Leyner Palacios (Foto: Saúl Lozano)
Der Auftrag der Kommission bestand nicht nur darin, aufzuklären was im Konflikt geschehen ist, sondern auch warum. Was sind die wichtigsten Ergebnisse hinsichtlich der Konfliktursachen?
Die große Ungleichheit im Land schafft einerseits günstige Bedingungen für die Entwicklung illegaler bewaffneter Gruppen. Allerdings trifft auch Politik und Wirtschaft eine Schuld, denn es gab Allianzen zwischen bewaffneten Akteuren und Teilen der Geschäftswelt, die die Finanzierung der Gewalt ermöglichten.
Wir müssen hier auch darüber nachdenken, wer vom Konflikt und den Menschenrechtsverletzungen profitiert hat, denn Schuld haben nicht nur die Menschen, die zu den Waffen gegriffen haben, sondern auch Verantwortliche des wirtschaftlichen Entwicklungsmodells. Es gibt eine transnationale Verantwortung für die Gewinne, die auf kolumbianischem Gebiet erzeugt werden. Insbesondere dort, wo die Gewalt am schlimmsten ist und die Gemeinden besonders arm sind, hat der Abbau natürlicher Ressourcen den Krieg weiter angefacht. Hinzu kommt eine schwache Demokratie, die den Schutz der Bevölkerung nicht gewährleistete und von bewaffneten Akteuren vereinnahmt wurde. In vielen Regionen stellten die Paramilitärs zeitweise 30 Prozent des Kongresses und finanzierten auch Präsidentschaftskampagnen. Wie viele Richter und Staatsanwälte wurden getötet oder ins Exil gezwungen? Das Ausmaß der Straffreiheit führte zu einer Ausweitung des Konflikts. Drogenkartelle finanzierten Bürgermeister und Gouverneure, was die Demokratie weiter schwächte.
Hierzu heißt es im Bericht, dass die Demokratie in Kolumbien zu manchen Zeiten schwächer war als zu anderen. Lässt sich sagen, ob es in Kolumbien je wirklich eine Demokratie gegeben hat?
Dazu gibt es unterschiedliche Ansichten. Ich glaube, dass wir in Kolumbien zwar eine formale, aber keine echte Demokratie hatten. Durch den bewaffneten Konflikt waren das Wahlrecht und das Recht auf Partizipation sehr eingeschränkt. In einigen Gebieten bestimmten die bewaffneten Akteure oder die Drogenkartelle, wer regiert. Abgesehen davon haben Hunger und Not die Menschen dazu gebracht, ihre Stimme teilweise für Sachleistungen wie Dachziegel zu verkaufen.
Hinzu kommen die Morde an líderes sociales (sozialen Aktivist*innen, Anm. der Red.), die sich für Demokratie und soziale Debatten einsetzen. Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens wurden rund 1.300 líderes sociales ermordet. Unsere Demokratie ist so schwach, dass wir nicht einmal im Rahmen eines Friedensabkommens das Leben der Andersdenkenden sichern können.
Die Kommission spricht auch über die Auswirkungen des Krieges auf die Kultur, die Entmenschlichung des anderen und wie Gewalt zu mehr Gewalt geführt hat.
Als Gesellschaft haben wir eine Verantwortung in diesem Konflikt. Wir haben gesehen, wie er wuchs und waren nicht in der Lage, ihn aufzuhalten. Wir begannen sogar ihn zu normalisieren. Stattdessen wurden sogenannte „soziale Säuberungen“ gerechtfertigt und wir akzeptierten, dass Morde an Guerilleros oder Paramilitärs zulässig waren. Zivilisten wurden als falsos positivos entführt, sprich sie wurden getötet und nachträglich als Subversive ausgegeben, weil dadurch „die Demokratie geschützt wurde“. Wie soll man verstehen, dass ein Mensch nicht nur in der Lage ist, einen anderen Menschen zu töten, sondern ihn auch zu zerstückeln? Es war für uns Mitglieder der Kommission auch sehr schmerzhaft die Berichte aufzunehmen, denn wenn man hört, dass eine Frau vergewaltigt und ihr dann der Bauch aufgeschnitten wurde, dass es Krematorien gab, dass Tausende von Leichen in Flüsse geworfen wurden oder dass Prostituierte ermordet wurden, angeblich weil sie AIDS hatten, fragt man sich: Warum ist das passiert? Man ist schockiert über das ganze Ausmaß.
Du hast das ethnische Kapitel (capítulo étnico) des Berichts geleitet. Welche Ergebnisse gibt es hier?
Gebiete, in denen ethnische Gemeinschaften und Menschen anderer Hautfarbe und sozioökonomischer Bedingungen leben, sind besonders stark vom Konflikt betroffen. Die Kommission ermittelte 17 ethnische Makroregionen, in denen es spezifische Probleme zu lösen gibt. Dort treffen legale und illegale Wirtschaft, institutionelle Schwäche, illegale Anbaukulturen und bewaffnete Gruppen aufeinander. Dahinter verbergen sich Rassismus, Ungleichheit und Ausgrenzung. In Kolumbien wurde es zur Normalität, dass bestimmte Personengruppen sterben, weil sie weniger wert sind. Es werden nicht die Menschen geschützt, sondern wirtschaftliche Interessen.
Was muss geschehen, damit Kolumbien den „großen Frieden“ erreichen kann, von dem der Abschlussbericht spricht?
Die Ungleichheiten und Ausgrenzung bestimmter Territorien und Bevölkerungsgruppen müssen bekämpft werden. Außerdem muss die Regierung das Friedensabkommen gründlich umsetzen unter anderem durch die Schaffung eines Friedensministeriums, das alle Prozesse zusammenführt. Momentan werden die Wiedereingliederungsprogramme für ehemalige FARC-Kämpfer nicht ordnungsgemäß umgesetzt und mehr als 300 Ex-Guerilleros wurden bisher getötet. Der Frieden in Kolumbien ist in Gefahr. Es gab zwar ein Abkommen mit der FARC, aber heute gibt es 30 neue bewaffnete Gruppen – von der extremen Rechten bis zur extremen Linken – und verschiedene Formen von Drogenhandel und Kriminalität. Der Weg aus dem Konflikt muss über Verhandlungen führen, denn die vergangenen 60 oder 70 Jahre haben gezeigt, dass es keine militärische Lösung gibt.
Der Staat muss dafür sorgen, dass die Bevölkerung nicht Opfer von Landminen wird, dass Jugendliche nicht rekrutiert werden. Wir haben erfahren, dass sich 60 Jugendliche erhängt haben, um nicht rekrutiert zu werden.
Wir müssen auch die Paradigmen unserer Kultur ändern. Wir haben 70 Jahre in einem Kriegszustand gelebt, in dem es normal war, Tote, Blut und Zerstörung zu sehen. Wir müssen lernen, empathisch zu sein und uns in den Schmerz der anderen einzufühlen. Es gibt auch viele Fortschritte: wir haben Erfahrungen der friedlichen Koexistenz gemacht. Hervorheben kann man hier auch die Übungen, die von der Kommission angeregt wurden. Wir haben Ex-Guerilleros, Opfer und Ex-Paramilitärs zusammengebracht, damit sie sich gegenseitig zuhören.
Wie sollte die internationale Gemeinschaft diesen Bericht unterstützen?
Die Länder müssen über ein inklusives Entwicklungsmodell nachdenken, das die Lebensqualität der Bewohner berücksichtigt. Es ist nicht hinnehmbar, dass an einem Ort Wasser für die Bananenproduktion entnommen wird, während die Gemeinden keinen Zugang zu Wasser, Gesundheitsversorgung oder Bildung haben. Wie ist es möglich, dass Buenaventura, der wichtigste Hafen Kolumbiens, über den Waren aus der ganzen Welt ein- und ausgefahren werden, gleichzeitig der Ort mit der größten Armut ist? So bleibt den jungen Menschen oft nichts anderes übrig, als zur Waffe zu greifen oder ins Drogengeschäft einzusteigen. Die Welt sollte sich schämen! Es kann nicht sein, dass wir hier alle Annehmlichkeiten genießen und an einem anderen Ort den Nährboden für Gewalt schaffen. Es ist die Aufgabe aller, die Unternehmen in den verschiedenen Ländern zur Verantwortung zu ziehen.
Darüber hinaus kommt die Kommission zu dem Schluss, dass die Politik zur weltweiten Bekämpfung des Drogenhandels versagt hat. Und das ist ein Problem, das nicht von Kolumbien allein gelöst werden kann, sondern global angegangen werden muss. Es braucht eine umfassende Politik in Richtung einer regulierten Abgabe, statt einfach nur die lokalen Anbaukulturen zu vernichten.
Wie schaust Du auf die neue Regierung von Gustavo Petro und Francia Márquez? Ändert das etwas an der Situation?
In den ländlichen und afrokolumbianischen Regionen haben 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung für Francia Márquez gestimmt, teils aufgrund ihrer Identität. Aber es geht nicht nur um Repräsentation, sondern um die Umsetzung von Inklusion und Rechten. Ich hoffe, dass diese Regierung das erreicht, denn die kolumbianische Bevölkerung hat den Wunsch nach einem Wandel deutlich gemacht. Die Herausforderung besteht jetzt darin, dass die kolumbianischen Eliten es zulassen, dass sich die sozialen Ungerechtigkeiten etwas ausgleichen. Aber auch, dass die Weltmächte diesen Schritt in Richtung zu mehr Inklusion ermöglichen. Es geht nicht um eine Revolution, sondern darum, dass die Gemeinden Zugang zu Gesundheit und Bildung bekommen und dass die Gewalt aufhört. Ich bin sehr besorgt, denn dies wird nicht durch den Willen allein geschehen, sondern wir brauchen die harmonische Zusammenarbeit der verschiedenen Sektoren.