
Philippe Sands zeichnet in Die Verschwundenen von Londres 38 entscheidende Lebensabschnitte zweier Massenmörder nach: Augusto Pinochet, chilenischer Diktator von 1973-1990, und Walther Rauff, Organisator der Gaswagenmorde in den deutsch besetzten Gebieten Osteuropas während des zweiten Weltkriegs. Jüdische Menschen wurden in hermetisch verschlossene Lkw gesperrt, deren Abgase gezielt in den Innenraum geleitet wurden. Rauff floh nach dem Krieg nach Ecuador. Dort freundete er sich mit Pinochet an, der ihn nach Chile einlud.
Sands erzählt die Geschichte der Beiden aus juristischer und politischer Perspektive. Nach Pinochets Verhaftung 1998 in London kämpfte er für dessen Auslieferung nach Spanien und schildert die hektischen Wochen. Vieles hing im „bedeutendsten internationalen Strafverfahren“ seit den Nürnberger Prozessen von zufälligen Konstellationen ab. Sands führt uns in die Hinterzimmer von Justiz und Macht. Nach dem Auslieferungsbeschluss war „die Straffreiheit für Verbrechen des Souveräns (Ex-Staatschef Pinochet) aufgehoben.“ Pinochet konnte nun an Spanien ausgeliefert werden. Doch dem ehemaligen Diktator gelang es, mit einer vorgetäuschten Demenz seine Auslieferung zu verhindern und nach Chile zurückzukehren.
Auch bei Rauff geht es um ein Auslieferungsgesuchen. 1963 beantragte die Bundesrepublik Deutschland die Auslieferung Rauffs aus Chile wegen der Gaswagenmorde. Das Gesuch scheiterte an Verjährungsfristen, Rauff blieb in Chile und gründete eine Fischfabrik. Als nach dem Putsch 1973 das chilenische Militär die staatliche Fischfabrik Pesquera Arauco in San Antonio übernahm, holte es Rauff als Fachmann dorthin. Aus San Antonio und einem Folterzentrum in der Straße Londres 38 (daher der Buchtitel) in Santiago verschwanden viele politische Gefangene für immer. Sands geht Hinweisen nach, wonach in der Pesquera Arauco politische Gefangene auf grausamste Weise ermordet und zu Fischmehl verarbeitet worden sein sollen. Mehrere Arbeiter*innen der Fabrik und ein früherer chilenischer Geheimdienstmitarbeiter bestätigen dies.
Überraschend ist ein Fund Sands in einem Archiv in Jerusalem. Dort wird glaubhaft beschrieben, dass eine Reise des Stern-Journalisten Gerd Heidemann, dem Fälscher der Hitlertagebücher und SS-General Karl Wolff nach Lateinamerika 1979 eine Geheimoperation des Mossad war. Rauff sollte entführt oder ermordet werden. Alles war vorbereitet: „Der Exekutionstermin wurde auf Donnerstag, den 17. März 1980, festgesetzt. Neun Agenten wurden für den Schlag abgestellt.“ Aber der Plan scheiterte an Rauffs Schäferhund und seiner Partnerin. In der Forschung galt die Reise bisher als Versuch des Stern, ein Geschäft mit der Geschichte einiger Alt-Nazis zu machen. Erst jetzt ist klar, dass Heidemann wissentlich für den israelischen Geheimdienst arbeitete. Das flüssig geschriebene Buch ist eine wichtige Ergänzung der Literatur über die chilenische Diktatur.


