„DER FRIEDEN IN KOLUMBIEN IST IN GEFAHR“

Leyner Palacios (Foto: Saúl Lozano)

Der Auftrag der Kommission bestand nicht nur darin, aufzuklären was im Konflikt geschehen ist, sondern auch warum. Was sind die wichtigsten Ergebnisse hinsichtlich der Konfliktursachen?
Die große Ungleichheit im Land schafft einerseits günstige Bedingungen für die Entwicklung illegaler bewaffneter Gruppen. Allerdings trifft auch Politik und Wirtschaft eine Schuld, denn es gab Allianzen zwischen bewaffneten Akteuren und Teilen der Geschäftswelt, die die Finanzierung der Gewalt ermöglichten.

Wir müssen hier auch darüber nachdenken, wer vom Konflikt und den Menschenrechtsverletzungen profitiert hat, denn Schuld haben nicht nur die Menschen, die zu den Waffen gegriffen haben, sondern auch Verantwortliche des wirtschaftlichen Entwicklungsmodells. Es gibt eine transnationale Verantwortung für die Gewinne, die auf kolumbianischem Gebiet erzeugt werden. Insbesondere dort, wo die Gewalt am schlimmsten ist und die Gemeinden besonders arm sind, hat der Abbau natürlicher Ressourcen den Krieg weiter angefacht. Hinzu kommt eine schwache Demokratie, die den Schutz der Bevölkerung nicht gewährleistete und von bewaffneten Akteuren vereinnahmt wurde. In vielen Regionen stellten die Paramilitärs zeitweise 30 Prozent des Kongresses und finanzierten auch Präsidentschaftskampagnen. Wie viele Richter und Staatsanwälte wurden getötet oder ins Exil gezwungen? Das Ausmaß der Straffreiheit führte zu einer Ausweitung des Konflikts. Drogenkartelle finanzierten Bürgermeister und Gouverneure, was die Demokratie weiter schwächte.

Hierzu heißt es im Bericht, dass die Demokratie in Kolumbien zu manchen Zeiten schwächer war als zu anderen. Lässt sich sagen, ob es in Kolumbien je wirklich eine Demokratie gegeben hat?
Dazu gibt es unterschiedliche Ansichten. Ich glaube, dass wir in Kolumbien zwar eine formale, aber keine echte Demokratie hatten. Durch den bewaffneten Konflikt waren das Wahlrecht und das Recht auf Partizipation sehr eingeschränkt. In einigen Gebieten bestimmten die bewaffneten Akteure oder die Drogenkartelle, wer regiert. Abgesehen davon haben Hunger und Not die Menschen dazu gebracht, ihre Stimme teilweise für Sachleistungen wie Dachziegel zu verkaufen.

Hinzu kommen die Morde an líderes sociales (sozialen Aktivist*innen, Anm. der Red.), die sich für Demokratie und soziale Debatten einsetzen. Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens wurden rund 1.300 líderes sociales ermordet. Unsere Demokratie ist so schwach, dass wir nicht einmal im Rahmen eines Friedensabkommens das Leben der Andersdenkenden sichern können.

Die Kommission spricht auch über die Auswirkungen des Krieges auf die Kultur, die Entmenschlichung des anderen und wie Gewalt zu mehr Gewalt geführt hat.
Als Gesellschaft haben wir eine Verantwortung in diesem Konflikt. Wir haben gesehen, wie er wuchs und waren nicht in der Lage, ihn aufzuhalten. Wir begannen sogar ihn zu normalisieren. Stattdessen wurden sogenannte „soziale Säuberungen“ gerechtfertigt und wir akzeptierten, dass Morde an Guerilleros oder Paramilitärs zulässig waren. Zivilisten wurden als falsos positivos entführt, sprich sie wurden getötet und nachträglich als Subversive ausgegeben, weil dadurch „die Demokratie geschützt wurde“. Wie soll man verstehen, dass ein Mensch nicht nur in der Lage ist, einen anderen Menschen zu töten, sondern ihn auch zu zerstückeln? Es war für uns Mitglieder der Kommission auch sehr schmerzhaft die Berichte aufzunehmen, denn wenn man hört, dass eine Frau vergewaltigt und ihr dann der Bauch aufgeschnitten wurde, dass es Krematorien gab, dass Tausende von Leichen in Flüsse geworfen wurden oder dass Prostituierte ermordet wurden, angeblich weil sie AIDS hatten, fragt man sich: Warum ist das passiert? Man ist schockiert über das ganze Ausmaß.

Du hast das ethnische Kapitel (capítulo étnico) des Berichts geleitet. Welche Ergebnisse gibt es hier?
Gebiete, in denen ethnische Gemeinschaften und Menschen anderer Hautfarbe und sozioökonomischer Bedingungen leben, sind besonders stark vom Konflikt betroffen. Die Kommission ermittelte 17 ethnische Makroregionen, in denen es spezifische Probleme zu lösen gibt. Dort treffen legale und illegale Wirtschaft, institutionelle Schwäche, illegale Anbaukulturen und bewaffnete Gruppen aufeinander. Dahinter verbergen sich Rassismus, Ungleichheit und Ausgrenzung. In Kolumbien wurde es zur Normalität, dass bestimmte Personengruppen sterben, weil sie weniger wert sind. Es werden nicht die Menschen geschützt, sondern wirtschaftliche Interessen.

Was muss geschehen, damit Kolumbien den „großen Frieden“ erreichen kann, von dem der Abschlussbericht spricht?
Die Ungleichheiten und Ausgrenzung bestimmter Territorien und Bevölkerungsgruppen müssen bekämpft werden. Außerdem muss die Regierung das Friedensabkommen gründlich umsetzen unter anderem durch die Schaffung eines Friedensministeriums, das alle Prozesse zusammenführt. Momentan werden die Wiedereingliederungsprogramme für ehemalige FARC-Kämpfer nicht ordnungsgemäß umgesetzt und mehr als 300 Ex-Guerilleros wurden bisher getötet. Der Frieden in Kolumbien ist in Gefahr. Es gab zwar ein Abkommen mit der FARC, aber heute gibt es 30 neue bewaffnete Gruppen – von der extremen Rechten bis zur extremen Linken – und verschiedene Formen von Drogenhandel und Kriminalität. Der Weg aus dem Konflikt muss über Verhandlungen führen, denn die vergangenen 60 oder 70 Jahre haben gezeigt, dass es keine militärische Lösung gibt.

Der Staat muss dafür sorgen, dass die Bevölkerung nicht Opfer von Landminen wird, dass Jugendliche nicht rekrutiert werden. Wir haben erfahren, dass sich 60 Jugendliche erhängt haben, um nicht rekrutiert zu werden.

Wir müssen auch die Paradigmen unserer Kultur ändern. Wir haben 70 Jahre in einem Kriegszustand gelebt, in dem es normal war, Tote, Blut und Zerstörung zu sehen. Wir müssen lernen, empathisch zu sein und uns in den Schmerz der anderen einzufühlen. Es gibt auch viele Fortschritte: wir haben Erfahrungen der friedlichen Koexistenz gemacht. Hervorheben kann man hier auch die Übungen, die von der Kommission angeregt wurden. Wir haben Ex-Guerilleros, Opfer und Ex-Paramilitärs zusammengebracht, damit sie sich gegenseitig zuhören.

Wie sollte die internationale Gemeinschaft diesen Bericht unterstützen?
Die Länder müssen über ein inklusives Entwicklungsmodell nachdenken, das die Lebensqualität der Bewohner berücksichtigt. Es ist nicht hinnehmbar, dass an einem Ort Wasser für die Bananenproduktion entnommen wird, während die Gemeinden keinen Zugang zu Wasser, Gesundheitsversorgung oder Bildung haben. Wie ist es möglich, dass Buenaventura, der wichtigste Hafen Kolumbiens, über den Waren aus der ganzen Welt ein- und ausgefahren werden, gleichzeitig der Ort mit der größten Armut ist? So bleibt den jungen Menschen oft nichts anderes übrig, als zur Waffe zu greifen oder ins Drogengeschäft einzusteigen. Die Welt sollte sich schämen! Es kann nicht sein, dass wir hier alle Annehmlichkeiten genießen und an einem anderen Ort den Nährboden für Gewalt schaffen. Es ist die Aufgabe aller, die Unternehmen in den verschiedenen Ländern zur Verantwortung zu ziehen.

Darüber hinaus kommt die Kommission zu dem Schluss, dass die Politik zur weltweiten Bekämpfung des Drogenhandels versagt hat. Und das ist ein Problem, das nicht von Kolumbien allein gelöst werden kann, sondern global angegangen werden muss. Es braucht eine umfassende Politik in Richtung einer regulierten Abgabe, statt einfach nur die lokalen Anbaukulturen zu vernichten.

Wie schaust Du auf die neue Regierung von Gustavo Petro und Francia Márquez? Ändert das etwas an der Situation?
In den ländlichen und afrokolumbianischen Regionen haben 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung für Francia Márquez gestimmt, teils aufgrund ihrer Identität. Aber es geht nicht nur um Repräsentation, sondern um die Umsetzung von Inklusion und Rechten. Ich hoffe, dass diese Regierung das erreicht, denn die kolumbianische Bevölkerung hat den Wunsch nach einem Wandel deutlich gemacht. Die Herausforderung besteht jetzt darin, dass die kolumbianischen Eliten es zulassen, dass sich die sozialen Ungerechtigkeiten etwas ausgleichen. Aber auch, dass die Weltmächte diesen Schritt in Richtung zu mehr Inklusion ermöglichen. Es geht nicht um eine Revolution, sondern darum, dass die Gemeinden Zugang zu Gesundheit und Bildung bekommen und dass die Gewalt aufhört. Ich bin sehr besorgt, denn dies wird nicht durch den Willen allein geschehen, sondern wir brauchen die harmonische Zusammenarbeit der verschiedenen Sektoren.

UMKÄMPFTE VERGANGENHEIT

Lorena Díez und Juana Corral Unterstützen die Wahrheitskommission (Foto: Paul Welch Guerra)

Es gibt bereits viele systematische Untersuchungen und Berichte, die versuchen, die gewaltvolle jüngere Geschichte Kolumbiens aufzuarbeiten. Was war die Idee hinter einer Wahrheitskommission und welche Funktion soll sie erfüllen?
Juana Corral: Es hat in der Geschichte Kolumbiens mehrere Anläufe gegeben, die bewaffneten Gruppen zu demobilisieren. Dabei wurden auch immer wieder Konfliktdokumentationen erstellt. Das Besondere an der Wahrheitskommission ist, dass sie die Perspektive der Opfer in den Mittelpunkt stellt und ihr Leid anerkennt. Dafür hat sie in allen Regionen des Landes und sogar im Ausland systematisch Erlebnisberichte und Zeugenaussagen verschiedener Opfergruppen gesammelt. Die Täter sind meist in aller Munde, aber kaum jemand spricht von und mit den Betroffenen.
Lorena Díez: Die Wahrheitskommission hat außerdem eine spezifische zeitliche Periode im Blick. Sie wurde infolge des Friedensvertrages zwischen der FARC-EP und dem kolumbianischen Staat gegründet. Aufgearbeitet werden soll deshalb die Zeit zwischen der Entstehung der Guerilla 1958 und ihrer Entscheidung von 2016, die Waffen niederzulegen. Das deckt natürlich nicht die ganze Geschichte der Gewalt in Kolumbien ab.

Wie ist die Kommission vorgegangen um die Mammutaufgabe zu bewältigen, einen so komplexen Konflikt abzubilden?
J.C.: Die Wahrheitskommission hat von Anfang an die Strategie verfolgt, ihre Arbeit zu dezentralisieren, auch weil die Gewalterfahrungen von Region zu Region sehr unterschiedlich sind. Die Ausprägungen des Konfliktes sind an der kolumbianischen Pazifikküste völlig andere als im Amazonasgebiet. Deshalb gibt es Sitze der Kommission in zehn Makroterritorien Kolumbiens. Außerdem wurde „Kolumbien außerhalb Kolumbiens“ als elftes Territorium aufgenommen, um die Erfahrungen hunderttausender Exilkolumbianer*innen die heute im Ausland leben, miteinzube- ziehen. Bei ihrer Arbeit greift die Kommission natürlich auf die Arbeit von anderen Institutionen zurück, die ähnliche Dokumentationsprozesse schon seit Jahrzehnten durchführen. Das Sammeln der Zeugenberichte wurde außerdem von psychosozialen Expert*innen begleitet. Das war wichtig, da in den Interviews immer wieder traumatische Erfahrungen thematisiert werden. Danach ging es vor allem darum, territoriale Muster von Gewalterfahrungen und Querschnittsthemen zu identifizieren. Ein zentrales Thema sind dabei zum Beispiel die geschlechtsspezifischen Gewalterfahrungen von LGBTQI*-Personen. Gleichzeitig zeigt eine intersektionale Perspektive auf den Konflikt, dass die Erfahrungen eben extrem heterogen sind und sich auch so in dem Abschlussbericht widerspiegeln müssen. Und trotzdem wird immer ein Teil der Realität fehlen.

Ihr seid Teil der deutschen Unterstützungsgruppe der Wahrheitskommission. Was bedeutet es für euch, von hier aus den Prozess zu begleiten?
J.C.: Ich halte es für sehr wichtig, dass die Dimension des Exils in diesem Prozess mitgedacht wird. Das steht im Kontrast zu vielen anderen Erfahrungen im lateinamerikanischen Kontext. Für uns, die wir aus verschiedenen Gründen nicht mehr in Kolumbien sind, ist es von großer Bedeutung, dass auch unsere Erfahrungen dort sichtbar und anerkannt werden. Es gehört zu meinen schönsten Erfahrungen dieser Arbeit die diversen Stimmen des Exils zu hören und sich auszutauschen. Mit Unterstützung der baskischen Regierung hat die Kommission zum Beispiel ein Treffen von Exilkolumbianer*innen der zweiten Generation organisiert. Dort haben wir gemeinsam überlegt, wie wir uns hörbar machen können. Warum? Weil wir wählen, weil wir die politischen und sozialen Prozesse in Kolumbien tagtäglich mitverfolgen, aber doch irgendwie ausgeschlossen sind.

Der kolumbianische Staat war nie ein neutraler Akteur in dem andauernden Konflikt und trägt selbst Verantwortung für viele Gewalttaten. Welche Probleme gehen damit einher, dass die Wahrheitskommission eine staatliche Institution ist?
L.D.: Die Kommission ist eine staatliche Institution, aber keine Regierungsinstitution. Das ist ein wichtiger Unterschied, den viele nicht sehen. Trotzdem ist sie natürlich abhängig von Regierungsgeldern und die aktuelle Regierung ist keine Freundin der Wahrheitskommission. Das erste, was sie gemacht hat, ist, der Kommission 40 Prozent der Mittel zu kürzen. Um das aufzufangen, waren internationale Kooperationen sehr wichtig. Doch die vielen Feind*innen der Wahrheitskommission in der aktuellen Regierung beeinflussen natürlich auch die gesellschaftliche Atmosphäre. Die Lage ist sehr polarisiert und viele, die den Friedensprozess mit der FARC-EP abgelehnt haben, sind auch bezüglich der Wahrheitskommission voreingenommen. Bei diesem Teil der Bevölkerung ist die Bereitschaft mit der Wahrheitskommission zu sprechen und Zeug*innenberichte abzugeben kaum vorhanden – auch wenn es Ausnahmen gibt. Für die letzte Phase ist der Ausgang der Präsidentschaftswahlen deshalb sehr wichtig.
J.C.: Dem stimme ich zu. Ein zentrales Ziel des Friedensvertrages und der Kommission ist es ja, zu verhindern, dass die Gewalt sich in der Zukunft wiederholt. Das wird uns aber nur gelingen, wenn es den politischen Willen dazu gibt, Räume in Schulen, Universitäten und anderen Kontexten zu schaffen, in denen über die Vergangenheit gesprochen werden kann.

Ansätze einer Übergangsjustiz, wie sie beim Friedensprozess in Kolumbien jetzt angewendet werden, zielen meist darauf ab eine gewaltsame Vergangenheit aufzuarbeiten und aufzuklären. Doch die Gewalt und der Konflikt prägen immer noch die Gegenwart des Landes. Wie wirkt sich das auf eure Arbeit aus?
J.C.: Das ist für uns sehr hart. Der jüngste Generalstreik und die damit einhergehende Gewalt ist ein gutes Beispiel dafür. Viele aus unserer Unterstützungsgruppe sind aus der Pazifikregion oder aus Cali, wo die Proteste und die Repression besonders stark waren. Es hat uns paralysiert, täglich diese schrecklichen Nachrichten und Videos zu bekommen und zu merken, dass wir zu der Situation zurückkehren, die wir überwunden glaubten. Und von außen sieht man die Dinge auch oft negativer. Das Ganze hat uns in einen Zustand der Hoffnungslosigkeit gebracht.
L.D.: Ich habe dazu eine etwas andere Position, was auch damit zu tun hat, dass ich aus Cali komme und erst seit zwei Jahren und nicht seit 20 Jahren hier lebe. Meine Netzwerke dorthin sind noch sehr aktiv und ich habe, so gut es geht, versucht von hier aus aktiv zu sein. Der Streik war ein bisher nicht erreichter Höhepunkt von Mobilisierungen, ein Moment des Umbruchs. Mich hat es hoffnungsvoll gestimmt, so viele sehr junge Leute zu sehen, die etwas verändern wollen. Die Räume, die in diesem Kontext entstanden sind, werden essentiell sein, um die Ergebnisse der Wahrheitskommission zu diskutieren und zu verbreiten. Ich hoffe, dass der Abschlussbericht breit diskutiert wird und wir uns trauen, daraus eine politische Debatte zu machen. Das würde auch erlauben nicht mehr nur über einzelne Akteur*innen oder Gruppen zu sprechen, sondern über strukturelle Probleme unserer Gesellschaft. Eines dieser Probleme ist zweifellos die Drogenökonomie und ihre Folgen für viele Länder dieses Kontinents.

Was sind die nächsten Schritte in der Arbeit der Wahrheitskommission und wie geht es für euch als Unterstützungsgruppe weiter?
L.D.: Nach der Veröffentlichung des Abschlussberichts im Juni 2022 ist eine zweimonatige Phase zur Verbreitung und Debatte der Ergebnisse geplant. Wir gehen davon aus, dass der Bericht auch konkrete Vorschläge für politische und kulturelle Maßnahmen enthalten wird, die dazu beitragen sollen, den Friedensprozess voranzu- bringen.
J.C.: Außerdem soll dann eine neue Kommission gegründet werden, mit dem Ziel, die Umsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen zu begleiten. Wir als Unterstützungsgruppe haben eine Finanzierung bis 2022 und wollen in dieser Zeit das Terrain für eine öffentliche Debatte der Ergebnisse vorbereiten. Zum Glück gibt es viele Gruppen wie kolko oder die Kolumbienkampagne, die in den letzten Jahren mit ihrer Arbeit eine wichtige Basis geschaffen haben, auf der wir aufbauen können. Wie wir genau vorgehen werden, steht noch nicht fest.
L.D.: Genau. Ich glaube es wird darum gehen, sich zu öffnen und mit allen Kolumbianer*innen hier in Deutschland ins Gespräch zu kommen. Aber natürlich müssen wir auch die deutsche Zivilgesellschaft erreichen. Viele Deutsche kennen uns durch super Serien [lacht ironisch], als exotisches Reiseland und vielleicht noch wegen der Musik, aber das war es. Aktuell gibt es viele Kolumbianer*innen, die hier in Deutschland ankommen und Asyl beantragen, über 90 Prozent davon erfolglos. Umso wichtiger ist es, dass hier ein Bewusstsein über die Situation in Kolumbien geschaffen wird.

“EINE ANERKENNUNG WIE NIE ZUVOR”

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(Foto: Martin Schäfer)

AUCÁN HUILCAMÁN
ist Jurist und Sprecher (Werkén) der Mapuche-Organisation Consejo de todas las tierras (Rat aller Gebiete). Er beschäftigt sich damit, wie die Mapuche internationale Beziehungen und Rechtsnormen für den Kampf um ihre Rechte nutzen können. Er nimmt am Allgemeinen Periodischen Überprüfungsverfahren des UN-Menschenrechtsrates teil, in dessen Rahmen Chile 2018/2019 turnusgemäß zur Anwendung internationaler Rechtsnormen in Bezug auf die indigenen Völker überprüft wurde.


 

In welcher Rolle und Funktion innerhalb der verschiedenen Mapuche-Organisationen Chiles sind Sie gerade in Europa und was ist Ihre Vision?
Ich wirke schon lange am Allgemeinen Periodischen Überprüfungsverfahren in Genf mit. Außerdem beschäftige ich mich mit der Ausarbeitung von internationalen Rechtsnormen, die die Rechte der indigenen Völker und im Besonderen der Mapuche schützen. Das geht also über die Vertretung von Interessen bestimmter Mapuche-Gemeinschaften hinaus. Erklärungen der Vereinten (UN) und der Organisation amerikanischer Staaten (OAS) besagen, dass die indigenen Völker ein Selbstbestimmungsrecht haben und daher ihre politische Verfassung bestimmen können. Die Mapuche sind aufgefordert, dieses Recht auszugestalten. Wir müssen die internationale Gemeinschaft auf die künftige Bildung einer Mapuche-Regierung in Ausübung dieses Rechts vorbereiten, damit eine solche Regierung international anerkannt wird. Das sehe ich als meine Aufgabe an. Außerdem möchte ich alle Mapuche einladen, an dem Prozess der freien Selbstbestimmung mitzuwirken. Sich daran zu beteiligen oder nicht, ist eine freie Entscheidung, die jeder zunächst für sich selbst treffen muss. Sobald jemand entscheidet, mitzuwirken, ist der nächste Schritt, zu sagen, welche Rolle er spielen möchte, sobald es zur Bildung einer Regierung kommt.

Wie soll die Vorbereitung einer Regierungsbildung unter den Mapuche ablaufen?
Es gibt den Prozess einer verfassunggebenden Versammlung der Mapuche, im November 2016 gab es eine erste Sitzung. Wir haben etwa die Frage diskutiert, ob wir eher eine Regierung im Sinne der Mapuche-Tradition möchten, eine in der Form üblicher zeitgenössischer Regierungen oder eine Mischung aus beidem. Wichtig ist, dass eine solche Regierung auch auf der internationalen Ebene effektiv wäre. Warum eine verfassunggebende Versammlung? Wir wollen, dass unsere künftige Regierung Legitimität genießt. Wenn es soweit ist, werden wir UN und OAS um eine formale Anerkennung bitten. Falls sie dies ablehnen, müssten sie gegen ihre eigenen Prinzipien verstoßen. Die Idee einer verfassunggebenden Versammlung ist, anders als traditionelle Konzepte der Mapuche, universell verständlich und zeigt der Welt, dass es sich bei der neuen Regierung nicht um eine Aktion einzelner Personen handelt, sondern um einen öffentlichen Prozess. Es muss keine Mehrheit der Mapuche mitmachen, aber wichtig ist, dass das Anliegen legitim ist und es keinen Einfluss der chilenischen Regierung und Parteien gibt. Bei der ersten Sitzung haben wir Leitlinien festgelegt, nun bereiten wir ein zweites Treffen vor, bei dem wir über die Inhalte eines Selbstbestimmungs-Statuts sprechen werden. Nachdem es ausgearbeitet ist, muss entschieden werden, wann die Regierung gebildet werden soll.

Wie hoch ist die Beteiligung, kommen die Teilnehmer*innen aus bestimmten Gemeinschaften?
Ich schätze, etwa 300 Gemeinschaften beteiligen sich an dem Prozess. Es müssen Personen mit der nötigen Mentalität und den Fähigkeiten zum Regieren sein. Am Anfang war es nur eine kleinere Gruppe, da nur wenige Mapuche sich mit diesem Thema beschäftigen. Dabei spielt auch eine Rolle, dass wir Mapuche einem langen Prozess des Kolonialismus und der Unterwerfung ausgesetzt waren, der uns Schaden zugefügt hat. Nicht alle Mapuche denken daher aus der kollektiven Perspektive heraus. Und natürlich gibt es Mapuche, die sich mehr mit unserer juristischen Verteidigung befassen oder dem Protest gegen Unrecht, wie anlässlich des Todes von Camilo Catrillanca. Das ist wichtig, aber nicht ausreichend, weil es nur eine Reaktion auf das Verhalten des Staates ist. Die Bewegung muss auch Zukunftsperspektiven entwickeln. Ich habe mich darum gekümmert, diese Thematik, die zuvor etwas isoliert war, in die Gemeinschaft der Mapuche zu tragen.

Gibt es Schwierigkeiten bei diesem Prozess?
Ein Problem ist, dass der individuelle Wille vieler Mapuche häufig eher politischen Parteien, dem Staat, der Kirche oder einer Sekte verpflichtet ist als dem kollektiven Handeln. Oder es wird lediglich gegen die aktuelle Regierung protestiert. Ob es nun die Rechte oder die Linke ist, die auf die Mapuche nicht angemessen eingeht, letztlich waren wir Mapuche bisher kollektiv ineffizient. Um das Selbstbestimmungsrecht zu nutzen, müssen wir selbst aktiv werden.

Wie hat sich der Mord an Camilo Catrillanca auf die Bemühungen ausgewirkt?
Unter den Mapuche hat die Bewegung, die sich um die Rechte des Volkes bemüht, nun eine festere Position. Heute hat die Mapuche-Bewegung gegenüber Staat und Gesellschaft in Chile eine immense Anerkennung erreicht, die es so zuvor nicht gab: Als Präsident Piñera und mehrere Minister nach dem Mord kamen, wollten die Mapuche sich nicht mit ihnen treffen, eine seit der „Befriedung der Araucanía“ (die Unterwerfung der Mapuche durch den chilenischen Staat im 19. Jahrhunderts) einzigartige Brüskierung. Das ist ein wichtiges Kapital. Die Regierung wird weiter auf ihrem „Plan Araucanía“ bestehen, aber die Militarisierung ist für sie ein komplexes Thema. Ich denke nicht, dass die Regierung bedeutende Maßnahmen ergreifen wird, weil der Fall Catrillanca eine Zäsur darstellt. Vor dem Mord hatte ich etwa ein Treffen mit mehreren Ministern organisiert, wir sprachen – erfolglos – über die Umsetzung von Empfehlungen nationaler und internationaler Einrichtungen zum Schutz der Menschenrechte sowie über die politische Beteiligung mittels reservierter Parlamentssitze. Dann kamen die Ereignisse um Camilo Catrillanca und ab da hat es keinen weiteren Kontakt zur Regierung mehr gegeben.

Gibt es dadurch nun eine größere Einheit unter den Mapuche? Die verschiedenen Gruppen haben ja sehr unterschiedliche Strategien.
Angemessener fände ich zu sagen, dass es jetzt es eine größere Übereinstimmung bei bestimmten Themen gibt. Und die Selbstbestimmung ist ein Thema, bei dem wir alle zusammenkommen können, weil es uns verbindet. Die Schattenseite der jetzigen Situation ist, dass wir aufgrund des Fehlens staatlicher Maßnahmen und seitens der Mapuche von Interesse am Dialog mit der Regierung in ein Szenario größerer sozialer Konflikte geraten könnten. Die Regierung von Präsident Piñera könnte uns in der Araucanía in eine ethnische Konfrontation stürzen, wie sie es in Europa auf dem Balkan gab, und diese Art der Konfrontation ist komplexer als jene mit einem Polizisten.

Würden Sie sagen, dass die langjährigen internationalen Bemühungen etwas bewirkt haben?
Sie haben eine Menge bewirkt. Auf der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz war es 1993 noch ein Novum, dass fünf indigene Vertreter wenige Minuten sprechen durften, und die Regierungen lehnten das Selbstbestimmungsrecht ab. Bei der UN-Vollversammlung 2007 wurde es dann beschlossen. Ich war bei beiden Konferenzen dabei und damals selbst überrascht und bewegt. Außerdem haben OAS und UN anerkannt, dass Verträge wie der von Quilín, in dem 1641 den Mapuche von Spanien ein unabhängiges Territorium südlich des Bío-Bío Flusses zugesprochen wurde, gültig sind. Wir haben also erreicht, dass die Verträge, die der chilenische Staat ignoriert hatte, wieder zu einer Norm des Völkerrechts wurden. In der UN-Erklärung heißt es außerdem, dass die Parteien auf die internationale Gerichtsbarkeit zurückgreifen können, wenn es eine unterschiedliche Auslegung der Verträge gibt. In unserem Fall wären das der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte oder der internationale Gerichtshof in Den Haag. Daher könnten wir Mapuche heute, wenn wir die kollektiven Fähigkeiten dazu hätten, unser Land beanspruchen und diese Frage in Den Haag zur Prüfung vorlegen.

Wie realistisch sind diese Pläne? Haben Sie ein Vorbild, bei dem das indigene Selbstbestimmungsrecht erfolgreich umgesetzt wurde?
Den Inuit in Grönland wurde dieses Recht von Dänemark schrittweise gewährt, und anders als bei der Dekolonialisierung afrikanischer Länder, die arm in die Unabhängigkeit entlassen wurden, hatte sich Dänemark verpflichtet, die neue Regierung über einen längeren Zeitraum finanziell zu unterstützen. Das ist im Sinne der UN-Erklärung von 2007, die festlegt, dass indigene Völker Anspruch auf angemessene Entschädigung für ihnen „ohne ihre freiwillige und in Kenntnis der Sachlage erteilte vorherige Zustimmung” abgenommenes Land haben. Die Inuit nehmen inzwischen weitreichende Rechte wahr, von der Verantwortung für die Polizei bis zur Verfügung über die Rohstoffe. Das scheint mir ein gutes Beispiel zu sein.

Wie könnte für Chile bestimmt werden, wie eine angemessene Entschädigung aussieht?
Das könnte entweder einer der beiden internationalen Gerichtshöfe entscheiden oder es könnte durch eine Wahrheitskomission geklärt werden.

Mapuche-Gemeinschaften haben zuletzt vor einigen Monaten eine solche Wahrheitskommission gefordert. Was verbirgt sich dahinter?
Es ist notwendig, über eine von allen Seiten anerkannte Wahrheit über die historischen Geschehnisse in der Araucanía zu verfügen. Bisher hat jeder seine eigene Wahrheit: Ein europäischer Auswanderer, der in Chile Mapuche-Land erhalten hat, glaubt, dass Geschichte und Recht bei seiner Ankunft beginnen. Jemand, der während der Pinochet-Ära Mapuche-Land gekauft hat, glaubt, dass sie bei seinem Kauf beginnen. Die Mapuche sehen das anders, also brauchen wir für eine Verständigung eine gemeinsame Version der Ereignisse. Darauf aufbauend müssen Entschädigungen an die Opfer geleistet werden, seien es Mapuche oder andere. Schließlich müssen wir akzeptable Institutionen für das Zusammenleben von Mapuche und Nicht-Mapuche schaffen, um einen festen und dauerhaften Frieden zu erreichen. Zur Aufarbeitung der Militärdiktatur wurden damals die Rettig-Kommission und die Valech-Komission gebildet. Jetzt muss der Staat eine ähnliche Komission für die Araucanía einrichten, denn er ist verantwortlich für das, was dort passiert ist. Dabei muss klar bestimmt werden, um welche Zeitspanne es geht – die Kolonialzeit, die Zeit nach der Unabhängigkeit oder die Pinochet-Ära? Und es muss definiert werden, welche Geschehnisse genau geklärt werden sollen. Bei einer ersten, von Präsident Lagos im Jahr 2000 zu diesem Thema einberufenen Wahrheitskomission wurde das leider nicht gemacht. Und dort ging es auch um die anderen indigenen Völker Chiles, die deutlich kleiner sind und andere Bedingungen hatten. Es kam also nichts Greifbares heraus, und anstatt die Verantwortung des Staates für das Unrecht anzuerkennen, stand im Abschlussbericht, dass die Gebiete der Mapuche verloren gingen, weil sie kein Spanisch konnten und die Gesetze nicht kannten, d.h. sie wurden beinahe selbst für ihre Enteignung verantwortlich gemacht. Ich war damals als Mitglied der Komission nicht damit einverstanden.

 

DIE STRAFLOSIGKEIT DURCHBRECHEN

Foto: Tobias Lambert


 

Santiago Aguirre
ist Menschenrechtsanwalt und Vizedirektor des renommierten Menschenrechtszentrums Centro de Derechos Humanos Miguel Agustín Pro Juárez (Centro ProDH). Im Mai wird er dessen Leitung übernehmen. Aguirre ist Mitglied der Wahrheitskommission, die den Fall der 43 verschwundenen Lehramtsstudenten von Ayotzinapa aufklären soll, die am 26. September 2014 in Iguala auf dem Weg zu einer Protestveranstaltung verschwunden sind. Die Polizei hatte sie entführt und einem lokalen Drogenkartell übergeben.


 

Seit dem 1. Dezember 2018 hat Mexiko mit Andrés Manuel López Obrador (AMLO) einen Präsidenten, der sich links der Mitte verortet. Welche Erwartungen setzt die Menschenrechtsbewegung in den Regierungswechsel?
López Obrador hat die Wahl am 1. Juli vergangenen Jahres inmitten einer schweren Krise der Menschenrechte gewonnen. Der mexikanische Staat schützt seit jeher die Mächtigen anstatt verwundbarer Gruppen wie Indigene oder Frauen. Doch als der damalige Präsident Felipe Calderón 2006 den Krieg gegen die Drogen ausrief, kehrten Verbrechen zurück, die wir eher aus den 1970er Jahren kennen. Seit 2006 zählen wir 40.000 Verschwundene in Mexiko. Hinzu kommen ein Anstieg der Folter und Tötungen durch das Militär. Mit der Wahl López Obradors war die Erwartung verbunden, dass dieser strukturelle Reformen einleitet, die die Menschenrechtssituation verbessern.

Auch wenn es für eine fundierte Bilanz noch sehr früh ist: Welche Akzente zeichnen sich in der Menschenrechtspolitik bisher ab?
Positiv ist, dass sich die Regierung einiger der emblematischsten Fälle von Menschenrechtsverletzungen angenommen und die Opfer um Vergebung gebeten hat. Bei dem zentralen Thema der Verschwundenen hat die Regierung eine neue Politik angekündigt. Dazu zählt die Einrichtung einer Wahrheitskommission im Fall der 43 im Jahr 2014 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa. Aber es gab auch negative Entwicklungen wie die Gründung der militarisierten Polizei Guardia Nacional.

Beide Kammern des Kongresses haben dem Vorhaben bereits zugestimmt. Welche Kritik haben Sie an der Errichtung der Guardia Nacional?
Diese neue Polizei setzt sich maßgeblich aus den Reihen des Militärs zusammen. Und obwohl der Präsident angekündigt hat, dass die Guardia Nacional Rechenschaft ablegen wird und keine Menschenrechte verletzen soll, stärkt deren Gründung in erster Linie das Militär. Die Erfahrung der letzten 15 Jahre zeigt aber, dass dort, wo die Kompetenzen des Militärs ausgeweitet werden, die Menschenrechtsverletzungen zunehmen.

Wenn es der Regierung um eine Verbesserung der Menschenrechtslage geht, warum stärkt sie dann nicht eine zivile Polizei?
Die Vorgehensweise der Regierung hat die Menschenrechtsbewegung überrascht. Aus der Zivilgesellschaft und akademischen Kreisen gab es einige Vorschläge, wie Sicherheitskräfte umgestaltet werden könnten. Und während der Wahlkampagne hat López Obrador die Menschenrechtsverstöße seitens des Militärs kritisiert und sich dafür eingesetzt, dass das Militär nicht auf den Straßen patrouillieren soll. Seinen Meinungsumschwung begründet er damit, dass die zivilen Polizeieinheiten vollständig korrumpiert seien. Aber das greift zu kurz, denn auch das Militär hat Korruptionsfälle und Unterwanderung durch die Drogenkartelle vorzuweisen.

Wie schätzen Sie die Chancen der neuen Regierung ein, die seit 2006 eskalierende Gewalt in den Griff zu bekommen?
Der Präsident hat gesagt, dass er den Krieg gegen die Drogen beenden will. Als erste Maßnahmen erwägt er die Legalisierung einzelner Substanzen und will die Sozialpolitik für Jugendliche ausbauen. Bisher handelt es sich aber nur um Vorschläge, während die Schaffung einer militarisierten Polizei eindeutig in eine andere Richtung geht. Entscheidend wird aber sein, wie Regierung und Justiz mit den zu erwartenden Menschenrechtsverletzungen seitens der Guardia Nacional umgehen werden. Ob diese also tatsächlich Rechenschaft ablegen muss oder Täter aus den Reihen des Militärs wie bisher straffrei davon kommen. Doch solange die USA als zentraler Markt für die Drogen nicht ihre Politik des Prohibitionismus beenden, wird es in Mexiko Gewalt geben.

Für Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen ist Mexiko eines der gefährlichsten Länder weltweit. Seit 2012 gibt es für diese Gruppen ein eigenes Schutzprogramm. Wie ist dessen Bilanz?
Aufgrund der hohen Anzahl von Morden an Menschenrechtsverteidigern und Journalisten hat die damalige Regierung unter Enrique Peña Nieto diesen Schutzmechanismus geschaffen. Doch wurden seitdem weiterhin Menschen ermordet, darunter auch mehrere, die bereits unter Schutz standen. Und nicht immer konnten die Betroffenen ihrer Arbeit weiter nachgehen. Auch dieses Jahr ist es bereits zu Aggressionen und Morden gekommen, ohne dass die Regierung darauf bisher ausreichend reagiert hat. Vor allem aufgrund der verbreiteten Straflosigkeit greift der Mechanismus nicht richtig. In den meisten Fällen von Mord oder Bedrohungen wird entweder gar nicht ermittelt oder die Hintermänner bleiben unbehelligt. Die neue Regierung muss das Schutzprogramm stärken und gegen die Straflosigkeit vorgehen.

Bereits am 3. Dezember hat López Obrador das Dekret unterzeichnet, mit dem er eine Wahrheitskommission für den Fall der 43 im Jahr 2014 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa geschaffen hat. Sie selbst nehmen daran als Menschenrechtsanwalt teil. Welche Bedeutung hat die Kommission für Mexiko?
Dass wir in Mexiko heute 40.000 Verschwundene haben, ist eines der zentralen Probleme des Landes. In der Gegenwart gibt es kein Land Lateinamerikas, in dem derart viele Familien vom gewaltsamen Verschwindenlassen betroffen sind. Teilweise suchen diese in ländlichen Regionen eigenhändig nach Massengräbern. Alle Fälle sind wichtig, doch nicht alle zeigen derart deutlich die Strukturen hinter der Straflosigkeit in Mexiko auf, wie der Fall Ayotzinapa. Bei diesem versuchte die Vorgängerregierung bewusst, den tatsächlichen Tathergang zu verschleiern. Die Familien der 43 verschwundenen Studenten setzten sich vier Jahre lang dafür ein, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Sie trafen sich mit López Obrador bereits während des Wahlkampfs, dann während der Übergangsperiode im September zum vierjährigen Jahrestag des Verbrechens und Anfang Dezember bei der Schaffung der Wahrheitskommission.

Wie arbeitet die Wahrheitskommission konkret?
Ihr gehören Familien der Opfer, Menschenrechtsorganisationen und Regierungsvertreter an. Seit Januar treffen wir uns monatlich. Auf politischer Ebene soll die Kommission die Hindernisse beseitigen, die einer Aufarbeitung des Falles entgegenstehen. Technische Unterstützung leisten die Vereinten Nationen und die Interamerikanische Menschenrechtskommission. Was uns jetzt noch fehlt ist eine Sonderstaatsanwaltschaft, die sich den strafrechtlichen Aspekten des Falls widmet. Es gibt keinen vorgeschriebenen Zeitrahmen, aber wir glauben, dass sich nach einem Jahr zeigen wird, ob es substanzielle Fortschritte gibt oder nicht. Wenn wir es schaffen, die Straflosigkeit zu durchbrechen, wird daraus eine klare Botschaft zur Stärkung der Menschenrechte hervorgehen. Wir könnten dadurch exemplarisch aufzeigen, dass in dem Mexiko, das wir uns wünschen, weder Lügen noch Straflosigkeit toleriert werden. Das käme nicht nur den Familien der Verschwundenen, sondern dem ganzen Land zu Gute.

Bei dem Polizeieinsatz gegen die Studenten aus Ayotzinapa kamen auch G36-Gewehre von Heckler & Koch zum Einsatz. Diese hätten allerdings gar nicht in den betroffenen Bundesstaat Guerrero geliefert werden dürfen, da aufgrund der dortigen Menschenrechtssituation keine Exportgenehmigung der Bundesregierung vorlag. Das Landgericht Stuttgart verurteilte den schwäbischen Waffenhersteller im Februar deshalb zu einer Strafzahlung von 3,7 Millionen Euro und verhängte Bewährungsstrafen gegen zwei ehemalige Mitarbeiter*innen. Zwei ehemalige Geschäftsführer wurden jedoch freigesprochen (siehe LN 537). Wie bewerten Sie das Urteil?
Der ganze Prozess gegen Heckler & Koch ist ein hoffnungsvolles Beispiel dafür, was die deutsche und mexikanische Zivilgesellschaft sowie kritische Journalisten erreichen können, wenn sie zusammenarbeiten. Denn ansonsten wäre der Fall gar nicht publik geworden. Mir ist bewusst, dass es in Deutschland eine wichtige Debatte darüber gibt, dass möglicherweise mitschuldige Personen freigesprochen wurden. Doch im Gegensatz zu Mexiko war es in Deutschland möglich, den Fall vor Gericht zu bringen, öffentlich darüber zu debattieren und die Opfer sichtbar zu machen. In Mexiko hingegen gibt es nicht einmal Ermittlungen, obwohl korrupte mexikanische Behörden in die illegalen Waffenlieferungen ebenso verstrickt sind.

 

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