WIDERSTAND IM CHOCÓ

Die autonome Dorfgemeinde von Marcial / Foto: Javier Serna

Kinder sitzen aneinander gekauert in einem Loch in der tiefroten Erde, vielleicht ein, zwei Meter tief. Sie ducken sich verängstigt, ziehen die Köpfe ein, ein paar etwas Ältere drücken die Kleinsten eng an sich. Diese Bilder aus dem Chocó, dem nordwestlichen Department Kolumbiens zwischen Pazifik und Karibik, gingen im August durch die Medien. Aufgenommen mit Handys von Familienangehörigen. Grund für die Situation waren Hubschrauberflüge vom Militär über der Gemeinde. Solche Drohgebärden verängstigen die Menschen, wurden ihre Gemeinden in der Vergangenheit doch immer wieder von Militär und Paramilitär bombardiert.
Hier im Norden Kolumbiens, ein paar Tage mit dem Boot von Panama entfernt, befinden sich zahlreiche Autonomiegebiete von Indigenen und Afrokolumbianer*innen. Sie umfassen insgesamt über 93 Prozent der Fläche des Chocó. Die Autonomie dieser Gebiete wurde in der Verfassung von 1991 legal verankert. Zur Wahrung der ethnisch-territorialen Rechte müssen die Bewohner*innen im Falle einer Intervention auf ihrem Gebiet vorher befragt werden, denn die Landtitel sind kollektiv, können nicht an externe Akteure veräußert, sondern maximal verpachtet werden. In den Gebieten der Indigenen ist zudem die eigene Justiz per Gesetz anerkannt. Im Chocó existieren 120 solcher indigener Autonomieregionen, zumeist bewohnt von Embera und Wounaan.

“Es ist eine Gemeinde von Vertriebenen, die […] seit Jahrzehnten des Bürgerkriegs auf der Flucht sind”

Eine davon ist Jagual-Río Chintadó, in der sich auch das Dorf Marcial befindet. Es liegt am Fluss Chintadó, einem Nebenarm des Atrato, und wurde 1984 von rund 1000 Indigenen gegründet. „Die Geschichte der Siedlung Marcial reicht aber mindestens 500 Jahre zurück“, erzählt Pedrito García von den Wounaan: „Während all dieser Zeit waren wir auf der Suche nach einem geeigneten Territorium, wo der Boden eine gute Ernte garantiert, wo genügend Fische und andere Tiere leben.“ Bevor die Familien in Marcial siedelten, waren sie als Halbnomad*innen in großen Familienzusammenhängen organisiert. Erst mit den Jahren wurden immer mehr Familien in Marcial sesshaft und bauten Häuser. „Es ist eine Gemeinde von Vertriebenen, die wegen der verschiedenen bewaffneten Auseinandersetzungen seit Jahrzehnten des Bürgerkriegs auf der Flucht sind – teilweise waren sie sogar bis nach Panama geflohen“, erklärt García. Die Region ist von dichtem Urwald bewachsen, es gibt keine Straßen oder befestigten Wege, nur über die Flusswege gibt es Zugänge. Die Bezirkshauptstadt ist acht Stunden mit dem Boot entfernt, sofern der Fluss nicht vom vielen Schwemmholz verstopft ist.
Doch selbst der dichte Urwald kann bewaffnete Akteure nicht abschrecken. Heute geht es ihnen vor allem um die Kontrolle der Transportwege für illegale Märkte, für Drogen, Waffen, illegalen Rohstoffhandel mit Ressourcen wie Kupfer, Gold und Coltan. Aber auch illegal geschlagene Edelhölzer werden über das weit verzweigte Flusssystem transportiert – 4.000 Hektar der Regen­wälder im Chocó werden jährlich abgeholzt. Nicht zuletzt boomt das Geschäft mit Ölpalmen auf den gerodeten Flächen. Mit den Monokulturen verlieren die Menschen die Kontrolle über ihre kollektiven Gebiete und ihre Autonomierechte. Die Biodiversität und der biologische Genpool sind von Interesse für die Pharmaindustrie und der Atrato ist von großer Bedeutung als Süßwasserreservoir. Am dramatischsten sind jedoch die Geschäfte mit Migration und Menschenhandel. Der Atrato ist das Nadelöhr für die globale Migration über Mittel- nach Nordamerika. Die Migrant*innen kommen nicht nur aus der Karibik, sondern auch aus Westafrika und Südasien.
Und der kolumbianische Staat? Der vernachlässigt die Bedürfnisse der Menschen vor Ort und verdient kräftig mit an den illegalen Geschäften. Er tritt nicht für die Rechte der Anwohner*innen ein, sondern für die Militarisierung mit Blick auf zu fördernde Ressourcen. So kam es auch unter Mitwirken des Staates zur ersten massiven Vertreibung in den Jahren 1996 und 1998. Damals wurden erste Megaprojekte initiiert und zum Schutz der Interessen der internationalen Firmen die paramilitärischen Gruppen bewusst aufgebaut.

Foto: Andreas Hetzer

Die Folgen sind verheerend. Im Chocó leben 500.000 Menschen – laut Statistikamt sind fast 80 Prozent der lokalen Bevölkerung arm. Zum Vergleich, im nationalen Landesdurchschnitt sind es 28 Prozent. Rund 27 Prozent der Menschen im Chocó leiden unter extremer Armut – in ganz Kolumbien betrifft das sieben Prozent, zumindest nach offiziellen Angaben. In Marcial sind allein in den letzten beiden Monaten acht Kleinkinder an Unterernährung gestorben. Da die bewaffneten Akteure die Zugänge über die Flüsse kontrollieren, kommen Nahrungsmittel und Medikamente nicht an – oder sie werden mit Schutzgeld belegt und werden damit unerschwinglich für die Bevölkerung. Die Folge sei chronische Mangelernährung, weil die Menschen nie ins bäuerliche Leben zurückfinden, so die Ombudsstelle für Menschenrechte in Kolumbien.
Der Krieg dauert bis heute an und hat in den letzten Jahren sogar an Intensität zugenommen. Seit dem Friedensabkommen von 2016 ist nirgendwo in Kolumbien die Vertreibung so massiv, rund 70 Prozent aller aktuellen Fälle finden am Pazifik statt. Die Vertriebenen suchen oft monate- oder jahrelang vergeblich Hilfe in den urbanen Zentren. Die Menschen fliehen, um ihre Kinder vor Zwangsrekrutierungen zu schützen. Zwischen Januar 2018 und Juni 2019 wurden 57 Massenvertreibungen gemeldet – 21.000 Personen sind auf der Flucht. „Wir bleiben in Marcial. Was haben wir sonst für eine Wahl. In anderen Dörfern müssen sie bei jedem lauten Knall fliehen. Dann leben sie im Elend in Riosucio oder anderen urbanen Zentren“, beschreibt García.

21.000 Menschen sind auf der Flucht

Von den Vertreibungen im Jahr 2018 waren laut der UNO vor allem Indigene und Afrokolumbianer*innen betroffen. Im Bezirk von Riosucio, zu dem auch Marcial gehört, wurden laut staatlichen Quellen zwischen 1985 und 2019 mindestens 382 Menschen ermordet, und 190 Menschen entführt, die seitdem verschwunden sind. Seit 2017 wurden 17 Aktivist*innen im Chocó ermordet, davon 9 am Flusslauf des Atrato. Dabei sind die Menschen nicht mitgezählt, die den Landminen zum Opfer fallen. „Das schlimmste, was der Konflikt uns hinterlässt, sind die Minen,“ erzählt García. In der gesamten Region seien sie verlegt. „Eigentlich überall dort, wo es Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen bewaffneten Gruppen gibt, um ihre Einflussgebiete vor ihren Gegnern zu verteidigen“, ergänzt er. Die Embera und Wounaan rufen das Militär zu Hilfe, wenn sie Landminen auf ihrem Gebiet vermuten. Denn nur das Militär hat die notwendige Ausrüstung und Personen mit Spezialausbildung zu deren Räumung und Entschärfung. In allen Autonomiegebieten werden immer wieder Minen gefunden, manchmal tritt nachts ein Tier darauf und explodiert. Gleich hinter dem Sportplatz von Marcial steht ein Schild, das vor dem Betreten des Waldstücks warnt. Eigentlich wären es zur Nachbargemeinde Jagual nur ein paar Minuten zu Fuß. Der einzig sichere Zugang bleibt nur über den Fluss.

Foto: Andreas Hetzer

Und wer legt die Minen? Vor allem Paramilitärs, aber auch Guerilla und sogar das Militär selbst. Es ist schwer nachzuweisen, da die Minen immer selbstgebastelte Sprengkörper sind, die nicht eindeutig einem Akteur zugeordnet werden können. Seit 2015, also inmitten der Verhandlungen der FARC mit der Regierung, sind nun wieder paramilitärische Verbände in der Region verankert – sie lassen Menschen verschwinden und säen Terror unter der Bevölkerung. Die Paramilitärs rekrutieren auch zwangsweise Minderjährige. Ebenfalls wächst der Einfluss der ELN-Guerilla in der Region am Atrato. Seit der Präsident Iván Duque die Verhandlungen mit ihnen abgebrochen hat, ziehen sie sich in ihre traditionellen Gebiete zurück. Unter anderem in den Chocó. Sie sollen viermal mehr Mitglieder haben als noch vor zwei Jahren.
Aber es gibt Widerstand aus den indigenen Gebieten – vollkommen unbewaffnet. „Alles was wir einsetzen, ist unsere Gemeinschaft und die Solidarität untereinander“, beschreibt García. Ein Teil der Gemeinde in Marcial ist damit beauftragt ihr Gebiet zu bewachen. Sie nennen sich selbst Verteidiger*innen des Territoriums und lassen sich an ihrem symbolischen Kommandostab, dem bastón de mando, erkennen, den sie immer mit sich führen. Die Verteidiger*innen werden auf den Treffen der ganzen Dorfgemeinschaft bestimmt. Simón ist einer von ihnen. Mit seinen 31 Jahren gilt der in Marcial geborene junge Wounaan schon als einer der Älteren. Er ist damit beauftragt, die Verteidiger*innen zu koordinieren und ihre Aufgaben einzuteilen. Die Gemeinschaft habe ihn mit dieser wichtigen Aufgabe betraut, weil sie seine Disziplin und seinen Gemeinschaftssinn schätze, teilt er schüchtern und mit leiser Stimme mit. Seit knapp drei Jahren ist er dabei – von Beginn an. Die Idee kam im Austausch mit anderen Indigenen bei einem Treffen in der Hauptstadt Bogotá. „Andere indigene Gemeinschaften haben schon seit vielen Jahren eigene Verteidigungseinheiten, die sie woanders guardia indígena nennen. Wir befinden uns noch im Aufbau und benötigen die Unterstützung von anderen indigenen Völkern, die uns in Theorie und Praxis der Selbstverteidigung schulen können.“ Bisher haben sie sich alles selbst beigebracht und greifen auf den Erfahrungsschatz der Älteren in der Gemeinde zurück.

Unterricht in Marcial "Eine Gemeinde von Vertriebenen" Unterricht in Marcial – “Eine Gemeinde von Vertriebenen” / Foto: Javier Serna

Schon den Kindern ab zwölf Jahren wird in der Schule grundlegendes Wissen zur Verteidigung des Territoriums beigebracht, aber Aufgaben dürfen sie erst ab 18 Jahren übernehmen. In Marcial gibt es 54 Verteidiger*innen, davon 21 Frauen. Die Frauen haben dieselben Aufgaben wie die Männer. Der einzige Unterschied ist, dass sie tagsüber über das Gebiet wachen und die Männer nachts. Der Mut und die Überzeugung, ihre Gemeinschaft und ihr Territorium zu verteidigen, verleiht ihnen die notwendige Kraft, um sich notfalls gegen bewaffnete Akteure zu stellen. „Wenn es gravierende Probleme in einer der Nachbargemeinden gibt, schicken wir eine Kommission zur Unterstützung oder Verstärkung, und umgekehrt. Wir arbeiten immer gemeinschaftlich“, erläutert Simón selbstverständlich. Nur in Ausnahmefällen, wenn die Bedrohung sehr groß sei, werde die gesamte Gemeinde mobilisiert.

In Marcial gibt es 54 Verteidiger*innen, 21 davon sind Frauen.

Die Verteidigung des Rechts zu bleiben geht weit über Marcial hinaus. “Wir verstehen uns als einen kleinen Teil der Bewegung für das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben“, sagt García. Gerade deswegen ist die Verteidigung des Territoriums existenziell. Denn das Territorium bedeutet mehr als nur der Boden. Es gilt den Embera und Wounaan als vitaler Lebensraum, der unmittelbar mit der eigenen Kosmovision und Identität zusammenhängt. Der Erhalt der eigenen Kultur ist deswegen immer auch ein kollektiver Akt des Widerstands gegen die Kolonisierung und Unterdrückung. „In vielen Bereichen sind wir bereits gescheitert, denn die sogenannte Zivilisation, die Konquistadoren und ihre Religion haben viel von unserer Tradition und sogar unsere Sprache zerstört“, sagt García. Im Jahr 1995 hat die Gemeinschaft in Marcial deshalb beschlossen, nach ihren eigenen Ursprüngen und ihrer Kosmovision zu forschen und dieses Wissen zu verschriftlichen. „Denn es gibt kaum schriftliche Überlieferungen. Wir haben quasi von null angefangen“, so García weiter.

Verteidigerin des Territoriums – Frauen haben die gleichen Schutzaufgaben wie die Männer / Foto: Nicolás Achury González

Das Gleiche gilt für die Schule im Dorf. Anfangs gab es ein Gebäude aus traditionellen Naturmaterialien, um den Kindern traditionelles Wissen beizubringen. Allerdings hatten die Kinder nur bis zur fünften Klasse Unterricht, da es keine ausgebildeten Lehrer gab. Später dann setzte die Gemeinde durch, dass der Staat die Lehrer*innen bezahlte, jedoch kamen diese immer von außerhalb und unterrichteten nur auf Spanisch. „Bis 1995 gab es keinen Lehrer mit linguistischen Kenntnissen unserer Muttersprache, aber nun gibt es welche aus unseren eigenen Reihen. Wir haben erhebliche Fortschritte gemacht. Heute sind wir über 300 Wounaan-Lehrer in Kolumbien“, berichtet García stolz, der selbst Lehramt studiert hat und an der eigenen Schule arbeitet. Nun wird besonders in den ersten Jahren Wert darauf gelegt, einen Teil der Lehre in Wounaan und Embera abzuhalten. Zudem wird der Lehrplan selbst entwik-kelt und eigenes Lehrmaterial zu indigener Kultur und Geschichte erstellt. Doch nicht nur die Lehrer*innen und Schüler*innen sind daran beteiligt. „Die Bildung ist ein Gemeinschaftsprojekt. Wir beziehen die gesamte Gemeinde mit ein, denn das Wissen und die Wissenschaft besitzen die Weisen und Ältesten“, gibt sich García sicher. Nicht nur die Bildung, sondern eigentlich alles wird in Marcial gemeinschaftlich organisiert. Jeden Tag kommt die große Versammlung zusammen, an der alle teilnehmen, auch die Kinder über 12 Jahre. García lächelt und sagt: „Deshalb bezeichnen wir die Versammlung als unsere Universität, da wir jeden Tag etwas über die indigenen Rechte und die politische Organisierung des Widerstands lernen.“

* Namen der Autoren von der Redaktion geändert

 

 


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WARUM LEBEN WIR IM PARADIES?

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Memo war kurz nach deren Gründung im Juni 2009 Kommandant der Guardia Comunal von Ostula. Seitdem ist ihm bewusst geworden, wie wichtig das Land für die Gemeinde ist. Er hat miterlebt, wie mehrere seiner compañeros von der kriminellen Vereinigung Caballeros Templarios gewaltsam verschwunden gelassen wurden.

Die 1531 gegründete Nahua-Gemeinde von Santa María Ostula an der Pazifikküste von Mexiko ist eigentlich eine paradiesische Gegend. Sie liegt in Aquila, einem der größten Kommunalverbände des Bundesstaates Michoacán und wahrscheinlich einem der rohstoffreichsten. Doch genau dies wird ihren Bewohner*innen zum Verhängnis. Seit 1964 kämpft die Gemeinde um die Wiederaneignung von 1.200 Hektar fruchtbarer Ländereien. Landraub, organisierte Kriminalität und politische Parteien verhindern seit Anfang des 20. Jahrhunderts aber immer wieder, dass die Nahua ihr Land nutzen können.

Pedro lebt in Xayacalan. Das gemeinsame Haus hat er zusammen mit seiner Frau Baudelia gebaut. Beide waren eng mit Don Trino befreundet, einem der beharrlichsten Kämpfer gegen die doppelte Macht aus Politik und organisiertem Verbrechen, der 2011 von den Caballeros Templarios ermordet wurde.

Ein Erlass des Präsidenten im Jahr 1964 ermöglichte zwar der Gemeinde, das Land legal zu nutzen. Doch weder die landwirtschaftlichen Gerichte noch irgendeine andere Behörde erkannten dieses Recht an. Stattdessen ließen sie weiteren Landraub zu, entweder durch die Lokalpolitik in Form von Vertreter*innen der langjährigen Regierungspartei PRI oder, wie in jüngster Vergangenheit, durch das organisierte Verbrechen, insbesondere durch die bekannte kriminelle Gruppe Caballeros Templarios (Tempelritter).

Doña Juana schaut skeptisch nach dem Fotografen. Die mexikanische Essayistin Marina Azahua nannte diese Reaktion ein „unfreiwilliges Porträt“. Aber in Doña Juanas Blick ist auch Neugier. Sie hat seit vielen Jahren Widerstand geleistet und um ihr Land gekämpft. In ihrem hohen Alter hat sie von der Geschichte der Gemeinde Ostula viel mitbekommen: Eine Geschichte von Stärke trotz des großen Leids, trotz Angst und Tod.

Bis 2009 hatte die Gemeinde von Ostula für politische Rahmenbedingungen gekämpft, die eine Legalisierung der wiederangeeigneten Landflächen ermöglichen sollten. Seitdem gehen das organisierte Verbrechen und die Politik gewalttätig gegen die Gemeinde vor. Die Bilanz: 34 Ermordete und sechs Verschwundene. Der eiserne Widerstand und die gesammelte Erfahrung im Kampf gegen solche Repressionen bilden heute die grundlegende Basis für den Zusammenhalt der Gemeinde.

Felipa und Rosendo lächeln in die Kamera, die etwas von der Friedlichkeit einzufangen versucht, in der sie leben. Sie bearbeiten Holz und Palmenblätter und bewahren damit eine Tradition: Sie weben equipales, eine Art kleine Korbstuhlbank die zum traditionellen Mobiliar der Gemeinde gehört. Während der Jahre der Gewalt konnten sie diese Arbeit lange nicht ausüben, weil kriminelle Gruppen das verboten.

Nach einer Offensive gegen die organisierte Kriminalität und institutionelle Korruption gelang es Santa María Ostula im Jahr 2014, mit ihrer selbst gegründeten Kommunalwache Guardia Comunal, die Bewohner*innen zu schützen. Sie beruft sich in ihrem autonomen Handeln auf das Abkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), das in Mexiko Anfang der Neunziger ratifiziert und 2011 in die Verfassung aufgenommen wurde. Das Abkommen gesteht indigenen Gemeinden unter anderem das Recht auf Land und eigene Kultur zu.
Bergbau, Straßenbauprojekte und Tourismus sind eine zusätzliche Bedrohung für Ostula, nicht nur durch die drohende Umweltzerstörung. Die naheliegende Mine Las Encinas des italienisch-argentinischen Unternehmens Ternium übt permanent Druck auf die Nahua-Gemeinde aus: Das Unternehmen will den Bergbau ausweiten und um jeden Preis auch die Grundstücke der Nahua-Gemeinde an sich reißen.

Trueno hat viel dafür gekämpft, dass seine Gemeinde die Landflächen behalten kann, ohne sich unter die Kontrolle des organisierten Verbrechens zu stellen. Seit 2009 – dem Jahr, in dem sich die Gemeinde 1.250 Hektar wiederaneignetete – hat Trueno an allen Initiativen von Ostula teilgenommen. Heute wird diese wiederangeeignete Fläche zum Wohnen und für Landwirtschaft genutzt. Auch Trueno hat hier seinen Wohnsitz.

Ein Abkommen zwischen der bundesstaatlichen Regierung von Silvano Aureoles und dem indischen Unternehmer Lakshmi N. Mittal (ArcelorMittal ist der weltgrößte Stahlproduzent, Anmerkung der Redaktion) bildet eine zusätzliche Gefahr für die Biodiversität der gesamten Küsten- und Gebirgsregion von Michoacán. Der Vertrag besiegelt den Ausbau des Hafens Lázaro Cárdenas sowie die Weiterentwicklung von Bergbauaktivitäten an der fast 300 Kilometer langen Küste – eine Bedrohung für die Sicherheit und Stabilität aller dort angesiedelten Gemeinden.

Ariana hält in der Küche ihre kleine Tochter im Arm, während der Morgen sich langsam über der Hitze des Herdes ausbreitet. Zehn Jahre nach der Wiederaneignung des Landes, auf die damals eine Offensive krimineller Banden und der Politik mit 34 Ermordeten und sechs Verschwundenen folgte, hält sich die Gemeinde heute stabil, vereint und stark. Sie erbaut sich wieder einen Alltag.

Lakshmi N. Mittal, einer der hundert reichsten Menschen der Welt, konnte bei dem Abkommen mit der Regierung drei Forderungen durchsetzen: erstens, dass das organisierte Verbrechen verschwindet, zweitens: die juristische Zusicherung, die Landflächen nutzen zu können. Und drittens: die Abwesenheit von jeglicher Opposition, seien es Umweltschützer*innen oder indigene Gemeinden. Allein letzteres bedeutet ein ökologisches, soziales und kulturelles Desaster.

Alle machen mit Mehr und mehr nehmen junge Frauen eine entscheidende politische Rolle innerhalb der Gemeinde ein. Ihre Unterstützung der Familien, die für das Land kämpfen, macht sie zu gesellschaftlich handelnden Subjekten. Das geben sie auch an die nachfolgenden Generationen weiter.

Trotz der komplexen Situation ist die Nahua-Gemeinde von Ostula für viele ein Vorbild im Widerstand gegen das organisierte Verbrechen und Megaprojekte. Sie steht für ein Streben nach einem friedlichen Leben, im völligen Einklang mit der Umwelt.
Aktuell konnte Santa María Ostula die Sicherheit ihrer Grundstücke verbessern und andere benachbarte Gemeinden stärken, sodass die Region ein wenig friedlicher (und produktiver) ist.
Auf den wiederangeeigneten Landstücken hat die Gemeinde von Ostula eine Ortschaft gegründet: Xayacalan. Hier werden Papaya, Hibiskus, Melonen, Tamarindenfrucht und Mais gesät – statt Marihuana und Mohn. Statt der heimlichen Massengräber, wie sie von der organisierten Kriminalität geschaffen werden, entsteht etwas Neues.

 


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„KEINER VON BEIDEN IST POLITISCH LEGITIMIERT”

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EDGARDO LANDER
hat in Harvard Soziologie studiert und ist emeritierter Professor für Soziologie an der Zentralen Universität in Caracas (UCV). Er gilt als einer der profiliertesten linken Intellektuellen in Venezuela und als kritischer Unterstützer des bolivarianischen Prozesses. Seine Themen sind unter anderem Kritik des Eurozentrismus, soziale Bewegungen und Neoextraktivismus in Latein­amerika.

Foto: Tilman Vogler


Seitdem sich Juan Guaidó am 23. Januar dieses Jahres selbst zum Interimspräsidenten ernannt hat, beanspruchen sowohl er, als auch Präsident Nicolás Maduro für sich, rechtmäßig im Amt zu sein. Wer ist Ihrer Meinung nach legitimiert?
Keiner von beiden. Die Regierung hat nach ihrer Niederlage bei den Parlamentswahlen 2015 beschlossen, sich mit allen Mitteln an der Macht zu halten. Dabei missachtet sie die Verfassung, denn bis dahin gab es immer noch freie Wahlen, mit einem überdurchschnittlich transparenten Wahlprozess und einem Wahlsystem, mit nahezu fehlerfreier technischer Infrastruktur. Heute stehen wir vor dem Problem, dass die Regierung die Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten der venezolanischen Bevölkerung einschränkt. Es gibt aber auch Gründe, die Position von Guaidó abzulehnen. Dieser steht für ein Projekt des Regime Change, das von außerhalb kommt. Die rechte Opposition verkennt dabei die venezolanische Realität. Denn noch immer unterstützt ein Großteil des Militärs Maduro. Und auch in der Bevölkerung gibt es noch immer einen großen Rückhalt für den Chavismus, beziehungs­weise dessen Weiterführung unter Maduro, auch wenn die Zustimmung gesunken ist.

Seit dem 7. März gab es eine Reihe landesweiter Stromausfälle. Die Regierung beschuldigt die Opposition und die USA der Sabotage. Diese wiederum bringen schlechte Wartung und Korruption innerhalb der Regierung als Grund für die Stromausfälle vor.  Was halten Sie von den Beschuldigungen und Erklärungen?
Die venezolanische Gesellschaft ist so stark polarisiert, dass die Anhänger beider Lager in unterschiedlichen Wirklichkeiten leben. Das macht es so schwierig, ein Thema zu verhandeln, weil es nicht nur um die Interpretation geht.
Das venezolanische Stromnetz verfällt seit Jahren. Das liegt zum einen an der Korruption und zum anderen daran, dass Militärs an die Spitze von Stromunternehmen gesetzt wurden, die überhaupt keine Kompetenzen auf dem Gebiet haben.
Auf der anderen Seite kann man aber auch davon ausgehen, dass ein Interesse besteht, diese Situation auszunutzen und der Regierung zusätzlich Probleme zu bereiten. Und ein so anfälliges Stromnetz ist eben sehr leicht anzugreifen. Ich schließe also nicht aus, dass es sich in einigen der Fälle um Sabotage gehandelt hat, aber eben begünstigt durch ein sehr anfälliges System.

Sie gehören gemeinsam mit anderen Akademiker*innen, Aktivist*innen und früheren Minister*innen unter Chávez der Bürgervereinigung zur Verteidigung der Verfassung an. Was schlagen Sie als Ausweg aus der Krise vor?
Im Moment haben wir eine Situation, in der sich zwei Kräfte in einer Freund-Feind-Logik gegenüberstehen und sich gegenseitig politisch auslöschen wollen. Um einen Krieg zu verhindern, müssen wir zu einer politischen Einigung kommen. Um das auf demokratischem, friedlichem und verfassungskonformem Weg zu erreichen, ist die beste Option ein Konsultativreferendum, das von beiden Seiten ausgehandelt werden muss. Die Bevölkerung könnte somit darüber abstimmen, ob sie Neuwahlen aller staatlichen Gewalten will.
Aus unserer Sicht würden Verhandlungen es dem Chavismo ermöglichen, sich als politische Bewegung wieder neu zu formieren und weiterhin im Land zu agieren und zu existieren. Bei einem Regime Change, der die Regierung einfach ausradieren würde, wäre das keine Option.

Was denken Sie über die Rolle der EU in Bezug auf die Situation in Venezuela?
Dadurch, dass sie Guaidó anerkannt hat, hat die so genannte internationale Gemeinschaft Verhandlungen eher erschwert als sie zu unterstützen, weil das die Fronten verhärtet. Es ermutigt die Leute, die sich hinter Guaidó versammeln, weil sie ihn durch die internationale Unterstützung als rechtmäßigen Übergangspräsidenten sehen. Maduro wiederum wird zum Beispiel weiterhin von den Regierungen Chinas und Russlands anerkannt, übt die Kontrolle über die staatlichen Institutionen aus und kann sich auf das Militär und die chavistischen Gruppen verlassen, die immer noch aktiv sind und über großes Mobilisierungspotenzial verfügen. Dass die meisten Mitgliedsstaaten der EU also nicht an Verhandlungen interessiert sind, sondern einzig daran, Maduro aus dem Amt zu befördern, ist sehr schädlich und verringert die Möglichkeiten einer Verhandlungslösung.

Sie haben sich gemeinsam mit der Bürgervereinigung im Frühjahr mit Guaidó getroffen. Warum?
Weil er gewählter Parlamentspräsident ist. Die beiden institutionellen Sektoren in dem Machtkampf bestehen aus Regierung und Nationalversammlung. Die Haltung dieser beiden Sektoren bringt Venezuela an den Rand eines Krieges. Also haben wir beiden Seiten ein Referendum vorgeschlagen und sie auf ihre Verantwortung hingewiesen. Dafür haben wir um Treffen mit Guaidó und Maduro gebeten. Das Treffen mit Guaidó wurde von vielen Linken, besonders auch im Ausland, als eine Art Anerkennung für ihn gewertet. Wir haben uns aber mit ihm in seiner Funktion als Parlamentspräsident getroffen und nicht als Staatspräsident und das auch öffentlich gesagt. Genauso haben wir einen Brief mit der Bitte auf ein Treffen mit Maduro eingereicht. Drei Tage in Folge haben wir versucht, diesen Brief im Präsidentenpalast Miraflores abzugeben. Doch sie haben ihn nicht mal entgegengenommen. Das zeigt ihre Haltung zum Dialog.

Im Februar 2016 schuf Maduro per Dekret den Minenbogen des Orinoco (Arco Minero), eine Fläche von fast 112.000 Quadratmetern für den Bergbau. Was steckt dahinter?
Aufgrund des Preisverfalls für Erdöl und dem stetig fallenden Förderniveau hat sich die venezolanische Regierung, anstatt Wege zur Diversifizierung der Wirtschaft zu finden, erneut für den Extraktivismus entschieden. In diesem Fall für den Bergbau, denn im Gebiet des Minenbogens gibt es bedeutende Vorkommen von Eisen, Aluminium, Coltan, seltenen Erden und natürlich ganz besonders Gold. Die Regierung sieht hier also das neue El Dorado mit dem die gesunkenen Erdöleinnahmen aufgewogen werden sollen. Seit ungefähr zehn Jahren gibt es einen Anstieg des illegalen Kleinbergbaus in dieser Region, der durch die Verwendung von Quecksilber nicht nur der Umwelt schadet, sondern auch negative Auswirkungen auf die dort lebenden Indigenen hat. Und nun hat die Regierung beschlossen, dies im großen Stile und unter Mitwirkung von transnationalen Unternehmen weiterzuführen.
Bisher ist die multinationale Beteiligung gering. Was nicht etwa daran liegt, dass die Regierung ihnen hinsichtlich Zollauflagen, Steuern oder Protestunter­drückung nicht genug Garantien gegeben hätte, sondern weil das ganze juristisch unter sehr unsicheren Umständen stattfindet. Es verstößt gegen die Verfassung, die Rechte der Indigenen sowie Arbeits- und Umweltrecht. Und die politische Instabilität des Landes tut natürlich ihr übriges dazu.

Steht die Gründung spezieller Wirtschaftszonen im Widerspruch zur offiziellen Politik der Regierung?
Die Entstehung des Minenbogens und das neue Gesetz, das von der Verfassunggebenden Versammlung zum Schutz ausländischer Investition verabschiedet wurde, entsprechen offensichtlich neoliberalen Interessen. Und das Beharren der Regierung auf dem extraktivistischen Modell bildet keinen Widerspruch zum globalen Wirtschaftsmodell, es stellt auch keinen Bruch mit der kolonialen Unterordnung in der internationalen Arbeitsteilung und mit der Rolle dar, die Lateinamerika historisch als Rohstofflieferant zukommt. Die Konsequenzen sind Umweltzerstörung, ein hohes Gewaltaufkommen bewaffneter Gruppen, die untereinander um das Gebiet kämpfen. Es ist ein Niemandsland, in dem alle Konflikte mit Waffengewalt ausgetragen werden. Die indigenen Gemeinden der Region sind stark von der Gewalt betroffen und viele müssen im Bergbau arbeiten, weil ihre Lebensgrundlage zerstört wird. Mädchen werden entführt und in den Bergbaulagern zur Prostitution gezwungen.

Welche Arten des Widerstands haben sich dagegen entwickelt?
Es gibt die Plattform gegen den Minenbogen, ein Kollektiv von jungen Leuten, die aktiv sind im Kampf für Umweltrechte, Demokratie und Indigenen-Rechte und die auch schon Kampagnen zur Analyse der Situation gemacht haben. Aber der Protest ist leider sehr schwierig. Erstens, weil es in Venezuela schon lange eine auf Rohstoffexporten basierte Ökonomie gibt. Der Großteil der Bevölkerung lebt aber in den Städten, also weit weg von den Orten der Förderung, wo all das passiert. Es ist kein kollektives Bewusstsein vorhanden, das so weit reicht, die Größe des Problems zu erkennen. Zweitens sind die alltäglichen Probleme und die politische Polarisierung so groß, dass nicht nur im privaten Alltag sondern auch in den Medien über andere Dinge gesprochen wird.

 


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DAS GUTE LEBEN, NUR EIN DISKURS



Foto: Privat

Oscar Campanini
ist Direktor der Nichtregierungsorganisation CEDIB aus Bolivien. CEDIB arbeitet für mehr Transparenz im Bergbau und anderen Großprojekten in Bolivien und beschäftigt sich unter anderem mit dem Thema Lithium.


 

Herr Campanini, Sie kritisieren Demokratiemangel in Boliviens Bergbau- und Rohstoffpolitik. Wie hat sich diese in den letzten Jahren verändert?
So wie die meisten lateinamerikanischen Länder ist auch Bolivien historisch mit dem Rohstoffexport verbunden. Die Wirtschaft des Landes basiert größtenteils auf Extraktivismus und birgt somit eine hohe Rohstoffabhängigkeit. Anstatt die Wirtschaft zu diversifizieren, wurden politische Machtstrukturen innerhalb des Rohstoffsektors geschaffen, welche Armut und Diskriminierung bis heute begünstigen. Die Hoffnung auf eine Transformation dieser Strukturen wurde nach fast 14 Jahren Amtszeit des Präsidenten Evo Morales enttäuscht.
Rohstoffausbeutung wurde mit einer Kapitalanlagenmaximierung für eine stärkere Sozialpolitik gerechtfertigt. Auch der Wunsch nach Entwicklung trieb diesen Prozess immer weiter voran.
Mit der Politik des Wachstums sind enorme sozio-ökologische Auswirkungen verbunden. Besonders betroffen sind indigene Gruppen, die direkt unter den ökologischen Auswirkungen des Bergbaus leiden. Um Widerstand zu unterbinden, wendet die bolivianische Regierung verschiedene Strategien an. Die Betroffenen werden zum Schweigen gebracht, Menschenrechte werden missachtet.

Die Auswirkungen auf Menschen − insbesondere wenn sie Sorgearbeit verrichten, welche traditionell Frauen zugeschrieben wird − werden in der Beschäftigung mit dem Extraktivismus und seinen Folgen nur selten beleuchtet.
Die Auswirkungen sind für Frauen auf jeden Fall anders, aber es gibt auch viele Gemeinsamkeiten. Wenn extraktivistische Projekte geplant werden, geht das oftmals mit großen Versprechen für die Regionen einher, wie zum Beispiel Arbeitsplätzen oder anderen wirtschaftlichen Vorteilen, die nicht immer eingehalten werden. Zuallererst zerstören diese Projekte die produktiven und organisatorischen Strukturen der Gemeinschaften. Wenn eine Gemeinde beispielsweise von der Landwirtschaft lebte, wird diese dann nur noch spärlich betrieben, um sich stattdessen extraktivistischen Projekten zu widmen. Dadurch profitieren die Familien zwar erst einmal wirtschaftlich, aber die Produktion von Lebensmitteln funktioniert nicht mehr und die Lebensgrundlage der Gemeinde verändert sich vollkommen. Auch die Organisation der Gemeinschaften ist am Ende nicht mehr dieselbe. Die Gemeinschaft ist traditionell am Wohlergehen aller Mitglieder orientiert. Die Unternehmen, die extraktivistische Projekte planen, nehmen jedoch Einfluss auf deren Repräsentanten und sorgen dafür, dass diese die unternehmerischen Belange wiederum nach innen hin vertreten und Einfluss auf die Gemeinden nehmen, um sie von den Projekten der Unternehmen zu überzeugen. So werden die organisatorischen Strukturen der Gemeinden völlig unterlaufen und ihre Strukturen für die Zwecke des Extraktivismus instrumentalisiert. Verheerend sind auch die Auswirkungen auf die Umwelt, insbesondere auf das Wasser, und das bekommen leider ganz besonders Frauen zu spüren. Männer, welche meistens ökonomischen Tätigkeiten nachgehen, bekommen davon wenig mit, weil sie außerhalb der Haushalte arbeiten und diese Probleme nicht selbst erleben.

Haben Frauen deswegen auch eine besondere Rolle im Widerstand gegen diese Praktiken?
Ganz genau. In den letzten 15 Jahren des sozialen Widerstands waren es vor allem Frauen, die auf fundamentale Probleme aufmerksam gemacht haben. Es hat seine Vor- und Nachteile, dass Frauen traditionell enger mit den Familien leben und daher besorgter um die Zukunft ihrer Kinder und die ihrer Gemeinde sind. Deswegen übernehmen Frauen immer häufiger die Rolle von Anführerinnen ihrer Gemeinden und gehen die Probleme anders an als Männer, die wegen ihrer ökonomischen Perspektive und aufgrund von Sexismus die Dinge nicht so klar sehen wie sie. In vielen wichtigen Organisationen sind Frauen jetzt die wichtigsten Akteurinnen und die Anführerinnen des Widerstands geworden.

Wie beurteilen Sie die Idee eines Entwicklungsmodells, welches Wohlstand durch die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen erreichen will? Braucht Bolivien überhaupt eine „Entwicklung“?
Seit einiger Zeit gibt es in Bolivien eine Debatte darüber, was Entwicklung eigentlich ist. Auch in Deutschland gibt es ein Bewusstsein für diese Fragen, was man zum Beispiel am Thema der Elektroautos sehen kann. Dabei geht es aber nur um eine Transformation im Bereich der Energiequellen, das System des Konsums jedoch bleibt bestehen, die Idee der Entwicklung unangetastet. In Bolivien diskutieren wir die Frage, welche Entwicklung wir eigentlich wollen, und wissen auch, dass wir in jedem Fall ökonomische Ressourcen brauchen, die wir besonders leicht aus dem Handel mit anderen Ländern beziehen können. Die Frage ist vor allem, was wir dann mit diesen Ressourcen anstellen. Natürlich brauchen wir Bildung, ein funktionierendes Gesundheitssystem und viele andere Dinge, die die entwickelten Länder haben. Aber zu welchem Preis? Das verhandeln und analysieren wir aktuell in Bolivien.

Lithium, das in Bolivien im großen Stil abgebaut wird, wird derzeit in vielen Ländern des Globalen Nordens als Wegbereiter für eine internationale Energiewende gefeiert und findet Einsatz im Bereich der Elektromobilität. 2018 hat Bolivien einen 1,3-Billionen-Dollar-Deal mit der deutschen Firma ACI im Bereich der Lithiumausbeutung geschlossen. Zu welchem Preis bekommt Deutschland die vermeintlich saubere Energie?
Deutschland und die EU sorgen sich um die Erhaltung der eigenen Energiesicherheit. Von Bolivien brauchen sie Rohstoffe, um die eigene nationale Industrie und Entwicklung voranzutreiben. Die Umwelt nimmt nur insofern eine wichtige Rolle ein, da sie die Rohstoffe bereitstellt. Die Ökosysteme, in denen dieser Rohstoff auffindbar ist, sind mit indigenen Territorien verbunden. Das ist die Lebensgrundlage der ansässigen Menschen, und umgekehrt wird das Land auch von seinen Bewohnern instand gehalten. Deutschland interessiert sich für den Rohstoff, jedoch nicht für die auf dem Fördergrund lebende Bevölkerung. Landvertreibung und die Beschneidung von Menschenrechten sowie die Beschädigung der Ökosysteme hängen also mit der vermeintlich nachhaltigen Energie zusammen. Die damit zusammenhängende Ausbeutung von Rohstoffen, in diesem Fall Lithium, führt zu erhöhtem Abbau im Sinne von weiterem Wachstum.

51 Prozent des Umsatzes soll Bolivien erhalten − dient dieser Gewinn zum Aufbau einer eigenen Industrie? Welche Folgen hätte dies?
Seit vielen Jahren gibt es bereits Pläne zur Industrialisierung Boliviens. In der Vergangenheit investierte die Regierung in viele verschiedene Sektoren, um diese weiter voranzubringen. Aufgrund des bisherigen Scheiterns der Industrialisierung anderer Sektoren, gilt Lithium derzeit als vielversprechendster Bereich. Es wurde bereits viel Geld aus der bolivianischen Staatskasse, aber auch durch ausländische Investoren bereitgestellt, um diese Industrie zu entwickeln.
Der 2018 mit Deutschland geschlossene Vertrag verspricht ein innovatives Projekt zur Lithiumgewinnung, in dem es bisher so scheint, als ob von diesem alle profitieren könnten. Es gibt jedoch Unstimmigkeiten. Ein Problem sind die genannten ökologischen Folgen. Die Wassermengen, die von den Kraftwerken benötigt werden, sind trotz neuer Technologien riesig. Der Verbrauch der Wasserreserven wird sich nicht nur auf Salar de Uyuni auswirken, sondern die gesamte Region betreffen und das Ökosystem stark beschädigen. Diese drastischen Folgen hat Bolivien bisher noch nicht erkannt. Eine weitere Sorge ist, ob die Wertschöpfungskette wirklich in Bolivien bleibt. Das Versprechen nationaler Wertschöpfung ist zwar Teil des Vertrags zwischen ACI und Bolivien, jedoch gibt es viele alarmierende Signale, dass dies nicht wirklich so sein wird. Es ist bereits bekannt, dass Deutschland einen aktuellen Fond mit mehreren Millionen Euro bereitstellt, um eine eigene Lithiumverarbeitungsindustrie aufzubauen. Das lässt natürlich Raum für Sorge, ob das Interesse an einer nachhaltigen Wertschöpfungskette innerhalb Boliviens wirklich besteht.

Wenn wir uns Ihre bisherige Bilanz der Rohstoffpolitik Boliviens ansehen, drängt sich die Frage auf, was eigentlich aus dem Vivir Bien geworden ist.
Leider ist all das bloß ein Diskurs geblieben. So, wie die Idee des Vivir Bien eigentlich konzipiert wurde, ist sie konträr zum Entwicklungsbegriff − und doch wurde sie in diesem Gesetz einfach zum Grundstein einer „integralen“ Entwicklung erklärt und so in eine Entwicklungsagenda integriert. Die natürlichen Ressourcen stehen deswegen immer noch im Dienst einer ökonomischen Entwicklung von Wachstum durch den Export von Rohstoffen. Eine richtige Transformation hat nie stattgefunden. Was wir sehen ist lediglich eine Transformation von Diskursen über das Vivir Bien.

Bolivien ist im Moment der letzte Staat, der den socialismo del siglo 21 (Sozialismus des 21. Jahrhunderts) mit einer gewissen Stabilität weiterführt. Was denken Sie über die Entwicklung der Linken in Lateinamerika?
Ich verstehe diese Welle progressiver Regierungen als Produkt von sozialen Bewegungen, die sich gegen den Neoliberalismus auf dem Kontinent zur Wehr gesetzt haben und nach politischen Alternativen suchten. Im besten Fall haben diese jedoch ein paar Umverteilungsmaßnahmen erreicht – mehr nicht. Es gab einige Versuche von Verstaatlichungen, in Bolivien beispielsweise von Gas, aber dieses wird von transnationalen Unternehmen kontrolliert, deswegen konnte das Projekt nicht gelingen. Die Erträge wurden zwar umverteilt, die größten Gewinne blieben jedoch noch immer bei den transnationalen Unternehmen. Strukturelle Veränderungen haben aber leider keine der progressiven Regierungen wirklich erreicht, und deswegen sind sie gescheitert. Momentan schlägt die Rechte zurück. Das ist die logische Konsequenz des Versagens der Linken. Diese Entwicklung beunruhigt uns sehr. Was zum Beispiel gerade in Venezuela geschieht, wird mit Sicherheit einen Einfluss auf ganz Lateinamerika haben.

 


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EIN STAUDAMM WENIGER

Im Inneren von El Diquís                                  Foto: La Nacion de Costa Rica

Bereits in den 1980er Jahren gab es die ersten Pläne für das Projekt El Diquís – das mit 650 Megawatt Kraftwerksleistung größte Wasserkraftwerk Zentralamerikas. Ein Prestigevorhaben für das Land, das bereits fast 100 Prozent seiner Elektrizität aus regenerativen Energiequellen bezieht und durch die Wassermenge- und Sicherheit sowie die Fließgeschwindigkeit der Flüsse aus den faltenreichen Gebirgsformationen ideale Bedingungen für Wasserkraftwerke bietet.
„Diquís“ bedeutet „großer Fluss“ oder „breiter werdender Fluss“ in der Sprache der Teribe und Boruca, der Nachkommen der indigenen Diquís. Heute wird der Fluss Río Térraba genannt. Knapp 700 Jahre lang dominierte die Hochkultur der Diquís die südliche Pazifikküste Costa Ricas, bis zur Eroberung durch die Kolonisator*innen.
Das Staudammprojekt El Diquís war von Beginn an umstritten, weil es den Lebensraum der Teribe und Boruca gefährdet. Bis heute wurden nur einige Vorarbeiten umgesetzt, dabei hatten sich die Pläne bereits Anfang des 21. Jahrhunderts konkretisiert und El Diquís 2014 zum Vorzeigeprojekt der damaligen Regierung gemacht. Javier Orozco, Planungsdirektor des staatlichen Stromanbieters ICE, bezeichnete das Projekt noch 2017 als „essentiell, um dem steigenden Strombedarf des Landes gerecht zu werden.“ Luis Pacheco, ICE-Vorstand für Elektrizität, ging im April 2018 noch weiter: „Costa Rica muss seine Wirtschaft stärken, dafür braucht es Energie.“ Das Kraftwerk könne eine „Batterie“ des zentralamerikanischen Netzes werden, welches nach Kolumbien und Mexiko ausgebaut werden könne. Bedarfsstudien gibt es jedoch bis heute nicht.
Derartige Prognosen und vage Träume waren Argument genug, um mit über zwei Milliarden Dollar knapp 7.000 Hektar Land unter Wasser zu setzen und 1.500 Familien umzusiedeln. Doch die indigene Bevölkerung wehrte sich von Beginn an. Donald Rojas ist Buruca und Repräsentant der Mesa Nacional Indígena de Costa Rica, einer unabhängigen indigenen Interessenvertretung auf Landesebene. Ruhig zählt er die Befürchtungen der Bevölkerung vor Ort auf: „Mindestens 25 Prozent des Landes der Teribes und 10 Prozent anderer Völker gehen verloren. Ein Tunnel untergräbt unser Land, wir haben Zweifel an der technischen Umsetzung. Es gibt zudem keine Studien über die Umweltschäden.“ Denn Wasserkraft ist zwar regenerativ, aber keine saubere Art der Energiegewinnung. Sie verändert und zerstört den Fluss und das gesamte Ökosystem, das er prägt. „Zudem wirkt sich ein See solchen Ausmaßes auf das Mikroklima aus. Die Menschen vor Ort leben hauptsächlich von der Landwirtschaft. Auch die nötige Infrastruktur wird unser Land beeinflussen“, so Rojas. Allgemeines Misstrauen gegenüber dem Bauwerk wurde geäußert. Ausreichende Sicherheit könne in einer von Erdbeben und Tropenstürmen geprägten Gegend nicht gewährleistet werden.
Fünf Monate nachdem Vorstandsmitglied Luis Pacheco die Bedeutung des Staudamms betonte, erklärte die ICE-Vorsitzende Irene Cañas im November 2018 überraschend das Ende des Projekts. Costa Rica habe keinen Bedarf an zusätzlicher Energie und die Digitalisierung werde den Verbrauch eher senken. Belege oder Gutachten hat die Unternehmensleiterin dafür nicht. Die indigene Aktivistin Elides Rivera aber ist hocherfreut: „Dieser Kampf war für uns autochthone Völker sehr wichtig, weil wir unser Land verteidigt haben, das unser zu Hause ist; weil wir den Fluss verteidigt haben, der uns das Leben schenkt, und auch den Wald, den wir beinahe verloren haben und der für uns Leben bedeutet.“ Sie wertet das Projektende als klaren Sieg des Widerstandes. Vor allem der im Jahr 2018 beschlossene neue Konsultationsmechanismus habe dem Projekt das Genick gebrochen. Dieser setzt die indigenen Völkern durch Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) garantierte Kontrolle über ihre Territorien in nationales Recht um: Ohne die Zustimmung einer indigenen Gruppe im Rahmen in eines geregelten Konsultationsdialoges dürfen in ihrem Gebiet keinerlei Aktivitäten stattfinden. Donald Rojas hingegen wirkt nicht, als hätte er gerade einen jahrzehntelangen Kampf gewonnen. Auf seine Meinung angesprochen, warum das Staudammprojekt abgebrochen wurde, lacht er zunächst emotionslos.

„Ein Wunder, dass es keine Toten gab“


Das soll nicht bedeuten, der Widerstand wäre nicht vehement gewesen. „Es ist ein Wunder, dass es keine Toten gab“, meint Roy Arias. Er arbeitet seit über 15 Jahren mit den indigenen Völkern im Süden Costa Ricas zusammen. „Die Bevölkerung und ihre Meinungen vor Ort sind heterogen und die Situation war sehr angespannt.“ Das ICE habe versucht, einen Keil zwischen die Parteien zu treiben. Costa Rica ist ein demokratisches Land ohne Armee, die den Willen der Regierung umsetzen kann. Repressionen erfolgten eher strategisch und vor allem durch politische Institutionen. Zum einen wurde die nicht-indigene Bevölkerung motiviert, sich für den Staudamm auszusprechen. Diese erwarb im Laufe des letzten Jahrhunderts teils durch illegalen Landerwerb bis zu 70 Prozent des Territoriums der Teribe. Und unter den indigenen Bewohner*innen stiftete die Nationale Kommission für indigene Angelegenheiten (CONAI) Zwist. „Die CONAI ist eine staatliche Institution, die von keiner indigenen Gruppe als Vertretung anerkannt wird, diese aber offiziell innerhalb des politischen Systems vertritt“, erklärt Roy Arias. „Gemeinsam mit dem ICE haben sie Fehlinformationen verbreitet und versucht, die Indigenen durch scheinheilige Angebote von ihrem Territorium zu locken.“
Diese Institutionen, ihre verheißungsvollen Versprechungen, in Aussicht gestellte Ausgleichszahlungen und gezielte Fehlinformation erzeugten ein Klima der Unruhe. 2011 wendeten sich die Teribe an den interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte und die UN sandte einen Sonderbeauftragten nach Costa Rica. Er kritisierte vor allem die Konsultationsweise des ICE, die nicht mit der ILO-Konvention 169 vereinbar sei (siehe LN 449). Für das ICE war dies ein harter Schlag, da es sich als besonders nachhaltiges Unternehmen sieht. Auch die Informationspolitik und Repressionen gegen die Bevölkerung vor Ort wurden angesprochen. Eine Zustimmung zum Projekt habe es nie gegeben, betont Roy Arias. „Nur ein kleiner Teil der Menschen war dafür, vor allem Nicht-Indigene und Mitarbeiter*innen des CONAI. Ein etwas größerer Teil war entschieden dagegen. Und der allergrößte Teil hatte schlichtweg keine Ahnung.“ Über das Ausmaß, Risiken, Folgen des Vorhabens und potenzielle Entschädigungen wurde nie ausreichend informiert. Warum das Projekt letztendlich abgebrochen wurde, weiß Arias nicht.
Die Antwort liefert ausgerechnet Jesús Orozco, ICE-Finanzvorstand. Ein Problem sei der tortuguismo − der Schildkrötismus, also das bewusste Verschleppen von Projekten durch Mitarbeiter*innen, um länger von den Zahlungen zu profitieren. Zudem sei das ICE nicht nur den Indigenen gegenüber sehr verschlossen, sagte er der Tageszeitung La Nación. Die Ankündigung des Projektendes geschah auf der ersten Pressekonferenz seit Jahren. Informationen zu Projektabläufen, Kosten und dem Zustand des Unternehmens gibt es nicht. Das Management habe verheerende Arbeit geleistet, das Unternehmen stehe finanziell sehr schlecht da.
Am Ende äußert sich auch Donald Rojas noch zu den Gründen: „Die aktuelle Regierung sieht den Staudamm auch als unvereinbar mit dem Image Costa Ricas als nachhaltiges, umweltfreundliches und tolerantes Land. Der indigene Widerstand hat das Thema öffentlich gemacht. Und auch wenn der neue nationale Konsultationsmechanismus letztendlich durch das Projektende gar nicht zur Anwendung kam, so erhöhte er doch die Kosten des Projektes.“ Dies könne auch verhindern, dass das Projekt in Zukunft wieder aufgegriffen werde. Kleine, aber entscheidende Faktoren. Die Hauptgründe für den Projektabbruch sind aber wohl, wie es auch Rojas sieht, die Wirtschaftslage, fehlendes Wissen und langjährige Intransparenz innerhalb des ICE sowie laxe Kontrollen des demokratischen Apparates. Letztendlich führte ausgerechnet der schlechte Zustand der costa-ricanischen Demokratie und ihrer Unternehmen zu einem vorerst guten Ende für die im Staudammgebiet lebenden Menschen.


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“SIE KÖNNEN ALLES VON UNS ERWARTEN, NUR KEINE STILLE”

Espero tua (re)volta Filmstill // Foto: Bruno Miranda

„Warum müssen wir für unsere Bildung kämpfen, wenn Bildung doch unser Recht ist?” Das fragen sich Nayara, Marcela und Koka, die diese jüngste Geschichte Brasiliens aus Sicht der Schüler*innenbewegung erzählen, von den ersten Protesten gegen die Erhöhung der Preise für den öffentlichen Nahverkehr 2013 bis zur Wahl des ultrarechten Jair Bolsonaro Ende 2018. Espero tua (re)volta, der fünfte Dokumentarfilm der Journalistin und Regisseurin Eliza Capai, berichtet von vielen Brüchen und Niederlagen, aber auch von Mut, Power und Erfolgserlebnissen. Der Film könnte aktueller nicht sein und weiß dies auch. Eine seiner großen Stärken ist die Fülle an Material zu den verschiedenen Formen jugendlicher Rebellion gegen all das, was schon immer ein Problem in Brasilien war und nun mit dem neuen Präsidenten immer akuter wird: Sexismus, Homo- und Trans*phobie, Rassismus und die Unterteilung der Gesellschaft in Menschen erster und zweiter Klasse.
Espero tua (re)volta, das die „Revolte“ schon im Titel trägt, ist eigentlich ein klassischer Dokumentarfilm – Bilder von Demonstrationen, Versammlungen, besetzten Schulen und, natürlich, exzessiver Polizeigewalt –, die Erzählform ist jedoch besonders. Nayara, Koka und Marcela waren von Anfang an bei den Protesten und den Schulstreiks im Bundesstaat São Paulo dabei, kommentieren die Szenen, in denen ihre jüngeren Ichs teils selbst vorkommen, und leiten die Kamera an. „Geh’ noch mal kurz zurück zu der Szene davor, ich war noch nicht fertig“ oder „wir müssen jetzt doch nochmal einen kurzen Exkurs ins Jahr 2012 machen“, heißt es, und die Kamera gehorcht. Mit viel Humor achten Nayara und Marcela darauf, dass Koka als männlicher Erzähler nicht zu viel Redezeit bekommt. „Jetzt sind wir Frauen wieder dran, deine Zeit ist abgelaufen“, heißt es gleich zu Beginn, und Koka gehorcht, verliert dabei aber nie seinen Mittei­lungs­drang.
Passend zur Energie der drei Erzähler*innen geht der Film musikalisch genauso kraftvoll vor, Baile Funk und Hiphop unterstreichen die rebellischen Szenen, in denen ein Meer junger Menschen durch die Straßen São Paulos zieht und Gerechtigkeit fordert, oder in denen die besetzten öffentlichen Schulen – insgesamt 200, deren Schüler*innen sich gegen die Schließung wehren – zu Orten der Selbstverwaltung werden, wo sich Arbeitsgruppen zu Themen wie Sexismus und Rassismus bilden und die Jungs putzen und kochen müssen. Nicht selten erfolgt plötzlich ein musikalischer Bruch, zu dem die drei ankündigen, dass Szenen voller Polizeigewalt gegen Minderjährige folgen werden. Dazu erfahren wir: „Die Diktatur ist vorbei, aber die Repression blüht.” In diesen Szenen wird deutlich, wie viel die Schüler*innen der Bewegung bereits an Gewalt haben ertragen müssen und wie sehr sie der eigene Kampf mitnimmt. Immer wieder folgt die Warnung: „Dies ist erst der Anfang, es wird wieder passieren.“
Umso wichtiger, dass Espero tua (re)volta trotz allem Hoffnung schenkt. Hoffnung in eine Generation junger Brasilianer*innen, die früh gelernt haben, was es heißt, für die eigenen Rechte zu kämpfen und nicht daran denken, diesen Kampf aufzugeben.


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„WIR WISSEN NICHT, OB WIR NOCH IM LAND ARBEITEN KÖNNEN.”

Darci Frigo, Gründer undKoordinator der Organisation Terra de Direitos und Vizepräsidentdes brasilianischen Nationalen Rates für Menschenrechte (Foto: Cleia Viana_Câmara dos Deputados)

Ihre Organisation Terra de Direitos leistet juristische Unterstützung in Landkonflikten. Insbesondere ist sie im Bundesstaat Pará aktiv, wo es die meiste Gewalt im ländlichen Raum gibt. Der rechtsradikale Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro hat angekündigt, dass er die Aktionen der Landlosenbewegung MST wie terroristische Taten behandeln wird. Am Sonntag vor der Wahl hat er erklärt, dass er das Land von linken Aktivist*innen „säubern“ will. Wie bewerten sie die Situation ihrer Organisation, Terra de Direitos, und der Menschen, die sie verteidigen, sollte Bolsonaro gewinnen?
Die Drohungen Bolsonaros gegen alle linken Aktivisten sind sehr ernst zu nehmen. Er hat ja schon einzelne Organisationen benannt, gegen die er vorgehen will. Er will die zivilgesellschaftlichen Kräfte isolieren, um Wirtschaftsprojekten, die gegen die Verfassung und die Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte verstoßen, Tür und Tor zu öffnen. Insgesamt ist das eine sehr beunruhigende Situation, die alle Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen im Land betrifft. Es handelt sich um einen Angriff, der in der brasilianischen Demokratie noch vor zwei oder drei Jahren unvorstellbar war. Mit dem Impeachmentverfahren gegen Dilma Rousseff kamen diese Kräfte auf und wurden immer stärker. Durch die Korruptionsskandalen der letzten Jahre haben die traditionellen rechten Politiker ihre Glaubwürdigkeit verloren. Angesichts der sozialen, ökonomischen und politischen Krise, die Brasilien durchlebt, will die Bevölkerung einen Kandidaten, der verspricht, alles anders zu machen. Und so hat sich Bolsonaro immer präsentiert: Als der Kandidat, der es anders machen wird. Aber was er anbietet ist eine schreckliche Veränderung: Er hat mehrfach erklärt, dass er die demokratischen Institutionen nicht respektiert. Wir in den Menschenrechtsorganisationen sind nun sehr besorgt, sowohl um das Leben der Menschen, die sich in Konfliktsituationen befinden, als auch um das Fortleben unserer Organisationen.

Gewalt gegen linke Aktivist*innen und in Landkonflikten gab es in Brasilien ja auch in den letzten Jahrzehnten. Was ist das Neue an der Gewalt, die nun mit Bolsonaro droht?
Seit dem Impeachment von Dilma versucht das Agrobusiness jede Politik, die weitere Territorien von indigenen und andere traditionellen Bevölkerungsgruppen anerkennt, zu verhindern. Nach der Absetzung von Dilma Rousseff hatten die Farmer weniger Hemmungen, um im Landkonflikten Gewalt einzusetzen. In den Jahren 2012 und 2013 gab es pro Jahr um die 30 Morde im Kontext von Landkonflikten; also Morde an Aktivisten, Gemeindeanführern und so weiter. Im Jahr 2017 waren es 70 Morde. Mit dem Impeachment hat sich also die Gewalt auf dem Land praktisch verdoppelt. 80 bis 85 Prozent dieser Morde fanden im südlichen Teil Amazoniens statt, in den Bundesstaaten Rondônia, dem Norden von Mato Grosso, Pará und Tocantins, also dort, wohin die Agrarindustrie expandiert, dort wo es viele ungelöste Landkonflikte gibt und die meisten Rodungen stattfinden.
Die Gewalt in dieser Region ist bereits jetzt sehr extrem. Aber Bolsonaro beschimpft die staatlichen Kontrollbehörden wie das Umweltministerium IBAMA als linke Extremisten, die nur die Agrarindustrie behindern. Er behauptet, sie würden die Farmer und die Leute, die Wald roden, verfolgen. Bolsonaro will der Agrarindustrie die totale Freiheit geben, um den Amazonas-Regenwald zu zerstören.

Brasiliens Wirtschaft hängt zu 49 Prozent vom Export von Rohstoffen ab. Hauptsächlich handelt es sich um Erze und Soja: Das sind ja auch die Waren, die Amazonien am meisten bedrohen. Die geplanten Staudämme am Fluss Tapajós sollen ja auch eine Wasserstraße herstellen, um diese Rohstoffe aus dieser Region besser abtransportieren zu können. Ende 2016 wurde ja der Bau des größten dort geplanten Staudamms, São Luiz do Tapajós, durch das Umweltministerium IBAMA und die Indigenenbehörde FUNAI verhindert. Glauben Sie, dass diese Pläne mit Bolsonaro wieder auf den Tisch kommen?
Es reicht schon, wenn das Wirtschaftswachstum in Brasilien wieder anzieht, und diese Pläne kommen erneut auf den Tisch. Dann steigt wieder der Energiebedarf und dann kann das Thema wieder aktuell werden. Derzeit wird ja weiterhin die Fernverkehrsstraße BR-163 asphaltiert, die von den Sojaanbaugebieten in Mato Grosso zum Hafen Miritituba am Río Tapajós im Bundesstaat Pará führt. Von dort können die Rohstoffe aus dem Süden Parás und Mato Grosso über den Hafen Santarém verschifft werden. Man sagt, das sei der beste logistische Knotenpunkt für das Landesinnere, weil man über diese Route besser die Absatzmärkte in Nordamerika, Asien und Europa erreicht, als über die bisherige Route, über den Hafen von Santos in São Paulo. Diese ganzen Pläne fußen aber auf der Vorstellung, dass die brasilianische Wirtschaft Rohstoffe exportieren muss, um sich zu entwickeln, anstatt die Binnennachfrage anzukurbeln. Und dieses Entwicklungsmodell führt zu massiver Gewalt bei Landkonflikten und der Zerstörung des Regenwaldes in dieser Region. Insbesondere der Bergbau in dieser Region ist die größte Bedrohung für die ländliche Bevölkerung dort, für Indigene und andere traditionelle Bevölkerungsgruppen. Diese Pläne sehen praktisch vor, die ganze Region in einen einzigen Tagebau zu verwandeln, so viele Projekte liegen bereits vor. Dieser relativ kleine, aber sehr weit verbreitete Bergbau ist meines Erachtens eine größere Gefahr als die großen Wasserkraftwerke, denn er breitet sich auf dem ganzen Territorium aus.

Was denken Sie, wie sieht Brasiliens Zukunft mit Bolsonaro als Präsidenten aus?
Wie sich Bolsonaro konkret als Präsident verhalten wird, kann keiner sagen. Er nimmt an keinen Debatten teil, seine Forderungen sind sehr allgemein gehalten. Er erklärt nicht, wie er sie konkret umsetzen will. Er propagiert einen Antikommunismus wie aus Zeiten des Kalten Kriegs und predigt Hass, damit mobilisiert er die Leute. Dass er damit Erfolg hat, ist auch dem Versagen der bisherigen demokratischen Regierungen geschuldet, die die Verbrechen der Militärdiktatur, die militärische Struktur der Polizei und so weiter aufgearbeitet haben. Es scheint so, als ob sich diese alten Kräfte dafür rächen wollen, dass es eine Redemokratisierung gab und die Armen auf einmal mehr gesellschaftlich teilhaben. Die Armen werden als Feinde dargestellt, und man weiß nicht mal, Feinde von was oder wem sie sein sollen. Die Demokratisierung war in Brasilien abgeschlossen. Die Armen wurden der Gnade des organisierten Verbrechens überlassen. Und die Mafias, wie Comando Vermelho und Primeiro Comando da Capital, drängen immer mehr aus ihren angestammten Gebieten, in Rio de Janeiro und São Paulo, in den Norden des Landes. Die arme Bevölkerung wird so praktisch zu Geiseln dieser Verbrecher. Und diese Bevölkerung wählt dann Bolsonaro, denn der verspricht ihnen einen leichteren Zugang zu Waffen und dass er mit Gewalt gegen diese Kriminellen vorgehen wird. Aber jetzt redet Bolsonaro kaum noch davon, mit Gewalt gegen das Verbrechen vorzugehen. Er redet nur noch über die Gewalt, die er gegen linke Aktivisten anwenden will. Das ist ernst zu nehmen! Auf Whatsapp verabreden sich bereits Bolsonaro-Anhänger, um nach der Wahl Aktivisten zu terrorisieren.

Wenn er wirklich gegen den Drogenhandel vorgehen wollte, müsste er gegen die Farmer*innen vorgehen…
Da besteht ein eindeutiger Widerspruch bei Bolsonaro. Sein Sohn hat sich mehrfach mit Politikern in Rio de Janeiro getroffen, die mit der Mafia in Zusammenhang stehen. Und auf dem Land ist die Situation schon dramatisch. Viele Farmer haben bereits Milizen, die in Landkonflikten die arme Landbevölkerung terrorisieren. Bolsonaro möchte ihnen den Zugang zu Waffen noch erleichtern und verspricht ihnen, mit totaler Freiheit zu agieren. Keine Polizei der Welt tötet mehr Menschen im Einsatz, als die brasilianische und Bolsonaro will der Polizei noch die Lizenz zum Töten erteilen. Er will die Möglichkeit abschaffen, dass ein Polizist, der im Einsatz jemanden tötet, dafür belangt wird. Das alles zusammen ergibt eine explosive Mischung für Brasilien.

Wenn man das alles berücksichtigt, wie bewerten Sie die Möglichkeit für einen effektiven Widerstand gegen Bolsonaro? Und wie können wir hier in Deutschland Solidarität leisten?
Wir haben sehr wenig Zeit, um uns darauf vorzubereiten. Wir können nicht bis Januar abwarten, wenn Bolsonaro das Amt übernimmt. Alles weist darauf hin, dass die zu erwartende Explosion der Gewalt früher beginnt. Die jetzige Regierung ist sehr schwach. In Wirklichkeit wird sie von General Sergio Etchegoyen aufrecht erhalten.
Wir haben sehr wenig Zeit, um zu überlegen, wie wir Menschenrechtsverteidiger schützen können. In den letzten Tagen haben wir den Führungspersönlichkeiten von sozialen Bewegungen mitgeteilt, dass sie nicht mehr alleine herumlaufen sollen, dass sie darauf acht geben müssen, welche Informationen sie von sich preisgeben und so weiter. Der ganze zivilgesellschaftliche Aktivismus ist gefährdet. Am Sonntag vor der Wahl hatte Bolsonaro in einer Rede ja angekündigt, „mit dem Aktivismus Schluss zu machen“. Die Zivilgesellschaft in Brasilien mobilisiert schon den Widerstand dagegen, aber die Gefahr für einzelne Personen ist groß. Wir haben bereits die UNO und die Organisation Amerikanischer Staaten über die besorgniserregende Situation informiert. Es besteht die Gefahr, dass wir wieder in die Militärdiktatur zurückfallen. Wir werden auf jeden Fall sehr viel internationale Solidarität brauchen. Die internationalen Menschenrechtsorganisationen müssen Komitees für Nothilfe gründen, um Menschen zu unterstützen, die Angriffen ausgesetzt sind. Die Drohung Bolsonaros, alle auszuweisen, die anderer politischer Ansicht sind als er, ist nicht rhetorisch zu verstehen. Es ist eine reale Bedrohung. Sie könnte sogar schlimmer werden, als in der Rhetorik. Es droht die physische Auslöschung der Aktivisten. Deshalb bin ich ja gerade in Berlin, um die hiesigen Hilfsorganisationen über diese Bedrohung zu informieren, damit diese Nothilfemaßnahmen einrichten.


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BOLSONARO SCHÜRT DEN HASS

Der Widerstand lebt: Bolsonaro-Gegner*innen ziehen durch das Zentrum von São Paulo (Foto: Niklas Franzen)

Nur kurz hielt die Schockstarre an. Nach dem Wahlsieg von Jair Bolsonaro, der Brasiliens Linke in einen Zustand der Trauer und Panik versetzt hatte, sind am 30. Oktober in ganz Brasilien Zehntausende gegen den Rechtsradikalen auf die Straße gegangen. In São Paulo versammelten sich schon lange vor dem offiziellen Start der Demonstration Tausende auf der Prachtmeile Avenida Paulista. Zwei Tage zuvor hatten hier noch die Anhänger*innen Bolsonaros den Wahlsieg gefeiert.

Auch Rafael Granutti ist zusammen mit seinen Freund*innen gekommen, um ein Zeichen zu setzen. „Wir haben große Angst vor dem, was auf uns zukommt. Jetzt ist es wichtig zu zeigen, dass wir vereint sind.“ Schon seit 2010 habe er sich immer wieder an Protesten gegen Rechts beteiligt.

Insbesondere Bolsonaros homo- und transphobe Aussagen schockierten den 25-jährigen LGBTI-Aktivisten, der sich eine Regenbogenfahne über die Schultern gehängt hat. Das Klima habe sich seit der Wahl verändert. Insbesondere in den sozialen Netzwerken tobe der Hass. Eine Freundin sei mitten in São Paulo angegriffen worden.

Auch andernorts kam es nach der Wahl zu Übergriffen. So wurden eine indigene Schule und eine Arztpraxis im Bundesstaat Pernambuco in Brand gesetzt. In Curitiba sollen Rechte am Wahlabend einen Schwulenclub angegriffen haben und die Polizei des Bundesstaates Goiás ermittelt wegen der Gründung einer homophoben Terrorgruppe, die zum Mord an Homo- und Transsexuellen aufgerufen hat. Die Wahl des ultrarechten Bolsonaro, der von vielen als Faschist bezeichnet wird, könnte einen radikalen Politikwechsel nach sich ziehen. Der frühere Fallschirmjäger will den Zugang zu Waffen erleichtern, wichtige Ministerien mit Militärs besetzen und möglicherweise aus dem Pariser Klimaschutzabkommen aussteigen.

Beim Protest, der durch die Hochhausschluchten der Megametropole führte, werden immer wieder Parolen gegen den Präsidenten skandiert. Viele Bewohner*innen solidarisieren sich spontan mit den Demonstrant*innen. An diesem Abend wird deutlich: Viele Brasilianer*innen sind mit dem Wahlsieg von Bolsonaro unzufrieden und der Widerstand lebt.

Direkt am Wahlabend war von Widerstand wenig zu sehen. Auf der Veranstaltung der Arbeiterpartei PT in einem Hotel im Zentrum von São Paulo herrschte für einen kurzen Moment Totenstille, dann begann das Schluchzen. Menschen lagen sich in den Armen, vielen stand die Panik und Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Die gesamte Führungsriege der PT, Mitglieder von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften sowieso Pressevertreter*innen aus der ganzen Welt waren anwesend. So auch der ehemalige Senator der PT, Eduardo Suplicy. „Das ist ein sehr trauriges Resultat für uns“, sagte die sichtlich geschockte Kultfigur der Arbeiterpartei. „Jetzt müssen wir reflektieren, was falsch gelaufen ist.“ Auf der Pressekonferenz in einem überfüllten Konferenzraum wurde eine Schweigeminute für die Demokratie und die Opfer der rechten Gewalt gehalten. Dann hielt Fernando Haddad an der Seite von Ex-Präsidentin Dilma Rousseff eine kurze Rede. Von seinen Anhänger*innen wurde er zwar bejubelt, dennoch überwogen an diesem Abend Traurigkeit und Fassungslosigkeit.

Nur wenige Straßenzüge entfernt, sah es zur gleichen Zeit ganz anders aus. Tausende Anhänger*innen von Jair Bolsonaro hatten sich auf der Avenida Paulista versammelt. Schon von weitem hörte man Feuerwerkskörper, Autohupen und Gebrüll. Die für den Verkehr gesperrte Straße glich einem Meer aus Gelb und Grün. An jeder Ecke standen Straßenverkäufer*innen, die T-Shirts und Fahnen mit dem Konterfei von Bolsonaro verkauften. Polizist*innen posierten gut gelaunt mit Bolsonaro-Fans für Fotos. Mehrfach wurde die Nationalhymne gesungen, getanzt und gelacht. Auch Daniel Souza hat Bolsonaro gewählt. „Jetzt werden wir endlich einen nicht-korrupten Präsidenten haben“, so der 25-Jährige. Zwar sei er Demokrat, aber bestimmte Werte, die das Militär verkörpere, müssten jetzt in Brasilien umgesetzt werden. Die Bolsonaro-Anhängerin Cristiane Silva verspricht sich vor allem eine Verbesserung der Sicherheitslage. „Ich muss endlich in der Lage sein, ohne Angst auf die Straße zu gehen.“

Doch der friedliche Schein auf der Wahlparty trügt: Die Stimmung schwankte zwischen Volksfest und Pogrom. So wurde ungeniert gegen politische Gegner gehetzt und offen die blutige Militärdiktatur (1964-1985) verherrlicht. Ein junger Mann zeigte mehrmals den Hitlergruß, während ein Redner die Politiker der Arbeiterpartei von der Bühne aus vulgär beschimpfte. Mehrere Anwesende trugen Uniformen des Militärs, kleine Kinder formten ihre Hände zu Pistolen und immer wieder ertönte der Schlachtruf „Brasilien über alles.“ Die Anhänger*innen Bolsonaros haben die menschenverachtende und faschistoide Rhetorik ihres Idols verinnerlicht.

Und Bolsonaro? Der heizt die Stimmung weiter an. Von Mäßigung nach seinem Wahlsieg ist nichts zu spüren. „Ich werde das Schicksal des Landes verändern. Jetzt wird nicht weiter mit dem Sozialismus, dem Kommunismus, dem Populismus und dem Linksextremismus geflirtet,“ erklärte er und kündigte an, „Säuberungen“ durchführen zu wollen: Dazu will er politische Gegner aus dem Land werfen und soziale Bewegungen als terroristische Vereinigungen einstufen lassen. „Das ist eine explizite Kampfansage an die Demokratie. Mit ihm wird ein Klima der Verfolgung installiert“, sagte der PT-Aktivist William Osake.

Carina Vitral, Präsidentin der Jugendorganisation der kommunistischen PcdoB meint: „Wir lassen uns nicht aus dem Land werfen und uns auch nicht verhaften. Bolsonaro wird mit einer starken Opposition zu rechnen haben.“ Doch auch sie habe Angst, über Sicherheit werde nun viel diskutiert. „Die beste Art, sicher zu sein, ist sichtbar zu sein. Deshalb sind wir heute auf der Straße.“ Jetzt sind die sozialen Bewegungen gefordert. Die Demonstrationen am 30. Oktober waren nur der Anfang.


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„WIR MÜSSEN AM FRIEDEN FESTHALTEN“

Sie reisen als Menschenrechtlerin durch Europa, um auf die Probleme Ihrer Gemeinden aufmerksam zu machen. Was macht die Situation der Afrokolumbianer*innen in der Region Buenaventura aus?
Wir wohnen auf Grundstücken, die durch Landgewinnung aus dem Meer entstanden sind. Das ist ein Gebiet, das an unsere Wohngegend angrenzt und das wir durch eine traditionelle Praktik des Aufschüttens erobert haben, mithilfe von Bauschutt oder Müll. Das Gebiet macht 60 Prozent der Insel Buenaventura aus, der Ort ist die Kernregion für die Errichtung von Häfen in Buenaventura, 60 Prozent der Insel sind mithilfe der Aufschüttungstechnik entstanden. Es ist Teil unserer Landgüter, die wir nicht nur besetzt, sondern die wir mithilfe unserer Vorfahren mit unseren eigenen Händen gebaut haben. Die Regierung handelt im Sinne der Investoren, denn sie hat vor, diese Landgüter zu räumen. Dafür wird der bewaffnete Konflikt vorgeschoben oder die „Entwicklung“, um in der öffentlichen Politik einen Umsiedlungsprozess der Gemeinden durchzusetzen. Sie sagen, dass wir in einem hochgefährlichen Gebiet leben, nur um uns von dort zu vertreiben und dort mehr Häfen bauen zu können für die internationale Wirtschaft und den internationalen Tourismus. Wir fragen: Wie kann es sein, dass die Wohnstätten von uns schwarzen Gemeinden, die wir dieses Land gewonnen haben, in einer Gefahrenzone liegen, aber gleichzeitig keine Gefahr für Hotels, Infrastruktur und Häfen besteht, die sie in diesem Gebiet entwickeln wollen?

Wie artikuliert sich dieses Problem konkret?
Wir hatten einen Gemeindeführer: Temístocles Machado. Er widmete sein Leben der Denunzierung von Landraub. Er prangerte an, dass unsere Rechte verletzt werden, dass wir Besitzer dieser selbst erbauten Grundstücke sind, die wir durch Landgewinnung errungen haben. Er wurde am 27. Januar dieses Jahres gewaltsam ermordet.
Temísto hatte die meisten historischen Kenntnisse über diesen Streit und seinen Verlauf, er war der Gemeindeführer, der sich am meisten auf landesweiter Ebene bewegte, um öffentlich zu machen, was in Buenaventura passierte. Er dokumentierte alles, um die Erinnerung an die Herrschaftsprozesse zu etablieren.
Dieser Gemeindeführer wurde ermordet. Bei diesem Mord ging es nicht um ihn oder seine Familie, sondern darum, die Gemeinden zu lähmen, die er repräsentierte. Aber wichtig ist, dass wir weitermachen. Trotzdem kann man nicht leugnen, dass es Leute gab, die danach nicht mehr an Organisationen teilgenommen haben, dass aufgrund dieses Mordes Leute weggezogen sind. Das sind die Strategien, um die Dynamik unserer Verteidigungsorganisationen zu zerlegen. Temístocles ist nur eines von vielen Beispielen.

Warum sind afrokolumbianische Gemeinden angreifbarer als andere?
Wir ethnischen Völker erleben eine doppelte Form der Herrschaft, wir sind in einer doppelten Opferrolle. Zum Einen sind wir Opfer als Kollektiv, als Gemeinde. Neben dem bewaffneten Konflikt und über die extraktivistische Wirt­schafts­­politik hinaus gibt es für uns auch einen strukturellen Aspekt, nämlich den der sozialen Ausgegrenztheit. Zum Anderen sind wir Opfer in Bezug auf unsere Beziehung zu unserem Land, denn jenes Land, auf dem wir leben könnten, wird zerstört. Wir haben als Völker eine sehr enge Beziehung zu unserem Lebens- und Wohnraum. Unser Leben hängt von der Einheit mit unserem Land zusammen. Deshalb sind wir von Landraub auch besonders betroffen. Wenn wir umsiedeln, verlieren wir nicht nur die Möglichkeit, an diesem Ort zu sein, wir verlieren die Möglichkeit unserer alltäglichen kulturellen Praxis. Ich kann nicht in den Bergen fischen. Ich brauche das Meer oder den Fluss.

Die Regierung beschuldigt Menschen aus den afrokolumbianischen Gemeinden, Mitglieder von Guerrillas zu sein.
Wir werden übertrieben gerichtlich verfolgt. So ist es zum Beispiel Ende April passiert, mit zwei Gemeindeführerinnen, Mutter und Tochter, aus Tumaco, dem Gebiet von Río Mira an der Pazifikküste. Diese beiden Frauen wurden von der Regierung und durch die nationale Staats­anwaltschaft als Mitglieder der ELN juristisch verfolgt. In den letzten 30 Jahren wurden wir afrokolumbianischen Gemeinden durch die Regierung immer wieder beschuldigt, Mitglieder der FARC zu sein. Heute gibt es keine FARC mehr – offiziell zumindest. Jetzt sind wir also Mitglieder der ELN. Die beiden Frauen wurden juristisch verfolgt, verhört und sofort in einem Hochsicherheitsgefängnis in Haft genommen wie die größten Schwerverbrecher des Landes. Die Geschichte von Tulia, der Mutter, ist aber die: Sie ist eine Frau aus der Gemeinde, die einen Teil ihres Lebens der Kinderfürsorge in Kindertages­stätten gewidmet hat. Im Prozess wurde behauptet, sie habe die Kinder auf eine Mitglied­schaft bei der ELN vorbereiten wollen. Und im Fall von Sára, der Tochter, hieß es, dass Vorsichts­­maßnahmen getroffen werden müssten, um Aktionen der ELN zu verhindern. Sára hat aber nur denunziert und öffentlich gemacht, dass auf ihrem Land Koka angebaut wurde und wie die Dynamik des Drogenhandels das Leben in der Gemeinde zerstört hat. Das alles sind historische Strukturen. Aber wir kennen die Vorgehens­weisen der Regierung schon. Wir hoffen, dass die Justiz Fortschritte macht, und tun alles, was in unserer Macht steht, um zu zeigen, dass Tulia und Sára Gemeinde­führerinnen sind, und dass die Verteidigung von Menschenrechten kein Verbrechen ist.

Welche Rolle habt und hattet ihr als Gemeinden in dem bewaffneten Konflikt wirklich?
In den kritischsten Momenten des bewaffneten Konflikts – in Anwesenheit der FARC – war unsere Rolle als Gemeinden einerseits, dass wir umsiedeln mussten, um uns zu schützen, andererseits Widerstand zu leisten, ebenfalls um uns zu schützen. Wir sahen das als Zwangs­umsied­lung an. Wir haben es geschafft, unser Leben zu verteidigen, aber nicht, unser Leben zu leben. Es gab Organisationen, die bestimmten, wann wir umziehen mussten oder wann es besser war, Widerstand zu leisten oder welcher Teil der Bevölkerung eines von beidem tun sollte. Wenn wir das nicht täten, würden wir nicht mehr existieren. Wir haben keine Alternative. In der aktuellen Situation nach dem Abkommen ist der Konflikt nicht zu Ende, aber man kann nicht leugnen, dass es weniger geworden ist, dass wir ein bisschen mehr Luft zum Atmen haben.Was ist unsere Rolle jetzt? Wir wollen die Umsetzung des Abkommens. Denn mitten im Krieg mussten wir die Zwangsrekrutierung unserer Gemeinde­mitglieder in die Reihen der Guerillas miterleben. Wir können nicht leugnen, dass es auch freiwillige Teilnahme gab. Aber in der Mehrheit war es erzwungene Teilnahme durch Zwangs­rekrutierung. Weil viel Druck ausgeübt wurde, da es keine Alternativen gab.

Wie gehen die Gemeinden mit diesen Menschen um?
Wir bereiten uns darauf vor, diejenigen wieder aufzunehmen, die eigentlich Teil unserer Gemeinde sind, aber die es irgendwann nicht mehr waren. Weil auch sie verwundet wurden. Und hier gibt es einen langen Prozess des Verständnisses, der neuen Auslegungen, dass diejenigen, die dort waren und jetzt wieder zurück kommen, keine Fremden sind, sie sind Teil unserer Gemeinden. Aber das ist nicht einfach. Es ist einfach zu sagen, aber schwer umzusetzen. Das ist eine Herausforderung bei der Schaffung von Frieden. Wir bereiten uns darauf vor, sie in Empfang zu nehmen, damit unsere Brüder als Teil der Gemeinde von Neuem eine Beziehung zum Zivilleben aufbauen können, damit sie nicht etwas Abgesondertes von uns sind. Einerseits. Dann gibt es den Prozess mit der Regierung: Wie befreien wir sie vom illegalen Anbau, also vom Koka-Anbau? Das hat etwas mit der Dynamik der Regierung zu tun.

Was bedeutet der Wahlausgang für Sie? Von Iván Duque ist zu erwarten, dass Teile des Friedensabkommens rückgängig gemacht werden.
Unsere Positionen sind weiterhin die, die unsere Vorfahren uns gelehrt haben. Um weiterhin Widerstand zu leisten und zu überleben, müssen wir daran festhalten, in unseren Gebieten, die wir seit unseren Ahnen bewohnen und die uns gehören, Frieden zu schaffen. In diesem Sinne ist es egal, welcher Kandidat die Präsidentschaft der kolumbianischen Republik antritt – unsere Rolle besteht darin, weiterhin zum Frieden beizutragen, indem wir aktiv an der Entwicklung von Abkommen teilnehmen und Protagonisten sind. Dazu kommt aber, dass wir weiterhin auf unserem Land ausharren müssen, denn selbst wenn wir im Friedensprozess aktiv an den Abkommen zwischen FARC und Regierung mitwirken, gibt es weitere Kriegsdynamiken in unseren Gebieten und andere Konfliktsituationen; Gewalt, wie eben wirtschaftliche Megaprojekte an den Häfen oder der Abbau von natürlichen Ressourcen.


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„DIE KUNST IN DIE STRAßEN TRAGEN”

Karla Lara auf der Anarche am Rande des Fusion-Festivals 2018 (Foto: Erika Harzer)

In Ihren Liedern nehmen Sie immer wieder Stellung zu politischen Problemen und positionieren sich damit klar gegen die derzeitigen Machthaber*innen in Honduras. Wie können wir uns die kritische Kunstszene in Ihrem Land vorstellen?

Um von der heutigen Kunstszene zu sprechen, muss ich beim Putsch 2009 (gegen den linksorientierten Präsidenten Manuel Zelaya, Anm. d. Red.) anfangen. Viele waren schon vorher künstlerisch aktiv, der Putsch hat allerdings viele neue Künstler*innen hervorgebracht. Nach dem Putsch haben wir das Kollektiv „Künstler*innen im Widerstand“ gegründet. Es war ein Kollektiv, das verschiedene künstlerische Ausdrucksformen vereinte: Es gab Poet*innen, Bildhauer*innen, Sprayer*innen, Sänger*innen. Es waren vor allem Künstler*innen aus den urbanen Zentren. Politisch war es wichtig, vor allem in der Hauptstadt die Präsenz des Widerstands zu zeigen. Wir haben es geschafft, die Kunst in die Straßen zu tragen, um damit einen weiteren Beitrag bei den Mobilisierungen zu leisten.

Was passierte dann?

Mit der Widerstandsbewegung passierte dasselbe, was mit vielen anderen Bewegungen passiert, wenn die Unmittelbarkeit des Anlasses nachlässt: Sie hat sich demobilisiert. Die Gründe: Der Putsch war nicht mehr rückgängig zu machen, der außer Landes gebrachte ehemalige Präsident Manuel Zelaya konnte nach Honduras zurückkehren, aus einem Teil der Widerstandsbewegung entstand eine Partei (Partei Freiheit und Neugründung – Libre). Das alles führte zur Demobilisierung. Auch die „Künstler*innen im Widerstand“ hörten auf, sich kollektiv zu artikulieren.

Der Wahlbetrug Ende 2017 bei den Präsidentschaftswahlen hat zu massiven Protesten geführt, den größten seit dem Putsch. Welche Bedeutung hatte das für die Kunstschaffenden?

Mit dem Wahlbetrug im November 2017 haben sich viele Künstler*innen, die bereits gegen den Putsch aktiv waren, wieder zusammengetan. Wir haben künstlerische und politische Aktionen in den Vierteln der großen Städten organisiert. Die Regierung hatte zu dem Zeitpunkt eine Ausgangssperre verhängt und wir haben uns dem mit unseren Konzerten widersetzt: Sie fanden zwar in geschlossenen Räumen statt, die Leute aus den Vierteln kamen aber zusammen und wir haben sie live über die sozialen Netzwerke verbreitet und damit deutlich zum Ausdruck gebracht, dass wir nicht still zu Hause sitzen, sondern sehr geräuschvoll sind. Wir versuchen nun, unsere Zusammenarbeit auch über den aktuellen Anlass hinaus weiterzuführen.

Wie reagieren der Staat und die nationale Medien auf die kritischen Künstler*innen?

Künstler*innen gegenüber, die anspruchsvolle Kunst mit Inhalt machen, wird die Devise vertreten: Wenn man dich nicht sieht, existierst du nicht. Du kannst an anderen Orten der Welt bekannt sein, aber in Honduras wirst du ignoriert. In den nationalen Medien wirst du nicht auftauchen. Es herrscht regelrecht Zensur. Einige wichtige Medien weigern sich, Werbung für meine Auftritte zu machen, kommerzielle Radios spielen meine Musik nicht. Die Regierung subventioniert hingegen die Musik-Unterhaltungsindustrie. Damit versucht sich das Regime, ein gutes Image zu geben. Zum Beispiel gibt es große kommerzielle Festivals. Da werden Millionen reingesteckt. Die Qualität der Musik ist aber schrecklich, ohne künstlerischen Anspruch. Sie veranstalten Wettbewerbe, aber es geht nicht um Kreativität, sondern lediglich um Cover. Hier wird die Illusion kreiert, dass die Menschen tatsächlich teilhaben können. Doch es geht nur darum, das Geld auf verschiedene Taschen zu verteilen.

Was passiert in der jungen Generation von Künstler*innen?

Es gibt eine bunte Szene. Viele sind in der Studierendenbewegung politisiert worden. Ihre Musik ist vor allem von Ska, Cumbia oder Rock geprägt. Auch literarisch gibt es viel Interessantes. Sie sind die Generation, die noch sehr jung war, als der Putsch stattgefunden hat. Sie sind die Töchter und Söhne des Putsches und sie machen viele radikale und wichtige Dinge. Gerade junge Frauen sind dort sehr aktiv. Sie singen nicht nur, sondern spielen auch Instrumente, schreiben, machen Graffiti und Straßenkunst.

Welchen Herausforderungen müssen sich weibliche Künstlerinnen im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen stellen?

Ich habe die Band „Puras Mujeres“ mitgegründet, die vor allem aus jungen Frauen besteht. Hier habe ich die Erfahrung gemacht, dass es uns Frauen oft schwer fällt, an uns selbst zu glauben – sogar untereinander. Das ist eine schreckliche Altlast des Patriarchats, die wir verinnertlicht haben. Die Realität für die jungen Frauen in Honduras sieht oft so aus, dass sie, auch wenn sie erwachsen sind, noch zu Hause leben. Dort werden sie kontrolliert und die Eltern wollen nicht, dass sie nachts außer Haus sind oder reisen. Es gibt einen großen Unterschied in der Zusammenarbeit mit jungen Männern, sie haben alle Freiheiten. Ich musste noch nie mit den Eltern der Musiker sprechen, aber eigentlich immer mit den Eltern der Musikerinnen. Das sind zwar Anekdoten, zeigt für mich aber, was es in unserer Gesellschaft bedeutet Frau zu sein.

Viele der aktuellen Kämpfe finden auf dem Land statt. Gemeinden sind im Widerstand gegen Wasserkraftwerke, Bergbauprojekte oder Palmölplantagen. Gibt es eine Zusammenarbeit mit Künstler*innen aus den ländlichen und indigenen Gemeinden?

Eines der Probleme ist, dass wir, die wir in der Hauptstadt leben, eine sehr eingeschränkte Sicht auf unser Land haben. Wir denken, Honduras beginnt und endet in Tegucigalpa. Kulturell passiert eine Menge auf dem Land und wir bekommen es nicht mit. In allen Gemeinden gibt es eine lebendige Musik-Szene und landesweit eine Vielzahl verschiedener Musikstile. Die traditionelle Musik der Garífuna, der Nachfahr*innen afrikanischer Versklavter zum Beispiel, Cuerda-Gruppen, interessante Sängerinnen der indigenen Pech und Lenca. Wir Künstler*innen aus der Hauptstadt sollten uns klar darüber werden, dass wir nicht die einzigen sind, die Kunst machen. Wenn ich so darüber spreche fällt mir auf, wie viele wichtige Projekte noch auf mich warten und wie viel es noch zu tun gibt.


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WO DER WILLE NICHT ZÄHLT

Cajamarca ist landwirtschaftlich geprägt und gilt als „Speisekammer im Zentrum Kolumbiens“. Aufgrund der hohen Fruchtbarkeit der Region können „über 100 verschiedene Obst- und Gemüsesorten“ angebaut werden, erklärte ein bäuerlicher Aktivist aus der Region. Genau diese Fruchtbarkeit und Biodiversität sahen die Aktivist*innen bedroht, als vor zehn Jahren unter dem rechten Expräsidenten Álvaro Uribe neoliberale Reformen den Zugriff auf Bodenschätze für Bergbauunternehmen massiv erleichterten. AngloGold Ashanti kaufte in so großen Dimensionen Landtitel auf, dass die Mega-Mine „La Colosa“ die größte Goldmine Lateinamerikas geworden wäre. Wenn sich nicht seit 2006 Widerstand gegen das Projekt formiert hätte. Die Gruppe Cosajuca war von Anfang an Teil der Protestbewegung gegen die Mine: „Wir sind eine Jugendorganisation, die sich dafür engagiert, das Gebiet vor dem Bergbau und auch jedem anderen Projekt, das uns aus diesem Paradies vertreiben möchte, zu verteidigen“, erklärt Camila Méndez, Aktivistin von Cosajuca. Zu den Prinzipien der Gruppe zählen Gewaltlosigkeit, Geschlechtergerechtigkeit und Umweltgerechtigkeit.

Ein erster Versuch, einen Volksentscheid über die Mine zu initiieren, scheiterte an der verweigerten Zustimmung des Bürgermeisters, die nach Rechtslage nötig war. Prompt organisierten Umweltaktivist*innen unter dem Motto „Wenn ihr unseren Willen nicht durchsetzt, dann seid ihr nicht mehr unsere Abgeordneten“ einen autonomen Volksentscheid vor dem Rathaus, um auf das Demokratiedefizit hinzuweisen.Dann kippte eine Gesetzesveränderung das alleinige Initiativrecht des Bürgermeisters und fortan war es möglich, einen Volksentscheid von unten zu organisieren. Inspiriert durch einen gewonnenen Volksentscheid im Juli 2013 in der Nachbarprovinz Piedras entschlossen sich die Aktivist*innen 2016 dazu, erneut auf dieses Instrument zurückzugreifen, um gegen die Mega-Mine vorzugehen. Dem “Comité ambiental y campesino de Cajamarca y Anaima“ gelang es, die für die Zulassung notwendige Zahl an Unterschriften zu sammeln.

Dann kam es zur Abstimmung und für tausende von Menschen war der 26. März 2017 ein Tag der Freude. 6165 Stimmen gegen die Mine standen 76 Stimmen für das Extraktivismus-Projekt entgegen und mit 38,6 Prozent Wahlbeteiligung erfüllte die Abstimmung die Voraussetzung für die Gültigkeit. Bei der Verkündung des Ergebnisses wechselten sich politische Siegesreden mit Gesang und Tänzen ab. Viele Menschen hatten Tränen in den Augen und konnten kaum glauben, dass sie den Angriff auf das „Gute Leben“ (la buena vida) nach Jahren des Kampfes abgewehrt hatten.

Dabei war der Weg zur Abstimmung steinig gewesen. Zunächst verzögerte der Bürgermeister den Wahltermin und gab das Datum dann gerade einmal 15 Tage vor der Abstimmung bekannt. Eine bäuerliche Aktivistin erzählte aus der Mobilisierungsphase: „Diese 15 Tage habe ich mein Kind einer Freundin anvertraut und war eigentlich nicht mehr Zuhause. Meiner Familie gefiel das anfangs nicht, aber ich wusste, dass diese Abstimmung über unsere Zukunft entscheiden würde. Also steckte ich alle meine Kräfte in das Projekt.“

Bei der Auseinandersetzung über die Deutungshoheit bezüglich des Goldabbaus griffen die Konfliktparteien auf ein unterschiedlich großes Repertoire an Ressourcen zurück. AngloGold Ashanti bediente sich schon seit Jahren der Praxis, den Bäuer*innen der Region Geld- und Sachgeschenke zu machen, um die Akzeptanz für den Goldabbau zu erhöhen. Außerdem lockte das Unternehmen mit dem Versprechen, gut bezahlte Arbeitsplätze zu schaffen und das Wirtschaftswachstum Cajamarcas anzukurbeln. Auch der Bürgermeister Cajamarcas bezog Stellung für die Mine und schloss sich der Stimmungsmache des Unternehmens an. Eine nachhaltige Polarisierung der Meinungen in der Bevölkerung war unausweichlich – zu groß sind die Widersprüche zwischen dem Kapitalinteresse des multinationalen Konzerns und der von unten formulierten Forderung die Natur und die Lebensgrundlage der Bäuer*innen nicht zu zerstören.

Neben dem Fehlen von Geld, eigenen Kommunikationsmitteln und einem breiten Kreis von Verbündeten, lag die größte Hürde für das Organi­sieren von Widerstand darin, dass von offizieller Seite nahezu keine vertrauensvollen Informationen zum Status der Bauarbeiten bereit gestellt wurden. Wegen der Vertreibungen und der Verpestung der lebenswichtigen Gewässer, die mit der Mine einhergehen, geht es für die Aktivist*innen bei dem Kampf gegen das Projekt „La Colosa“ um nicht weniger als die Verteidigung einer lebenswerten Zukunft im Einklang mit der Mutter Erde. Dabei ist Cosajuca durch seine langjährige und vertrauensvolle Arbeit mit den Bäuer*innen der Region, durch das Arbeiten in Bündnissen und das Herausbringen der monatlich erscheinenden Zeitung „La Inconquistable“ zu einer wichtigen Stimme im Widerstand gegen den Extraktivismus geworden.

Wütend berichten die jungen Erwachsenen davon, wie versucht wurde, jedes Mittel des Widerstandes zu diffamieren: „Bei Aktionen wie Demonstrationen und Blockaden von Firmenfahrzeugen, die Bodenproben nehmen wollen, werden wir als Guerilleros und Terroristen diffamiert. Und wenn wir auf in der Verfassung verankerte, legale und demokratische Verfahren wie den Volksentscheid zurückgreifen, dann laufen wir Gefahr, dass diesem Gültigkeit und Rechtsmäßigkeit abgesprochen wird.“
Die Minenbefürworter*innen schreckten auch vor roher Gewalt nicht zurück. Die Aktivist*innen wurden sowohl tagsüber als auch in der Nacht auf offener Straße angegriffen, zusammengeschlagen und bedroht. Für drei Aktivisten endete ihr Engagement gegen den Goldabbau tödlich. Ein bäuerlicher Anführer und zwei junge Erwachsene wurden ermordet – unter ihnen Camila Méndez’ guter Freund Daniel Humberto Sanchéz Avendaño.

Doch mit dem gewonnen Volksentscheid ist der Kampf noch nicht beendet. AngloGold Ashanti erklärte einen Monat später das Projekt für beendet, doch der Sieg der Bewegung wurde schon Wochen später wieder infrage gestellt. Vor allem die Regierung argumentiert, dass das plebiszitäre Element des Volksentscheids keine Rechtsbindung mit sich bringt, da es sich um nationale anstatt nur um Interessen der Region handle. Mit einer ähnlichen Argumentation könnte eine neue, sich dieses Jahr formierende Regierung das Ergebnis des Volksentscheids durch eine Gesetzesänderung für nichtig erklären.

Derweil hören Repression und Einschüchterungsversuche nicht auf. Vor vier Monaten haben zwei Aktivistinnen einen Angriff mit einer mit Schallschutz versehenen Schusswaffe überlebt.
In den Staat und die Regierung setzen die Aktivist*innen trotz des vermeintlichen Friedensprozesses in Kolumbien wenig Hoffnung. Bei Angriffen wie diesem verweisen die Autoritäten auf das vom Innenministerium initiierte Schutzprogramm „Unidad Nacional de Protección“ (kurz: UNP), das für die Sicherheit sozialer Führer*innen sorgen soll. Ihrer Meinung nach, stellt das Programm kaum wirksame Schutzmechanismen zur Verfügung. Zudem erhoffen sich die Aktivist*innen von einem Staat, der selber oftmals direkt in bewaffneten Konflikten agiert und bestrebt ist, Kapitalinteressen bei der Durchsetzung zu unterstützen, keinen ausreichenden Schutz für ihr Leben.

Camila ist überzeugt: „Der einzige für uns wirksame Schutz ist, wenn wir weiterkämpfen und es schaffen, den Bergbau endgültig aus der Region zu vertreiben. Nur dann wird die Heftigkeit von Bedrohungen, Angriffen und Einschüch­terungen nachlassen.“ Trotz der bedroh­lichen Atmosphäre kämpfen die jungen Erwachsenen weiterhin „für das Wasser, das Leben und das Territorium“.

Im Regierungsbezirk von Cajamarca sind in 80 Prozent des Gebietes bereits Abbau-Konzessionen vergeben. Alleine AngloGold Ashanti hat mit 30.440 Hektar rechtlichen Zugriff auf 60 Prozent des Regierungsbezirks. Die Kämpfe der Gruppe sind mit der Hoffnung verbunden, dass der kolumbianische Staat eines Tages als Garant der Menschen- und Grundrechte auftritt und aufhört, die Kapitalinteressen multinationaler Konzerne vor den Wunsch der Bevölkerung nach Frieden und Einklang mit der Natur zu stellen.
Für Camila von Cosajuca ist es wichtig, diese Kämpfe internationalistisch zu denken: „Der Extraktivismus ist nicht nur eine Bedrohung für den Süden, sondern er ist eine Bedrohung für die gesamte Welt und für die Menschlichkeit.“


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MEXIKOS VERDRÄNGTER VÖLKERMORD

Sein Ruhm als Krimiautor mag seinen Ruhm als Historiker überstrahlen. Es besteht jedoch kein Zweifel: Paco Ignacio Taibo II ist in beiden Bereichen ein Meister seines Fachs. In Sachen Geschichte hat er das mit seinen beiden Biografien über den argentinischen Revolutionär Che Guevara und den mexikanischen Revolutionär Pancho Villa unter Beweis gestellt. In seinem neuesten Werk Die Yaqui – Indigener Widerstand und ein vergessener Völkermord gelingt es ihm erneut. Mit diesem Sachbuch rekonstruiert Paco Ignacio Taibo II anhand von Archivmaterial, aber auch anhand von Gesprächen mit Nachfahren der Yaqui die Geschichte dieses widerständigen Volkes. Die Indigenen aus dem nordwestlichen mexikanischen Bundesstaat Sonora hatten dafür einen hohen Preis zu zahlen. Sie wurden in einer über 40-jährigen Verfolgung von 1868 bis 1909 fast ausgelöscht. Alles nach offizieller mexikanischer Lesart im Namen des Fortschritts oder, nach Lesart von Taibo II, um große agro-industrielle Projekte voranzubringen. Der Kapitalismus „reitet das Pferd des Teufels, auch wenn er im Gewand der Moderne daherkommt, unter juristischem Mantel und ideologischer Maske“, schreibt er. Das traditionelle Siedlungsgebiet der Yaqui, ihre acht Dörfer, liegt ausgerechnet um den Río Yaqui, der wegen seiner fruchtbaren Auswirkungen auf den umliegenden Boden auch mit dem Nil verglichen wird. Die Denkweise der Yaqui, die Kollektiv-, aber kein Privateigentum kennt, stand der kapitalistischen Landnahme von Anfang an im Weg. Rassistische Begründungen über die Minderwertigkeit der unzivilisierten Yaqui wie vom spanischen Kolonialisten Vicente Salvo bereiteten den Weg: „… ihre Faulheit ist so groß, dass wenn sie eine Tür öffnen, sie diese nie schließen.“ Dass diese Einschätzung nicht nur rassistisch ist, sondern auch von Unkenntnis strotzt, macht Taibo II klar: „Calvo wusste nicht oder wollte nicht wissen, dass die Türen in der Yaqui-Gemeinschaft nicht geschlossen wurden, weil sie weder Schlösser noch Schlüssel hatten, und zwar deshalb, weil sie sie nicht brauchten.“ In dieser treffenden Art kontert Taibo II an vielen Stellen die offiziellen Verlautbarungen, die er den Archiven entnommen hat.

1868 massakrierte die mexikanische Armee in einer Kirche eingesperrte Yaqui, einschließlich Frauen und Kinder. Seitdem kursiert unter den Indigenen ein Gedicht bis heute: „Der Yori ist derjenige, der uns immer geschadet hat mit Krieg, uns das Land genommen hat, die Ernte, das Vieh, die Weiden und das Holz; uns jeder Art von Folter und Qual unterzog.“ Der Yori, unschwer zu erraten, ist der Eindringling: als „die Fremden, Weißen, Kreolen, Mestizen, Angelsachsen, Europäer“, beschreibt sie Taibo II. Wörtlich heißt Yori, „der nicht respektierte.“
Taibo II lässt an seiner Sympathie und seiner Bewunderung für die Yaqui keinen Zweifel. Ein Volk, das sich über Jahrzehnte an Waffenkraft deutlich unterlegen, mit Guerilla-Taktik gegen einen übermächtigen Feind gewehrt haben. Neben zahlreichen detaillierten Schilderungen von größeren Schlachten, widmet Taibo auch herausragenden Persönlichkeiten auf beiden Seiten einzelne biographische Kapitel und Abschnitte, vor allem Cayeme. Er war ein Offizier der Yaqui-Kavallerie, der von Gouverneur Pesqueira 1874 die Zuständigkeit für die Yaqui- und Mayo-Territorien, eines weiteren indigenen Volks in Sonora, übertragen wurde. Ein Yaqui, der in der mexikanischen Armee ausgebildet wurde. Der Plan, so den Widerstandsgeist der Yaqui zu brechen, ging gründlich schief. Cayeme griff auf die traditionelle demokratische Struktur der Yaqui zurück, statt hierarchisch Macht auszuüben. Diesem Ansatz blieb er bis zu seiner Ermordung 1887 treu. Auch wenn sich nach seinem Tod die Landnahme beschleunigte, der Widerstand blieb, bis sich die Regierung entschloss, „die Yaqui-Indios vollkommen auszulöschen.“ Das gelang nicht ganz, aber fast. 1868 lebten rund 30.000 Yaqui, nach der Endphase mit Massendeportationen und Massenexekutionen waren es 1909 noch rund 6000. Heute leben nur noch wenige Yaqui in den Bergen von Sonora rund um den Río Yaqui. Taibo schließt mit: „Ich beende das Buch in der Hoffnung, dass seine Lektüre diese bittere Mischung aus Abscheu und Bewunderung erzeugt, die ich empfunden habe.“ Diese Hoffnung dürfte sich in den allermeisten Fällen erfüllen.

 


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„THEATER ANIMIERT ZUR DISKUSSION“

Warum haben Sie ein Stück über Jorge Mateluna gemacht?

Jorge Mateluna war während der Militärdiktatur in der Guerilla Frente Patriótico Manuel Rodríguez aktiv. Wir hatten seine Erfahrung des Kampfes gegen die Diktatur in unserem Stück „Escuela“ integriert, und er hat an dem Stück mitgewirkt. Während wir es an verschiedenen Orten aufführten, erfuhren wir, dass Jorge als einer der Verdächtigen eines Bankraubs verhaftet worden war.
Wir waren alle völlig schockiert aber gleichzeitig wussten wir, dass er unschuldig war. Ein Freund von uns war dem korrupten Rechtssystem zum Opfer gefallen.

Sie glauben, dass der eigentliche Grund für Matelunas Inhaftierung seine Teilnahme am bewaffneten Widerstand während der Militärdiktatur ist. Wie argumentieren Sie?

Die vermeintlichen Beweise für seine Schuld am Bankraub sind sehr schwammig. Zum Beispiel war er während des Bankraubs weit entfernt von seinem Wohnort. Er hat dafür zwar eine Begründung angegeben, aber der Richter hat ihm nicht geglaubt. Auf solchen Nichtigkeiten beruht seine Verurteilung. Angeblich wurde er während des Verbrechens von Polizisten gesehen, die ihn eine drei Kilometer lange Strecke verfolgt hätten, was kaum zu beweisen ist und aufgrund der schmalen, teils gesperrten Straßen, durch welche die Verfolgungsjagd stattgefunden haben soll, auch schwer vorstellbar ist. Die Polizisten haben sich im Laufe des Verfahrens zudem gegenseitig widersprochen. Wir sind der Meinung, dass es eine enge Kollaboration zwischen Polizisten, Richtern und Staatsanwälten stattgefunden hat. Letztendlich wollen sie alle Mateluna zurück ins Gefängnis bringen. Sie sehen es als ihre Pflicht, ihn wieder einzusperren, da er vor zwölf Jahren dank einer Begnadigung frei gelassen wurde. Hinter der Festnahme steckt eine klare Absicht.

Was kann unter solchen Umständen überhaupt noch für ihn getan werden?

Es laufen mittlerweile Prozesse gegen die Polizisten, die falsche Aussagen abgelegt haben. Ein angeblicher Videobeweis wurde im Prozess disqualifiziert. Auch Fotos von der Kleidung, die Mateluna angeblich während der Flucht abgeworfen hatte, stellten sich als Montage heraus. Wir wollen, dass dies berücksichtigt wird, wenn der Prozess wieder eröffnet wird.

Mateluna war bereits zuvor im Gefängnis, da er während der Diktatur einer bewaffneten Widerstandsgruppe angehörte. Legitimieren Sie den bewaffneten Widerstand, indem sie in diesem Fall seine Verteidigung ergreifen?

Jorge war Teil einer Guerillagruppe, die mit Waffen gegen die Diktatur gekämpft hat. Während so einer Diktatur, ist der bewaffnete Kampf völlig berechtigt, denn die Regierung hat das Land unterdrückt und besetzt. Heutzutage ist institutionelle Gewalt noch immer ein Teil unserer Kultur. Nehmen wir beispielsweise den riesigen Konflikt mit dem Volk der Mapuche im Süden Chiles, die für die Rückgewinnung ihrer Gebiete kämpfen. Dieser Konflikt wird mittlerweile mit unverhältnismäßiger Polizeigewalt durchzogen, die mit aller Macht gegen die Mapuche eingesetzt wird. Ja, wir haben heutzutage freie Wahlen. Aber in die staatlichen Institutionen besteht zu Recht kein Vertrauen. Die Mapuche entwickeln also ihre eigenen Selbstverteidigungsmechanismen. Es ist nicht so, dass freie Wahlen diesen Zustand verändern – so einfach ist es nicht.

Der bewaffnete Kampf und seine Legitimität sind also immer vom politischen Kontext abhängig?

Ja. Nach dem Ende des europäischen Faschismus wurden diejenigen zu Helden erklärt, die – auch mit Waffengewalt – Widerstand geleistet hatten. In Chile war es anders. Diese Menschen wurden vertrieben, zu Bürgern zweiter Klasse degradiert. Und das passiert heute auch mit Jorge Mateluna. Er ist kein Einzelfall. Politische Verfolgung, ungerechte und korrupte Entscheidungen zum Schaden vieler, sind allgegenwärtig.

Sie selbst machen Theaterstücke und keinen bewaffneten Widerstand. Was kann Kunst bewirken?

Wenn die Institutionen versagen, dann bleibt uns Theater. Die Justiz hat ihre Aufgabe nicht erfüllt, deshalb machen wir diese Aufklärungsarbeit. Das bringt die Leute zusammen und mobilisiert sie. Natürlich hat Theater keine Lösung für alles, aber es schafft Gemeinschaft und animiert zur Diskussion. In unserem Fall gibt es nun eine Kampagne zu dem Thema.
Wir haben uns außerdem mehrmals mit Politikern, mit Kongressmitgliedern und mit der Menschenrechtskommission sowie mit Künstlern und Organisationen der Zivilgesellschaft getroffen. Das hat den Prozess und den ganzen Fall in Bewegung gebracht und Öffentlichkeit geschaffen. Würden die drei Polizisten, die falsche Aussagen abgelegt haben, verurteilt, könnte der Oberste Gerichtshof Matelunas Prozess wieder komplett neu eröffnen. Wir haben politische Unterstützung, aber aufgrund der Gewaltenteilung muss die Judikative den Prozess unabhängig durchführen.

Inwiefern trägt Ihr Stück auch zu einer alternativen Geschichtsschreibung bei?

Die Menschen, die gegen die Militärdiktatur Widerstand geleistet haben, wurden aus der Geschichte gelöscht. Sie wurden als Schandfleck angesehen. Ihr Kampf wurde nicht nur verschwiegen, sondern sie selbst haben ihre Vergangenheit geheimgehalten. Sie haben sich aus der Geschichte getilgt. Deshalb treten die Aktivisten in meinem Stück mit Masken auf: Es gibt diese Idee, dass man sich selbst unsichtbar machen muss und sich versteckt. Einerseits, weil man seine Niederlage nicht preisgeben möchte – die Niederlage der Revolution. Aber auch, weil es gefährlich ist, diese Vergangenheit zu erzählen. Dann passiert dir dasselbe, was Jorge Mateluna passiert ist. Erinnerungskultur ist daher umso nötiger. Es ist gefährlich, eine solche Geschichtsschreibung in die Hand zu nehmen. Aber gleichzeitig ist es die einzige Form, die diesen Kampf in einen neuen Kontext setzt: Nur so können die Menschen, die gekämpft haben, in einem neuen Licht gesehen werden. So wie meinetwegen Nelson Mandela gesehen wird: Sein Kampf wurde erkannt. Das machte ihn zum Präsidenten und verhalf ihm zum Friedensnobelpreis. Alles hängt also von der Geschichtsschreibung ab. Und dazu möchte ich mit meinen Stücken einen Beitrag leisten.


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“DIE REPRESSIVEN STRATEGIEN HABEN SICH VERÄNDERT”

Ist ein nachhaltiger und verantwortungsvoller Bergbau im großen Umfang überhaupt möglich?

Danilo Urrea: Einen nachhaltigen und verantwortungsvollen Bergbau gibt es nicht. Das einzige, wofür der Bergbau verantwortlich ist, ist die Vertreibung und die Kriminalisierung von Gegnern, die Verschmutzung von Luft und Wasser sowie daraus resultierende Atemwegs- und Magenerkrankungen. Alles andere ist eine Täuschung. Die Unternehmen haben ein Modell der sozialen Verantwortung konstruiert, das allerdings nur ihr korporatives Modell selbst fördert. Wenn ein Unternehmen etwa ein Heiligenfest sponsert oder Schulen baut – in denen den indigenen Kindern dann eingetrichtert wird, dass sie im Bergbau arbeiten sollen – oder eine Gesundheitsstation ohne Strom für die Geräte errichtet, dann will das Unternehmen eindeutig sein Image reinwaschen. Dadurch sollen einerseits Steuerzahlungen verringert werden, andererseits will sich das Unternehmen dadurch den Zugang in die Gebiete sichern.

Was passiert mit Menschen, die Megaprojekten in ihrer Region verhindern wollen?

D.U.: In den letzten zehn Jahren haben sich die repressiven Strategien verändert – was nicht heißt, dass Menschen nicht mehr ermordet oder verhaftet werden. Neu ist, dass die Arbeit der Menschen delegitimiert und sie selbst stigmatisiert werden. Das hat zu einem großen Misstrauen bei der lokalen Bevölkerung geführt. Diese neue Form der Repression ist bisher sehr effektiv und das Ergebnis einer sehr guten Koordination zwischen den Medien und den sie finanzierenden Unternehmen.

Blanca Nubia Anaya: Als das Unternehmen [in Sogamoso; Anm. der Red.] begann, gewaltsam in das Gebiet vorzudringen, um den Staudamm zu bauen, wurden vier führende Persönlichkeiten ermordet. Bei diesen und in anderen Fällen wurde nach wie vor niemand zur Rechenschaft gezogen. Manche Gefährtinnen und Gefährten haben eine derartige Rufschädigung erlitten, dass es ihnen fast unmöglich geworden ist, das Vertrauen der anderen zurückzugewinnen.

Jonathan Ospina: In Cajamarca ist das Gleiche passiert, 2013 wurden zwei Menschen ermordet und 2014 ein weiterer. Den Ermittlungen zufolge soll es sich um isolierte Straftaten handeln, die nichts mit der führenden Rolle der Ermordeten beim Kampf um ihr Territorium zu tun haben. Allerdings zeigten sich bei diesen Ermittlungen auch Widersprüche. Außerdem erhielten die Bewegung und ihre Protagonisten vielfache Drohungen von Seiten paramilitärischer Gruppen oder unbekannter Personen. Das Unternehmen war früher in Skandale wegen Verbindungen zu paramilitärischen Gruppen in anderen Teilen der Welt verstrickt, in Ghana und Südafrika zum Beispiel. Es ist auffällig, dass die paramilitärische Gruppe Las Águilas Negras („Schwarze Adler“) bei ihren Drohungen die gleiche Sprache verwendet wie das Unternehmen: die berühmte Rede vom Fortschritt.

Sie sind Repräsentant*innen lokaler Widerstandsprozesse: In Cajamarca sprachen sich bei einem Referendum 97 Prozent der Beteiligten gegen die Goldmine La Colosa aus. Am Staudammprojekt Hidrosogamoso wurde festgehalten, der Widerstand der lokalen Gemeinde zwang Regierung und Unternehmen jedoch zu Verhandlungen mit der Bevölkerung. Wie hat sich diese Situation ergeben?

B.N.A.: Es war nicht einfach in Sogamoso. Wir protestierten und streikten sechs Monate lang in einem Park vor Ort. Zuletzt bot uns die Gewerkschaftszentrale CUT, vor allem für die Alten und Kinder unter uns, ein Dach und Schutz in ihrer Niederlassung an. Das Unternehmen bot uns 1.300 Millionen Pesos (etwa 37.000 Euro) an, damit wir den Protest beenden. Aber das war überhaupt keine Lösung. Wir sind mehr als 2.000 Familien und uns werden weder Grundstücke für die landwirtschaftliche Nutzung noch Wohnungen angeboten. Nach sechs Monaten brachen wir den Protest ab, weil wir nicht mehr konnten. Wir mobilisierten uns aber weiter und sprachen unsere Forderungen aus.

J.O.: Für diesen Fall wurden Unterstützernetzwerke von der lokalen über die nationale bis zur internationalen Ebene gebildet. Ganz besonders kam die „Mund-zu-Mund-Propaganda“ zum Einsatz und es entstanden Bürger-initiativen wie die Karnevalsmärsche. Hand-bücher, jede Art von informativem und didaktischem Material wurde erstellt, um die Auswirkungen des großangelegten Tagebaus zu erklären. Wir ließen uns von Rechtsanwälten beraten und wendeten jegliche juristischen Mittel an, damit Vertreter der Bürgergemeinde bei Sitzungen der lokalen Räte anwesend sein konnten.

Es wurde breit diskutiert, dass nach dem Rückzug der Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) Megaprojekte in die Gebiete Einzug halten könnten. Bedeutet das womöglich eine soziale und ökologische Katastrophe für diese Gebiete?

B.N.A.: Tatsächlich waren die Menschen in mehreren Ortschaften gegen den Rückzug der Guerilla. Sie haben Angst. Viele Einwohner haben Drohungen erhalten, bei denen es hieß, sobald die FARC weg seien, würden sie hingerichtet. Können Sie sich vorstellen, wie viele Menschen umgebracht werden, nur weil sie in einem ehemaligem Guerilla-Gebiet leben?

D.U.: Es ist wichtig, klarzustellen, dass wir einhundert Prozent hinter dem Abkommen stehen als Möglichkeit, den langen bewaffneten Konflikt zu beenden. Aber das heißt nicht, dass wir einverstanden wären mit dem, was dieser Frieden bedeuten soll. Die Gemeinden haben seit jeher Frieden konstruiert, allein durch die Art und Weise, wie sie die Gebiete bewohnen. Das geht in eine ganz andere Richtung als das korporative Modell der Regierung.

 


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WENN PAROLEN GEGEN WAFFEN NICHT REICHEN

Welchen neuen Aspekt der chilenischen Militärdiktatur wollen Sie mit Ihrem Film über Raúl Pellegrin beleuchten?

Michelle Ribaut: Das Thema Erinnerung wird in Chile nur aus einer Perspektive heraus betrachtet: der Perspektive der Opfer, die in der Diktatur Menschenrechtsverletzungen ertragen mussten. Was natürlich eine wichtige Pers-pektive ist, weil sie Teil der Anerkennung der Verbrechen ist und die Würde der Opfer wiederherstellen möchte. Bei der Recherche ist uns allerdings aufgefallen, dass kaum Produktionen existieren, die sich mit dem Thema Widerstand beschäftigen. Erinnerungskultur wird um das Thema Angst herum gesponnen, während diejenigen, die gegen die Angst kämpften, kaum einen Platz in unserer Geschichte haben.

Gabriel Astudillo: Ich fühle mich mit der Geschichte Pellegrins sehr verbunden. Wir beide sind kurz nach seiner Ermordung geboren und in einem Chile aufgewachsen, in dem die Mehrheit der Menschen entweder in Armut oder knapp über der Armutsgrenze leben. Unsere Demokratie ist noch immer sehr eingeschränkt. Während wir in diesem Chile aufwuchsen, erfuhren wir, dass es vor uns Personen gab, die unter sehr repressiven Bedingungen ähnliche Kämpfe austrugen, wie wir sie heute beispielsweise im Zuge der Studierendenbewegungen austragen. Die Geschichte des Widerstands in der Diktatur schenkt uns Hoffnung.

Was ist das Besondere an der Figur Raúl Pellegrin?

M.R.: Pellegrin hat in seinem Leben wichtige Stationen der lateinamerikanischen Geschichte durchlaufen. Als Kind erlebte er die kubanische Revolution, seine Familie zog 1960 nach Kuba. Zurück in Chile durchlebte er die Jahre der Unidad Popular. Er kämpfte im sandinistischen Befreiungskampf in Nicaragua und litt unter den Repressionen der Pinochet-Diktatur. Er erlebte das Exil in Deutschland. Sein Leben war also bereits vor der Gründung des FPMR sehr bewegt.

Wird Ihr Projekt denn trotz – oder gerade wegen – des schweren Stands des Themas Widerstand innerhalb der Erinnerungskultur mit öffentlichen Mitteln gefördert?

M.R.: Wir haben zwei Jahre lang versucht, eine öffentliche Förderung zu bekommen. Doch die Finanzierungsmöglichkeiten für künstlerische Projekte sind in Chile sehr schlecht. Im Bereich Film ist die Lage besonders prekär. Der Neoliberalismus will, dass du mit deinen Kolleg*innen um ein paar Pesos wetteiferst. Hinzu kommt, dass es Themen gibt, an deren Finan-zierung die Zuständigen kein Interesse haben. Wie gesagt, die offizielle Linie ist es, Projekte zu fördern, die aus der Angst-und-Schrecken Perspektive produziert werden. Da passen wir einfach nicht rein. Wir finanzieren uns nun vorwiegend durch Spenden.
G.A.: Ein weiterer Punkt ist, dass im Rahmen des chilenischen Neoliberalismus die Förderung von Kultur und Wissenschaft extrem marktorientiert ist. Es gibt Fördertöpfe, die explizit und ausschließlich dazu da sind, im klassischen Sinne zu investieren. Die Projekte sollen sich auf lange Sicht selbst finanzieren können und Gewinne generieren, kommerziell sein.

Sie glauben nicht, dass die Entscheidung inhaltlich, nämlich gegen den FPMR war?

M.R.: Die „offizielle Wahrheit“ besagt noch immer, dass der FPMR eine terroristische Vereinigung war, die einzig und allein Angst schürte. Ihr Ziel war aber die Bekämpfung des Staatsterrorismus. Pellegrin sagte auf einer Konferenz, dass das Volk sich nicht mit Parolen wehren könne, wenn es mit Kugeln angegriffen würde. Wenn deine Nächsten ermordet, verschwundengelassen und entführt werden, reicht Diplomatie als Antwort kaum aus. Es war eine bewusste, aus der Not heraus entstandene Entscheidung, zu den Waffen zu greifen. Der FPMR war allerdings weit mehr als nur „der bewaffnete Arm der Kommunistischen Partei Chiles“. Er war auch ein politischer Apparat, der, wenn er weiterhin existiert hätte, das Militärische vermutlich aufgegeben hätte und nur noch seinem politischen Kurs gefolgt wäre.

G.A.: In einigen Kommentaren in den sozialen Netzwerken des Projekts wird deutlich, wie stark der bewaffnete Kampf in Chile verurteilt wird. Typisch ist: „Gewalt, wo auch immer sie herkommt, ist schlecht“. Die pazifistische Position ist legitim. Aber diese Kritik nimmt keine Rücksicht auf den extremen Staatsterror, der die Gegengewalt erst provozierte. So wie ich es sehe, ist die militärische Komponente innerhalb einer kollektiven Aktion etwas, das Leben retten und die Repression eindämmen kann. Und trotzdem ist diese für viele Personen nicht legitim, wenn sie von staatsfernen Oppositionsbewegungen ausgeht, sie halten den FPMR für gewaltverherrlichend. Pellegrin hingegen sagte oft: „Wir mögen Waffen nicht. Wir mögen Gewalt nicht. Wie schön wäre es, wenn wir nicht auf sie zurückgreifen müssten.“

Dennoch wird die Geschichte des FPMR, wie auch die vieler anderer revolutionärer Bewegungen, als Geschichte des Scheiterns wahrgenommen.

M.R.: Der bewaffnete Kampf kann nicht als etwas Alleinstehendes betrachtet werden, er findet nicht zu seinem eigenen Zweck statt. Er darf nicht von anderen Bewegungen getrennt werden, die dasselbe Ziel verfolgen. In Chile gab es einen strategischen Spielzug seitens der Militärregierung: Sie kam aus der Deckung und veranlasste ein Plebiszit, das über die Zukunft Pinochets entscheiden sollte. In diesem Sinne ist der Widerstand gescheitert. Es war allerdings ein Scheitern der Linken insgesamt, da unser Land noch immer voll und ganz dem Neoliberalismus und seiner Entmenschlichung unterworfen ist.

G.A.: Laut Clausewitz ist der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Wir dürfen nicht denken, dass der bewaffnete Kampf ein Alleinstellungsmerkmal revolutionärer Bewegungen ist. Das Militärische ist Bestandteil jeder Politik. Rechte Bewegungen, sozialdemo-kratische Bewegungen, alle haben eine Militär-politik. Oft werden die Aktionen des FPMR jedoch isoliert betrachtet und die politische Überzeugung der Gruppe wird vernachlässigt. Die Bewaffnung war aber niemals die zentrale Kom-ponente dieser Überzeugung. Das Militärische kann verschiedenste Ausdrucksformen haben. Demonstrationen, große Versammlungen oder Barrikaden sind für mich ebenso militärische Elemente, die noch immer Teil des kollektiven Kampfes sind.

Welche Schlüsse können also vom Kampf des FPMR für die heutige Zeit gezogen werden?

G.A.: Die chilenische Linke hat das Projekt einer substanziell anderen, vom Kapitalismus befreiten Gesellschaft im Lauf der achtziger Jahre größtenteils aufgegeben. Was heute vorgeschlagen wird, sind Korrekturen, aber alles im Rahmen des Neoliberalismus. Der FPMR hingegen wollte den Kapitalismus abschaffen. Obwohl es vereinzelt Gruppierungen gibt, die vom Sozialismus und vom Antikapitalismus sprechen, verortet sich der Großteil der Linken, wie zum Beispiel der Frente Amplio, der als die Alternative zur Concertación gehandelt wird, innerhalb des aktuellen Systems. Die klassische Linke hat uns jedoch Ideen hinterlassen, über die es sich heute wieder nachzudenken lohnt. Der zweite Punkt ist, dass wir vom FPMR viel über die strategische Organisation lernen können, über die technische Vorbereitung politischer Aktionen und die Artikulation einer politischen Idee, die für das Gemeinwohl der Bevölkerung eintritt.

M.R.: Pellegrin hat zwischen 1986 und 1987 schon die Idee einer verfassungsgebenden Versammlung ausgeführt, die Idee, dass ein Raum für Diskussion geschaffen wird. Stattdessen haben wir eine Demokratie, die nur mit Tinte und Papier eingeführt wurde. Zwar haben die Massenverbrechen aufgehört, aber Pellegrin selber wurde zum Beispiel erst nach dem Plebiszit ermordet. Heute wäre es vor allem wichtig, eine Demokratisierung des Militärs und der Polizei voranzutreiben.

Welche Erwartungen haben Sie an den Filmstart?

M.R.: Nächstes Jahr ist nicht nur Pellgrins 30. Todestag, sondern wir „feiern“ auch 30 Jahre Rückkehr zur Papier-und-Tinte-Demokratie. In diesem Zusammenhang wird die Idee, dass der Diktator immerhin so großzügig gewesen sei, „freiwillig“ aufzugeben, und dass alle Widerstandsbemühungen somit irrelevant gewesen seien, weiter gestärkt werden. Die Geschichte von Raúl Pellegrin dient dazu, die verdrängte Seite der Erinnerung wieder aufleben zu lassen. Wir möchten mit dem Film einen Raum für Diskussion und alternative Erinnerungskultur schaffen.

 


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