WIRBELWIND VERWEHT WAHLTERMIN

Hurrikan „Matthew“ war der erste atlantische Hurrikan seit Hurrikan „Felix“ 2007, der die Kategorie 5 auf der Saffir-Simpson-Hurrikan-Skala erreichte. „Die jüngsten Vorkommnisse machen die Wahl unmöglich“, gab der Chef der haitianischen Wahlbehörde, Léopold Berlanger, bekannt. Ein neuer Wahltermin werde alsbald bekanntgegeben. Der Wirbelsturm Mathew war fünf Tage vor dem anvisierten Wahltermin mit einer Stärke der Kategorie 4 auf Haiti getroffen und hatte erhebliche Schäden verursacht. Häuser wurden zerstört, Bäume knickten um, Straßen wurden überflutet. Mindestens 800 Menschen fanden den Tod. Tausende Menschen suchten Schutz in Notunterkünften. Noch Tage danach war der Südwesten des Karibikstaats von der Außenwelt abgeschnitten.
Mit der Verschiebung der Wahl zieht sich die politische Entscheidungsfindung in Haiti weiter in die Länge. Denn die für den 9. Oktober geplante Wahl war bereits die Wiederholung der Wahl vom vergangenen Oktober, da deren Ergebnis wegen Manipulationsvorwürfen annulliert worden war. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und die EU bewerteten die damalige Wahl als grundsätzlich frei und fair. Sie vermuteten vielmehr, dass die Opposition durch ihre Proteste das für sie ungünstige Ergebnis kippen wollte. Jetzt mahnte die OAS zur Eile. „Es ist wichtig, dass diese für die Konsolidierung der Demokratie so dringend notwendigen Wahlen so schnell wie möglich abgehalten werden“, twitterte Generalsekretär Luis Almagro nach Bekanntwerden der Wahlverschiebung wegen des Sturms „Matthew“.
Wann auch immer die Wahlen stattfinden werden, unter den Haitianer*innen ist Skepsis weit verbreitet. „An saubere und korrekte Wahlen glaube ich auch diesmal nicht“, sagt Richard Haspil. Der Druckereibesitzer und Bienenzüchter hat seine Zweifel, dass die Rufe von Betrug und Manipulation nach der kommenden Wahl des haitianischen Staatspräsidenten verstummt sein werden. Bei den Wahlen im Oktober 2015, bei der neben dem Staatspräsidenten auch ein Teil der Mitglieder des Parlaments, des Senats und der Kommunalvertretungen gewählt wurden, hat der 46-Jährige selbst für die haitianischen Sozialdemokraten für das Stadtparlament von Petión-Ville kandidiert.
Dass die Wahlen damals massiv manipuliert wurden, davon geht Haspil aus. Der zweite Wahlgang zum Präsidentenamt wurde damals nur verhindert, weil der Zweitplatzierte Jude Célestin von der Alternativen Liga für Fortschritt und Emanzipation (25,3 Prozent) sich weigerte, an der notwendigen Stichwahl gegen den Erstplatzierten teilzunehmen. Jovenel Moïse (32,8 Prozent) war der Wunschnachfolger des damals amtierenden Staatschef Michel Martelly. Der hatte den 48-Jährigen für die Parti Tèt Kale, der Kahlkopfpartei, ins Rennen geschickt.
Martelly, der bereits fast ein Jahr ohne parlamentarische Legitimation und mit Ausnahmegesetzen regierte, schied im Februar dieses Jahres aus dem Amt. Der Interimspräsident wechselte die Provisorische Wahlkommission (CEP) aus und ließ das Wahlergebnis überprüfen. Unter den 5,8 Millionen Wahlberechtigten waren nicht nur Personen aufgeführt, die bei dem schweren Erdbeben im Januar 2010 verstorben waren, viele hatten sogar nachweislich abgestimmt. Die Wahl wurde auch wegen dieser Zombiestimmen annulliert. Dabei hatten nur 1,5 Millionen Personen, rund ein Drittel der Stimmberechtigten, überhaupt von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht.
Richard Haspil konstatiert einen grundsätzlichen Mangel im haitianischen Wahlsystem, der auch diesmal nicht behoben worden sei: Seit 2005 wurde das Register nicht mehr aktualisiert, Verstorbene nicht aussortiert. Dazu komme ein Chaos von sich drängelnden Wahlbeobachter*innen, denn die an der Abstimmung teilnehmenden Parteien haben das Recht, eine Person ihres Vertrauens in jedes Stimmlokal zu entsenden. Das berge die Gefahr, dass diese dort auch abstimmen könnten. Ob sie dies an ihrem Wohnort nicht auch schon getan haben, kontrolliert niemand. „Dem Wahlbetrug ist Tor und Tür geöffnet“, befürchtet Haspil.
Der Filmemacher Arnold Antonin plädiert trotzdem für eine Beteiligung bei der nächsten Präsidentschaftswahl. „Die Stimmabgabe ist wichtig“, sagt der international ausgezeichnete sozialkritische Filmregisseur. „Wem kein Kandidat zusagt, der soll wenigstens in Blanko abstimmen“, fordert er vehement als Zeichen für einen „Neuanfang“ in Haiti. Ob es auch ein Schritt zu einem demokratischen Neuanfang im „Land der Berge“ wird? „Es ist wenigstens ein Schritt“, so Antonin. Aber beide wünschen sich nichts sehnlicher, als dass die Wahlkrise endlich ad acta gelegt werden könnte, die seit mehr als einem Jahr das „Armenhaus Lateinamerikas“ in Atem hält. Hurrikan „Matthew“ sorgt mindestens nochmal für einen ungeplanten Aufschub.

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