“…Und tausend Abenteuer”

Im Niemandsland:
Die deutsche Exilkolonie in Mexiko
“Es gab hier eine deutsche Kolonie, wie eine Großfamilie, hauptsächlich reiche Händler. Als Hitler an die Macht kam, wurde der größte Teil von ihnen Nazis, mit Ausnahme von vielleicht zwanzig Personen – und das, wo sie doch nicht un­ter diesem schrecklichen Druck wie in Deutsch­land standen. Hier war es mehr eine Sache des Lu­xus. Aus diesem Grund hatten wir fast nur mit ei­ner deutschen Familie, die gegen die Nazis war, Kontakt, der Familie Bopp. Marianne Bopp hat das Institut für deutsche Literatur an der UNAM gegründet.
Als die ersten deutschen Flüchtlinge kamen, haben wir sie mit unbegrenztem Mitleid empfan­gen – mein Mann behandelte sie umsonst, und ich gab Spanischunterricht. Fast alle blieben in einem Niemandsland, in der Vergangenheit, einem Deutschland, das nicht mehr existierte. Sie inter­es­sierten sich kaum für Mexiko. Viele kamen aus Konzentrationslagern. Ich glaube, der Mensch kann nur ein gewisses Maß an Leid ertragen, da­nach erliegt er ihm.
Die politische und kulturelle Szene des deut­schen Exils in Mexiko war alles andere als ein Idyll. Es gab einen schrecklichen Kampf zwischen den Stalinisten und den Sozialdemokraten und So­zialisten. Wir selber waren verfemt, weil wir mit Otto und Alice Rühle befreundet waren, und es hieß schnell, die Frenks seien Trotzkisten. Das war absurd, denn wir waren überhaupt nicht poli­tisch aktiv. Die Feindseligkeiten waren so groß, daß wir mit einigen, zum Beispiel mit Egon Erwin Kisch, gar nicht mehr redeten. Er hatte mich ein­mal gefragt, warum ich nicht mitarbeite in der Zeitschrift Alemania libre, dort könnte ich mich selbst verwirklichen. Da habe ich einen solchen Lachanfall bekommen, daß er zutiefst gekränkt war. Er war ja persönlich ein sehr reizender Mensch, aber er war auch ein fanatischer Stalinist und Denunziant, der viele auf dem Gewissen hatte.
Nach dem Krieg sind die Parteipolitiker alle zu­rückgegangen, von den anderen sind einige in die Vereinigten Staaten gegangen, aber ich habe von Anfang an gesagt, diese Sache kommt wieder – da haben die Leute gesagt, du bist eine Kassandra, das wird nie wieder kommen. Heute sieht es in Deutschland ja geradezu entsetzlich aus. Ich habe mal gedacht, wenn man von hier wieder fliehen muß, nach Deutschland keinesfalls.

Kaputte Telefone:
Der mexikanische Alltag
“Ich rechne damit, daß nichts funktioniert: und dann, wenn es doch funktioniert, sage ich “que maravilla”. Was für eine herrliche Angelegenheit ist das, daß das kaputte Telefon nach zwei Tagen schon wieder geht. Und wenn man dafür bezahlen muß – natürlich ist das eine Unsitte und es ist un­moralisch, aber es ist nun mal so, und wenn ich es kann, tue ich es.
Aber zum Beispiel einen Polizisten zu beste­chen, würde ich noch immer nicht fertigbringen, obwohl ich vorher schon weiß, daß er die Hand so aufhält. Seien Sie also von vornherein darauf ge­faßt, daß die Dinge nicht funktionieren, und dann werden sie glücklich sein, wenn Sie mal einen Po­lizisten treffen, dem ihr Gesicht gefällt und der lä­chelt und sagt:”Schön, fahren sie weiter”.
Oder wenn ich zum Beispiel einen Anruf ma­chen muß, dann rechne ich damit, daß es minde­stens eine halbe Stunde dauert, wenn ich Glück habe. Gibt es mal das große Glück, daß er oder sie zu Hause oder in dem Amt ist, wo er oder sie sein müßte, dann fängt es so an: also das Telefon ist fünfmal besetzt, das sechste Mal verbindet es nicht, das siebte Mal macht es nur “öh”, wenn es “öh” macht, dann weiß ich, da ist Hoffnung, da kann man insistieren; das nächste Mal machte es schon “ööööh” und so geht es weiter und tatsäch­lich klingelt es schließlich und dann kommt das Mädchen und sagt: “la senora acaba de salir”- “die Senora ist gerade aus dem Haus gegangen”. Sowas muß man riskieren hier.

Charismatischer Kämpfer: Subcomandante Marcos
“Er ist offensichtlich ein sehr gebildeter Mensch, nicht nur mit aufgeschnappten Bil­dungsbrocken. Und natürlich wäre es interes­sant zu wissen, wie jemand dazu kommt, zehn Jahre in der Selva zu leben, in einer völlig anderen Welt, in einer Traumwelt. Im Laufe dieser Monate hat mich das nicht nur ein bißchen, sondern glü­hend interessiert. Ich bin zu fast nichts anderem mehr gekommen, als die Zeitungen zu lesen und die no­ticieros zu hören. Das war dauernd in mei­nem Be­wußtsein, während scheinbar große Teile der Be­völkerung vergessen, daß in diesem Mo­ment ein Teil von Mexiko im Krieg lebt und sie weiter auf dem Vulkan tanzen.
Ich weiß, daß es im ganzen Land bewaffnete Gruppen gibt. Wahrscheinlich sind sie nicht so gut bewaffnet wie die Zapatistas, wahrscheinlich auch nicht so gut organisiert, und vielleicht gibt es nicht überall einen Mann mit soviel Charisma wie Mar­cos. Aber es ist zu befürchten, daß Menschen, de­nen es wirklich elend gegangen ist, einfach nicht mehr können. Und was eine Revolution be­deutet, das wissen wir ja- wenn es eine Revolu­tion gibt, dann wird sie uns alle verschlingen.

Begegnung mit den Lacandonen

Die 38jährige Schweizerin Gertrud Düby ist seit einem Jahr hier, im Land des ewi­gen Früh­lings. Frankreich, Deutschland, die Schweiz – die wichtigsten Stationen auf ihrem abenteuerli­chen Weg nach Mexiko.
Im Berner Oberland der Schweiz, da ist sie am 7. Juli 1901 geboren und verlebt inmit­ten der Berge die er­sten Jahre ih­rer Kindheit. Sie liebt die Pflan­zen und Tiere – die einzige Liebe, die ihr Leben lang anhält.
Der Vater, Otto Lört­scher, Pfarrer in Wimmis, wird 1910 zum Ar­meninspektor nach Bern be­rufen. Gertrud fühlt sich fremd in der Stadt. Schließ­lich findet sie einen Freund in Kurt Düby, Sohn des Ge­werkschaftsvorsitzenden der Ei­senbahner. Er weckt ihr Interesse für Ideen, die au­ßerhalb des kon­servativen Elternhauses und der Schule liegen. In den Gesprä­chen bei den Dübys ist von Klas­senkampf, Streik und Sozialde­mokratie die Rede.
Der Vater sieht es nicht gern, wenn seine Tochter mit Kurt zusam­men ist. Er hofft, daß sie im Gymnasium und der Garten­bauschule das Interesse an ihrem Freund und den linken Ideen ver­liert. Aber der erste. Welt­krieg, die revolutionären Er­eignisse in Rußland und Deutschland, der General­streik in der Schweiz rei­ßen Gertrud mit. Sie will zu denen gehören, die für eine ge­rechtere Welt kämpfen. Sie wird Mitglied der Sozial­demokratischen Partei der Schweiz und studiert an der So­zialschule in Zürich. 1921 erhält Gertrud das Di­plom als Sozial­fürsorgerin.
Doch es hält sie nicht in der Schweiz. Andere Länder will sie ken­nenlernen. Zwei Jahre später fährt sie nach England und Ita­lien. Artikel über die sozialpoli­tische Lage in diesen Ländern ent­stehen. In Italien herrscht Mussolini. Mord und Ver­haftungen sind an der Ta­gesordnung. Auch Gertrud wird festgenommen, verhört und we­nige Tage später aus­gewiesen. Als sie am 17. Juni 1925 in Bern ein­trifft, jubeln ihr die jungen Sozialdemo­kratInnen zu. Gertrud ge­nießt den Empfang. Doch gleichzeitig empfindet sie voll Bitter­keit, daß sie von nun an keinen Fuß mehr ins Haus ihrer Eltern set­zen kann. Zu weit ha­ben sie sich voneinander ent­fernt.
Aus Trotz heiratet Ger­trud den Freund Kurt Düby. Sie ar­beitet von nun an für die Sozial­demokratische Partei in Bern. Schon nach we­nigen Monaten wird die ehrgeizige und selbstbe­wußte junge Frau mit der Funk­tion der Vorsitzenden der neuen Frauenagitations­kommission be­traut und da­mit Leiterin der Sozialde­mokratischen Frauenbewe­gung des Landes.
1928 nimmt sie als erste Schweizer Sozialdemokratin an der Ta­gung der Sozialisti­schen Internationale teil. Die deutschen Frauen laden sie ein, in Deutschland zu sprechen. So reist Gertrud anläß­lich des Inter­nationalen Frauentages 1929 nach Ber­lin. Sie ist be­eindruckt von der Stärke der deutschen So­zialdemokratie. Allein in Berlin sind Zehntausende Frauen in ihr organisiert. In der ganzen Schweiz gehören etwa 2000 Frauen der Sozi­aldemokratischen Partei an und sie sind längst nicht so aktiv wie die deutschen Frauen. Vielleicht hat Ger­trud in diesen Tagen den Entschluß ge­faßt, sich in Deutschland niederzu­lassen. Im Oktober er­klärt sie wäh­rend einer Frauen­konferenz in Bern ih­ren Rück­tritt, ver­läßt die Schweiz und Kurt.
Kampf gegen den Fa­schismus
Ihr Weg führt sie nach Danzig und später nach München. Sie en­gagiert sich in der Sozialisti­schen Ar­beiterjugend und später im linken Flügel der SPD. Unter der Führung von Kurt Ro­senfeld und Max Seydewitz, die im September 1931 aus der SPD ausgeschlos­sen worden sind, gründen linke SozialdemokratIn­nen am 4. Oktober in Berlin die Sozia­listische Arbeiterpartei Deutschlands. Gertrud wird in den Parteivorstand ge­wählt. In den folgenden Mo­naten zieht die begabte Red­nerin durchs Land und spricht auf Versammlungen gegen die aufkommende Ge­fahr des Faschismus. Aber die SAP bleibt eine kleine Partei, ihr Ein­fluß ist gering, die Streitereien groß. Ger­trud zieht die Konse­quenzen und tritt in die KPD über. Für die Polizei ist Gertrud keine Unbekannte. Ihre Mit­gliedschaft in der KPD bietet dem Reichsinnenministe­rium einen willkommenen Grund, die Schweizerin aus Preußen auszu­weisen. Doch Gertrud spricht weiter auf Versammlungen und über­nimmt Kurierdienste.
Einen Monat nach dem Machtantritt Hitlers am 30. Ja­nuar 1933 geht Gertrud eine Scheinehe mit dem Hamburger Arbeiter Otto Piehl ein. Durch die Heirat verliert sie ihre Schweizer Staatsbürger­schaft und kann einen deutschen Paß bean­tragen. Aber sie bekommt ihn nicht mehr. Otto wird von der Gestapo verhaftet und geschla­gen. Gertruds Paß und andere Dokumente verschwinden in einer Poli­zeiakte. Otto Piehl gelingt später die Flucht nach Dä­nemark. Gertrud hält sich in Berlin versteckt und über­nimmt weiter Kurier­dienste. Doch die Situation wird im­mer gefährli­cher. Die Ge­stapo durchsucht die Woh­nung, die ihr als Zuflucht dient. In ihrer KPD-Gruppe wird ein Spitzel vermutet. Im Frühling flieht Gertrud mit dem Paß einer englischen Freundin nach Bar­celona und von dort aus nach Pa­ris.
In Paris wird im August 1934 das “Internationale Frauenkomi­tee ge­gen Krieg und Faschis­mus” gebildet. Gertrud gehört zu seinen Mitgründerinnen und arbei­tet fortan für das Komitee.
Als Mitglied einer KPD-De­legation reist sie für ei­nige Mo­nate in die So­wjetunion. Es ist die Zeit der einsetzenden Verfol­gungen, Zeit des Mißtrauens und Verrats. Nicht alle verteidi­gen, was pas­siert, auch Ger­trud nicht. “Man sollte an das Menschliche denken”, sagt sie in einem Ge­spräch mit dem Schriftsteller Bodo Uhse und ihrem Lebensge­fährten Rudi Feistmann. “Wer von uns ist nicht einmal schwach? Wer hat nicht auch ge­schwankt? Jeder hat ir­gendwo ein Faiblesse. Man schweigt dar­über, solange jemand in führen­der Stellung ist, und nachher wird nichts als diese Schwäche gezeigt. So springt man aus der einen Kategorie in die andre über – und niemand versteht, was ei­gentlich vorgegangen ist.” Ger­truds Offenheit trifft je­doch nicht überall auf Sym­pathie. In einem Be­richt an die Komintern wird sie als Agentin westlicher Ge­heimdienste verdächtigt.
Von USA nach Me­xiko
Mit Beginn des Krieges än­dert sich die Situation der Emi­grantInnen schlagartig. Gertrud wird bereits am 29. August 1939 verhaftet, ins Gefängnis und später ins Internierungslager für Frauen im südfran­zösischen Ri­eucros gebracht. Mit Hilfe der Schweizer Botschaft kann sie das Lager und das Land am 6. März 1940 ver­lassen.
Von der KPD bekommt sie den Auftrag, sich in den USA für die Ausreise weite­rer inhaftierter Kommuni­stInnen einzusetzen. So schließt sich Gertrud in New York der Hilfsorganisation Joint Antifascist Refu­gee Comittee (“Barsky-Komitee”) an, die sich um die Einreise von Kommuni­stInnen in die USA und nach Mexiko bemüht.
Im Dezember 1940 reist sie weiter nach Mexiko, um von dort aus ihre Tätigkeit an der Seite des Schriftstel­lers Bodo Uhse fortzusetzen. Schon bald kennt sie sich aus in den mexikani­schen Einreiseformalitä­ten. Die Behörden rufen sie lachend und ehrfurchtsvoll La Di­námica.
Gertrud ist mit anderen deut­schen und österreichi­schen Emi­grantInnen zunächst in der überparteili­chen Liga Pro-Cul­tura Alemana en Mexiko aktiv, die jedoch bald auseinander­bricht.
Mit der Ankunft zahlrei­cher weiterer Antifaschi­stInnen bis zum Juni 1942 formieren sich neue Organi­sationen. Die deut­schen Kom­mu­nistInnen bilden eine eigenständige Gruppe. Zu ihnen gehört auch Gertrud Düby, seit 1932 Mitglied der KPD. Diese Gruppe ent­wic­kelt vielsei­tige Aktivitäten. Unter der Lei­tung von Lud­wig Renn, Anna Seghers, Egon Erwin Kisch ent­steht der “Heinrich Heine Klub”, der bald zum geistigen Hort der emigrierten deutschsprachi­gen Antifa­schistInnen wird.
Auch Gertrud hält in die­sem Klub Vorträge über ihre Reisen ins Landesinnere und zu den La­candonen. Sie en­gagiert sich in der von den deutschsprachigen Kommu­nistInnen ins Leben gerufe­nen “Bewegung Freies Deutschland”. Die Bewegung versteht sich als Vereinigung von HitlergegnerInnen, un­abhängig von politischer oder religiöser Herkunft. Darüber hinaus schreibt Gertrud für die anti­faschistischen Zeitschriften “Freies Deutschland” und “Demokratische Post”.
Aber Gertrud genügt die Ar­beit innerhalb der EmigrantInnenorgani­sationen und der KPD-Gruppe nicht. Sie interes­siert sich vermut­lich auch wenig für die ewigen Streite­reien und Machtkämpfe un­ter den KommunistInnen. “Ich habe nicht viel mit den Emigranten zu tun ge­habt.” Das ist alles, was sie später dazu sagt. Dennoch nennt sie immer Freunde aus dieser Zeit – Egon Erwin und Gisl Kisch, Ilse und Otto Katz (André Simone), Steffi Spira, Paul Mer­ker und an­dere. Mit ihnen unter­nimmt sie auch Ausflüge ins Land und orga­nisiert Bergtouren auf den Popocatepetl.
“Zapata ist nicht tot”
Oft jedoch ist Gertrud al­lein unterwegs und beteiligt sich an staat­lichen Projekten des Ge­sundheits- und Sozi­alwesens. Eine ihrer vielen Reisen, führt sie in das kleine Dorf Anene­cuilco, Geburtsort des legen­dären Emiliano Zapata. “Ich bin richtig ein wenig aufgeregt, denn ich liebe Emi­liano, ich bewun­dere ihn nicht nur. Das Dorf ist herrlich gele­gen. Ein Flüßchen fließt her­unter, hohe Bäume überall, grün wo man hinschaut. Die meisten Häuser sind Stroh­hütten, nur wenige Stein­bauten. … Wir steigen das Dorf hinan, über sehr stei­nige Wege. Da oben ist das Land überhaupt viel steini­ger als unten. Wir steigen über Steinzäune und kom­men zu einem Haus mit einer sehr verwa­schenen Tafel, doch kann man noch folgen­des lesen: Aquí nació el 20 de Julio de 1879 el Gene­ral Emiliano Zapata. Herr­liche große, dunkle Au­gen. Eine hohe freie Stirn und eine feinge­zogene doch kräftige Nase. Lei­der kann man wegen des Riesen-moustache seinen Mund nicht sehen.”
Das Erlebnis hinterläßt Spu­ren in den Gedanken Gertruds. Sie folgt ihnen. Sie begibt sich auf die Suche nach den Zapati­stas. Frauen, die für und mit Za­pata ge­kämpft haben. Im Dorf Yautepec im Staa­te Morelos wohnt die 86jährige Ventura. Sie erzählt Gertrud von ih­rem Gene­ral: “Als Zapata 1911 nach Yautepec kam, wurde ich die beschei­denste Dienerin meines Chefs Emi­liano. Und von diesem Augen­blick an, bis zu seinem Tode diente ich meinem Ge­neral, blieb bis zur Einigung 1921 und war dreimal Ver­bindungsperson der Genera­le, die in Morelos, Oaxaca und Puebla kämpften.” Al­lerdings be­zweifelt Ventura den wahr­haften Tod Zapa­tas: “Er ist nicht tot, mein General. Er war viel zu wichtig, um zu sterben. Und er ritt auf einem Araber da­von und verschwand im Ge­birge. Eines Tages wird er wieder zu uns, die ihn nie­mals verraten haben, zurückkeh­ren. Er wird sehr gut sein, er wird die Verräter nicht töten, er wird sie nur anspucken.” Gertrud schreibt nicht nur über Ventura, Amelia, Robles, Apolinaria Flores und die anderen Zapatistas. Sie fo­tografiert die Frauen. Ein­drucksvolle Porträts entste­hen. Sie bilden den Anfang einer Sammlung von zehn­tausenden Fotogra­fien, die Gertruds Schaf­fen im Ver­lauf der folgenden 45 Jahre do­kumentieren.
Aufbruch in die selva lacandona
Zum wichtigsten Erlebnis ih­rer Exilzeit in Mexiko wird für Gertrud die Begegnung mit den Lacandonen. Sie le­ben in der selva lacandona, dem Regen­wald im Bundes­staat Chiapas. Den Wunsch, diese letzten Nach­fahren der Mayas ken­nenzulernen, hat sie schon lange. Er wurde geweckt, als sie wäh­rend der langen Überfahrt von Frankreich nach New York das Buch “terre indienne” (indianisches Land) von Ja­ques Soustelle gelesen hatte. Nun will sie ihn sich erfüllen.
Im Februar 1943 fährt Gertrud nach Tuxtla Gutièr­rez, der Haupt­stadt von Chiapas. Sie hat Glück. Der damalige Gouverneur Dr. Rafael Pascacio Gamboa empfängt sie nicht nur, son­dern emp­fiehlt ihr, sofort mit der Zu­sammenstellung der Ausrüstung für die selva zu beginnen. Am nächsten Tag soll von San Cristóbal de las Casas aus die er­ste offi­zielle Kommission auf Expe­dition in die selva ge­hen, um einen ersten Kontakt mit den Lacandonen herzu­stellen. Ger­trude glaubt zu träumen. Mit wieviel Hindernissen hatte sie ge­rechnet, wie viele Argumente hatte sie sich zurechtge­legt und nun nimmt sie als einzige Frau unter sieben Mexikanern und obendrein Ausländerin an einer Expedition in die selva la­candona teil.
In San Cristóbal wirbeln mit dem Staub Gerüchte und schwärzeste Prophezeiungen durch die Luft. Wer in die selva lacandona geht, der kehrt nicht zurück: Selbst wenn es den Rei­sen­den ge­lingen sollte, dem Gelbfieber zu entgehen, könnten sie sich nicht von den Lacando­nen befreien. Das seien wilde In­dios, die die benachbarten Dörfer überfielen, die Wei­ßen töteten und die abscheu­liche Ange­wohnheit hätten, sich von Men­schenfleisch zu ernähren.” Ger­trud besorgt sich sicherheitshal­ber eine Großkaliberpistole, die sie jedoch nie in ihrem Leben benutzen wird.
Gemeinsam mit Manuel Ca­stellanos, Leiter der Ex­pedition und gleichzeitig Präsident der Gemeinde Ocosingo und den an­deren Teilnehmern begeben sie sich auf die Reise. Sie kom­men an Vieh­zuchtfarmen und kleinen Indio-Siedlun­gen der Tzotzil und Tzeltal vorüber. Die Schönheit des üppigen Waldes, die Berge nehmen Gertrud gefangen.
Langsam nähern sie sich dem Gebiet, in dem der nördliche Stamm der Lacan­donen lebt: “Wir wollen nicht durch unsere gemeinsame Erscheinung ihr Mißtrauen erwecken und be­schließen, daß nur Florentino, einer un­serer Tzeltal Begleiter, Don Manuel Castellanos Can­cino und ich vorgehen sollen, um zu verhandeln.
Aber wir drei haben einige Schritte gemacht, als wir auf ei­nem an­gekohlten Baum­stamm steif einen Mann ste­hen sehen. Wir ha­ben ihn nicht bemerkt, je­doch er hat uns längst beobach­tet. Auf­gerichtet steht er da, sein Baumwollhemd reicht bis zum Knie, sein Haar fällt über die Schultern. Er ist von hellerer Haut als an­dere In­dios. Da steht er als eine natürliche Erhöhung des Baum­stammes, bewußt eine Einheit mit der Natur bil­dend.”
Andere Gestalten nähern sich der Gruppe, unter ihnen ist der Chef, Quintin. Mit Hilfe von Florentino erklärt Don Manuel das Anliegen der klei­nen Gruppe, auch daß sie mit Unter­stützung anderer Tzeltalen neue Hütten für die Lacandonen bauen wollen und übergibt die Ge­schenke, die sie mit­gebracht ha­ben: Salz, Mes­ser, Körbe…
Die Lacandonen empfan­gen die Gäste freundlich, aber nicht ganz frei von Argwohn. Einige von ihnen sprechen ein bißchen spa­nisch. Sie lernen von den Holzfällern, die hin und wie­der vorbei­kommen. Sie ha­ben auch Geschenke für die Gäste, Früchte, Ge­müse, Tabak, Mais, alles was der Urwald bietet und was sie selber anbauen. Die Lacan­donen sind ausgezeichnete Jäger. Früher be­nutzten sie aus­schließlich ihren selbst­gefertigten Pfeil und Bogen. Heute gebrau­chen sie Ge­wehre, um die Hirsche, Fa­sane, Wild­schweine und an­dere Tiere zu erlegen.
Einst waren die Lacando­nen ein großes Volk. Nach Schät­zungen Gertruds lebten 1943 etwa noch 200 von ih­nen in die­sen Wäldern. Nach einer vier­monatigen Reise nimmt Gertrud von den La­candonen Abschied. Noch ahnt sie nicht, daß diese Be­gegnung ihr Leben völlig ver­ändern wird.
Bis in die 80er Jahre un­ternimmt sie unzählige Rei­sen in die selva, verbringt viele Monate bei den Lacan­donen und kämpft um die Er­haltung dieses einzigarti­gen Regenwaldes von Me­xiko.
Nach der Expedition bleibt Gertrud zunächst in Chiapas, in der kleinen ver­träumten Ort­schaft Oco­singo. Sie lernt den char­manten, blonden Archäolo­gen Frans Blom kennen und ver­liebt sich in ihn. Sie verabreden sich bei den Maya-Ruinen von Ya­xchilán am Fuße des Usuma­cinta, im Herzen des Dschungels.
Viele Wochen ziehen sie auf der Suche nach Mayarui­nen durch den Dschungel. Dann keh­ren sie nach Me­xiko+Stadt zu­rück. Gertrud trennt sich in Freundschaft von Rudi Feist­mann und be­zieht mit Frans eine Woh­nung in der Nähe des Parks von Chapultepec.
In den folgenden Jahren be­teiligt sie sich an weiteren Expeditio­nen in die selva lacandona. Ihre ersten Er­fahrungen und Erleb­nisse faßt sie zusammen unter dem Titel “Los Lacandones su pasado y su pre­sente” (Die Lacandonen, ihre Vergan­genheit und ihre Gegen­wart). Das Buch erscheint 1944 in Mexiko.
Nach Kriegsende kehren viele Freunde Gertruds nach Deutschland, in die Sowjeti­sche Besatzungszone, zu­rück. Auch Gertrud tritt 1947 die Reise nach Berlin an. Aber es hält sie nichts im grauen, zerstörten Deutsch­land. Schon nach wenigen Tagen trifft sie eine endgül­tige Ent­scheidung. Sie kehrt zurück nach Mexiko, in ihre neue Hei­mat, zur selva la­candona und zu Frans Blom.

Hunger als Waffe

Der Presse und interna­tio­nalen BeobachterInnen, die nur unter gro゚en Schwie­rigkeiten die zahlreichen Militär­sperren pas­sieren können, bieten sich Schrec­kensbilder in den ins­gesamt 152 von der Armee be­setzten Ortschaften. Nur in An­sätzen können wir erfassen, was sich dort abgespielt hat und weiter abspielt. Der Großteil der etwa 26.000 Flüchtlinge hält sich weiter­hin in den Bergen vor der Armee versteckt, ohne Nah­rungsmittel und ausreichend Klei­dung.
Er­schöpft von der ta­gelangen Flucht, geschwächt durch Unter­ernährung und krank vom Trin­ken verschmutzten Wassers ste­hen sie vor dem Hungertod. Be­sonders die Ver­fassung alter Menschen – viele müssen von ih­ren Familienange­hörigen getra­gen werden – und von Säug­lingen ist dramatisch. Da auf­grund der Entbehrungen unzäh­lige Mütter ihre Kin­der nicht mehr stillen kön­nen, sind viele Babies ver­hungert oder er­froren. Trotzdem ziehen viele Men­schen dieses Schicksal einer Rückkehr in die von der Armee besetzten Orte vor – Ausdruck der bitteren Er­fahrungen, die sie mit den Soldaten gemacht haben.
Die von den Regierungstrup­pen in der Offensive vom Januar 1994 durchgeführten Massener­schießungen, Fol­terungen und Vergewalti­gungen sind noch in leidvoller Erinnerung. Zu­dem sind die Nachrichten über das brutale Vorgehen der Besat­zungstruppen mittlerweile auch bis in die letzten Winkel der Selva La­candona vorgedrungen.
Rückkehr in völlig zerstörte Heimatorte
Internationale BeobachterIn­nen haben in den letzten Wochen ins­gesamt 70 Fahrten in die Selva Lacandona gemacht. Überall bot sich ihnen das glei­che Szenario: verlassene und völlig zerstörte Dörfer. Inzwi­schen sind die ersten Bewohne­rInnen wieder in ihre Heimat­orte, beziehungsweise was davon übrig geblieben ist, zurück­gekehrt. Oft sind es nur die Männer, da die Frauen und die Kinder eine eventuell noch ein­mal notwendige Flucht nicht mehr durchste­hen würden.
Einer der wenigen Orte, in den die BewohnerInnen fast ge­schlossen zurückgekehrt sind, ist Prado Pacayal im Verwaltungs­bezirk Ocosingo. Bei der Ar­meeoffensive vom 9. Februar waren die meisten BewohnerIn­nen in die Berge geflüchtet. Mehrere Frauen, die in der Ge­meinde zurück­geblieben waren, sind von Regierungssoldaten verge­waltigt worden. Alle Häu­ser wurden geplündert, zwei brannnten völlig ab. Den Men­schen in Prado Pacayal und an­deren Orten der be­setzten Zone wurde alles Lebenswichtige ge­raubt oder zerstört. Erntereife Felder wurden abgebrannt oder mit MG-Salven niedergemäht. Die neue Saat – im Februar wer­den Mais und Bohn ge­säet – wurde gestohlen oder vergiftet.
Die Viehbestände sind unter dem Schutz der Armee von Groß­grundbesitzerInnen wegge­schafft worden. Allein Prado Pa­cayal hat so 600 Kühe und 200 Pferde verlo­ren. Hühner wurden abge­schlachtet und einfach lie­gengelassen. Systematisch wur­den alle Kleidungsstücke und Schuhe aus den Häusern geholt, aufgeschichtet und angezündet. Persönlich wertvolle Dinge wie Fotos sind verschwunden, Mais­mühlen oder Küchengeräte nicht mehr auffindbar. Selbst die Kli­nik wurde völlig ver­wüstet. Der Stromgenerator hat nur noch Schrottwert, die Wasserleitungen sind zer­hackt und der Trink­wasser­brunnen vergiftet, Fahr­zeuge zertrümmert oder ein­fach gestohlen.
Die Zerstörung in Prado Pa­cayal ist kein Einzelfall. In vielen Ortschaften stehen die BewohnerInnen vor dem Nichts. Vor dem Einmarsch der mexika­nischen Armee hatten sie kaum etwas, jetzt können sie ohne Hilfe von außen nicht mehr überleben.
Armee hat die Kontrolle über­nommen
Das, was wir Internationalen hier erle­ben, sehen, hören, ist nur ein kleiner Ausschnitt, und den­noch fällt es mir schwer, es zu beschreiben. Die Besatzungs­truppen sind all­gegenwärtig. Permanente Patroullien, jeder Schritt wird überwacht, Häuser werden von der Armee ge­filmt und numeriert.
Wenn die Männer die Fel­der bestellen wollen, werden sie durch zahlreiche Kontrollen schikaniert. Viele von ihnen ver­lassen ihre Häuser erst gar nicht, um bei ihren Frauen zu bleiben, die begründete Angst vor Ver­gewaltigung haben.
In vielen Orten müssen Be­wohnerInnen Zwangs­arbeit ver­richten: Die Frauen müssen für die Sol­daten kochen und die Uni­formen waschen, die Männer werden zum Straßenbau heran­gezogen. Denn die Armee schlägt mit Bulldo­zern große Schneisen in die Selva, um ihren Panzern und Artilleriefahrzeugen das Vorrücken zu ermöglichen. In der offiziellen Version heißt das “humanitäre Hilfe der Ar­mee”.
Präsident Zedillo brachte den menschenverachtenden Zynis­mus seiner Politik auf den Punkt: “Der Rechtsstaat ist wieder her­gestellt.” Die mexikanische Ar­mee hat in vielen Orten Bordelle einge­richtet – Rechtsstaat? Frauen werden permanent von den Be­satzungstruppen belästigt und bedroht. Müttern wird Geld für den “Verkauf” ih­rer Töchter ge­boten.
In den Municipios Ocosingo, Altamirano und Las Margaritas werden von der Armee nach guatemalte­kischem Vorbild re­gierungstreue Campesinos ange­siedelt und in sogenannten Pa­trullas de Autodefensa Civil (PAC) organisiert. Diese be­waffneten Gruppen über­nehmen die Kontrolle und Einschüchte­rung der Bevöl­kerung. Opposi­tionelle wer­den unterdrückt, be­droht, überfallen, vertrieben und teilweise, wie am 15. März in Salto de Agua, umgebracht. Dort hatten Mitglieder der PRI mit Waffen Angehörige der PRD an­gegriffen, Er­gebnis: 6 Tote.
Großgrundbesitzer fordern Revanche
Aber der Krieg findet nicht nur in der sogenannten “Kon­fliktzone” statt. Mit den Verbre­chen der Regie­rungs­truppen in der Selva haben diejenigen Auf­wind bekommen, denen nicht an einer friedlichen Lösung ge­legen ist. Kaum ein Tag vergeht, an dem die ver­schiedenen Vereini­gungen der Großgrundbesitzer nicht zur großen Revanche aufru­fen. Sie fordern die Wieder­herstellung der Zustände vor dem 1. Januar 1994 – angeb­lich einer Zeit des Friedens. Auf ih­ren sonntägli­chen Demonstratio­nen rufen sie offen zum Mord an Bischof Sa­muel Ruíz auf und fordern auf Transparenten: Massen­ver­ge­wal­tigung von Ma­risa Kraxsky. Ma­risa Kraxsky ist die Koordinato­rin der Frie­dens­grup­pe in San Cristóbal.
Unverhohlen drohen die Ga­naderos mit ihren To­des­schwadronen, den Guardias Blancas, um die Räumung der etwa sieben­hundert Fincas au­ßerhalb der Selva zu erreichen. Zu­sammen mit der Polizei wer­den Fincas geräumt, die Campesinos verschleppt, ge­foltert und inhaftiert. Be­sonders in der Region Fraylesca hat sich die Lage zugespitzt. In der Nähe der Ortschaften Liquidánbar und Prusia hält die Unión Campesina Popular Francisco Villa mehrere Fincas der deutschen Kaffeemil­lionäre Marianne Schimpf, Lau­rence Hudler und Felke von Knoop be­setzt. Starke Militär- und Polizeieinheiten ließen nicht auf sich warten.
Das in Chiapas vorherr­schende Thema ist natürlich der erwartete Beginn direk­ter Frie­densgespräche zwischen Regie­rung und EZLN. Dabei sind die ver­änderten militärischen Bedin­gungen von besonderer Bedeu­tung. Die EZLN hat die Auf­nahme des Dialogs von einem Rückzug der Re­gierungstruppen auf die Positionen vom 8. Fe­bruar abhängig gemacht. Aus Militärkreisen wurde be­kannt, daß die Armee einen Rückzug überhaupt nicht nötig habe und jederzeit je­den Ort in der Selva erreichen könne.
Armeeoffensive verhindert Frie­densgespräche
Die EZLN er­widerte darauf, daß die militäri­sche Strukur der Guerilla intakt sei. Offensive Maßnahmen wur­den nur deshalb nicht durchge­führt, um die Zivil­bevölkerung nicht noch weite­rem Terror durch die mexikani­sche Ar­mee auszusetzen. Ober­stes Ziel sei der Frieden. Jedoch würde ein weiteres Vorrüc­ken der Regie­rungstruppen sofortige Gegenre­aktionen der EZLN herausfor­dern. Ein weiterer Rückzug der EZLN sei ebenso­wenig denkbar wie eine Kapitu­lation.
“Wenn wir uns weiter zu­rückziehen” so Subcomandante Marcos am 11. März, “werden wir an ein Schild mit der Auf­schrift “Willkommen an der Grenze Ecuador/Peru” kommen. Nicht, daß uns eine Reise nach Südamerika mißfallen würde, aber zwischen drei Feuern zu stehen, scheint wenig ange­nehm.”
Am 14. März wurde von Prä­sident Ernesto Zedillo der Rück­zug der Truppen aus den besetz­ten Orten und die Auflösung der Straßen­sperren angeordnet. Be­folgt wird dieser Befehl jedoch kaum. Die internationalen Beob­achterInnen können bezeugen, daß sich die Truppen, wenn überhaupt, nur auf Sichtweite zurückge­zogen haben. Patrouil­len werden nach wie vor durch­geführt. Auch gehen die Fahn­dungen, Verhöre und Ein­schüchterungen durch Militär und Polizei weiter, obwohl ein Erlaß der Regie­rung jede Verfol­gung vermeintlicher Zapatistas für die Dauer eines Monats aus­setzt. Die Staatsanwalt­schaft ar­beitet weiter daran, inhaftierten Menschen eine Mitgliedschaft in der EZLN vorzuwerfen. Selbst die staatliche Menschenrechts­organisation Comisión Nacional de Derechos Humanos (CNDH) mußte einräumen, daß die Ge­fan­genen unter Folter zum Un­terschreiben vorgefer­tigter “Ge­ständnisse” gezwungen wur­den. Jeden­falls werden der Öf­fent­lich­keit mehrere inhaf­tierte Sub­comandantes präsen­tiert. Das kom­mentiert der Sub­comandante Marcos, der einzige Subcoman­dante der EZLN, so:

“Ich las, daß es eine Sub­comandante Elisa, einen Subco­mandante Daniel, einen Subco­mandante Genaro und einen Subcomandante Eduardo gibt. Daher habe ich folgen­den Be­schluß gefaßt: Wenn die PGR (Generalstaatsanwaltschaft) noch mehr Subcomandantes hervor­bringt, werde ich in den Hunger­streik treten.”
So heiter die in den letzten Wochen vom Sub geschrie­benen, mit Gedichten von Pablo Ne­ruda, Federico Garcia Llorca, Shakespeare und anderen ge­würzten Briefe auch erscheinen, die Lage ist verdammt ernst.
Frank Kreuzer

Dringend werden Spenden für den Kauf von Werkzeugen, Me­dikamenten, Kleidung und Nah­rungsmitteln benötigt. Weiterhin ist von vielen Comunidades die Präsenz von internationalen Be­obachterInnen erbeten worden, um Übergriffe des Militärs auf die Zivilbevölkerung zu verhin­dern.
Insgesamt sind bisher neun­zehn

“Wenn Mexiko frei sein wird…”

Ejército Zapatista de Liberación Nacional, México, 17.03.1995
An die Männer und Frauen, die in verschie­denen Sprachen und Wegen an eine menschlichere Zukunft glauben und dafür kämpfen, sie heute zu erreichen:
… Und hinter den Kampfpanzern der Regierung kam die Prostitution, der Schnaps, der Raub, die Drogen, die Zerstörung, der Tod, die Korruption, die Krankheit, die Armut, und es kamen Leute der Regierung und sagten, daß die Legalität wieder­hergestellt sei auf chiapanekischem Boden, und sie kamen mit kugelsicheren Westen und Panzern, und sie waren einige Minuten da und wurden nicht müde, noch mehr Reden zu halten vor den Häh­nen, Hühnern und Schweinen und Hunden und Kühen und Pferden und einer verlorengegangenen Katze. Und so machte es die Regierung, und ihr wißt es ja am besten, weil es viele JournalistInnen gesehen und publiziert haben, und das ist jetzt die Legalität, die unser Land regiert. Und so war der Krieg für “Legalität” und “Nationale Souveräni­tät”, den die Regierung gegen die chiapanekischen Indígenas führt. Auch gegen die anderen Mexika­nerInnen führt die Regierung Krieg, nicht mit Panzern und Flugzeugen, sondern mit einem öko­nomischen Programm, das sie genauso umbringen wird, nur viel langsamer …
Und jetzt erinnere ich mich, daß ich das alles am 17. März aufschreibe, dem Tag von San Patri­cio, der in diesem Mexiko im vergangenen Jahr­hundert kämpfte, gegen das Imperium der Stars and Stripes; es war eine Gruppe von Sol­daten ver­schiedener Nationalitäten, die auf seiten der Me­xikanerInnen kämpfte und die sich Batail­lon San Patricio nannte; und deshalb sag­ten die compañe­ros “Hör mal, es wäre gut, wenn du den Brüdern und Schwestern der anderen Län­der schreiben und ihnen danken würdest, weil sie den Krieg aufge­halten haben” … Und so schreibe ich ihnen im Namen aller compañeros und com­pañeras, weil wir klar gesehen haben, daß es, wie im Bataillon San Patricio, Fremde gibt, die Mexiko mehr lie­ben als einige, die heute in der Regierung und morgen im Gefängnis sitzen, oder im physischen Exil, denn mit dem Herzen sind sie schon längst draußen … Und wir wissen, daß es Demonstratio­nen und Treffen und Briefe und Ge­dichte und Lieder und Filme und andere Sachen gab, damit es keinen Krieg in Chiapas gibt, dem Teil Mexikos, in dem wir leben und sterben. … Und so haben wir gesehen, daß es gute Menschen in vielen Teilen der Welt gibt und daß diese Men­schen näher an Mexiko leben als die in Los Pinos, dem Regie­rungssitz dieses Landes.
Unser Gesetz ließ Bücher, Medikamente, La­chen, Süßigkeiten und Spielzeuge blühen. Ihr Ge­setz, das der Mächtigen, kam ohne irgendein Ar­gument, außer dem der Gewalt, und zerstörte Bi­bliotheken, Kliniken und Krankenhäuser, brachte Traurigkeit und Verbitterung über unsere Leute. Und wir glauben, daß eine Legalität, die das Be­wußtsein, die Gesundheit und Freude zerstört, eine sehr kleine Legalität für so große Männer und Frauen ist, und daß unser Gesetz unendlich besser ist als das Gesetz dieser Herren, die mit ausländi­scher Affinität sagen, daß sie uns re­gieren.
Und wir wollen Euch allen danken. Und wenn wir eine Blume hätten, würden wir sie schenken, und weil wir nicht ausreichend Blumen für jeden und jede haben, reicht eine aus, die unter alle ver­teilt wird, und alle bewahren ein Stückchen auf, und wenn sie alt sind, werden sie den Kindern und Jugendlichen ihres Landes berichten: “Am Ende des 20. Jahrhunderts habe ich für Mexiko ge­kämpft, und seitdem war ich mit ihnen zusammen, und ich weiß nur, daß sie das wollten, was alle menschlichen Wesen wollen, die nicht vergessen haben, daß sie menschliche Wesen sind, und was Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit bedeuten, und ich kannte nicht ihre Gesichter, aber ihre Her­zen, und sie waren unseren gleich.” Und, wenn Mexiko frei sein wird (nicht glücklich oder per­fekt, einfach nur frei, den eigenen Weg zu wählen und Fehler zu machen), dann auch ein kleines Stückchen von Euch, das, was auf der Höhe der Brust ist und auf Grund der politischen Verwick­lungen ein bißchen nach links gerutscht ist; Me­xiko, diese sechs Buchstaben wollen Würde aus­drücken, und daher wird die Blume für alle sein oder gar nicht …
Aus den Bergen des mexikanischen Südostens.
Subcomandante Insurgente Marcos

Ein Feldzug auf Wall Streets Geheiß?

Die Chase Bank gibt sich nicht der Illu­sion hin, daß die ZapatistInnen die allei­nige Ursache für den Peso-Crash vom De­zember sind. Der Zusammenbruch der mexikanischen Wirtschaft wurde durch die Überbewertung des Pesos verursacht, und dies hatte es US-InvestorInnen – wie z.B. der Chase Bank selbst – ermöglicht, mexikanische Schatzbriefe totzuspekulie­ren und dann in sichere US-Dollars anzu­legen.
Ein Jahr NAFTA – Wall Street ist verschnupft
Die gesamte US-Finanz und das Lager der PolitstrategInnen befürchten jetzt, daß eine von dem Neuling Ernesto Zedillo ge­führte mexikanische Regierung – anders als der alte Vertraute Washingtons, Ex-Präsident Carlos Salinas – ins Wanken ge­raten wird, im Konflikt mit den Zapatistas Zeit gewinnen will und versuchen wird, die Unzufriedenen im Lande zu besänfti­gen. Aber jede Art von Beschwichti­gungspolitik gegenüber einer schäumen­den Öffentlichkeit wird den InvestorInnen sicherlich nicht gefallen. Die ökonomi­sche Sicherheit, die ihnen gewährt wurde, war ein Eckpfeiler der NAFTA-Vereinba­rungen.
Für die Regierung besteht die Notwen­digkeit, mit Subcommandante Marcos und seinen GenossInnen Schluß zu machen. Die Chase Bank drückt dies so aus: “Während unserer Meinung nach Chiapas keine fundamentale Bedrohung der politi­schen Stabilität in Mexiko darstellt, wird es als eben solche von einer Vielzahl von InvestorInnen wahrgenommen”.
Die Option einer Lösung des Chiapas-Konfliktes am Verhandlungstisch wird von der Chase Bank heruntergespielt: “Es ist schwer vorstellbar, daß die gegenwär­tigen Umstände eine friedliche Lösung zulassen würden”. Zedillo wird nicht in der Lage sein, das Vertrauen der Zapa­tistInnen und ihrer AnhängerInnen zu er­langen, da “die Währungskrise alle ver­fügbaren Ressourcen für ökonomische und soziale Reformen begrenzt”. Mit an­deren Worten: Die ausländischen Investo­rInnen haben ein Vorrecht auf die schwin­denden Reserven der mexikanischen Staatskasse; für die Anti-Armut Pro­gramme, die Zedillo für Chiapas verspro­chen hatte, bleibt dann nichts mehr übrig.
Riordan Roett – ein Mann sieht Krieg
Autor des Memos, das aus der Markter­schließungsabteilung der Chase Bank stammt, ist ihr Berater Riordan Roett. Als ehemaliger Leiter der Lateinamerika-Stu­dien an der John Hopkins School of Ad­vanced International Studies, ist er beur­laubt. Roett soll besonders verbittert über die Vorfälle südlich des Rio Grande ge­wesen sein: hatte er doch leitenden Be­amten der Chase Bank versichert, daß auf Zedillo – seinem langjährigen Ge­sprächs­part­ner – Verlaß sei, wenn es um die In­teressen der ausländischen Inve­storInnen gehe. Beruhigt hatte die Chase Bank dar­aufhin ihre Investitionen in Me­xiko er­höht. Als ein riesiges Handelsdefi­zit Ze­dillo zwang, den Peso abzuwerten, er­wischte es die Chase eiskalt.
Eine harte Gangart der mexikanischen Regierung fordert Roett auch bei anderen Schwierigkeiten, die dieser Regierung ins Haus stehen. Bei den in fünf Bundesstaa­ten für dieses Jahr vorgese­henen Wahlen hat die in Mexiko regie­rende PRI nur dü­stere Aussichten. Roett schlägt vor, die PRI solle sich Wahler­folge auf anderem Wege sichern. “Die Regierung Zedillo muß sorgfältig prüfen, ob sie von der Op­position fair an den Ur­nen erzielte Wahl­siege zuläßt oder nicht.” Weiter schreibt er: “Korrekt erzielte Wahlerfolge der Op­position nicht anzuer­kennen, wäre ein ernsthafter Rückschlag in Zedillos Strate­gie der Wahlrechtsre­form. Ein Verlust der PRI-Kontrolle würde aber das Risiko ei­ner Spaltung der Partei in sich bergen.”
Roett hat in Washington an allen Lobby-Fäden gezogen, um Unterstützung für seine Politik der “verbrannten Erde” in Mexiko zu erhalten. Er forderte den Kon­greß auf, Clintons 40 Milliarden Spritze aus Geldern der Chase Bank und anderen InvestorInnen schnellstens zu bewilligen. Clinton selbst griff angesichts einer siche­ren Niederlage im Kongreß zur Präsidial­macht und drückte sein Paket ge­gen den Willen des Kongresses durch.
Roett’s Strategie ist die des Lobbyisten: Er versorgte Bob Dole, den einflußreichen Sprecher der Republikaner im Senat mit ausgewählten Informationen, sprach vor dem Richtlinienausschuß des Senats und er beriet Beamte des Außenministeriums. Am 11. Januar 1995 sprach er vor mehre­ren hundert Führungskräften aus Politik und Wirtschaft auf einem vom Center for Strategic and International Studies (CSIS) organisierten Seminar.
Ein Seminar wird zum Fanfarenstoß
Bei dieser Gelegenheit soll Roett am Rande der Hysterie gewesen sein. Kunden würden ihn permanent fragen – so Roett -, warum die mexikanische Regierung die ZapatistInnen nicht unter Kontrolle be­kommt. Roett meinte, aus der Sicht der InvestorInnen sei es wichtig, das Thema Chiapas so schnell wie möglich abzuha­ken. Er räumte dabei ein, sein Aufruf zum Krieg, sollte Zedillo sich danach richten, könne negative internationale Auswirkun­gen haben. Aber bei kühnen Taten fielen immer politische Kosten an.
Die Ausführungen von Roett fanden geneigte ZuhörerInnen. Die Kolumnistin Georgie Anne Geyer schrieb wenige Tage später in einem Artikel: “Niemand auf diesem Seminar hat die mexikanische Si­tuation besser erklärt als Roett.” Die an­wesenden Fachleute und Finanzmanager­Innen – so die Kolumnistin – schienen sich einig, daß die ZapatistInnen zwar nicht für eine breite Revolte in ganz Mexiko stün­den, sie aber der entscheidende Indikator, der Lack­mustest für die Stabilität in Mexiko seien.
Dalal Baer, der Moderator der Veran­staltung, dankte Roett für seine Ausfüh­rungen und beklagte das “mexikanische Dilemma” zutiefst. Die mexikanische Re­gierung stehe unter dem Druck, daß politi­sche System öffnen zu müssen. Die Fi­nanzmärkte reagierten auf eine solche Zu­nahme der Demokratie nicht unbedingt positiv, da diese oft auch eine Zunahme an Instabilität nach sich ziehe, so Baer.
Auf dem Seminar forderte David Mal­pass, Direktor eines großen Finanzunter­nehmens, von Zedillo im Austausch für die von der US-Regierung organisierte Milliardenhilfe, eine Beruhigung der aus­ländischen InvestorInnen durch eine “gigantische Wiederherstellung des Ver­trauens”. So schlugen Malpass und andere zum Beispiel weitere Privatisierungen vor, AusländerInnen sollten auch zu 100 Pro­zent Banken besitzen dürfen. Die Öffnung der mexikanischen Ölindustrie war ein weiterer Vorschlag.
Zedillo und die Mehrheit der PRI lehn­ten die “finale” Lösung des Riordan Roett zu diesem Zeitpunkt offiziell noch ab. Ein Beamter des mexikanischen Innenministe­riums, der auch am Seminar teilnahm, be­zeichnete den Kriegsaufruf Roetts als “nicht statthaft”.
Aber mexikanischen Finanzlobbyisten dürfte es bei Roett’s Analyse wahrschein­lich warm ums Herz geworden sein. Denn am 18.Dezember des vergangenen Jahres hatten sich schon mexikanische Ge­schäftsleute mit Zedillo getroffen, um von der neuen Regierung eine Offensive in Chiapas zu fordern.

Originaltitel: “Major U.S. Bank Urges Zapatista Wipe-Out: ‘A Litmus Test for Mexico’s Stability’, in:”Counterpunch”, Vol. 2. Nr. 3 vom 1. Februar 1995.

Memo der Chase Manhattan’s Emerging Markets Group

Zusammenfassung:
Die größte Bedrohung für die politische Stabilität Mexikos ist unseres Erachtens nach die augenblickliche Finanzkrise. So- lange die Regierung von Staatspräsident Ernesto Zedillo nicht geeignete Maßnah­men ergreift, den Peso zu stabilisieren und eine unkon­trollierte Inflation zu vermei­den, wird es fast unmöglich sein, sich Themen wie Chiapas oder der Justiz- und Wahlreform zu widmen. Eine Verlänge­rung der Krise mit ihren ne­gativen Aus­wirkungen auf den allgemeinen Lebens­standard wird vielmehr Arbeitskämpfe und soziale Unzufriedenheit provozieren.
Die Regierung Zedillo
Als Zedillo am 1. Dezember 1994 das Amt des mexikanischen Präsidenten an­trat, schien dies ein neues Kapitel auf dem Weg zur Modernisierung der mexikani­schen Poli­tik einzuläuten… Der neue Prä­sident forderte eine Reform des Justiz- und Wahlrecht und eine friedliche Lösung des ein Jahr alten Aufstandes im südlichen Bundesstaat Chiapas. Er betonte, wie wichtig die Transparenz von Regierungs­geschäften und die Erziehung und Ausbil­dung der mexikanischen Bevölkerung sei. Zedillos Kabinett, das sich aus den­selben Kreisen zusammensetzt wie das seines Vorgängers Salinas de Gortari, vermittelte den Eindruck von Kompetenz und Enga­gement… ( Chronologie der Peso-Krise) … Nur wenn die Regierung erfolgreich den Peso stabilisiert, ein sprunghaftes Anstei­gen der In­flation verhindert und das Vertrauen der Investoren zurückgewinnt, wird es unserer Mei­nung nach für Zedillo möglich sein, sich der Agenda von Re­formen zu widmen, die er am 1. Dezem­ber aufgestellt hatte. Es gibt drei Felder auf denen die augenblickliche Wäh­rungskrise die politische Stabilität in Mexiko untergraben kann. Das erste ist Chiapas, das zweite sind die kommenden Wahlen in den Bundesstaaten und das dritte die Gewerk­schaften, ihr Verhältnis zur Regierung und zur PRI.
1. Chiapas
Der Aufstand im südlichen Bundesstaat Chiapas ist jetzt ein Jahr alt und offen­sichtlich ist man noch immer keiner Lö­sung näher gekommen … Zwar neigt Ze­dillo zu einer fried­lichen Lösung des Patts in Chiapas auf dem diplomatischen Weg, aber es ist schwer vor­stellbar, daß die au­genblicklichen Umstände eine friedliche Lösung zulassen. Mehr noch: je mehr die Währungskrise die Regierung in ihren Vorhaben sozio-ökonomischer Refor­men beschränkt, desto schwieriger wird es für sie werden, breite Unterstützung für ihre Vorhaben in Chiapas zu gewinnen. Noch wichtiger: Marcos und seine Anhänger könnten beschließen, die Regierung mit einem Anstieg lokal begrenzter, gewalttä­tiger Aktionen in Verlegenheit zu bringen und die Regierung zu zwingen, den zapa­tistischen Forderungen nachzugeben, die eine politische Niederlage, die sie völlig bloßstellen würde mit, sich brächte.
Die Alternative ist eine militärische Offensive zur Niederschlagung des Auf­stands. Das hätte einen internationalen Auf­schrei zur Folge: Protest gegen den Einsatz von Gewalt und die Unter­drückung indígener Rechte. Wäh­rend un­serer Meinung nach Chiapas keine funda­men­tale Bedrohung der politischen Sta­bi­li­tät in Mexiko darstellt, wird es als eben so­lche von einer Vielzahl von Inve­storen wahr­genommen.
Die Regierung wird die Zapatisten aus­schal­ten (eliminate) müssen, um zu de­mon­strie­ren, wie wirksam ihre Kon­trolle über nationales Territorium und na­tionale Sicherheit ist.
2. Wahlen in den Bundesstaaten
Präsident Zedillo bekannte sich in sei­ner Ansprache zur Amtseinführung noch einmal zur Öffnung des parlamentarischen Systems auch für Oppositionsparteien. Das war in den vergangenen Jahren eines der Hauptthemen zwischen der PRI-domi­nierten Regierung ei­nerseits und der PAN und der PRD andererseits. Der konserva­tive Flügel der PRI bezog gegen eine po­litische Liberalisierung Position, während der Flügel um Zedillo die Öff­nung als un­vermeidlich und auch gerechtfertigt be­trachtete. Die augenblickliche Wäh­rungskrise wirft die Frage auf, ob Zedillo und die Reformer die Stärke haben wer­den, die Ergebnisse der Wahlen von 1995 zu respektieren. Die Konservativen wer­den behaupten, die Krise rechtfertige eine Fortsetzung der Einparteienherrschaft, selbst wenn dies nur durch Wahlbetrug möglich sei. Die Opposition, die ohnehin die Wahlsiege der PRI gene­rell anzwei­felt, … wird ermutigt werden, dies weiter zu tun. Zedillo wird vor einer schwierigen Situation stehen: Er muß die Konservati­ven seiner eigenen Partei neutralisie­ren und gleichzeitig sein Bekenntnis auf­rechterhalten, die Opposition auch gewin­nen zu lassen, wenn sie das legitim getan hat…
Die Regierung Zedillo muß sorgfältig prüfen, ob sie von der Opposition fair an den Urnen erzielte Wahlsiege zuläßt oder nicht.
Korrekt erzielte Wahlerfolge der Oppo­sition nicht anzuerkennen, wäre zwar ein ernst­hafter Rückschlag in Zedillos Strate­gie der Wahlrechtsreform. Ein Verlust der PRI-Kon­trolle würde aber das Risiko ei­ner Spaltung der Partei in sich bergen.
Wir glauben, daß die Fähigkeit der Re­gierung Zedillo, die inhärenten Konflikte in der Agenda der Wahlen von 1995 zu lösen, letztendlich entscheidend sein wird. Nämlich, ob es der Regierung gelingt, ihr Versprechen zu halten, die mexikanische Politik zu liberali­sieren.
3. Die Arbeiterbewegung
Die Arbeiterbewegung war über Jahr­zehnte das Rückgrat der PRI. Die Bereit­schaft der Arbeiterführung sich nach der PRI zu richten, war ein fundamentaler Be­standteil der Stabilität in Mexiko seit den 30er Jahren. Die augenblickliche Wäh­rungskrise droht diese Unterstützung we­gen den negativen Auswirkungen auf Le­bensstandard und Löhne zu unterlaufen. Der Wertverfall des Peso macht sich für den durchschnittlichen mexikani­schen Arbeiter schon beim Erwerb der Güter für den alltäglichen Bedarf heftig bemerkbar …Die starken, strukturellen Ver­knüpfungen zwischen Regierung und Ge­werk­schaften haben sich in den letzten Jahren abgeschwächt. Die Regierung hat zwar noch Einfluß, aber keine völlige Kon­trolle mehr. Wenn sich die Krise fort­setzen sollte, wären zwei Op­tionen für die Regierung denkbar: 1. sie weist die Forde­rung der Arbeiter nach mehr Lohn zurück – mit der Möglichkeit von Demonstratio­nen oder 2. sie gibt den Forderungen der Arbeiter nach und verschärft damit die ökonomische Krisensituation.
Schlußfolgerungen
Die mexikanische Währungskrise hat das Bekenntnis der Regierung Zedillos zu einer neuen Welle von Reformen überschattet – Reformen, die politische Verhandlungen zur Lösung der Chiapas-Krise und die Garantie fairer Wahlen auf Bundesstaats- und Ge­meindeebene ein­schlossen. Offen bleibt, ob die mexikani­sche Arbeiterklasse eine länger anhaltende Periode von Lohnverlust und sinkendem Lebensstandard akzeptieren wird. Diese sozialen und politischen Fragen, die für den Präsidenten eine hohe Priorität haben, werden unvermeidlich zurückgestellt wer­den, solange bis die ökonomische Situa­tion ge­klärt ist. Solange die Regierung Zedillos unfähig ist, den Peso zu stabili­sieren und Infla­tion zu vermeiden, läuft sie Gefahr mit sozialen und politischen Unruhen konfrontiert zu werden.

…und wieder herrscht Krieg

4./5. Februar 1995:
Treffen von ca. 2500 VertreterInnen linksgerichteter Bewegungen zum “Dritten Nationalen Demokratischen Kon­vent” in Querétaro/ Mittelmexiko. Es wur­de der Beschluß gefaßt, die Or­ganisa­ti­onsstrukturen der PRD zu nutzen, um durch deren Parteibasis eine “Nationale Be­freiungsbe­wegung” zu bilden, die einer po­litischen Opposi­tionsbewegung gleich­kommt, aber nicht den Status einer Partei hat. Die Forderungen nach einer Über­gangsregierung und der Abschaffung der PRI als Staatspartei wurden nochmals be­kräftigt.
8. Februar:
Razzien der Polizei in Mexiko-Stadt und Veracruz. Dabei wurden zwei Waf­fenarsenale entdeckt, die laut offiziellen Angaben Granatwaffen, Maschinen­gewehre, Handgranaten und Sprengstoff beinhalteten, laut inoffiziellen nur fünfzehn Waffen verschie­denen Kalibers und zwei Pistolen.
Verhaftungen mehrerer vermeintlicher Guerilla-FührerInnen, darunter Subcom­mandante Elisa, welche das Geheimnis des Subkommandante Marcos und anderer FührerInnen preisgegeben hätte. Elisa er­klärte später, sie sei unter Drohungen ge­zwungen worden, ein vorgefertigtes Ge­ständnis zu unter­schreiben.
9. Februar:
Fernsehansprache Zedil­los, in der die Polizei angewiesen wurde, fünf führende Personen der EZLN festzunehmen, unter ihnen Marcos, dessen Name Rafael Seba­stian Guillén Vicente sein soll.
Beginnende Offensive des Militärs ge­gen die Za­patisten; in einem Kom­munique wiederholen die Zapatisten ihr Dialogan­gebot.
10. Februar:
Etwa 2500 Soldaten der mexikanischen Armee mar­schieren in die von Za­patisten kontrollierten Gebiete ein, unterstützt durch hunderte Mili­tärfahrzeuge und Luft­einheiten. Ungefähr zwölf Orte wer­den durch Pan­zereinheiten besetzt.
Die Zapatisten zogen sich erstmal in unzu­gängliches Gebiet zurück, hunderte von Indígenas flohen aus Angst vor den Regierungstruppen.
11. Februar:
Massendemonstrationen in Mexiko-Stadt. An der größten, auf dem Zócalo, nahmen über 100 000 Per­sonen teil. Unter der Pa­role: “Wir sind alle Mar­cos”, for­derten sie ein sofortiges Ende des Krie­ges, die Freilassung aller bisherigen Gefange­nen und eine friedliche Lösung des chia­panekischen Konfliktes.
Bisherige Opfer seien offiziell ein ge­töteter ranghoher Soldat und ein Offizier des Regie­rungsheeres.
12. Februar:
Nach Angaben der EZLN wurden zwei Dörfer, Mo­relia und Las Guarrachas von vier Kampfhub­schrau­bern bombardiert. Die mexikanischen Behörden bestritten dies, gaben aber trotzdem durch das In­nenministerium bekannt, daß alle wichti­gen Po­sitionen in Chiapas wie­dererobert seien. Mili­tärsprecher sprachen von schweren Gefechten und einigen Toten auf beiden Seiten.
Währenddessen fanden Gouverneurs- und Kommu­nalwahlen im Bundesstaat Jalisco statt, bei denen die konservative Partei der Nationalen Aktion (PAN) die meisten Stimmen verbuchen konnte.
13. Februar:
Subcommandante Marcos meldet sich zurück und bestreitet die Enttarnung sei­ner Person durch die Regierung. Er be­hauptet, nicht Rafael Sebastian Guillén Vicente zu sein.
Inzwischen sind Tausende von Indí­genas auf der Flucht: Nationale Men­schenrechtskommissionen klagen schwere Verstöße gegen die Menschenrechte von seiten der Militärs an, es ist von Folterun­gen, Vergewaltigungen und Erschießun­gen die Rede.
Die guatemaltekische Armee verstärkt ihre Truppen auf 8000 Soldaten an der Grenze zu Chiapas, um Flüchtlingen die Ein­reise zu versperren.
14. Februar:
Der chiapanekische Gou­verneur Eduardo Robledo tritt zurück, formal bat er den Kongress um zeitweilige “Freistel­lung”. Zur selben Zeit verkündet Präsident Zedillo vor Vertretern von Indí­gena-Organisationen, daß es keine weite­ren Offensiven gegen die za­patistischen Gebiete mehr geben würde, sondern das Militär nur noch mit Pa­trouillen gegen Gewalt­taten eingesetzt würde.
16. Februar:
Amnesty international veröffentlicht eine Er­klärung, in der der me­xikanischen Armee schwere Vorwürfe wegen Men­schen­rechtsverletzungen gemacht werden. Mehrere dutzend Menschen seien will­kür­lich verhaftet und ge­foltert worden, ei­nige wären vermißt.
19. Februar:
Die dritte Großkundge­bung in einer Woche findet diesmal vor dem National­palast in Mexiko-Stadt statt. Wieder neh­men mehr als 100 000 Menschen daran teil. Verhandlungslösungen und der Rück­zug der Bun­desarmee werden gefordert.
Während der vergangenen Tage befin­den sich immer mehr Menschen aus chia­panekischen Dörfern auf der Flucht (siehe aus­führlichen Artikel in dieser Ausgabe), die zu­rückgelassenen Dörfer gleichen Geisterorten.
Die Zapatisten fordern ebenfalls den Rückzug der Bundesarmee, als Grund­vor­aussetzung für den Dialog.

Exodus in der Selva Lacandona

Die BewohnerInnen von Morelia, ei­nem Dorf unmittelbar hinter der letzten Militärsperre, wurden von einem Angriff im Morgengrauen überrascht. Alle 1300 BewohnerInnen und dort arbeitende Ärzte und LehrerInnen flohen vor den vorrük­kenden Panzern. Ohne ausreichende Klei­dung und nicht genügenden Nahrungs­mitteln versuchten sie Schutz vor den Bomben und MP-Salven in den Bergen zu suchen.
Die Erinnerungen an den Überfall der Bundesarmee am 7. Januar 1994 sind noch präsent. Damals sind EinwohnerIn­nen gefoltert und verschleppt worden, ein Dorfmitglied ist seitdem verschwunden.
Um das nackte Leben zu retten verstek­ken sich inzwischen über 6000 Menschen in den Wäldern. Ohne Kleidung und Dek­ken, der Kälte ausgeliefert, ohne Nah­rungsmittel, durch Unterernährung ge­schwächt und durch verschmutztes Was­ser erkrankt, harren sie aus, eingeschüch­tert durch Tiefflüge der Luftwaffe. Ihre Dörfer wurden von den Armeen geplün­dert, die Schule und Bibliothek in Morelia abgebrannt. In Lazare Cardenas, einem anderen Dorf aus dem die Menschen flo­hen, blieben drei Menschen zurück, die drei Tage von der Armee gefesselt und ohne Nahrung verhört wurden.
Unter den Flüchtlingen grassieren Durchfallerkrankungen, Tuberkulose, Fie­ber und Cholera. Medizinische Versor­gung gibt es nicht.
In der Nähe von Guadalupe Tepeyac sind ebenfalls nur noch verwaiste, von der Armee besetzte Orte zu finden. Das Dorf ist am 9. Februar von 2300 Fall­schirm­jägern überfallen worden. Die Dörfer sind von der Armee zu Festungen ausgebaut worden. In Morelia sind Inzwi­schen 800 Sol­daten mit Panzern vor Ort.
Die Flüchtlinge rufen in einem Appell zu sofortigen internationalen Hilfsmaßnah­men auf. Die Offensive geht weiter. Allen Versprechungen zum trotz rückt die Ar­mee, vor allem mit Panzereinheiten, weiter vor. Die EZLN soll in Kämpfe ver­wickelt werden. Bisher hat sie ihre Trup­pen allerdings angewiesen, diese zu ver­mei­den und sich zurückzuziehen.
Insgesamt liegen 2700 Haftbefehle ge­gen vermeintliche Zapatisten vor.

“Wir schaffen eine neue Realität”

In dieser Zone, in der die Zapatistische Befrei­ungsarmee EZLN militärisch nicht präsent ist, haben Campesino-Organisa­tionen ver­schiedenster politischer Rich­tungen zahlreiche Län­dereien von Groß­grundbesitzern besetzt, um dem histori­schen Ruf der landlosen Bauern nach Grund und Boden Gel­tung zu verschaffen. Eine dieser Organisatio­nen ist die “Unión de Campesinos y Po­pular Francisco Villa”, die in 14 Gemein­den der Region Fraylesca aktiv ist. Trotz mehrerer be­waffneter Räumungsversuche durch von Großgrundbesitzern aufgestellte Söldner­truppen sogenannte Guardias Blancas befinden sich weiterhin 9 Fincas unter Kontrolle der Villisten. Als erstem interna­tionalen Jour­nalisten wurde mir am 1. Februar 1995 ein Besuch der seit dem 4. August letzten Jah­res besetzten Finca Liquidambar gestattet.
“Wir sind keine Guerilla, sondern eine Campesino-Organisation, die einen unbe­waffneten Kampf für ein menschenwürdi­ges Leben auf eigenem Land führt”, er­klärte Eduardo, Füh­rungsmitglied der UCPFV auf unserem Rundgang auf der Finca. “Vielleicht werden wir ökonomisch nicht besser leben, aber in Würde. Sie nannten uns dreckige Indianer. Mit diesen Beleidi­gungen ist jetzt Schluß.” Unser er­ster Weg führt uns in das Verwaltungsge­bäude, wo ich auf Relikte bekannter und vermeintlich vergangener Zeiten treffe: Eine Wehrmachtsurkunde an der Wand, eine Bismarckbüste auf dem Schrank. Im Bücherregal entdecke ich neben “Die Schlacht von Stalingrad” und Berichten über das “Schicksal der 6. Armee” auch ein Werk des US-amerikanischen Ethno­logen Oscar Lewis ” Zeugnisse von armen Mexika­nern”. An der Zahlstelle, wo sich die KaffeepflanzerInnen ihren kargen Lohn ab­holten, prangt ein Aufkleber, der zy­nischer kaum sein kann: “Dinero en ma­nos del pobre”, übersetzt: “Geld in Hän­den der Armen – armes Geld.”
Billardtisch und Hausbar
Auf einer Anhöhe, mit Blick über die mindestens 2.000 Hektar umfas­sende Kaf­feeplantage, steht das Haus der Ex-Besit­zerInnen. Die Villa “der Rei­chen”, wie die deut­schen Finqueros hier genannt werden, ist von einem Blumengarten umgeben. Hier residierte das Ehepaar Margarita Schimpf und Laurenz Hulders mit ihrem Sohn, bis sie am 4. August letzten Jahres ange­sichts der rebellierenden Cam­pe­sinos/as fluchtartig Liquidambar ver­ließen. “Wenn die Rei­chen in ihr Haus wol­len, können sie kommen und mit uns le­ben. Aber sie wer­den nicht mehr Land er­halten als wir alle.” Eduardo begleitet mich ins Innere des leerstehenden Ge­bäudes, dessen luxuriöse Ausstattung den Villistas am Tag der Be­setzung die Sprache verschlug: Billard-Salon, Bo­dybuilding-Center, Hausbar, Weinkel­ler. “Die Getränke, vor allem Cham­pagner und französische Weine, wur­den nach der Besetzung ausgetrunken. Aber jetzt ist auf unserer Finca Alko­holverbot” erklärt Eduardo, “da das Geld der Familien für wichtigere Dinge ausge­geben werden soll.” Vorbei an zwei Swimming-Pools verlassen wir den Herr­schaftssitz und betreten die Sied­lung der Finca. Während in den weni­gen Steinhäu­sern die Verwalter lebten, waren die Kaf­fee­pflückerInnen, in der Ern­tezeit etwa 2000 Per­sonen, in Baracken untergebracht. “Hühnerställe” wurden diese etwa 120 Quadratmeter großen Holzbauten genannt, in denen ca. 100 Menschen monatelang “wohnten”. Bis vor einem halben Jahr wa­ren hier die Zustände Wirklichkeit, die B. Traven in seinem Buch “Die Rebellion der Ge­henkten” beschreibt. Neben der klei­nen Kapelle, im Zentrum der Siedlung, befand sich die “Tienda de Raya”. In diesem La­den konnten die Campesinos ihre Fichas, statt Geld für die gelei­stete Arbeit ausge­gebene Wertmarken, gegen Kleidung, Werkzeuge und billi­gen Fusel eintau­schen. Für den Ar­beitstag, der von 5 bis 20 Uhr dauerte, erhielten die Kaffeear­beiterInnen Marken im Gegenwert von 8 Pesos, die Frauen unter ihnen weniger. Das portionierte Es­sen – Tor­tillas, Bohnen und Kaffee – wurde vom Lohn abgezogen. Medizini­sche Versor­gung gab es in Liquidambar für die Peones nicht. Allerdings konnten die­jenigen, die in der Nähe über eine kleine Parzelle Land verfügten, Kredite für den Kauf der Medikamente bei den Finca-Be­sitzerInnen aufnehmen. Als Gegen­leistung mußten den Deutschen die Be­sitztitel über­lassen werden. Durch diese Methode haben sich über die Hälfte der BewohnerInnen des in der Nähe von Li­quidambar gelegenen Ortes Nueva Pale­stina verschuldet. Was mit den Menschen passierte, die über keine “Reserven” ver­fügten, läßt ein im Wald der Finca ange­legter Friedhof vermuten. Holzkreuze ohne Namen und ohne Daten symbolisie­ren das Ende der Leidenswege zerschun­dener TagelöhnerInnen. Eduardo erklärt: “Hier sind diejenigen begraben, die ohne Fami­lien gekommen waren, zum Großteil Guatemalteken, Nicaraguaner und Salva­dorianer. Diesen illegalen Wanderarbei­tern wurden bei Arbeits­beginn von den Verwaltern die Papiere abgenommen, um Auflehnungen, vor allem gegen Betrug bei den Lohnzah­lungen, vorzubeugen.” Falls es doch zu Protesten gegen die Verhält­nisse kam, oftmals am arbeitsfreien Sonn­tag, wenn die Campesinos ihr Leid im Suff er­tränkten, wurden sie von Auf­pas­sern in das Gefängnis der Finca ge­worfen. Die folgende Geldstrafe wurde vom Lohn abgezogen. Diese Zustände sind jetzt vorbei.
Arbeit unter Selbstverwaltung
Es ist Abend geworden, die Kaffee­pflückerInnen bringen die Bohnen von den Feldern. Zum ersten Mal in ihrem Le­ben arbeiten die Menschen in Li­quidambar unter Selbstverwaltung. Die Ernte ist gut und der Kaffeepreis ge­stiegen. Während der Tageslohn vor der Besetzung bei 8 Pesos lag, werden jetzt zwischen 60 und 100 Pesos (ca. 12 bis 20 US-Dollar) ausgezahlt, je nach gepflück­ter Menge Kaffee. Da die Produktionsan­lage nicht wie in vielen anderen Fincas von den Ex-Be­sitzerInnen sabotiert wurde, läuft der Wasch- und Troc­knungs­vor­gang relativ reibungslos. Auch beim Ver­kauf des zum größten Teil organischen Kaffees gibt es keine Probleme – nicht mehr. Die Boykottversuche der Groß­grund­be­sitzer sind in dieser Region ge­schei­tert, da sich die Kaffee-Aufkäufer das lukrative Ge­schäft nicht entgehen las­sen wollen. Al­lerdings werden die Vil­listas in Liquidam­bar höchstens die Hälfte des reifen Kaf­fees ernten kön­nen. Das liegt vor allem daran, daß es die UCPFV ablehnt, fremde Leute einzustellen. Eduardo: “In den von uns besetzten Fincas sind die Arbeits- und Le­bens­formen unterschiedlich. Hier in Li­qui­dam­bar wird alles kollektiv ver­waltet und be­arbeitet. Alle Menschen, die hier arbeiten, sind Mitglieder der Kooperative. Wir be­zahlen uns, Män­nern und Frauen, die glei­chen Löhne, das Essen ist für alle um­sonst, und die Häuser – die Baracken wer­den nicht bewohnt – stehen den Fami­lien zur Verfügung.”
Nach eigenen Angaben sind über 1000 Familien in der UCPFV organi­siert, über­wiegend in der Region Fraylesca. Die UCPFV existiert seit über vier Jahren, ist je­doch erst bei den Besetzungen von Li­quidambar am 4. August und Prusia am 7. September letzten Jahres öffentlich unter diesem Namen aufgetreten. Eduardo: “Un­se­re ersten Aktionen waren die Beset­zungen der Fincas Salvador Urbina und Agua Piedra Blanca am 16. Februar 1991. In den folgenden drei Jahren, wir nennen sie Etappe des Widerstandes und der Rei­fung, mußten wir lernen, mit für uns neuen Situationen fertigzuwerden. Räu­mungen, Festnahmen, Morde an unseren Mitgliedern durch Guardias Blancas, Wie­derbesetzungen wechsel­ten einander ab. In dieser Region ist die Repression ge­gen sich organisie­rende Campesinos/as durch die traditio­nell enge Verflechtung von Groß­grundbesitzerInnen, Poli­tikerIn­nen der seit über 60 Jahren regierenden PRI und dem Polizeiapparat besonders aus­geprägt. So wurden am 5. September Roberto H. Pa­niagua, ein für die Interessen der Campesinos/as ein-ge­tre­tener Politiker der PRD, und am 30. Oktober 1994 ein Mit­glied der UCPFV von Pistoleros der Fin­queros ermordet. Eduardo: “Wir schaffen eine neue Realität, ge­gen die Unterdrük­kung durch Guardias Blancas und Polizei. Dabei können wir nur auf unsere eigene Stärke, die un­bewaffnete Organisierung, ver­trauen.” Die blutigen Erfahrungen, die die Vil­listas machen mußten, erschweren die von ihnen angestrebten Legalisierun­gen der besetzten Fincas. Das Mißtrauen gegenüber den staatlichen Stellen sitzt tief. Ein nicht genauer definiertes An­gebot des Gouverneurs, ihnen im Tausch gegen Liquidambar 1500 Hektar Land in einem anderen Land­kreis zur Verfügung zu stel­len, lehnte die UCPFV ab. Eduardo: “Wir wissen nicht, wo diese 1500 Hektar sein sol­len. Dieses zu akzeptieren hieße, das Land den dortigen Campesinos wegzu­nehmen. Wir wollen keine andere Finca, sondern das Land, das seit Generationen von uns bearbeitet wird.”
Die Mütze bleibt drüber
Die Zukunft der von der UCPFV be­setzten Finca ist ungewiß. Der Bruch des mit der EZLN ausgehan­delten Waffen­stillstandes durch die mexikanische Regie­rung läßt auch ein gewaltsames Vorgehen gegen die rund 700 in Chiapas enteigneten Ländereien befürchten. Verschiedene Groß­grund­besitzervereinigungen haben die Exi­stenz einer 700 Mann starken Ar­mee von Guardias Blancas bestätigt. Jorge Constantino Kanter, Präsident der re­gionalen Landbesitzerunion, wurde am 30. Januar auf einer Pressekonferenz deutlich: “Wenn in 30 Tagen die be­setzten Fincas nicht geräumt sind, werden wir selber die Initiative ergrei­fen. Unsere Ak­tionen werden sich speziell gegen Führer von Campesino-Organisationen richten.” In der Region Freylesca operiert nach Presseangaben das Todesschwadron “Fren­te Tiburcio Fernandez”, benannt nach dem An­führer der Konterrevolution in dieser Region während der 20er Jahre. An­gesichts dieser Bedrohungen ist es ver­ständlich, daß die Villistas weder ihre Namen nennen, noch sich ohne Gesichts­schutz fotografieren lassen.

Jenseits von Chiapas…?

Während diesseits und jenseits des “gran charco” mit einer gewissen Eupho­rie über die Möglichkeit der Bildung eines me­xikoweiten zapatistisch-cardenistischen Bünd­nisses namens Mo­vimiento de Libe­ra­ción Nacional (MLN) angeregt debat­tiert wurde, beraten UnterhändlerInnen zwi­schen Weißem Haus, Wall Street und Los Pinos (dem Amtssitz des Präsidenten Zedillo) ebenfalls zeitgleich die letzten Be­dingungen und Details. Dabei ging es nicht nur um den milliardenschweren transnationalen Dollarkredit für Mexiko, sondern auch um den Frontalangriff auf das EZLN und die mit ihm “sym­pa­thi­sie­ren­de” Zivilgesell­schaft.
Im Nachhinein gesehen liegt die Be­deu­tung des Hamburger Treffens dennoch da­rin, zum einen ein Resümee der politi­schen und wirtschaftlichen Situation Me­xi­kos zu ziehen, ein Jahr nach dem “Wie­der­eintritt der Gesichtslosen, der ewig Toten in die Geschichte”, dem öf­fent­lichen Erscheinen des EZLN. Und zum an­de­ren bot das Wochenende die Gele­gen­heit, das eigene Enga­gement und die ei­ge­ne Solidarität mit einer neuartigen, zumin­dest ungewöhnlichen und vielfach mittels “Marcos-Folklore” schon wieder refunktionalisierten Bewegung zu reflek­tieren. Dem Europa-Vertreter der CND, Alejandro de la Paz, gelang es im Verlauf des Treffens, die beiden Diskussions­stränge – das schlichte Bedürfnis zu be­greifen, “qué chingaos está pasando en México”, und den Wunsch nach einer ei­ge­nen Standortbe­stimmung gegenüber dem “Phä­nomen EZLN” – aufeinander zu be­ziehen. Denn wie Alejandro aus eigener Erfahrung zeigte, steht die von den zen­tral­amerikanischen Guerri­lla­bewegungen der siebziger und achtziger Jahre stark ge­prägte bundesdeut­sche Soliszene ähnlich wie die mexikanische Zivilgesellschaft zu­nächst perplex vor einer bewaffneten Cam­pe­sino-Bewegung, die weder Avant­garde-Ansprüche hat noch bereit ist, einen heroi­schen Stellvertreterkrieg für ganz Mexiko zu führen. Stattdes­sen zwingt sie die vielfältigsten Bewegungen, Organisa­tionen, Parteien und Grüppchen dazu, ihre Einzelforderungen, Alternativen und Uto­pien in ein gemeinsames, aber plurales “neues Projekt der Nation” einzubringen.
Wie soll die Unterstützung einer Bewe­gung aussehen, die versucht, sich jeglicher Form von Globalisierung zu entziehen? Was heißt “internationale Solidarität” im Kontext von Regional­autonomie, von An­erkennung kommunaler Souveränität? Auf dem Hamburger Treffen gab es nur zag­hafte Andeutungen möglicher Antworten: Auf die Globalisierung und Transnationa­lisierung von Machtstrukturen soll mit dem Aufbau eines transnationalen Austau­sches vergangener und gegenwärtig prak­tizierter Erfah­rungen, mit Strategien des Widerstands, der “Demokratisierung von unten”, des Er-Lebens von Autonomie reagiert werden. Jenseits des Scheiterns oder Erfolgs der CND beginnt Alejandro zufolge ein derartiger, spannungsreicher und auch wider­sprüchlicher Austausch im Rahmen der verschiedensten lokalen, re­gionalen und mexikoweiten Treffen. Der Austausch von Mit­gliederInnen der Frau­enbewegung, der Slum- und Stadtteili­nitiativen, der LehrerInnen- und Student­Innenbewegungen so­wie nicht zuletzt der Campesino- und Indígena-Organisationen ist nun eingeleitet worden. Das Engage­ment bundesdeutscher Gruppen sollte sei­ner Ansicht nach diese Art der Zu­sam­men­ar­beit aufgreifen durch unter­schied­lichste Lernformen der Stif­tung von Partner­schaften zwischen Gemeinden, Schu­len, Orga­nisationen etc. sowie durch das wechselseitige Schaffen von Gegenöf­fentlichkeiten bereichern. Dies würde es den verschie­denen sozialen Bewegungen ge­statten, mittels Blick über den sprich­wörtlichen Tellerrand die eigene Isolation zu überwinden und ihren spezifischen Kampf in einen allgemeineren Kontext zu stellen.
Ein konkretes Ergebnis des Hamburger Mexiko-Treffens ist der Aufbau eines di­rekten Kontakts zwischen den bundes­deut­schen Gruppen und der CND sowie der oppositionellen, von Amado Aven­daño koordinierten chiapanekischen “Über­gangs­regierung im Widerstand”. Über dieses neue Netz sollen unterschied­liche Aktionen in verschiedenen Städten or­ganisiert werden, bei denen vor allem eine engere Zusam­menarbeit mit den hier (noch existierenden) sozialen Bewegun­gen gesucht wird. Begünstigt wird diese Zusammenarbeit durch die Heterogenität der in Hamburg anwesenden Gruppen: Zu routinierten “Profis” der internationalisti­schen Szene und Gruppen, die aus kir­chenbewegten oder akademischen Kon­tex­ten stammen und oft zu eher theo­re­tischem Debattieren neigen, treten eher stadt­teilbezogene und aus der ei­genen konkreten Lebenswelt heraus enga­gierte Gruppen. Für diese sind Kon­zep­te wie Autonomie nicht bloßer Diskus­sions­stoff, sondern vielmehr Alltags­praxis. Ob sich aus einem derart hete­rogenen Spek­trum von Gruppen neue und ef­fek­tive Ak­tions­formen ent­wickeln las­sen, muß jetzt der Kampf gegen die von den Gläubi­gerbanken “transnatio­nali­sier­te” militä­rische Repression der mexika­ni­schen Demo­kratiebewegung zeigen.

“Anatomie einer Niederlage”

LN: Beim Anschauen des Films stellt sich der Eindruck ein, als hätte sich Che Guevara von vornherein auf ein recht aussichtsloses Unternehmen eingelassen. Ist das so gewollt?
Richard Dindo: Der Che war Südame­rikaner, Argentinier, ein von Natur aus sehr generöser und optimistischer Mensch, sehr zukunftsgläubig, überzeugt, daß die Geschichte den Völkern gehört und daß der Sozialismus unumgänglich ist in den Ländern der Dritten Welt. Seine Strategie war, in Bolivien eine kontinen­tale Revolution anzufangen. Sein eigentli­cher Traum war, in seinem Heimatland Argentinien eine Revolution zu machen. Alle diese Dinge hat er in einem sehr großen Zeitrahmen gesehen, auf Jahre hinaus, vielleicht sogar Jahrzehnte. Und er hatte den Eindruck, daß er hier nur einen Anfang macht, und daß er vielleicht hier auch sterben wird. Er war jemand, der im­mer wieder auch mit dem Tod rechnete. Sei­ne Energie, seinen eisernen Willen, hat er auch bekommen durch den jahrelangen täglichen Kampf gegen sein Asthma, das dann ja auch wieder dramatisch wurde während der Kämpfe in Bolivien, als er keine Medikamente mehr hatte und immer kranker wurde.
Die Situation wurde nach und nach immer verzweifelter, aber Che selbst hat immer und bis zum Schluß seinen Opti­mismus behalten. Er hat noch einen Tag vor seiner Verhaftung von der idyllischen Atmosphäre geschrieben, in der sie ge­frühstückt haben.
Nun hat Che Guevara sich aber in den Tagebüchern sehr verzweifelt und frustriert über die Reaktion der bolivia­nischen Landbevölkerung geäußert. Die schien dem revolutionären Kampf ja eher gleichgültig oder gar ablehnend ge­genüberzustehen. War das Unternehmen ei­ne Kopfgeburt?
Ich muß wieder die Begriffe verzweifelt und frustriert ablehnen. Das sind deutsche Begriffe. Das hat mit Che Guevara nichts zu tun. Ich habe das Tagebuch dutzende­mal gelesen, weil ich für meinen Film Sät­ze auswählen mußte. Natürlich hat er fest­gestellt, die Bauern machen nicht mit. Das hat ihn nicht in Verzweiflung ge­stürzt. Er war viel zu zukunftsgläubig. Aber der Che hat­te überhaupt keine Mög­lichkeit, mit der Be­völkerung zu kommu­nizieren. Die Me­dien waren ihm völlig verschlossen, wur­den vollständig von der Armee und dem US-amerikanischen CIA kontrolliert. Nicht wie der Marcos, der heute über Fernsehen, Radio und Zeitun­gen ständig mit der Öffentlichkeit kom­muniziert. Das heißt, alles, was die Be­völkerung wußte von Che Guevaras Kampf, das wußten sie von der Armee, und die hat gesagt, das wä­ren alles Ver­brecher und Ausländer und Mörder und Vergewaltiger und Diebe usw.. Die Be­völkerung hatte geradezu Angst vor dieser Guerilla.
Natürlich, mein Film ist auch eine Ana­tomie einer Niederlage. Und durch dieses Sys­tematische, Unaufhörliche, Bild für Bild, Satz für Satz im Nachhinein er­zäh­len, kommt etwas Zwangsläufiges, Fatales in die Ereignisse. Im Nachhinein ist man im­mer schlauer, ist es einfacher, eine Ana­lyse zu machen. Aber an Ort und Stelle sind die Dinge immer komplizierter. Das hat man ja gesehen im Sozialismus. So­bald man die Geduld nicht hat, die es braucht, um diesen unglaublich komple­xen Apparat einer Gesellschaft in Bewe­gung zu setzen, dann kommt die Diktatur oder die Niederlage, eines von beidem. Im Sozialismus war es die Diktatur und bei Che war es die Niederlage.
Warum wurde der Film ausschließlich aus Che Guevaras Perspektive gedreht? Wa­rum hast du kein Feature gemacht, keinen analytischeren oder kritischeren Film?
Ich bin ein Geschichtenerzähler, ein Erinnerungsarbeiter, auch ein Trauerar­beiter. Ich wollte nicht analysieren, was er für Fehler gemacht hat. Ich mag nicht die­se Arroganz derjenigen, die alles im Nach­hinein wissen. Ich gehe eigentlich im­mer von der autobiographischen Mate­rie aus, das heißt, von der Selbstdarstel­lung der Person. Deshalb ein Film über das Tagebuch, ein Film über die Ereig­nisse in Bolivien aus der Sicht des Che. Ich bin solidarisch mit ihm von Anfang an, die bürgerliche Objektivität interes­siert mich nicht.
Ich wollte den Che heute in die Erinne­rung zurückrufen, weil ich glaube, daß er in Würde und in Größe verloren hat. Der Che ist einer der wenigen in der Ge­schichte des Sozialismus, der es verdient, mo­ralisch und historisch zu überleben.
Gibt es keine Punkte, wo du Schwierig­keiten mit Che Guevaras Position hast?
Was das Tagebuch angeht, habe ich überhaupt keine Bruchstellen. Ich bin zu­erst und vor allem Filmemacher. Ich muß nur überlegen, wie mache ich mit meiner eigenen Philosophie, die identisch ist mit der Philosophie meines Darstellers, einen Film. Von einem bestimmten Moment an stelle ich mir nur noch filmische Fragen. Wohin gehe ich, welche Sätze zitiere ich aus seinem Tagebuch, mache ich noch ein Interview mit einem Augenzeugen, was für Dokumente zeige ich, wie mache ich mei­ne filmische Arbeit, meine Wiederher­stellung der verlorenen oder der vergan­genen Zeit.
Warum ausgerechnet jetzt ein Film über Che Guevara?
Eigentlich wollte ich das schon in der 68er Zeit machen. Heute will ich mit mei­nem Film eine Debatte über Che Gue­vara provozieren, ihn in die Aktualität zu­rückzurufen. Ich habe übrigens während meiner Arbeit mehrere Leute getroffen, ei­nen Amerikaner in Havanna, eine Ar­gen­tinierin in London, einen Franzosen in Pa­ris, die daran sind, größere Biographien zu schreiben über Che Guevara, die auch spü­ren, daß er eine aktuelle Bedeutung hat.
Wie waren die Reaktionen auf den Film in Bolivien?
Die Leute waren sehr bewegt. Da kam nichts von Analyse.
Was für ein Publikum hat den Film ge­sehen?
Der Film hatte etwa fünftausend Zu­schauer in zehn Vorführungen. In Santa Cruz hatte ich ein mehr bürgerliches Pu­bli­kum, in Cochabamba waren es sehr viele ar­me Leute, Arbeiter und Bauern, und in La Paz wieder mehrheitlich Intel­lektuelle. Viele haben zum ersten Male er­fahren, was damals genau geschehen ist. Die Bo­li­vianer waren sehr betroffen von den Au­gen­zeugen, die alle zum ersten Mal vor einer Kamera reden. Sie haben den Film vor allem auch als Aktualität emp­funden. Es wurde der Eindruck geäußert, es habe sich eigentlich nichts verändert in den letzten fünfundzwanzig Jahren.
Zurück nach Europa: Sagt der Name Che Guevara heute jüngeren Leuten noch etwas, außer daß es wieder in Mode kommt, T-Shirts mit seinem Porträt zu tragen?
Ich glaube, Jugendliche, die den Film an­schauen, haben vage etwas gehört von ihm, und kommen mit dieser diffusen Neu­gierde und Sehnsucht nach einer Fi­gur, die irgendetwas wie Utopie repräsen­tieren könnte. Ich glaube, viele Junge ha­ben das Bedürfnis nach einer neuen Poli­tik, einer neuen Zukunftsvision. Für mich ist der Che eine Figur, die so etwas wie die gestorbene Utopie wiederbeleben könn­te, der uns daran erinnert, worum es in der sozialen Revolution ursprünglich ge­gangen ist, bevor Leute wie Ulbricht und andere kleinbürgerliche Despoten an die Macht kamen. Es ist darum gegangen, daß Intellektuelle sich mit dem Volk ver­bünden und gegen die Ausbeutung und die Armut kämpfen.
Aber mittlerweile scheint ja auch in Lateinamerika die Zeit der Utopien vor­bei. Die Guerillagruppen, die es noch gibt, führen mehr oder weniger eine mar­ginale Existenz. Was würde Che Guevara denn tun, wenn er heute leben würde?
Ich glaube, Marcos in Mexico ist ganz klar jemand, der in der Nachfolge von Che Guevara lebt. Eine chilenische Filmema­cherin, die für das französische Fernsehen einen Film über die Zapatisten gedreht hat, hat mir erzählt, daß dort überall Por­träts von Che Guevara hängen.

“Die Waffen stehen nicht zur Diskussion”

Frage: Ist Eure Erklärung vom 7.12. eine Kriegserklärung?
Wir erklären nicht den Krieg, wir war­nen, daß die Zeit vorbei ist. Die Regierung läßt es an realen Signalen fehlen. Herr Ze­dillo schlägt zwar den Dialog und die Verhandlung als Ausweg vor, aber wir se­hen auch, daß er zur gleichen Zeit die Li­nie von Salinas beibehält – so zu tun, als wäre nichts geschehen. In Wirklichkeit passiert genau das Gegenteil. Der Konflikt gerät nicht in eine zweite Etappe, sondern spitzt sich immer mehr zu. Im Januar 1994, in der heißesten Phase des Krieges, begann man, eine breite Brücke zwischen den beiden radikalsten Linien der bewaff­neten Auseinandersetzung (Regierung und EZLN) zu schlagen. Sie ermöglichte die Einstellung des Feuers und später den Dialog. Weil man dem Problem und sei­nen tatsächlichen Ursachen nicht entge­gentrat, sondern stattdessen die Zeit ver­streichen ließ, wurde diese Brücke immer schmaler. Die Bundesregierung duldete die Kandidatur von Robledo Rincón und setzte eine Wahl innerhalb eines nicht gelösten Konfliktes durch. Denn Robledo ist sehr unpopulär, weil er in sehr enger Beziehung zu den beiden vorherigen ge­haßten Gouverneuren stand. Auf der ande­ren Seite insistieren wir auf den Dialog. Falls er zustande käme, muß er mit dem Gesicht zur Nation stattfinden und Zeugen haben.
Bedeutet die Erklärung vom 7.12., daß ihr dem Volk den Krieg aufzwingt?
Wir senden einen enttäuschten Aufruf an die Zivilgesellschaft, daß sie eine Mo­bilisierung herbeiführen und die Stim­mung wiedergewinnen soll, die sie vor dem 21. August hatte und danach verlor. Wir sehen nicht, daß irgend jemand Inter­esse hätte, die Türen zur Mobilisierung der Zivilgesellschaft auf friedlichem Wege zu öffnen. Es scheint, daß sie uns zur nochmaligen militärischen Mobilisie­rung aufrufen. Die ärmsten Sektoren, die ich die “Keller des Landes” nenne, drän­gen auch darauf. Unser Konzept geht vor allem aus der Bewertung einer langen Ge­schichte hervor. Wir können uns nicht konsequent oder befriedigt mit uns selbst fühlen, wenn sich die Geschichte nach all unseren Toten und nach all dem, was pas­siert ist, wiederholt.
Daß euch die Zivilgesellschaft verlas­sen hat, wie du sagst, könnte das nicht ein Zeichen dafür sein, daß die EZLN keine Zukunft hat?
Kann sein, daß wir uns irren, daß die Forderungen der Zapatistas nicht an der Zeit sind, aber das glauben wir nicht.
Die mexikanische Bevölkerung vergaß für einen Moment ihre Skepsis gegenüber legalen linken Organisationen, ihre Di­stanz gegenüber politischen Parteien, die sie mißbraucht hatten, und sie vergaß ihre Skepsis, die sie gegen eine gemeinsame Front gegen das System der Staatspartei hegte. Über die Wahlen zwang sich das System der Staatspartei wieder auf. Die Leute bleiben mit einer großen Frustration zurück, dem “Was kommt jetzt?” Ich mißtraue denen, die am Ende heimliche Abkommen mit der Regierung schließen, gegen die sie sich doch ausgesprochen hatten. Auf der anderen Seite gibt es die bewaffnete Bewegung. Wenn alles schief­geht, machen wir wieder Krieg. Wir denken, daß es viele Leute gibt, die das von uns erwarten.
Deinen Aussagen ist nicht zu entneh­men, daß der Gebrauch der Waffen viele militärische oder politische Perspektiven eröffnet.
Wir stehen mit dem Rücken an der Wand – in militärischer Hinsicht seit Ja­nuar 1994, aber nicht in politischer.
Unglücklicherweise kommt die politi­sche Umzingelung, die wir jetzt erleiden, nicht von der Regierung, sondern durch den Verschleiß anderer sozialer Sektoren, die uns vorher Sauerstoff gaben. Sie wa­ren zwar keine Gesprächspartner für uns, aber sie griffen unsere Inhalte auf und tru­gen sie vor sich her. Wenn sie jetzt jedoch die Inhalte auf ihre Weise auslegen, müs­sen wir an dem festhalten, was wir haben. Wenn es offene Ohren gibt, macht es Sinn, für eine politische Lösung eine Waffe in der Hand zu haben und sie nicht zu benutzen. Aber wenn es nicht einmal das gibt, denkt man intuitiv, daß die Waf­fen zurückkehren müssen, um diesen Raum zu öffnen, daß man noch einmal schießen muß , um Politik möglich zu ma­chen. Wir befinden uns jetzt in einer viel zugespitzteren militärischen Lage. Wir verlieren die Überraschung (als Waffe), der Feind steht in Vernichtungsposition. Wir können unter diesen Umständen nicht zu der militärischen Guerilla- Taktik zu­rückkehren. Wir können die Kämpfer­Innen nicht aus ihren Familien reißen und diese allein lassen. Wir gehen mit ihnen, oder wir bleiben bei ihnen.
Du hast viele Male gesagt, daß, wenn der Krieg erneut ausbricht, es schwer sein wird, ihn zu stoppen. Wäre er nicht unter den Bedingungen der Einkesse­lung noch schwerer zu stoppen?
Es war schwer, unsere Leute im Januar 1994 nach den ersten Toten zurückzuhal­ten. Wenn der Krieg wieder anfängt, wird es noch schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich sein.
Die Zapatistas hielten sich zurück und versuchten einen Dialog. Im nationalen und regionalen Panorama veränderte sich jedoch nichts. Zu der Skepsis und Desillu­sionierung über den gescheiterten Dialog kommen jetzt die offenen Rechnungen für jeden Toten in unserer Geschichte hinzu. Deshalb kann man ein Heer, das einen Weg schon ausprobiert hat, nicht davon überzeugen, daß es ihn nochmals probiere, während sich immer mehr Tote häufen.
Entweder kommt die Repression von Mitgliedern des Bundesheeres, oder die “guardias blancas” ermorden Leute, oder die Polizei läßt sie verschwinden, vertreibt oder verprügelt sie. Es bleiben die glei­chen sozialen Klassenstrukturen, der glei­che Rassismus, die gleiche Regierungs­struktur und die gleichen radikalen Dis­kurse neben reaktionären Praktiken. Des­halb sagen uns die Compañeros von allen Seiten: Der Waffenstillstand ist gebro­chen. Was respektieren wir jetzt?
In dieser Stimmung sind nicht nur za­patistische Truppen, sondern vor allem ein guter Teil der unabhängigen indigenen Landarbeiterbewegung in Chiapas und ein Teil der offiziellen Campesino- Bewe­gung. Die sozialen Strukturen im mexika­nischen Südosten müssen grundsätzlich angetastet werden.
Für das Projekt der ökonomischen Mo­dernisierung Mexikos müßten zwei Sekto­ren geopfert werden: Entweder die indi­gene Bewegung, der noch nicht einmal für die Arbeitskraft rentable indigene Sektor, oder der der großen Viehzüchter und Landbesitzer, welcher in politischer Hin­sicht ein Hindernis für jedwede Refor­mentwicklung ist, weil er diese bremst. Die Großgrundbesitzer wollen, daß die Indígenas die Dreistigkeit vom Januar 1994 bezahlen. Die Bundesregierung muß uns vernichten und ihnen den Rücken freihalten, damit sie ihre Rechnungen be­gleichen können.
Reden wir über das, was ihr wollt.
Die Zapatistas wollen, zusammen­ge­faßt, Freiheit, Demokratie und Gerech­tig­keit für alle MexikanerInnen. Das for­der­ten wir das ganze Jahr über. Das einzige, was sich an diesem Diskurs ver­ändert hat, ist, anzuerkennen, daß es eine andere Form geben könnte, es zu erlan­gen, die nicht der bewaffnete Kampf wäre.
Muß die PRI auf jeden Fall zerstört werden, oder kann man mit einer Regie­rung der PRI noch koexistieren und ver­handeln?
Wir denken nicht, denn die Struktur der PRI ist nicht nur Parteistruktur, sondern auch die eines politischen Systems. Um einen Sieg zu erringen oder an eine Machtposition zu kommen, schafft die PRI viele Verbindlichkeiten, viele Rech­nungen, die auf vielen Ebenen zu kassie­ren sind. In Chiapas schafft sie die Ver­bindlichkeiten mit den indigenen Kaziken, mit den Viehzüchter- und den großen Händlern. Wie kann es also mit diesen Strukturen Demokratie geben, die doch die Anti-Demokratie auf regionaler und lokaler Ebene in der ganzen Republik er­halten? Was die Herrschaftsmacht auf Bundesebene ermöglicht, ist dasselbe, was die Herrschaft auf lokaler und regionaler Ebene ermöglicht.
Wir denken, daß es im Fall Zedillo klar ist, in welcher Form er offene Rechnun­gen auf allen Ebenen, die es in der Regie­rung gibt, verhandeln oder annehmen mußte. Wir sagten sogar: Die PRI könnte an der Macht, an der Regierung sein, wenn es ein Gewicht gäbe, das sie zwin­gen würde, als Regierung und nicht als ein System, das alles besetzt, zu handeln.
Und könnte der Zapatismo nicht dieses politische Gegengewicht sein?
Die Verantwortung dafür, daß das Ejer­cito Zapatista geboren wurde, tragen auch die politischen Oppositionsparteien und ihre Organisationen, die zumindest für einen wichtigen sozialen Sektor keine Alternative boten.
Als wir im Januar 1994 in die Städte gingen, um sie einzunehmen, begingen wir die Fehler, die wir begingen. Wenn wir in die Politik eintreten, betreten wir wieder ein uns unbekanntes Gebiet, auf dem wir die Fehler begehen, die wir begehen. Aber ich erinnere daran, daß wir die Möglichkeit zur Rückkehr haben; als wir in den Städten scheiterten, konnten wir in die Berge zurückkehren. Wenn wir in der Politik scheitern, können wir zu den Waffen zurückkehren.
Ist es nicht statt einer Rückkehr ein Rückzug: In den Krieg gehen, in den Tod gehen?
Wir wurden gefragt, ob es nicht Selbstmord ist, den Waffenstillstand zu brechen oder irgendeine militärische Ak­tion zu machen. Wenn wir dies so bewer­tet hätten, hätte es nicht einmal den Januar 1994 gegeben, wären wir noch nicht ein­mal entstanden…in militärischer Hinsicht ist die EZLN ein Anti-Vorschlag, ein Ab­surdum. Was sie möglich und real macht sind die Inhalte, für die sie einsteht.
Im Moment läßt du deinem Gegner wenig Verhaltensspielraum für einen Dia­log.
Mein Gegner läßt mir wenig Verhal­tensspielraum. Um zu einem Dialog zu kommen, sagt er mir: gib auf. Das erste, was die Regierung machen muß, ist, daß sie sich zurückzieht und zuläßt, daß je­mand anderes kommt. Dann reden wir.

Die Seifenblase ist geplatzt

Salinas de Gortari, der erst im Dezem­ber das Prä­sidentenamt an Zedillo ab­gegeben hatte, ist davon überzeugt, daß Mexiko den Peso bereits zu einem frü­heren Zeitpunkt hätte ab­werten sollen. Seine Re­gierung habe jedoch im Vor­feld der Wahlen im Herbst aus Stabilitätsgrün­den nicht von ihrer Wechselkurs­politik abweichen wollen. Der PRI blieb so bis zum 20. Dezem­ber immer noch ihre öko­nomi­sche Er­folgsbilanz, die sich eben­falls auf Stabilität gründete: Geringe In­fla­tion, die allerdings nur wegen eines immer größer werden­den Kapitalbilanz­defizites möglich war, machte die Staatspartei, im Be­wußtsein der Wähler, zum einzigen Ga­ranten der Stabilität und sicherte ihr bei den Prä­sident­schaftswahlen den Sieg. Die Oppositionsparteien PRD und PAN wer­fen dem Ex-Präsidenten Salinas in­zwi­schen persönliche Be­reiche­rung vor. Doch die USA, de­ren Präsident Bill Clinton immer wieder die unbe­schränkten Importe von US-Waren nach Mexiko ohne ent­sprechende Peso­abwertungen lobte, för­dern die Kandida­tur Salinas zum Vorsit­zenden der GATT-Nachfolgers WTO (Welt­handelsorganisation) wei­terhin. Sa­linas zeige her­vorragende Führungs­quali­täten, erklärte US-Handels­minister Ron Brown. Der ve­nezo­lan­ische Wirtschafts­wis­sen­schaftler Moises Naim betonte dagegen, schon vor einem Jahr sei be­kannt ge­wesen, daß der We­chselkurs des Peso kor­rigiert werden mußte. Die Re­gierung habe aber nichts unternommen, weil sie sich damals durch die günstigen makroökonomi­schen Daten gut nach au­ßen habe darstellen können. Diese Seifen­blase ist jetzt geplatzt. Der PRI ist zwar ihr wichtigstes Ziel, der Machterhalt, wie­der einmal gelungen. Doch der Preis dafür ist hoch. Das Schock­programm Zedillos wird na­türlich vom In­ternationalen Wäh­rungsfond (IWF) unter­stützt, in der Be­völkerung dürfte der Rückhalt aller­dings nicht groß sein. Im Notstands­programm sind in­nerhalb der nächsten zwei Jahre le­diglich Lohnsteige­rungen von sieben Pro­zent vorgesehen. Die Unter­nehmen konn­ten nur zu dem Ver­sprechen gebracht werden, die Preise nicht “un­gerechtfertigt” zu erhö­hen. Dieses “Ab­kom­men für die Einheit”, das Anfang Januar von der Re­gierung mit dem Gewerk­schaftsdach­verband und den Unternehmen aus­gehandelt wurde, soll die Inflation 1995 nicht über 19 Prozent schnellen lassen. Auch ist vor­gesehen, die Staats­aus­gaben zu kürzen. Und die Preise bleiben für zwei Monate eingefroren, wohl vor allem, um den Sturz der mexikanischen Börse ins Bodenlose zu ver­hin­dern.
Doch inzwischen meldete die Gewerk­schaft der Elek­trizitätsarbeiter den An­spruch an, die Tarife frei auszuhandeln. Auch die Ange­stellten der staatlichen Presseagentur Notimex ver­langen eine Lohnerhöhung von 22 Prozent. Und die Natio­nale Kammer der Weiter­ver­arbei­tenden Industrie (Canacintra), die 85 Pro­zent aller industriel­len Ar­beitsplätze in Mexi­ko reprä­sentiert, for­derte ein sechs­monatiges Schuldenmo­ra­torium und die Stundung von Steuerrückständen. Außer­dem forderte der Ver­band Hilfe für Un­ternehmen, die vor der Ab­wertung Kre­dite bei ausländischen Ban­ken auf­genommen hatten. Alle Importprodukte sind we­sent­lich teurer ge­worden, ebenso Benzin. Zwar ist die Erdölge­sellschaft PEMEX seit 1938 in den Händen des Staates und soll es nach Aussagen von Regierungs­vertretern auch bleiben. Doch der Druck aus den USA, PEMEX zu pri­vatisieren, wächst. Immerhin war die mexi­kanische Regie­rung erst­mals gezwungen, Kredite der USA und Kanadas zu Stützungskäufen zu ver­wenden. Denn die Kapital­flucht setzte sofort bei der Abwertung des Peso ein. Ausländische Anleger haben angeb­lich bis zu zehn Milli­arden Dollar an der Börse in Mexiko verloren. Damit muß wieder um Kapitalanlagen in Mexiko ge­worben werden. Zwar sind diese Summen überwie­gend im nicht­produktiven Bereich ein­gesetzt worden, denn Spekulation ver­spricht höhere Gewinne, doch die Siche­rung ausländischer Ka­pitalanlagen in Me­xiko steht bei den Geberländern ganz oben.
Das Ausland fängt den Peso auf
Vertreter der mexikani­schen Regierung reisten deshalb nach New York und Tokio und priesen auch in Frankfurt am Main die Vor­züge des Standortes Mexiko. Enri­que Vilatela, Präsident der Banco Na­cional de Co­mercio Ex­terior und Leiter der vom mexikanischen Fi­nanz­mi­nis­terium nach Europa entsandten Dele­ga­tion, ver­kündete in Frankfurt, daß über kon­krete Finanz­arrange­ments nicht ge­sprochen worden sei. Doch mit der Deut­schen Bank und der Dresdner Bank, so hieß es in Bankenkreisen, be­teiligten sich zwei deutsche Großban­ken an einem Stüt­zungskredit von drei Milliarden Dollar. An diesem Kredit, über des­sen Moda­li­tä­ten nichts be­kannt wurde und der Teil ei­nes 18 Milliarden Dollar – Paketes ist, sind ins­gesamt 30 inter­na­tionale Geldinsti­tute beteiligt. Zusätzlich wollen die USA Kre­dit­bürg­schaften von bis zu 40 Mil­liarden Dollar bereitstellen, um Mexi­kos kurz­fristige Zahlungs­verpflichtungen auf einen längeren Zeitraum um­schulden zu können.
Durch diese offene Un­ter­stützung der US-Regierung stiegen die Börsenkurse am 13. Januar erstmals wieder um 4,61 Pro­zent an. Auch der Peso konnte sich um 30 Centavos auf 5,30 pro Dol­lar verbessern.
Produktion vorübergehend gestoppt
Währenddessen plant VW de México, die Auto­produktion ab dem 23. Januar für eine Woche zu unterbrechen, da die mexi­ka­nische Inlands­nachfrage zusammen­ge­brochen ist. Die Arbeiter des VW-Werkes in Puebla sollen für diese Zeit nur die Hälfte des Lohnes erhalten. Bereits jetzt wird nur noch Kurzar­beit gefahren. Auch die Mercedes-Benz AG hat die Produktion vorüber­gehend gestoppt. Der Sprecher der Bayer-AG, Friedrich Gott­schalk, betonte dagegen die Vorteile der Peso­abwertung für seinen Konzern. Mexiko sei bisher bei den Lohnko­sten “nicht un­bedingt wett­bewerbs­fähig” gewesen. Die Krise verbil­ligt die ar­beits­intensive Produktion, wie sie u.a. an Mexikos Nord­grenze besteht. In den dortigen maquiladoras werden oft unter Umgehung der Ar­beitsrechte Halb­fertigpro­dukte aus den USA zusam­mengefügt und wieder in die USA re-im­portiert. Jede Lohn­senkung erhöht die Pro­fite beträchtlich.
Börsensturz in Brasilien und Argentinien
Der Einfluß der mexi­kani­schen Krise auf ganz La­teinamerika ist wäh­renddes­sen un­über­sehbar. Mexiko als eines der größ­ten und ent­wickeltsten Länder des Sub­kontinents, das zudem durch den NAFTA-Vertrag mit den USA und Kanada verbun­den ist, symboli­sierte bis zum 1. Jn Puebla sollen für diese Zeit nur die Hälfte des Lohnes erhalten. Bereits jetzt wird nur noch Kurzar­beit gefahren. Auch die Mercedes-Benz AG hat die Produktion vorüber­gehend gestoppt. Der Sprecher der Bayer-AG, Friedrich Gott­schalk, betonte dagegen die Vorteile der Peso­abwertung für seinen Konzern. Mexiko sei bisher bei den Lohnko­sten “nicht un­bedingt wett­bewerbs­fähig” gewesen. Die Krise verbil­ligt die ar­beits­intensive Produktion, wie sie u.a. an Mexikos Nord­grenze besteht. In den dortigen maquSA, die auf die­se Weise den ge­samten Kontinent sta­bili­sieren wollen, be­ginnt nun zu wanken. Auch Brasiliens erst letztes Jahr neuge­schaffene Wäh­rung Real, die noch immer höher als der Dollar bewertet wird, wird ab­gewertet werden müssen. Bereits jetzt ist der Bör­senkurs in Sao Paulo um fast 12 Prozent ge­fallen. Ähnliches gilt für den Nach­barstaat Ar­gentinien: Dort mußte die Börse einen Sturz von 10 Prozent hinneh­men. Falls sich die Krise ausweiten sollte, könnte die von den USA geplante Aus­wei­tung des Freihandelsab­kommens NAFTA auf den ge­samten Kontinent auf Schwie­rigkeiten stoßen. Der extrem un­gleich verteilte Reichtum in Lateiname­rika erscheint zwar in den Han­delsbilanzen nicht, könnte aber langfristig die Stabi­lität der Wirtschaftsent­wicklung gefährden.

Kasten:

Situation in Chiapas eskaliert, doch der Dialog beginnt
Der Bischof von San Cristóbal de las Casas, Samuel Ruíz, der CONAI (Nationale Vermittlungskommission) angehört, verneinte einen Zusammenhang zwischen der Pesoabwertung und “dem erneuten Ausbruch von Feindseligkeiten in Chiapas und dem Beginn von einigen Gesprächen.” Der massive Polizeieinsatz am 6. Januar gegen eine Kundgebung für die Auszahlung ausstehender Löhne der Coalición Campesina Estudiantil del Soconusco (COCES) in Tapachula, bei der ein sechsjähriges Mädchen ermordet wurde, ist nur ein Beispiel für den Regierungsstil der Regierung Robledo in Chiapas. Nachdem am 10. Januar in 5 Regierungsbezirken Rathäuser von unabhängigen Campesinoorganisationen besetzt wurden, kam es in der Gemeinde Chicomuselo zu 7 Toten, darunter drei Polizisten. Bischof Samuel Ruíz äußerte dazu in einem Interview, dort sei “jetzt eine gewisse Ruhe eingetreten. So weit ich weiß, wird dort mit Verhandlungen begonnen, die dieses spezielle Feld betreffen.” Immerhin seien allerdings die ganaderos, Viehzüchter, die private Todesschwadronen befehligen, bei zwei der Besetzungen zusammen mit der Polizei aufgetaucht. Trotzdem könne nicht von einer Koordination der ganaderos mit den Sicherheitskräften gesprochen werden. Da in Chiapas zum selben Zeitpunkt und am selben Ort zwei Regierungen gebildet wurden, besteht das Problem der Übergangsregierung im Aufstand, die von Amado Avendaño repräsentiert wird, darin, anerkannt zu werden. Samuel Ruíz sagte dazu: “Ihr Programm besteht in der Ausarbeitung einer Verfassung, damit in Chiapas eine neue Verfassung verabschiedet werden kann. Dies wird ein wichtiger Impuls sein, um die mexikanische Verfassung zu ändern. Denn die Dinge, die sich hier in Chiapas ändern müssen, werden über Chiapas hinaus wichtig sein. Beispielsweise die Anerkennung der Ethnien als konstituierender Bestandteil der nationalen Realität und nicht als marginale Gruppen, die man respektieren muß. Der Kursverfall des Peso wird die indigene Bevölkerung besonders hart treffen, denn trotz Subsistenzproduktion sind sie doch auf Kredite angewiesen. Kredite, die jetzt unter erschwerten Bedingungen zurückzuzahlen sind. Denn an stabile Devisen gelangen in Chiapas nur die Viehzüchter, die in die USA exportieren und Hotelbesitzer, die vom Tourismus profitieren.
Am 15. Januar trafen sich erstmals seit den gescheiterten Gesprächen vom vergangenen März wieder VertreterInnen der Regierung und der EZLN. Innenminister Esteban Moctezuma traf auf dem Territorium der EZLN mit drei Repräsentanten der EZLN zusammen, um einen Ausweg aus der gegenwärtigen Gefahr eines erneut ausbrechenden Krieges zu finden. Zuvor hatten die Zapatistas den Waffenstillstand nochmals bis zum 18. Januar verlängert. Ergebnisse dieses Treffens wurden nicht bekanntgegeben, doch Folgetreffen sind vorgesehen. Zuvor schon hatte die EZLN nach der Besetzung mehrerer Ortschaften und dem anschließenden Eindringen von Regierungstruppen in das Territorium der Zapatistas den Waffenstillstand erst bis zum 6., dann nochmals bis zum 12. Januar verlängert. Mittlerweile verkündete die EZLN einen unbefristeten Waffenstillstand und strebt in Verhandlungen mit der Regierung einen dauerhaften Frieden an.

Ya basta!

Mit der Besetzung mehrerer Städte in Chiapas vermasselte die EZLN am 1. Januar 1994 der mexikanischen Regierung ihren feierlichen “Eintritt in die Erste Welt”. Nicht mehr vom NAFTA war die Rede, sondern von der Armut und Unter­drückung der indianischen Bevölkerung im Süden Mexikos. Der Aufstand mar­kier­te zugleich den Beginn der “ersten Revo­lution des 21. Jahrhunderts”, und dies, obwohl das “Ya Basta” der EZLN vor allem auch eine Absage an die Modernisierung Die Abschaffung der ejidos, des Gemeinde­landes, und die Zerstörung der lokalen Märkte durch die “neoliberale Kolonialisierung” des NAFTA ist das To­des­urteil für die traditionellen Formen kollektiven Zusammenlebens. Dieses To­desurteil wollen die Indígenas nicht hin­nehmen, wie Veronika Bennholt-Thomsen verdeutlicht: “Die Indígenas sind sehr ge­duldig, aber wenn ihnen ihre letzte Existenzbasis, der Boden für die Selbst­ver­sorgung mit Grundnahrungsmitteln, weg­genommen wird, dann reißt auch ihre Geduld: Basta! Ya Basta! Sie möchten keine Lohnarbeiter sein, denn das wider­spricht ihrer Weltsicht und Kultur, und ihre schlechten Erfahrungen damit haben sie nur bestärkt. Lohnarbeit macht nicht frei, sondern abhängig. Geld kann man nicht essen, außerdem reicht es nie und sein Wert ist prekär. Wenn die indiani­schen Rebellen Tierra y Libertad Den Sturz der ewigen PRI-Regierung hat die EZLN nicht erreicht, womit auch selbst die ZapatistInnen kaum ge­rechnet haben. Doch mit ihrem Aufstand und der Einberufung des “Demokratischen Natio­nalkonvents” haben sie vermutlich mehr erreicht als alle oppositionellen Be­we­gungen der letzten Jahrzehnte in Mexiko: “Männer und Frauen erobern ihren Platz in der Geschichte zurück, ihr Han­deln, das sie als gemeinsam und kollektiv entdek­ken. Sie sind nicht mehr anonyme Zu­schauer, sondern werden so mutige Ak­teure”, schreibt Subcomandante Marcos, Sprecher und Medienstar der EZLN, und sieht als Ergebnis der ersten Monate des Kampfes: “Etwas ist auf­gebrochen in die­sem Jahr, nicht nur das falsche Bild der Moderne, das der Neoliberalismus uns verkauft hat, nicht nur die Falschheit der Regierungsprojekte, der institutionellen Almosen, nicht nur das ungerechte Ver­gessen des Vaterlandes gegen­über seinen ursprünglichen Be­wohn­ern, auch das ri­gide Schema einer Linken, die darin ver­haftet ist, von und in der Vergangenheit zu leben.”
Genau in diesem Sinne ist der Zapati­stInnen-Aufstand auch die “erste Revolu­tion des 21. Jahrhunderts” und die EZLN die “erste Guerilla des 21. Jahrhunderts”. Sie konnte stark werden, weil sie nicht (mehr) zu der Avantgarde gehört, “die so­weit vorne gehen, daß sie allein sind”. Lange waren die ersten Kader der Guerilla allein im lacandonischen Urwald und im Hochland von Chiapas. Ohne Basis pflegten sie einige Jahre ihr politisch-mi­litärisches Avantegardekonzept und blie­ben isoliert – bis sie sich von alten Gewißheiten verabschiedeten: “Warum konnte die EZLN wachsen? Und nicht nur wach­sen, sondern in eine Explosion mün­den, die ein festgefügtes, hartes, gewalti­ges, monströses Land bis in seine Grund­festen erschütterte – Mexiko. Sie ver­mochte dies, weil sie entgegen aller Re­geln – in ihrer Entstehungsphase eine große Niederlage erlitt (und seither immer wieder erleidet), die genau ihren Erfolg begründet. Sie ließ zu, daß die Realität die Theorie zunichte machte, daß das gelebte Leben ein Den­ken überwand, das festen Strickmustern folgte, mit Kompaß und Handbuch als Anleitung.”
Auch die Topitas, das Redaktionskol­lektiv aus mehreren Lateinamerika-Solida­ritätsgruppen, haben darauf verzichtet, ein Handbuch mit fertigen Erklärungen zu er­stellen. Ihr Lesebuch ist eine gelungene Mischung aus Erklärungen der EZLN, Inter­views, Reportagen, Analysen und ei­nem Fotoessay. Ebenso werden Wider­sprüche und Zweifel (beispielsweise am Kult um die mexikanische Nationalfahne) nicht ausgespart.
Viel Raum erhält Marcos, den der me­xi­kanische Journalist Hermann Bel­linghausen als “Paradoxon” charakteri­siert: “Er ist der bescheidene Diener dieser Campesinos und gleichzeitig ihr Führer.” Doch die Marcos-Lastigkeit von Ya Basta! geht in Ordnung. Seine poetischen Ana­lysen der mexikanischen Realität, die Anek­doten aus dem Zusammenleben mit dem alten Antonio und der kleinen Toñita oder seine Briefe an Journalisten, Volks­organisationen und Kinder beeindrucken durch Klarheit und Ironie, ihr Pathos wirkt selten deplaziert. In einem Brief an ein Kind faßt er in wenigen Worten Ursache und Zweck des Aufstandes zusammen: “Hier haben wir schlimmer als Hunde ge­lebt. Wir mußten wählen: weiter wie Tiere leben oder wie würdige Menschen ster­ben. Die Würde ist das einzige, das man nie verlieren darf … nie.” Gleichsam als Ausblick auf die weiteren Kämpfe schrieb Marcos vor wenigen Monaten: “Ein neuer Wind kommt auf, er kommt mit Lüften aus der Vergangenheit und mit einer Bri­se, die unverwechselbar nach Zukunft riecht.”
Bleibt zu hoffen, daß Ya basta! das Ziel der HerausgeberInnen erfüllt: “Vielleicht sollten wir überhaupt dieses Buch zum Anlaß nehmen, über uns und unsere Ge­schichte nachzudenken, über unsere Art, Themen und Ideen solange theoretisch zu wälzen, zu zerreden, zu bezweifeln, bis es keinen Grund mehr gibt, praktisch zu werden, Ya basta zu sagen…”

Topitas (Hg.): Ya basta! Der Aufstand der Zapatistas, Verlag Libertäre Assoziation, Hamburg 1994, 364 Seiten, 28,- DM

“Wir fordern einen neuen Raum für Partizipation”

LN: Was ist deine Aufgabe bei CONPAZ?
Gerardo González Figueroa: Ich bin Mit­glied der Koordinierungskommission und Repräsentant der Vermittlungskommis­sion von CONPAZ. Die Organisation CONPAZ nimmt an der Koordination der Demokratischen Versammlung des Bun­desstaates Chiapas teil. Im Moment befin­det sich CONPAZ in einem Arbeitsprozeß mit zwei Ausrichtungen: Einerseits die alltägliche Arbeit der Unterstützung der Gemeinden, vor allem in der Konflikt­zone. Hier unterstützen wir Gesundheits-, Produktions- und Ausbildungsprojekte. Außerdem kümmern wir uns um die Ein­haltung der Menschenrechte und ganz be­sonders um die Ernährung der Menschen dort. Andererseits nimmt ein Teil von uns an den unabhängigen Aktivitäten der De­mokratischen Versammlung teil, die sich heute in einem Prozeß des Widerstandes befindet.
Cárdenas sagte nach den Wahlen, der Weg über Wahlen sei nicht länger gang­bar. Bedeutet das, daß das mexikanische System nicht reformiert werden kann?
Hier ist festzuhalten, daß Cárdenas die PRD repräsentiert, die zu den politischen Kräften zählt, die sich in Mexiko artiku­lieren. Die hegemoniale Macht ist die Staatspartei PRI. Andere Kräfte, die sich heute neben der EZLN im Land Gehör ver­schaffen, sind die verschiedenen sozialen Bewegungen, die einen Teil der mexikani­schen Bevölkerung repäsentie­ren, der die Strategie, über Wahlen eine Wende zu er­reichen, mit Mißtrauen beob­achtet, aller­dings ohne der Strategie des bewaffneten Kampfes anzuhängen. Zu­sätzlich existie­ren – vor allem seit dem 1. Januar – kleinere Kräfte, die auf der politi­schen Bühne des nationalen Lebens kein Gewicht haben, die die Option des be­waffneten Kampfes vorschlagen. In diesem letztgenannten Sektor gibt es zwei Strömungen: Eine, die der EZLN nahe­steht und das militärische Kommando von Subcomandante Marcos akzeptiert und generell die politisch-mili­tärische Führung der ZapatistInnen aner­kennt. In diesem Sinne können wir von einer EZLN auf nationaler Ebene spre­chen. Aber es meldet sich auch eine an­dere Kraft zu Wort, die die Position ver­tritt, die Bewegung, inklu­sive der EZLN, sei reformistisch, habe schon gegeben, was sie geben könne und als nächsten Schritt sei es notwendig, den von ihnen so bezeichneten langanhalten­den Volkskrieg zu beginnen. Glückli­cherweise hat diese Strömung keinen signifikanten Einfluß.
Vor einer Woche wurde das Treffen der CND beendet. Dort wurde gefordert, Er­nesto Zedillo solle das Präsidentenamt nicht antreten. Wie soll das erreicht werden?
Zedillo wurde bereits vom mexikanischen Kongreß und von der Abgeordnetenkam­mer, die den Wahlausschluß bestimmt, er­nannt. In diesem Sinne ist es praktisch unmöglich, Zedillo loszuwerden.
Wegen der Charakteristik der Wahl den­ken wir aber, daß es auch nicht möglich ist zu sagen, Cárdenas oder Cevallos von der PAN hätten gewonnen. In Mexiko finden keine demokratischen Wahlen statt. Deshalb will die CND ein Kampfpro­gramm, und das bedeutet: Erstens ist die Staatspartei das größte Hindernis auf dem Weg zu demokratischen Verhältnissen. Zweitens denken wir, daß ein friedlicher Übergang zur Demokratie notwendig ist. Das bedeutet, daß eine neue Verfassung ausgerufen werden muß, die es unter an­derem ermöglicht, demokratische Reprä­sentanten, Gouverneure und natürlich auch den Präsidenten zu wählen. In die­sem weitgesteckten Feld ruft die CND zur nationalen Mobilisierung ab dem 20. No­vember auf, die, wenn die entsprechenden Bedingungen geschaffen werden können, bis hin zur Ausrufung eines nationalen Generalstreiks führen sollen. Wenn Ze­dillo das Präsidentenamt übernimmt, soll er sich darüber klar sein, daß ein großer sozialer Sektor der MexikanerInnen gegen die Bedingungen ist, unter denen Wahlen gestattet werden.
Aber außerdem will Eduardo Robledo Rincòn am 8. Dezember in Chiapas den Gouverneursposten übernehmen. Das ist ganz eindeutig Betrug, er wurde nach nur drei Stunden in Beratung vom Kongreß von Chiapas bestätigt. Dort in Chiapas werden wir ein Wahltribunal des Volkes von Chiapas organisieren, wo die Beweise des Wahlbetrugs öffentlich gemacht wer­den. Das chiapanekische Volk wird den von der Mehrheit gewählten Amado Aven­daño zum Gouverneur ernennen.
In diesem Sinn definiert die CND ein Ak­tionsprogramm für die politische Forde­rung nach Demokratie nach diesem Wahl­prozeß, nimmt wieder den Weg der Mo­bilisierung auf, der nach dem 21. August ins Stocken kam.
Im Gegensatz zu 1988 gab es nach dem 21. August kaum Proteste. War die mexi­kanische Bevölkerung nicht auf den Wahlbetrug vorbereitet?
Es muß bedacht werden, daß von der PRI das Schreckgespenst eines Bürgerkriegs ab dem 22. August an die Wand gemalt wurde. Dies hat bewirkt, daß wichtige Sektoren der mexikanischen Gesellschaft nicht so abstimmten, wie wir uns es ge­wünscht hätten. Im Gegensatz zu 1988, als die Bewegung zu den Wahlen hin immer stärker wurde, fehlte diesmal in diesem Moment die politische Führung. Außer­dem war vor den Wahlen der Eindruck entstanden, diesmal würde es sauberere Wahlen geben, in denen der WählerIn­nenwille respektiert würde. Dies führte zur Demobilisierung der Bewegung. Die Sektoren, die sich seit dem 1. Januar, dem Aufstand der EZLN, organisiert hatten, verstrickten sich zu diesem Zeitpunkt in eine Diskussion, über die Richtung der Mobilisierung. In Wirklichkeit wurde da­durch die Demobilisierung des mexikani­schen Volkes erreicht. Heute denke ich, wir hätten am 21. August auf die Straße gehen müssen, um die Bewegung, die sich heute in der neuen Organisation der CND ausdrückt, stark zu machen.
Gibt es Strukturen zwischen der Bevölke­rung in den Städten und auf dem Land?
Das Problem dieses letzten Sexeniums (6-jährige Amtszeit des Präsidenten Salinas, Anm. d. Red.) war, daß wir in einem ima­ginären Mexiko lebten. Mexiko er­schien wegen seiner geographischen Lage, seiner ökonomischen und politischen Strukturen am 1. Januar so, als würde es direkt in einen Prozeß des Wohlstands eintreten. Wir alle glaubten das. Aber in Wirklich­keit verändert sich Mexiko zu ei­nem Land, in dem eine unglaubliche Kon­zentration des Reichtums stattfindet. 30 Familien konzentrieren einen beeindruk­kenden Reichtum auf sich, während die große Mehrheit in beleidigender Armut lebt. Vor allem die Indígenas leiden. Die Armut wächst rapide, genauso die Ar­beitslosigkeit und die Zahl der Unterbe­schäftigten. Praktisch gibt es zwei Me­xikos: Einmal das im Norden, entwickelt, das man mit “Erstweltländern” verglei­chen kann. Aber wir haben einen Süden, der nicht nur Chiapas ist, sondern ver­schiedene Bundesstaaten, in denen eine enorme Armut herrscht, die sogar noch anwächst. Unter Salinas de Gortari wurde Chiapas der ärmste Bundesstaat der Re­publik. Vollkommen im Widerspruch zu dem ökonomischen Potential, das Chiapas besitzt. In Mexiko leben mehr als 20 Mil­lionen Menschen in extremer Armut. Groe Investitionen sind notwendig, um diesen Menschen eine bessere Schulbil­dung zu geben, eine bessere Infrastruktur etc.
Aber das ist doch genau das, was die PRI seit dem Waffenstillstand in Chiapas macht. Damit will sie ihre politische Macht erhalten, die Amado Avendaño für die PRD beansprucht.
Avendaño ist kein Mitglied der PRD, muß aber wegen des Wahlgesetzes für eine Partei kandidieren. Wir unterstützen nicht die PRD, damit sie an die Macht kommt. Wir sind von keiner Partei, als NGO sind wir Teil der Zivilgesellschaft. Wir fordern einen neuen politischen Raum der Partizi­pation, der auch außerhalb der Logik des Parteiensystems bestehen kann. Heute wissen wir, daß in dieser Welt ein hege­moniales Entwicklungsmodell besteht, das der Hegemonie des Marktes. Aber dieses Modell ist ziemlich unmenschlich. Wir müssen deshalb versuchen, ein anderes Entwicklungsmodell zu kreiieren, das er­laubt, aus einer anderen Perspektive die großen nationalen Probleme zu lösen. Man braucht Investitionen und Ar­beitsplätze, man braucht eine andere Lo­gik in unserer Beziehung zur Natur, man braucht neue Formen bei der Ausbildung von Indígenas und der interkulturellen Beziehungen. Wir brauchen auch eine neue Territorialität und vor allem eine neue politische Kultur.
Was bedeutet neue Territorialität?
Es muß anerkannt werden, daß Mexiko ein multiethnisches und multikulturelles Land ist. Diese Ethnien entsprechen nicht der Entwicklung, das sich das Land bei den Municipios (Verwaltungseinheit von Gemeinden) gegeben hat. Wir haben Re­gionen der Tzoltiles – Flüsse, Berge, Wäl­der – und sie haben Kapazität bewiesen, mit ihren eigenen Ressourcen umzugehen. Das provoziert Autonomieprozesse wie in Chiapas, welches das beste Beispiel für den autonomen Kampf der Völker der Tzotiles, Tojolabales etc. ist. Das bedeutet einen Bruch mit dem rückständigen Me­xiko, aber ich hoffe nicht, daß dieser Bruch zur Assimilation mit der mestizi­schen, westlich geprägten Kultur führt. Wir wollen zumindest ein menschlicheres Entwicklungsmodell vorschlagen können, das anderen Werten und damit den Inter­essen der mexikanischen Bevölkerung entspricht.
Um dieses Ziel zu erreichen, muß die Bewegung in möglichst allen Bundes­staaten präsent sein. Die Staatspartei setzt aber alles daran, den Konflikt zu re­gionalisieren, und auf Chiapas zu begren­zen.
Auch wenn sich der Konflikt bei den In­dígenas, und besonders in Chiapas aus­drückt, ist es weder ein Problem der Indí­genas noch von Chiapas. Armut, Unge­rechtigkeit und Ungleichheit betrifft die ArbeiterInnen in der Stadt genauso wie Indígenas und Campesinos auf dem Land in ganz Mexiko. Das Problem der Demo­kratie und das des Regimes der Staatspar­tei ist ein nationales. Hier stimmen wir mit der EZLN überein. Das, was in Chia­pas passiert, kann genauso in Oaxaca, San Luis Potosí oder anderen Bundesstaaten geschehen, in denen große Armut herrscht. Wir wünschen uns, daß der Kampf für den Übergang zur Demokratie friedlich ist. Das setzt voraus, daß die Staatspartei die vorhandenen Probleme anerkennt. Der letzte Bericht von Salinas de Gortari zur Lage der Nation malt uns ein Mexiko, in dem selbst die EuropäerIn­nen gerne leben würden: Viel Demokratie, eine starke Wirtschaft und eine noch grö­ßere Sta­bilität.
Ist die Bewegung auch in der Arbeiter­schaft präsent?
Sie ist am Wachsen. In der CND ist der Arbeitersektor durch Gewerkschaften vertreten, der Convención Nacional de Trabajadores. Weiterhin gibt es den Na­tionalen Indígena- und Campesinokon­vent, bald wird es den Nationalen Stu­dentenkonvent geben. Die Frauen haben sich schon beim ersten Treffen zusam­mengeschlossen. Auch die “untere Mittel­schicht” in Chiapas fordert inzwischen ihr Recht auf politische Partizipation und ist im CND präsent. Das bedeutet, daß die verschiedenen Sektoren der Gesellschaft in der CND zusammengeschlossen wer­den, damit dieses Land auf friedlichem Weg transformiert werden kann.
Immer mehr Menschen organisieren sich ohne Partei. Wir werden stärker. In der Zone von Las Margeritas an der gua­temaltekischen Grenze, wo Tojolabales leben, und an der Nordgrenze von Chia­pas, zu Tabasco hin, wo Tzotiles leben, wur­den schon autonome Regionen ausgeru­fen.
Wie stehen die Großgrundbesitzer in Chiapas zu einer Verhandlungslösung? Sind sie weiter dabei, ihre “Guardias blancas” (Privatarmeen, die z.T. mit Hilfe des mexikanischen Bundesheeres ausgebildet werden, Anm. d. Red.) aufzu­rüsten?
Wir stehen vor einer schwierigen oder ei­ner einfachen Lösung. Die einfache Vari­ante wäre, wenn alle Sektoren, die es in Chiapas gibt, an Verhandlungen zur Lö­sung der Konflikte teilnehmen würden. Das wäre gerecht. Aber viele wollen nicht und sagen, die PRI solle das Problem mit Gewalt “lösen”. Die “Guardias blancas” bestehen seit vielen Jahren. Die einzige Kraft, die wir haben, ist die der Mobilisie­rung. Wenn wir auf diese Art und Weise etwas erreichen, dann nicht nur für die In­dígenas, sondern für das gesamte Volk von Chiapas. Und was in Chiapas gesche­hen wird, wird sich in ganz Mexiko wi­derspiegeln. Chiapas ist das, was wir “Spiegel der Nation” nennen.

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