aufgenommen. Ihr habt bei den Wahlen teilgenommen, ohne daß Tupamaros/as kandidierten. Führt das nicht zu internen Widersprüchen bei der MLN?

Nein, es führte zu Widersprüchen im MPP. Die MLN hatte sich entschlossen keine eigenen Kandidaten aufzustellen und weigerte sich deshalb auf Listen der MPP eigene, wichtige Leute zu setzen. Diese Entscheidung hatte möglicherweise , ihren Preis bei den Wahlen. (Das Wahlbündnis von Tupamaros, Unabhängigen, revolutionären Gruppen und Trotzkisten (MPP) bekam mit rund 50.000 Stimmen 5%der Gesamtstimmen.r.g) Wir hatten eine Resolution des Zentralkomitees, die noch aus der Zeit vor der Gründung des MPP stammt und darüberhinaus glaubten und glauben wir, mit unserer Entscheidung die Einheit des MPP zu stärken.

LN: Wirst du bei den nächsten Wahlen kandidieren?

Bis dahin ist noch viel Zeit. Ich glaube, die Resolution bleibt gültig. Eine eigene Kandidatur würde mir persönlich nicht gefallen, ich glaube für diese Arbeit nicht berufen zu sein. Ich will aber keineswegs die parlamentarische Arbeit abwerten. Im Gegenteil, ich bewundere die GenossInnen die dort ihre Arbeit machen. Es ist eine sehr aufopferungsvolle und harte Arbeit.

LN: Wenn wir uns das lateinamerikanische Panorama anschauen, so sehen wir, wie ehemals bewaffnete Organisationen wie die M-19,die FSLN und auch die MLN gegenwärtig auf den Weg der Legalität setzen und an Wahlen teilnehmen.

Ja, uns blieb nichts anderes übrig. Wir waren von all’ den Organisationen, auf die du dich beziehst, die erste. Als die Diktatur 1985 zu Ende ging und fast alle unsere Genossinnen aus dem Exil zurückkamen und die Überlebenden die Knäste verließen, war das Land in einer Situation, in der das Volk auf dem Vormarsch gegen den Faschismus war und nicht umgekehrt. Die Geschichte bestätigte die kluge und einheitliche Entscheidung der MLN, im Rahmen der Legalität zu arbeiten. Eine Sache, die wir bis jetzt erfolgreich machen und dabei neue Kräfte sammeln. Für uns ist das keine Frage von Prinzipien, sondern es ist eine Frage der politischen Analyse. Genausowenig war für uns die Frage des bewaffneten Kampfes eine Prinzipienfrage.

LN: Wie beurteilt ihr den von der brasilianischen Arbeiterpartei (PT)im Juli durchgeführten Kongreß der lateinamerikanischen Linken?
Der Kongreß hat eine große Zahl lateinamerikanischer Organisationen, praktisch alle linken Gruppen, zusammengeführt. Es war ein überaus wichtiger erster Schritt, den glaube ich nur eine Partei wie die PT machen konnte.,

LN: Kann die PT mit ihrer Politik, besonders der Gewerkschaftspolitik, ein Beispiel für die Tupamaros sein?

Wir haben sehr viel von den außergewöhnlichen Erfahrungen der gelernt. Brasilien war in seinen revolutionären Bemühungen in den letzten Jahren immer zurückgeworfen worden und plötzlich taucht aus seinem Innersten ein so interessantes Phänomen auf wie die PT. Aber einiges lernt die PT auch von uns…

LN. Im Juli hat die MLN ihre 5.Konvention durchgeführt. Warst Du mit dem
Verlauf und den Ergebnissen zufrieden?

Nein, überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Ich persönlich glaube, das war die schlechteste Konvention, die wir Tupamaros je gemacht haben. Die Diskussionen waren schlecht vorbereitet. Die besten und wichtigsten Themen kamen überhaupt nicht zur Sprache. In der nächsten, der 6.Konvention, werden wir alles Nötige diskutieren.

LN:Angesichts der Wirtschaftspolitik der Regierung hast du öffentlich erklärt, es käme darauf an “jetzt den Kampf zu organisieren”. Der Präsident und die Presse hat das als Provokation aufgefasst. Hat das auch die Linke erschreckt?

Nein, bisher noch nicht. Nachdem diese Parole des MPP ausgegeben wurde, hat die “Frente Amplio” in den letzten Tagen ein paar Schritte unternommen, die eher auf Akzeptanz herauslaufen. Das Problem ist, daß die Bedingungen gegeben sind. Die Volksproteste und die Misere sind offenkundig. Wenn die Linke nicht den Kampf organisiert, dann wird er sich von selbst organisieren …


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