Bloßer Nachwahlkampf?

Spätestens seit den Wahlen im August dieses Jahres ist dieser “Dorn im Auge” der Salinas-Regierung nicht mehr eine bloße “Insel der Hoffnung” für die demo­kratische Opposition: Denn während im übrigen Mexiko die Wahlen ein weiteres Mal dubios verliefen und die amtierende Staatspartei PRI die gesamte Opposition erneut mit einer Flut von – in gerichtlichen Einzelverfahren langwierig zu klärenden – “Wahl-Unregelmäßigkeiten” in Schach hält, zeigte die zapatistische Enklave dem gesamten Land, daß Wahlen durchaus transparent und demokratisch organisiert werden können, wenn sie wie hier ge­schehen von zivilen, vom System der Staatspartei unabhängigen Instanzen durchgeführt werden.
Weiter wählen oder selbst handeln?
Angesichts der einschlägigen Erfahrungen mit den Wahlverläufen haben sich viele Oppositionsgruppen und vor allem die un­abhängigen Campesino- und Indígena-Organisationen Mexikos enttäuscht von der reformistischen Alternative abge­wandt, mit der besonders die groß-städtischen Intellektuellen um den “Grupo San Angel” für eine Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen geworben hatten. Deren Vorschlag, die von der (PRI-dominierten) Wahlbehörde diktierten Spielregeln zu akzeptieren und das Wahl­ergebnis anschließend mit der Staatspartei durch ein gemeinsames, schrittweises “Säubern” einzelner offensichtlicher Wahlfälschungen “auszuhandeln”, wird von den Spitzenpolitikern der Oppositi­onsparteien PRD und PAN auch nach den Wahlen einmütig vertreten; gleichzeitig beschließen jedoch ihre aus der Kontrolle geratenen Basiskomitees schon in zahl­reichen Bundesstaaten, unter den ge­gebenen Bedingungen nie wieder an Wahlen teilzunehmen.
Die Kluft wird größer: Während der PRD-nahe Politologe Jorge Castañeda, ein Ver­treter der San Angel-Gruppe, noch für die Anerkennung des offiziellen Er­gebnisses der Präsidentschaftswahlen und für eine parallele “Nachverhandlung” jedes einzel-nen Mandates des gleichzeitig gewählten Nationalparlamentes plädiert, beschließen Vertreter von ca. 300 Campesino- und Indígena-Organisationen am symbolträch-tigen 12. Oktober in San Cristóbal – mit Unterstützung von ca. 20.000 Indígenas aus Chiapas -, einen an­deren Weg einzu-schlagen: den Weg der Regionalauto-nomie.
Basta Ya!
Da weder die “saubersten Wahlen der mexikanischen Geschichte” noch mona­telange Verhandlungen mit der Regierung eine demokratische Öffnung des PRI-Systems bzw. lokale Freiräume erwirken konnten, beschließen an diesem “Nationalen Tag für Demokratie und wür­digen Frieden” die Delegierten aus den Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca, Guerrero, Michoacán, Veracruz, Hidalgo und Sonora, das System der Staatspartei aus ihren Regionen zu drängen und Freiräume für selbstbestimmtes politisches Handeln zu schaffen, statt auf Konzessionen von oben zu hoffen. In einigen Bundesstaaten war diese Entscheidung, die Demokrati­sierung von unten zu betreiben, schon sofort nach den Wahlen gefallen: So sind Ende August alle Regierungsvertreter aus dem Purhépecha-Hochland in Michoacán, einer Hochburg der PRD-Opposition, ver­trieben und ihre Büros versiegelt worden, nur noch die paramilitärische Polizei durchkreuzt die Region auf ihrer nächtli­chen Suche nach “vom Ausland gesteuerten Guerrillas”.
Doch zur Zeit bildet Chiapas den landes­weiten Schwerpunkt des Kampfes gegen das PRI-System, da hier die Wahlfäl­schung am lückenlosesten dokumentiert werden konnte. Sowohl die EZLN als auch die Nationale Demokratische Kon­vention (CND) haben den Sturz des an­geblichen Siegers der ebenfalls im August abgehaltenen chiapanekischen Gouver­neurswahlen, des PRI-Kandidaten Eduardo Robledo, und die Anerkennung seines Gegners, des von einem breiten Bündnis von Organisationen getragenen Oppositionskandidaten Amado Avendaño, zu ihren Hauptforderungen gemacht.
Autonomie für wen?
In der “Erklärung von San Cristóbal” vom 12. Oktober fließt der Kampf um die “Verteidigung des Wählerwillens”, also um die Amtseinsetzung Avendaños, mit dem Kampf um Regionalautonomie zu­sammen. Indem somit Indígena-Organisa­tionen, städtisch geprägte Oppositions­gruppen und soziale Bewegungen gemein­same Strategien des zivilen Wider­stands entwickeln – von der “Eroberung” PRI-dominierter Rathäuser über die Schließung von Regierungsinstitutionen, die Vertreibung von PRI-Funktionären und Regierungsbeamten bis zum Boykott jeglicher Steuern und Abgaben sowie der Rückzahlung von Krediten -, drückt sich nicht nur das im August auf der 1. Demo­kratischen Konvention in Aguascalientes geschlossene Bündnis (zwischen Zivilge­sellschaft und Indígena-Völkern) aus, sondern darüber hinaus spiegeln diese gemeinsamen Strategien einen neuartigen und erstmals am 1. Januar vom EZLN artikulierten Prozeß der “Verbürger­rechtlichung” der Indígena- und Campesi-nobewegung wider: An die Stelle “exklusiv indianischer” Forderungen tritt in der konkreten Praxis des Kampfes um Autonomie eine alle Bevölkerungs­gruppen betreffende Demo­kratisierung auf der lokalen und regiona­len Ebene, also genau dort, wo das System des PRI-Kazikentums am stärksten ver­wurzelt ist und bis heute am effektivsten funktioniert.
Das Projekt pluriethnischer Regionen
Die “Erklärung von San Cristóbal” und das ihr zugrundeliegende, von 13 Indígena-Organisationen unterzeichnete Dokument vom September 1994, “die Autonomie als neue Beziehung zwischen den Indígena-Völkern und der Nationalge­sellschaft” betonen daher, daß die Indígena-Bewegung zwar aus historischen Gründen zum Protagonisten des Kampfes um Regionalautonomie geworden sei, daß es jedoch nicht um das Errichten von Pri­vilegien und von “ethnisch homogenen” Gebieten gehe:
“Die Autonomie, die wir fordern, ist kein neues Ausschlußprojekt und stellt sich auch nicht abseits des Strebens der Mehr­heit der Mexikaner nach Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit. Im Gegenteil, die Autonomie ist der indianische Vor­schlag, um zum ersten Mal in der neueren Geschichte in ein demokratisches Leben eintreten zu können; es ist auch der Bei­trag der Indígena-Völker zur Errichtung einer demokratischeren, gerechteren und menschlicheren Nationalgesellschaft. In diesem Sinne identifiziert sich unsere Autonomieforderung mit dem Kampf aller nicht-indianischen Mexikaner, die eine neue Gesellschaft erstreben. Unser großes Projekt politischer Autonomie schließt auch niemanden im Inneren der Regionen aus, in den verschiedene Gruppen zu le­ben. Es sieht in den Regionen, in denen verschiedene soziokulturelle Gruppen oder Völker leben, die Entscheidungsfrei­heit derselben vor, um in Einheit und Ver­schiedenheit, nach den Prinzipien von Gleichberechtigung und gegenseitigem Respekt, zusammenzuleben. Es geht also um die Errichtung plurikultureller oder pluriethnischer Regionen”.
Kompetenzen der autonomen Regionen
Ein derartiges Autonomie-Projekt be­zweckt die Einführung einer zusätzlichen regionalen Zwischenebene oberhalb des Municipio-Distriktes und unter­halb der Bundesstaatsebene. Die Region betreffen-de Entscheidungen sollen zu­nächst durch die von den verschiedenen Organisationen plural besetzten Regional­räte und später durch die von Delegierten aller Dorfgemeinden gebildeten Regional­parlamente getroffen werden; die Kom­petenzen sollen den pluriethnischen Re­gionen Mexikos in einem Drei-Stufen-Modell übertragen werden: In einer ersten Phase beschränken sich die Kompetenzen auf eine administrative Dezentralisierung, die vor allem die Selbstverwaltung öffent­licher Haushaltsmittel und die eigen­ständige Erarbeitung von regionalen Entwicklungs- und Ressourcennutzungs­plänen umfaßt. Der zweite Schritt des Indígena-Projektes besteht aus der “Kul-tur-Autonomie”, der souveränen Ent­scheidung über Sprache, Erziehung, Reli­gion, Kommunikationsmittel usw. In der dritten Autonomiephase soll den Regionen politische Kompetenzen hinsichtlich der territorialen Souveränität und der Ent­scheidungsmechanismen zur Ernennung ihrer lokalen, regionalen und nationalen Vertreter zugestanden werden. All dies basiert auf der rechtlichen Grundlage der von Mexiko längst unterzeichneten ILO-Konvention 169 über Territorialansprüche indigener Völker.
Erste Schritte zur Regionalautonomie in Chiapas
Den detaillierten Dokumenten folgen seit dem 12. Oktober konkrete Taten: Im Nor­den des Bundesstaates hat die mehrheit­lich von Tzotzil, Chol und Zoque gebil­dete Campesino-Organisation CIOAC be­reits die “Autonome Indígena-Region Nord-Chiapas” mit 11 Municipaldistrikten und einer Bevölkerung von 120.000 Ein­wohnern ausgerufen. Die Rathäuser von Soyaló, Simojovel und Huitiupan wurden besetzt und deren ,dank Wahlfälschung, amtierende PRI-Bürgermeister wegen “Korruption und Unfähigkeit” abgesetzt. Die Fincas von Ixtapa und Jitotol wurden beschlagnahmt und an landlose Familien übergeben, die gesamte Region wird zur Zeit mit Hinweisschildern versehen, in denen Regierungsbeamte darauf hinge­wiesen werden, daß “sie ein Eindringen in die autonome Zone selbst verantworten müßten”. Alle Verhandlungen mit Regie­rungsinstanzen sind abgebrochen worden, bis “eigene, demokratische Institutionen an ihre Stelle” treten. CIOAC-Sprecher Arturo Luna erklärt: “Jetzt beginnen wir langsam, uns die Rathäuser zu nehmen, wir trauen uns, uns selbst zu regieren… Wir merken, wir können regieren und unsere eigenen Pläne erstellen für Regio­nalentwicklung, Infrastruktur, Erziehung und nach den Erfordernissen unserer Re­alität”.
Als nächstes erklären die 38 Dörfer des Marqués de Comillas, einer Grenzregion der Selva Lacandona, die nicht vom EZLN kontrolliert wird, ihre Unabhängig­keit gegenüber dem Municipio-Distrikt Ocosingo, einem von PRI-Kaziken und Viehhändlern beherrschten Ort. Das jetzt “freie Municipio Comillas” wird von einem aus allen Dorfautoritäten und vier regionalen Campesino-Organisationen zu-sammen­gesetzten Kollektivrat regiert, alle Zufahrtswege sowie die Verbindungs­straßen in die benachbarten Bundesstaaten Yucatán und Campeche sind gesperrt.
Gleichzeitig rufen ca. 15.000 Mitglieder der Kleinbauernkaffee-Organisation OR-CAO am Südrand des vom EZLN kontrollierten Territoriums die “Autonome Region Selva” aus. Neben anderen Regie­rungsinstanzen werden alle Schulen sowie der Sitz der Schulverwaltung geschlossen: “Die zweisprachigen und einsprachigen Lehrer dieser Schulen dürfen nicht weiter­arbeiten, bis sie ein Erziehungsprojekt ausarbeiten, das unseren Bedürfnissen entspricht und das auch politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Aspekte einbezieht. Wir, die Dorfgemeinden, wer­fen die Lehrer nicht raus, sondern sie sollen sich unserem Kampf anschließen”, erklärt Juan Vázquez von der ORCAO.
Wie in Chiapas so in Mexiko?
Bis Anfang November, also knapp einen Monat vor der geplanten Machtübergabe an die neuen PRI-Regierungen von Zedillo in Mexiko-Stadt und von Robledo in Chiapas, umfassen die mittlerweile vier autonomen Regionen schon 58 Municipios und mehr als die Hälfte der Fläche des gesamten Bundesstaates Chiapas. Doch “Chiapas darf nicht allein gelassen werden”: Die Nationale Konven­tion der Indígena- und Campesino-Orga­nisationen würdigt Ende Oktober die Autonomiebewegung als wichtigsten Bei­trag der Indígena-Völker zur Demokrati­sierung Mexikos, als einen konkreten Schritt im Übergang “vom zivilen Wider­stand zum zivilen Aufstand”, die Konven­tion ruft daher ihre Mitglieds­organisa-tionen im ganzen Land zur Nachahmung auf.

Kein Artikel von Gunther Dietz

Seit Juli dieses Jahres untersucht Gunther Dietz im Rahmen eines Dissertationssti­pendiums der Friedrich-Ebert-Stiftung Transforma­tionsprozesse in den Indígena-Gemeinden der Meseta Purhépecha im mexikani­schen Bundesstaat Michoacán. Er arbeitet auch für die Indígena-Nachrichten­agentur AIPIN (Agencia In­ternacional de Prensa India), die auf dem ganzen Kontinent tätig ist und über einen Beobachterstatus bei den Vereinten Na­tionen verfügt. Mit mehre­ren AIPIN-Mit­arbeiterInnen begleitete er einen 60 Ki­lometer langen Protestmarsch der Purhé­pecha-Indígenas nach Morelia, der Haupt­stadt des Bundesstaates Michoacán.
Die Entführung
Nach Abschluß der Indígena-Proteste wurde er am 28. September von drei be­waffneten Männern in Zivil festgenom­men, als er am Busbahnhof von Morelia auf die Rückfahrt nach Purhépecha war­tete. Dietz wurde in ein zweites Auto ver­frachtet, wobei es den Entführern gelang, Rogelio Marcado, Leiter des AIPIN-Re­gionalbüros von Michoacán, abzuschüt­teln, und wurde in die rund 500 Kilometer entfernte Hauptstadt (Mexiko, D.F.) ge­fahren.
Einer der Männer, die ihn verhaf­tet hatten, gab sich als Mitglied der “Nationalen Si­cherheit” (Seguridad Nacional), einer Art Geheimpolizei, aus. Der Hamburger Wissen­schaftler erhielt kei­nerlei Gelegen­heit, sich mit seiner Frau oder mit einem Ver­treter der Deutschen Botschaft in Verbin­dung zu setzen.
Die Verhöre
In der Hauptstadt angekommen, wurde Gunther Dietz in die Einwanderungsbe­hörde (Instituto Nacional de Migración) gebracht, wo ihm zuerst seine Tasche mit persönlichen Papieren und Unterlagen von AIPIN abgenommen wurde. Anschließend begann ein mehrstündiges Verhör durch zehn (!) Männer einer “Grupo Especial”, wobei er permanent gefilmt und seine Aussagen auf Tonband aufgenommen wurden. Obwohl er mehrmals auf den of­fiziellen Charakter seiner Studien hinwies und auch mehrere Kontakte zu Regie­rungsstellen angeben konnte, wurde er le­diglich über politische Kontakte in Mi­choacán ausgefragt und seine Arbeit als subversiv dargestellt.
Nach einer kurzen Pause wurde das Ver­hör weiter intensi­viert und mehrere Stun­den fortgesetzt. Ihm wurde sogar vorge­halten, daß er mit anderen AusländerInnen an einem “Komplott” in der Meseta Pur­hépecha beteiligt sei. Dabei wurden ihm unzählige Fotos von AusländerInnen vor­gelegt, die angeblich “Indios aufstacheln”. Auf vielen der Fotos waren fünf seiner StudentInnen aus Hamburg zu sehen, mit denen er im Juli im Rahmen einer Exkur­sion der Uni­versität Hamburg eine empiri­sche Studie in Michoacán durchgeführt hatte. Je län­ger das Verhör dauerte, um so abstruser wurden die Anschuldigungen: Zwischen­zeitlich rückte er sogar zum Or­ganisator einer In­dígena-Rebellion auf.
Erst am Abend wurde ihm erlaubt, die Botschaft zu benachrichtigen und seine Frau anzurufen, die daraufhin die “Mexikanische Liga für Menschenrechte” einschaltete, welche sich – allerdings ver­geblich – um seine Freilassung bemühte. Auch die Intervention der Friedrich-Ebert-Stiftung und des PEN-International blieb ohne Wirkung.
Statt dessen wurde er um Mitternacht zum dritten Mal verhört. Thema diesmal: Der Aufstand der ZapatistInnen und seine Kontakte zu Volks- und Nichtregierungs­organisationen in Chiapas – dabei war Gunther Dietz noch nie in Chiapas. Erst weit nach Mitternacht und nachdem er die Stimme verloren hatte, wurden die Ver­höre been­det. Ohne die Verhörprotokolle ausrei­chend einsehen zu können, mußte Gunther Dietz diese unterschreiben, bevor er in ein Gefängnis gefahren und bis zum nächsten Morgen in eine Einzelzelle ge­sperrt wurde. Zum ersten Mal nach ein­einhalb Tagen durfte er einige Stunden schlafen.
Die Ausweisung
Am nächsten Tag wurde er zwar von ei­nem Arzt im Gefängnis untersucht, doch weder seine Stimmbänder noch seine Grippe wurden behandelt. Sofort nach dem Arztbesuch wurde er zum internatio­nalen Flughafen gefahren, wo er erneut bis zum Abend eingesperrt wurde. Ein Vertreter der Migrationsbehörde erklärte ihm, daß seine Behörde keinerlei Einfluß auf seinen Fall habe. Die Entscheidung würde von der Geheimpolizei getroffen.
Um acht Uhr abends erfuhr er von einem Luft­hansa-Angestellten, daß er ausgewie­sen und mit der nächsten Maschine eine halbe Stunde später nach Frankfurt geflo­gen werden würde. Dort kam er krank und ohne Geld am nächsten Tag an, und fuhr per Anhal­ter zehn Stunden nach Hamburg.
Erst dort konnte er erneut Kontakt mit sei­ner Frau aufnehmen, die seit dreißig Stun­den keine Nachricht mehr von ihm hatte. Fast unnö­tig anzumerken, daß er weder seine Ta­sche mit den Doku­menten zu­rückerhielt, noch die Papiere, die er unter­schreiben mußte. Bis heute hat er den of­fiziellen Grund seiner Ausweisung nicht erfahren.
Gezielte Repression
Die gesamten Umstände der Verhaftung und Ausweisung von Gunther Dietz weisen darauf hin, daß er Opfer der gezielten Re­pression der mexikanischen Regierung geworden ist. Nicht zum ersten Mal hat die Regierung ihr unliebsame Ausländer­Innen des Landes verwiesen. Wer nicht nach Mexiko kommt, um in die neolibe­rale Wirtschaft zu investieren und Ge­schäfte zu machen oder alte Azte­ken- und Maya-Tempel zu besichtigen und die schönen Strände zu genießen, ist verdäch­tig. Und wer sich für die Lage der Ärm­sten der Armen, der Indígenas, inter­essiert, ist ganz besonders verdächtig. Ins­besondere deren Lage hat sich durch NAFTA, den Freihandelsvertrag mit den USA und Kanada, noch weiter ver­schlechtert. Doch Chiapas hat gezeigt, daß die Indígenas nicht mehr bereit sind, Un­terdrückung und Ausbeutung ohne Ge­genwehr weiter zu akzeptieren. Verände­rung ist angesagt. Doch statt auf Ent­wicklung setzt die mexikanische Regie­rung weiterhin auf Repression. Zeugen, zumal aus dem Ausland, sind da uner­wünscht.

Vom Charme und der Falle

Wie kann der Feminismus die Ereignisse von Chiapas beurteilen? Von einem Traum und von einem Standpunkt aus, die sich nicht darauf beschränken, Gleichheit für Frauen innerhalb des be­stehenden kulturellen Rahmens zu su­chen, der sich auf Aggression, Konkur­renz, Kampf, Kontrolle, Herrschaft, Ne­gation des Ande­ren (der Anderen) stützt. Sondern vorzu­haben, dieses Ge­flecht von Bildern von­einander, von uns selbst und von unserem Verhältnis zur Natur zu ändern – von einem Feminis­mus, der andere Logiken und Ethiken für das Leben sucht?
Für uns ist der Feminismus grundlegend pazifistisch und antikriegerisch. Niemals führt Aggression zu Freiheit und Frie­den, auch wenn wir Feministinnen manchmal aggressiv sind. Der Krieg in allen seinen Formen war immer das Rückgrat der Macht, der Ordnung und der Herrschaft des Patriarchats. Viel­leicht war deswegen der Krieg immer “Männersache”, auch wenn einige Femi­nistinnen gleiche Rechte für Frauen for­dern und dafür kämpfen, zu männlichen Räumen und männlicher Logik zugelas­sen zu werden, also auch zum Militär: Das sind machistische Räume und ma­chistische Disziplin (kein Platz für Schwache, Feiglinge oder solche, die nicht gehorchen können oder die eine ei­gene Meinung haben). Haben Sie be­merkt, daß Waffen immer an einen eri­gierten und ejakulierenden Penis erin­nern? …Die Waffen die Gott ihnen gab, wie Subcomandante Marcos sagt?
Feminismus ist antikriegerisch und pazi­fistisch, obwohl Feminismus grundle­gend rebellisch ist, ein großer Akt der Rebellion. Die rebellischte aller Rebel­lionen. Die sich gegen alle Rechtferti­gungen wendet, um den Anderen, die Anderen, die Andere, zu leugnen, die neue Formen des Zusammenlebens zwi­schen Natur und Kultur sucht. Eine zivi­lisatorische Rebellion, die von Frauen ausgeht, die aber alle betrifft.
Macht durch eigenen und fremden Tod
Der Krieg in Chiapas ist auch rebellisch und besitzt eine Eigenart gegenüber den offiziellen Kriegen: Er erhebt das Wort gegen diejenigen, die es leugnen. Darin ähneln die Indios den Frauen: Sie sind das Andere, das unsichtbar gemacht wird, verschwiegen wird, bestraft wird und unterdrückt wird. In vielen Analysen über die Situation der Indios könnte das Wort “Indio” durch “Frau” ersetzt werden und umgekehrt. Beide interessieren kaum jemanden. Für die Medien sind sie keine Nachricht, für die Behörden sind sie unsichtbar, für die Mehrheit sind sie sowas wie Minderjährige, die man nicht versteht (Marcos hat viele daran erin­nert), die nicht wissen, was sie wollen. Ihre Kultur, ihre Identität ist eine “Andere”, die nichts beiträgt zu “Entwicklung”, “Fortschritt”und “Wissenschaft”, die näher dran ist am “Primitiven”, “Wilden”, “Reproduktiven”, “Natur” als an der “Kultur” und dem “Verstand”.
Die Indios von Chiapas haben gegen die Unsichtbarkeit, die Stille, die Abwer­tung, die tägliche Verachtung und den täglichen Tod rebelliert. Sie haben gegen die Nicht-Anerkennung des Anderen re­belliert. Aber sie haben mit Waffen, Ge­walt und Krieg rebelliert, das heißt mit den Mitteln, die die Situation herbeige­führt haben, die sie bekämpfen. Der Krieg ist der blutige Kampf um die Macht durch den eigenen und fremden Tod. Macht, die auf diese Logik aufbaut, kann sich gleichwertig neben die sie un­terwerfende Macht stellen (so war es bei den zentral- und südamerikanischen Guerillas, die diese Gegenmacht letzten Endes nicht durch Waffen auflösen konnten) oder die Übermacht der einen über die anderen erreichen. Im letzten Fall wird der Sieger, unabhängig von sei­nen “guten Absichten” kurz oder mittel­fristig wieder seine Logik den Anderen aufzwingen und damit den Teufelskreis des Systems weiterführen.
“Entwicklung” um die Menschheit zu zerstören
Der patriarchale Liberalismus hat “den Weg der EZLN-Guerilla” kritisiert, mit der Begründung daß “Gewalt nie der Weg sein kann”. Aber das ist eine heuchlerische Kritik, weil ihre Logik und Ethik selbst die der Gewalt sind. Das Patriarchat hat nicht nur die schlimm­sten Formen der Armut hervorgebracht, der Unterwerfung, der Zerstörung und des Todes, sondern es hat auch aus der “Entwicklung” ein Mittel zur Zerstörung der Menschheit gemacht. Die Technik ist nicht zum Genießen des Lebens ge­macht, sondern zur Kontrolle und Ge­horsam durch die Drohung mit Zerstö­rung und Tod. Das Patriarchat kritisiert die Gewalt nur dann, wenn sie vom An­deren kommt, wenn sie die Herrschaft der einen über die anderen in Frage stellt. Wenn aber Gewalt angewandt wird, um ihre eigene Logik und Herr­schaftsformen durchzusetzen, wird sie unsichtbar gemacht. Es gibt nicht einmal das Bewußtsein über diese Essenz von Gewalt, die das patriarchale System am Leben hält. Innerhalb dieser Logik ist es sehr logisch, mit Gewalt und Krieg zu antworten. Der Aufstand von Chiapas hat das Spiel mitgespielt: Wenn die zer­störerische Macht ausschlaggebend für das Recht ist, dann gibt es kein Recht ohne eine Gegenmacht: “Frieden ist nur möglich, wenn es zwischen den Parteien ein Gleichgewicht von tödlicher Macht gibt”. Der Zweck heiligt die Mittel.
Aber die feministische Kritik greift die Grundlagen dieser beiden Delirien grundlegender und radikaler an. Egal ob von den Mächtigen oder den Entmachteten: Im Namen des Gemeinwohls bleiben die Freiheit und das Leben immer außen vor. Im Gegensatz zu den Rebel­lionen innerhalb des patriarchalen Sy­stems sucht der Feminismus eine andere Dimension des Zusammenlebens. Dabei ist eine Ethik gesucht, die eben nicht da­von ausgeht, daß der Zweck die Mittel heiligt, denn der Gegensatz von Form und Inhalt ist eine der Grundlagen des herrschenden Systems.
Der patriarchale Diskurs der EZLN
Jede Handlung sagt mehr als ihr verbaler Diskurs. Jede Handlung produziert ex­plizite und implizite Symbole und Muster davon, was als möglich und wünschens­wert angesehen wird. Ein kultureller (oder gegenkultureller) Diskurs situiert sich dadurch, daß er Werte schafft, in­dem er Gefühle, Wünsche und Aktionen verbindet. Wir finden den allgemeinen Diskurs der EZLN in zweierlei Hinsicht äußerst patriarchal.
Erstens festigt er die Auffassung, daß Gewalt nur mit Gewalt bekämpft werden kann, und daß Gewalt legitim ist, wenn sie von den Entmachteten und Unter­drückten angewandt wird. Dagegen ha­ben wir Feministinnen schon viel gesagt. Zweitens hat die EZLN mit der gleichen Ethik, die sie zu bekämpfen vorgibt (die der ökonomischen und politischen natio­nalen und internationalen Macht) vor­sätzlich die Rechtfertigung gesucht, um zu töten und zu sterben. Ihre Taktik, eine formale Kriegserklärung abzugeben, ein Gebiet unter ihre militärische Kontrolle zu bringen, in dem ein Alltag gelebt wird, Militäruniformen zu erlangen, zu verteilen und zu präsentieren, traditio­nelle militärische Strukturen und Posten einzuführen usw. – mit all diesen Mitteln hat die EZLN Respekt vor den Regeln des “modernen” Patriarchats gezeigt, die entwickelt wurden, um die schrecklichen Konsequenzen seiner kriegerischen Ob­sessionen zu verharmlosen (die soge­nannte Genfer Konvention); der Respekt sollte dazu führen, nach den gleichen Regeln als “kriegsführende Macht” aner­kannt zu werden. Nach den herrschenden Kriterien ist das ohne Zweifel “eine sehr intelligente Taktik”, aber für uns bedeu­tet das die Anerkennung des Systems des Todes und der Ausrottung, indem die “Notwendigkeit und Gültigkeit” betont wird, den Kriegswahnsinn zu regeln und sich in sie einzuordnen.
Politik als Feld des Pragmatismus
In seinen spezifischen Aspekten er­scheint der Diskurs der EZLN nicht so vereinfachend, sondern viel komplexer. Darum hat er eine weitverbreitete Sym­pathie geweckt. Dennoch muß der Dis­kurs genauer und aus feministischer Sicht analysiert werden.
Zuerst fiel darin auf, daß das neoliberale ökonomische Modell als unhaltbar be­zeichnet wird, daß es nicht das ist, als was es die Regierung verkauft. Daß es ein Modell ist, das trotz seiner wunder­baren makroökonomischen Erfolgszah­len mindestens 40 Millionen Mexikane­rInnen ausschließt und das trotz seiner “Demokratie”-Versprechen diese nur für einige wenige möglich macht. Diese In­formationen sind überhaupt nicht neu, aber der neo-zapatistische Aufstand gibt ihnen eine neue Dimension, die darüber hinausgeht, sie nur immer wieder zu be­nennen. Wir meinen das Recht, gegen das zu rebellieren, was uns verletzt und uns verschwinden läßt.
Mit dem Fall der Mauern und der patri­archalen Utopien ist das Ende dieses Jahrhunderts an eine große Hoffnungs­losigkeit gelangt, an das Fehlen von zivi­lisatorischen Perspektiven, an eine ab­solute Relativierung von Gut und Böse und gleichzeitig an vertiefte fundamen­talistische Moralvorstellungen, an eine verstärkte Gleichförmigkeit und Gleichmacherei, die jede reale Diversi­tät, jede tiefgehende Kommunikation erdrückt. Mit der immer größeren Par­zellierung des Wissens und des Verhält­nisses zum Leben und zur Welt verstärkt sich auch das Gefühl der Unmöglichkeit von Utopien. Dadurch ist die Politik zu einem Feld des Pragmatismus geworden. Auf der einen Seite schien es, als ob die Rebellion ihren Sinn verloren hätte, daß es nur möglich sei, unter der mathemati­schen Kalkulation des Machbaren zu agieren, nur kurzfristig zu handeln ohne den Bezug zum Wünschenswerten zu messen, ohne an eine wünschenswerte Zukunft zu denken, ohne die Phantasie anzuspornen, da ja schon alles wün­schenswerte gescheitert war. Auf der anderen Seite gab es eine verbreitete Praxis, daß nur die Methoden, Formen und Spielräume, die innerhalb des Sy­stems gegeben werden, Fortschritt und Wandel erlauben – es war nicht möglich, aus der Legalität auszuscheren.
Rebellion wieder denkbar
Ein großer Teil der Sympathie und des Erstaunens über die EZLN läßt sich dar­auf zurückführen, daß sie die Möglich­keit zur Rebellion wiedererweckt hat. Aber darüber hinaus hat sie das Recht wiederhergestellt, die Differenz einzu­fordern, sich der Gesetze der Unter­drücker zu entziehen, die Würde auf an­deren Wegen auszudrücken. Das Recht, eigene Alternativen auszuprobieren, das Recht anzuzweifeln, was als Gut gegeben ist, oder was als Wert alles andere aus­schließt. In anderen Worten hat die EZLN eine Hoffnung für die Differenz, die Vielfältigkeit geweckt. Das sind Elemente, die feministischer Phantasie Nahrung geben.
Dann ist da noch der explizite Diskurs der EZLN, der in den Kommuniques zu uns gelangt ist und den wir sehr glaub­würdig finden. Das steht in Verbindung mit dem oben Gesagten, da ein Teil der zivilisatorischen Hoffnungslosigkeit mit der fehlenden Kommunikation zwischen Politik und Individuen zu tun hat. Der Aufstand begann ohne eine absolute Wahrheit oder eine messianische Spra­che im Stil eines Sendero Luminoso. Der Vorschlag war nicht, eine einzige für alle gültige Macht zu installieren, weil die EZLN explizit betonte, nicht die Macht übernehmen zu wollen. Sie erkannten die Pluralität an und redeten und interpre­tierten nur von sich selbst aus, nicht im Namen von anderen. Das ist ohne Zwei­fel neu und viel demokratischer als die traditionellen politischen Diskurse, da­mit unterscheiden sie sich von den Gue­rillas des Kontinents. Aber diese Hal­tung verliert sich von dem Augenblick der Verhandlungen mit der Regierung.
Die ausschließende Macht der Waffen
Bei den Verhandlungen zeigte sich wie­der einmal der traditionelle, formale, selektive und männliche Stil, Politik zu machen: Zwei Kräfte, die als solche nicht das Ganze repräsentieren, verhandeln untereinander das Schicksal von allen. “Alle” können mehr oder weniger sein, aber zumindest in Chiapas gibt es da diejenigen, die die EZLN unterstützen, diejenigen, die gegen sie sind, und dieje­nigen, die auf keiner Seite stehen. Und unter diesen letzten beiden sind nicht nur Viehzüchter und Kaziquen. “Alle” sind die Vielfalt dieser Region. Ein nicht repräsentativer Frieden schließt nur die ein, die die Macht der Waffen besitzen (die offiziellen oder die aufständischen) und ist damit der Wille, keinen Frieden zu erreichen. Das Schicksal einer Region und vielleicht auch der ganzen Nation (denn es ist nur wenig bekannt geworden darüber, was tatsächlich verhandelt wurde) gehört in die Hände der Vielfalt und nicht nur in die Hände derjenigen, die Waffen haben und durch diese Macht zeitweilig die ewig Mächtigen herausfor­dern können.
So zeigen der Krieg und seine Folgen eine Konfrontation, die nichts zu tun hat mit der Diversität und Pluralität, auch wenn diese zum Diskurs und den ehrlich­sten Absichten einer der beiden Parteien gehören. Früher oder später kann der Teufelskreis neu beginnen.
“Wer hat das Recht zu entschuldigen?”
Ein zweiter Aspekt des Diskurses der EZLN ist vielversprechender und wei­terführender. Von den traditionellen Politikern gelangt ein flacher, phanta­sieloser, wiederholender, demagogischer und linearer Diskurs zu uns, in dem sich niemand wiederfindet. Ein Diskurs, der sich nicht an das tägliche Leben richtet und der implizit und symbolisch nichts sagt und sich explizit nur an die Initiier­ten richtet. Der Diskurs des CCRI (Comité Clandestino Revolucionario In­dígena) und besonders die Komuniques des Subcomandante Marcos haben viele Menschen angesprochen. Ihr literari­scher Charakter, vielleicht ein bißchen rethorisch und theatralisch, aber mit ei­ner ständigen Verbindung zwischen Ver­stand und Gefühlen, hat meistens den Alltag berührt, die Fragen, Schmerzen und Hoffnungen des unzufriedenen Indi­viduums; ein Diskurs, der ohne Angst und gegen alle Gewohnheit vom persön­lichen Standpunkt aus spricht und auf diese Weise nicht nur informiert, son­dern kommuniziert und in Dialog tritt, der witzig ist und sogar ironisch. In die­sem Sinn hat er Menschen aus Fleisch und Blut berührt.
Von einer Logik und einer symbolischen Ordnung aus, die nicht feministisch ist, hat er uns eine Lektion erteilt, von der wir lernen können. Diese Art von Kom­munikation war die feministische Utopie von Kommunikation, die sich verloren hat, weil wir irrtümlich glaubten, daß wir nur dann gehört werden, wenn wir die Sprache des Anderen sprechen. Die Sprache hat uns Frauen niemals benannt, und als wir lernten uns zu stammeln, be­gannen wir, den Diskurs nachzuahmen, den wir ändern wollten. Wir sind zu Spe­zialistinnen in Frauenthemen geworden, mit einer Sprache, die nicht mehr kreativ ist, mit symbolischen Codes, die die männliche Vorstellungswelt unterstützen und nichts Neues schaffen, die näher an den Sozialwissenschaften sind als am alltäglichen Leben.
Vier Fragen
Trotz seiner neuen und kreativen Aspekte und trotz all seiner Alternativen und trotz allem was wir von der EZLN lernen können: Wir Feministinnen wis­sen, daß das Patriarchat viele ursprüng­lich schöne Utopien hervorgebracht hat (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Internationalismus, etc.), aber alle sind gescheitert, weil sie die interne Logik nicht angegriffen haben. Und vom Au­genblick an, in dem die EZLN ihre Al­ternative auch innerhalb dieser Logik plaziert hat, und außerdem vom Krieg aus, müssen wir doch ein paar Fragen stellen:
Erstens: Sollen wir so naiv sein, zu glau­ben, daß der Aufstand für die Regierung überraschend kam? In einem so militari­sierten Staat wie Chiapas: Wie sollte das Militär nicht über die Pläne der EZLN informiert sein? Ist es möglich, daß in einem so umfassenden Gebiet sieben- bis zehntausend Personen unterwegs sind, ohne daß die Regierungskräfte es merk­ten? Wenn der Aufstand so gefährlich für die Regierung war, warum haben sie ihn kommen lassen?
Zweitens: Woher werden die Zapatistas finanziert? Zwar hat die EZLN keine großen oder modernen Waffenbe­stände, aber die sie hat, inclusive die über tausend Uniformen, kosten viel Geld, und dieses kommt offensichtlich nicht aus den leeren Beuteln der hun­gernden Aufständischen.
Drittens: Es ist wahr, daß Verhandlun­gen zwischen Kriegsparteien stattfinden müssen, aber gibt es in diesem Konflikt nur zwei Parteien? Sind nur diejenigen Partei, die Waffen haben und die Macht zu töten und zu sterben? Warum werden die Verhandlungen hinter verschlosse­nen Türen geführt? Die Gesellschaft, die sich unglaublich dafür eingesetzt hat, daß die Massaker gestoppt werden, daß Menschenrechte respektiert werden, daß Solidarität mit den Aufständischen ge­zeigt wurde hätte dabeisein müssen. Warum wissen wir nicht einmal, worüber verhandelt wird, was angeboten wird und was geopfert wird? Wir verstehen, daß die Regierung alle Anstrengungen un­ternimmt, um dies als einen lokalen Kon­flikt darzustellen, aber nicht mal auf lo­kaler Ebene wird der Frieden nur zwi­schen zwei Kräften hergestellt werden. Die zivile Gesellschaft hat auch in vielen Formen gekämpft, und die CCRI gibt vor, all diese Formen anzuerkennen. Aber warum hat dieser Kampf keinen Wert mehr, wenn es um Verhandlungen und Abkommen geht? Ist er nur die Un­terstützung der Nachhut für den Krieg? Dies ist nicht nur das Problem der EZLN, auch wenn die Guerilleros im Augenblick die Macht haben, zu relativ gleichen Bedingungen zu verhandeln. Das ist auch ein Problem der Gesell­schaft, die an hierarchische Politikfor­men gewöhnt ist, in der immer irgendwer die anderen repräsentiert, wo man/frau nicht fähig ist, sich selbst zu repräsentie­ren. Hat das nur mit traditioneller Poli­tik zu tun?
Viertens: Ist es möglich, ein konkrete demokratische pluralistische Alternative in einer Gesellschaft aufzustellen, die so autoritär ist wie die chiapanekische? Der Autoritarismus ist in Chiapas nicht im Alleinbesitz der Kaciquen und Reichen. Alle Konflikte in dieser Region wurden mit Gewalt “gelöst”. In Chiapas gibt es über 25.000 aus ihren Gemeinschaften ausgestoßene Indios. Die Grundlage der Beziehungen sind Intoleranz, das einzige Gesetz ist “Du bist mit mir oder gehst oder stirbst.” Können wir in diesem Rahmen an Worte glauben, bloß weil sie schön klingen oder etwas versprechen?
Das revolutionäre Frauengesetz der EZLN
Es ist uns schwer gefallen, das Revolu­tionäre Frauengesetz der EZLN zu be­werten. Allgemein ist es sicher kein fe­ministisches Programm, da es nur einige Frauen-Forderungen aufstellt und kein Vorschlag für die ganze Gemeinschaft aus der kritischen und bewußten weibli­chen Sicht ist. Aus unserer städtischen, westlichen und erleuchteten Sicht und dadurch daß die indianischen Frauen fast unsichtbar sind und der Krieg sie jetzt buchstäblich unerreichbar gemacht hat, ist es fast unmöglich zu beurteilen, ob das Gesetz ein Produkt eines Prozesses unter den Frauen gegenüber patriarcha­len und gewalttätigen Sitten und Ge­wohnheiten ist, oder ob die FührerInnen sich etwas ausgedacht haben, um die Frauen in die traditionell männlichen Aufgaben zu integrieren und ein Bild von interner Demokratie abzugeben. Denn mittlerweise haben grundlegende femi­nistische Forderungen die meisten so­zialen Bewegungen erreicht. Die verbale Wertschätzung von Frauen in Zeiten von Kriegen hat schon Tradition in der Ge­schichte von Guerillas oder in starken nicht-kriegerischen Konflikten, ohne daß sich dadurch die tatsächlichen Lebens­bedingungen von Frauen verbessert hätten.
Daß sich Frauen aussuchen sollten, ob und wen sie heiraten, ist wahrscheinlich das revolutionärste der Gesetze, jeden­falls wenn es nicht nur auf dem Papier steht. Es wäre deshalb so revolutionär, weil es die Bürden und kulturellen Tra­ditionen von Herrschaft und Verfügung über den Körper und die Lust von Frauen angreifen würde.
Die Beteiligung von Frauen in regulären oder irregulären Kriegsapparate er­scheint uns überhaupt kein Gewinn. Ob es Guerilleras oder Soldatinnen gibt, än­dert die Kriege nicht, und zusätzlich be­zieht es die Frauen in die grundlegenden Institutionen der Herrschaft, die der Gewalt und des Todes mit ein. Das Bild einer Frau in Militäruniform mit einer Waffe ist für uns nicht ästhetisch. Das Bild sagt, daß Frauen auch gelernt haben zu töten. Und das ist das hoffnungslose­ste aller Angebote.

Zwischen Hoffnung, Banalität und Farce

Während “Nación Purhépecha”, eine re­gionale Koordination der Dorfgemeinden, alle Aufahrtsstraßen blockiert, und so das Hochland zumindest einen Tag lang sym­bolisch die erstrebte Territorialautonomie erreicht, ziehen Beamte des Landwirt­schaftsministeriums durch die Dörfer und verteilen PROCAMPO-Schecks. Das sind umgerechnet 200 Mark-Almosen, die jede Bauernfamilie aus dem “Programm zur Stärkung der Konkurrenzfähigkeit der mexikanischen Landwirtschaft” gegenüber den NAFTA-Partnern Kanada und den USA, erhält.
Als Gegenleistung müssen sich die Bau­ern verpflichten, die “solidarische” Hilfe bei den Wahlen entsprechend zu würdi­gen. Nur in einigen, besonders kämpferi­schen Gemeinden betonen die campesinos ihr Anrecht auf Gelder der öffentlichen Hand und werfen die Beamten aus dem Ort. Gleichzeitig ziehen PRI-Führer durch die Dörfer und kaufen in letzter Minute ein paar Stimmen in dieser cardenisti­schen, also oppositionellen Region. Die Herren Ruíz, Toral und Velásquez, die PRI-hörige Elite von Paracho, tauschen Stimmen gegen Lebensmittelpakete.. Währenddessen beglückt das Gemeinde­kommittee der PRI in Cherán fieberhaft die Jungwähler mit Alkohol (1 Stimme = 1 Liter “Ron Presidente”), die campesinas mit Kilopackungen Tortillas und Bohnen und ihre Männer mit 50- bis 300 Peso-Scheinen; einige wichtige Familien erhal­ten Kälber als Geschenk, und die Bewoh­nerInnen des vor ein paar Jahren entstan­denen Slums am Dorfeingang werden mit Wellblechdächern beglückt.
Eine saubere Wahlmanipulation
Eine andere Variante der “Un­regel­mäßig­keiten” ist das Einziehen der persönlichen Wahlausweise, um Du­plikate anzuferti­gen, oder um sie ganz einzubehalten. In Nuro, einem rein cardenistischen Dorf, verschwinden so vierzig Ausweise, die von Doña Celia Ru­bio, der Frau des Kazi­ken, eingesammelt werden. In Paracho willigt eine Frauenko­operative sogar ein, ihre Ausweise dem PRI-Ortsvorstand aus­zuliefern – gegen das Versprechen, Kre­dite für sie zu beantra­gen. Angesichts die­ser althergebrachten Fälschungspraktiken, die entgegen allen “Modernisierungs-” und Öffnungsverspre­chen in den letzten Tagen um sich greifen, breiten sich Wut und Verzweiflung aus. Die Leute be­fürchten, daß sich die Wahl­situation von 1988 wiederholen könnte: Die Trends sprachen für die Oppo­sition, aber dann fiel der Zentralcomputer der Wahlbehörde angeblich aus. Ergebnis: PRI-Kandidat Salinas gewann.
Die große Mehrheit der Purhépecha trö­stet sich damit, daß ja diesesmal Wahlbe­obachter zugelassen sind und daß die großen Abschlußkundgebungen der Kan­didaten für einen deutlichen Sieg von Cárdenas sprachen. Entsprechend hoch ist die Wahlbeteiligung. Ab acht Uhr mor­gens bilden sich Schlangen vor den Ur­nen, alle warten geduldig darauf, ihren Wahlausweis vorzuzeigen, ihren Namen im WählerInnenverzeichnis wiederzufin­den, die drei Stimmzettel – für die Prä­sidentschaftswahlen sowie für die zwei Kammern des Nationalparlaments – auszu­füllen und abzugeben und schließlich ih­ren rechten Daumen mit waschfester Tinte zu markieren. Skeptische WählerInnen prüfen sofort, ob ihr Tintenfleck waschfest ist: Er ist es.
Wahlhelfer aus einer Großfamilie
In Tacuro bildet die ortsansässige PRI-Kazikenfamilie den Vorstand der einzigen Wahlkabine, und das, obwohl doch die Zusammensetzung aller Wahlvorstände einer Zufallsstichprobe entsprechen sollte! Auch in anderen Orten sind auffällig viele Kader der PRI-Minderheit in den Vor­stand gelangt und kontrollieren die Urnen. In Cherán finden sich nicht nur sämtliche Tote im Wahlverzeichnis, sie haben sogar schon allesamt zu früher Stunde gewählt! Dagegen müssen wirk­lich lebende Purhé­pecha unverrichteter Dinge nach Hause gehen, da sie trotz Be­sitz eines Wahlaus­weises nicht im Ver­zeichnis auftauchen und folglich gar nicht existieren.
Bei wackeligen Mehrheiten
wird nachgeholfen
Paracho, PRI-Festung im Hochland: Der Kazike Don Jesús Carranza , Besitzer der größten Gitarrenfabrik der Region ver­spricht seinen Arbeitern: “Wenn ihr PRI wählt, gibt es eine Lohnerhöhung, wenn nicht, werdet ihr entlassen!” Dann werden seine Tagelöhner zur nächsten Wahlka­bine gefahren, wo sie unter Aufsicht des Vorarbeiters ihr Kreuz machen.
In der Dämmerung
beginnt die Arbeit
Als die Wahllokale schließen, beginnt die Mobilisierung. Nur wenigen Wahlvor­ständen gelingt es, die Stimmenauszäh­lung ganz ohne ZeugInnen durch­zuführen, fast überall bilden sich Men­schentrauben um die Urnen, um zu ver­hindern, daß noch im Nachhinein weitere “Gespenster” wählen. Dennoch leistet der von der PRI gekaufte Wahlvorstand in Zopoco ganze Arbeit: Präsident und Se­kretär sprinten mit den drei Urnen des Dorfes zur bereit­stehenden camioneta und verschwinden. Wie später in der Di­strikthauptstadt be­kannt wird, erringt die Regierungspartei in Zopoco – als einzige Gemeinde in der Re­gion – eine knappe Mehrheit…
In der Nachbargemeinde Nurío, in der die Opposition 840 Stimmen und die Regie­rungspartei 7 Stimmen errungen hat, ver­sucht eine Patrouille der politischen Poli­zei, die Urne zu entwenden. Die Dorfbewoh­nerInnen strömen auf den Platz, um die Urne zu “retten” – solange, bis die Pa­trouille sich geschlagen gibt. Viele ver­bringen die Nacht in Gruppen um Fernse­her versammelt, um die ersten Hochrech­nungen abzuwarten. Zweifel und Be­fürchtungen werden bestätigt, als ein schweißgetränkter Innenminster auf der Bildfläche erscheint und mit gefrorenem Lächeln erklärt, es werde “aus informati­onstechnischen Gründen” keine Hoch­rechnungen der staatlichen Wahlbehörde geben, und das Verbot der Veröffentli­chung von Hochrechnungen der Nichtre­gierungsorganisationen bleibe bestehen. Dann, kurz nach Mitternacht, erste “Trends”: mindestens 50% für die Regie­rungspartei.
Dorfbewohner, die aus Chiapas von den ZapatistInnen zurückkommen, fassen die Entscheidungen der “Nationalen Demo­kratischen Konvention” zusammen: Wahlen waren immer nur ein Weg unter vielen. Sie sind gescheitert, nun beginnt der zivile und bewaffnete Widerstand.
Glocken läuten
den Widerstand ein
Am nächsten Morgen beginnt in Cherán, im Kerngebiet der Purhépecha, die “insurgencia civil”. Glocken läuten, alle kommen auf der Plaza zusammen, die Frauen mit Keulen und die Männer mit Macheten bewaffnet, die politische Polizei zieht sich zurück und funkt in die Pro­vinzhauptstadt. Während die Männer noch die letzten Wahlergebnisse diskutieren, besetzen die Frauen das Gelände des “Nationalen Indígenainstituts” (INI), einer Regierungsbehörde zur “Integration der indianischen Bevölkerung in die nationale Entwicklung”. Der einzige indianische Hochlandsender des INI verbreitet darauf­hin zum ersten Mal in zehn Jahren unzen­sierte Interviews mit den Purhépecha. Die Bundesstraße nach Guadalajara wird blockiert; Touristenbusse werden ange­halten., – “um Cárdenas in den National­palast zu bringen”. Auch die LKWs von Coca-Cola und anderen multinationalen Unternehmen werden beschlagnahmt. Ganz Cherán gleicht einer Wagenburg; Fahrer und Fahrgäste aus den Großstädten irren herum. Die Büros sämtlicher Regie­rungsinstanzen werden gestürmt. Die Be­amten werden “in den Urlaub nach Aca­pulco” geschickt, die Gebäude versiegelt. Ein Regenguß bewahrt das örtliche PRI-Büro vor einem ähnlichen Schicksal.
Chaotische Zustände
Am anderen Ende des Hochlands, in der Caoada, geht nichts mehr: Alle Straßen sind blockiert, nicht einmal die politische Polizei kann die Region verlassen. Die Regierung schickt daraufhin einen Mili­tärhubschrauber, der im Tiefflug über die Dörfer kreist, um “Aufrührer” zu fotogra­fieren. Ein Landeversuch auf der Plaza von Paracho erscheint allerdings ange­sichts der auf­gebrachten BewohnerInnen für die Mili­tärs lebensgefährlich, sie flie­gen weiter. Beim zweiten Versuch in Cherán be­reiten die BlockiererInnen ihren Besu­chern ein wahres Feuerwerk: Mit Böllern und Raketen wird der Hubschrau­ber so lange beschossen, bis er hinter der Vul­kankette verschwindet. Eine Versamm­lung wird einberufen. Was soll gesche­hen? Bloß vor den Fernsehern hoc­ken und fluchen? Ein junger Lehrer schlägt vor, alle PRI-AnhängerInnen aus dem Ort zu treiben, ihnen die kommuna­len Land­rechte abzuerkennen. Eine ältere Frau greift kopfschüttelnd ein: “Das sind doch auch Purhépecha wie wir! Was wür­dest Du tun, wenn Deine Frau nach einer schwierigen Geburt zu Hause im Sterben liegt und Dir der Kazike gegen eine lä­cherliche PRI-Stimme ein Bett im Kran­kenhaus in der Stadt anbietet? Wir sind doch alle so arm, daß wir leicht zu kaufen sind. Nicht die PRI-Leute unter uns sind schuld, sondern die Regierung, Laßt uns nicht gegeneinander kämpfen!” Nicken, breite Zustimmung. Als Kompromiß wird beschlossen, die lokalen PRI-Anführer nicht mehr im Gemeinderat zuzulassen. Was tun? Die politische Polizei entwaff­nen und ihre Wagen verbrennen? Der be­sonnene Don Chano winkt ab: “Aber dann kommt das Militär, und ich sag`s Euch, die sind noch schlimmer, fragt unsere Brüder und Schwestern in Chiapas!” Überhaupt Chiapas – “Warum glauben wir immer noch an Urnen und Stimmzettel, nach soviel Betrug? Was haben wir die letzten zehn Jahre getan, als sich die Za­patistas in der Selva organisiert haben, sich Waffen beschafft haben und trainiert worden sind? “Eine Nachbarin wendet ein, Chiapas sei ja reich, es gäbe Kaffee, Zuk­kerrohr und Rinderherden, davon könne man Waffen kaufen, aber doch nicht von unserem Mais, von unseren Bohnen. Krieg führen mit leerem Magen? Der Re­gen und die Dämmerung lösen das Treffen langsam auf; Einigkeit wird darüber er­zielt, Kräfte zu schonen und gemeinsam am Samstag zur “Eroberung” des Zócalo, des Haupt­platzes von Mexiko-Stadt, zu fahren, um “unseren legitimen Präsidenten Cuauhtémoc Cárdenas” in sein Amt ein­zusetzen – Busse gäbe es ja jetzt zur Ge­nüge. Und was die Sache mit den Waffen betrifft, mal sehen…

Abseitsverdächtig

Sogar dem Fußball wird Einfluß auf das Wahlergebnis zugeschrieben. Die Frage ist nur, wem Erfolge Mexikos bei der Weltmeisterschaft politisch zugute kom­men. Einer Umfrage der Zeitung Reforma zufolge sind 42 Prozent der capitalinos, der Hauptstadtbewohner, überzeugt, daß ein gutes Abschneiden der Nationalkicker die Staatspartei begünstigt. Motto: “Erfolg für die TRI gleich Sieg für die PRI”. Inso­fern kann der überraschende Einzug ins Achtelfinale bereits eine Wahl-Vorent­scheidung gewesen sein.
Im Fußball spiegelt sich dieser Tage die mexikanische Gesellschaft. Das Konflikt­potential nimmt zu, die Brutalität wächst. Die Ausschreitungen nach dem Italien-Spiel lassen Schlimmes befürchten. Drei Tote, hunderte Verletzte und etwa 170 Festnahmen waren die Krawallbilanz. In­mitten der Zehntausenden, die unter dem goldenen Unabhängigkeitsengel feierten, wurde ein makabrer Macho-“Sport” prak­tiziert: Frauen einkreisen, befummeln, ih­nen die Klamotten vom Leib reißen. Diese Gewaltausbrüche waren mögli­cherweise ein Vorgeschmack auf das, was diesem Lande in Kürze auch auf politi­scher Ebene drohen könnte.
Die Karikatu­ren der mexikanischen Zeitungen dieser Tage sind entsprechend bitter: In einer werden die ‘granaderos’, die Polizei-Spe­zialtruppe für innere Unruhen, aufgefor­dert, sich jetzt noch nicht zu verausgaben und für die Zeit nach den Wahlen zu schonen. Eine zweite Karikatur zeigt die Keilerei der ‘hooligans’ sowie einen Beob­achter, der kommentiert: “Wenn wir das nächste Spiel gewinnen, wird Mexiko den 21. August nicht erreichen.”
Saubere Wahlen mit der PRI?
Inmitten dieses Fußballtaumels -und des­wegen vom Großteil der Mexikaner un­bemerkt- überraschte Präsident Carlos Sa­linas de Gortari mit einer in der Ge­schichte Mexikos beispiellosen Erklärung: “Ich werde am 1. Dezember die Regie­rungsmacht an den übergeben, der die Wahlen gewinnt -unabhängig davon, wel­cher Partei er angehört.” Politische Beob­achter rieben sich ungläubig die Augen. Am nächsten Tag kam es noch besser. PRI-Präsidentschaftskandidat Ernesto Ze­dillo bewertete Salinas Worte als “sehr gut” und versicherte, seine Partei akzep­tiere politische Machtwechsel als Teil der Realität in einem demokratischen Land. “Ich hoffe allerdings”, sagte Zedillo, “daß dies nicht bei der jetzigen Präsident­schaftswahl passiert.”
Die Präsidenten-Erklärung ist Teil einer riesigen Kampagne, mit der versucht wird, die Glaubwürdigkeit der bevorstehenden Stimmauszählung zu erhöhen. Wahlbetrug zugunsten der PRI war bislang in Mexiko an der Tagesordnung und ist auch von of­fizieller Seite mehrfach zugegeben wor­den. Umfragen zufolge erwarten 40 Pro­zent der Mexikaner auch diesmal, daß es bei den Wahlen nicht mit rechten Dingen zugehen wird.
Die Regierung bemüht sich, ihr Volk vom Gegenteil zu überzeugen. Ein komplett neues Wahlregister wurde aufgebaut. In einer gigantischen landesweiten Aktion wurden inzwischen 45 Millionen Men­schen (88 Prozent der über 18jährigen) mit dem neuen Wahlausweis ausgestattet, der neben dem obligatorischen Fingerab­druck erstmals auch das Foto des Stimm­berechtigten enthält. Das alles soll 730 Millionen US-Dollar gekostet haben. Da­für wird Mexiko nun laut Regierung die saubersten Wahlen seiner Geschichte er­leben.
Dennoch fehlt es nicht an Stimmen, die einen großangelegten Wahlbetrug be­fürchten. Lautester Rufer in der Wüste ist Cuauhtémoc Cárdenas, Präsidentschafts­kandidat der Partei der demokratischen Revolution (PRD). Cárdenas hat in den letzten Wochen mehrfach versucht, Unre­gelmäßigkeiten im Wahlregister nachzu­weisen. Die Vorwürfe wurden sogar ein­ziges Thema einer landesweit übertrage­nen Fernsehdebatte.
Die eher sozialdemokratisch ausgerichtete PRD behauptet, das Wahlregister enthalte vier Millionen Phantome, also Namen, hinter denen keine lebenden Personen ste­hen. Darüber hinaus demonstrierte ein Parteimitglied, wie man es schafft, mit Hilfe leicht variierter persönlicher Anga­ben an mehrere Wahlausweise gleichzeitig zu kommen.
Wahlbeobachter gegen “Pannen”
Cuauhtémoc Cardenas, Sohn des legen­dären mexikanischen Präsidenten Lázaro Cárdenas (1934-40), ist ein gebranntes Kind in Sachen Wahlbetrug. Er fühlte sich bereits bei den Wahlen 1988 um den Sieg gebracht. Damals erzielte er das beste Er­gebnis eines Oppositionskandidaten in den letzten sechs Jahrzehnten, doch dem PRI-Kandidat Salinas de Gortari wurde mit 50,74 Prozent knapp die absolute Mehrheit zugesprochen. Die Wahlcom­puter stürzten seinerzeit ab und sprangen erst nach zwei Tagen wieder an. Daß in der Zwischenzeit massiv manipuliert wurde, ist wahrscheinlich.
Erst dieser Tage hat Arturo Núñez, Präsi­dent des nationalen Wahlinstituts, ent­sprechende Mutmaßungen weiter genährt, als er versuchte, die “Panne” zu erklären. 1988 seien zuerst die für die PRI ungün­stigen Ergebnisse aus dem Großraum Mexiko-Stadt im Wahlcomputer einge­troffen. “Die waren jedoch nicht für das ganze Land repräsentativ, und deswegen hat man ganz offensichtlich entschieden, das System zusammenbrechen zu lassen”, sagte Núnez.
Die Vereinten Nationen wollen diesmal ein Team mit 50 WahlbeobachterInnen nach Mexiko schicken. Vor allem PRI-Vertreter haben allerdings inzwischen klargemacht, daß ihnen nicht mehr als der Status von “electoral tourists” (Wahl­tou­risten) zugestanden wird. Alles andere wird offenbar als Einschränkung der nationalen Souveränität aufgefaßt. “Wir mögen keine ausländischen Beob­achter hier und werden sie auch nicht um ihre Meinung bitten”, sagte PRI-Präsident Ignacio Pichardo.
Der endgültige Todesstoß für glaubwür­dige Wahlen konnte in den letzten Junita­gen nur knapp verhindert werden. Innen­minister Jorge Carpizo reichte seinen Rücktritt ein, konnte von Salinas jedoch überzeugt werden, im Amt zu bleiben. Der 50jährige ist politisch für die Organisation der Wahl verantwortlich. Carpizo, seit dem 10. Januar erster parteiloser Minister in der Regierung Salinas, gilt vielen in Mexiko wegen seiner Unbestechlichkeit als idealer Garant für saubere Wahlen. Er hatte nach Ausbruch des Zapatisten-Auf­standes Patrocinio Gonzalez abgelöst, den umstrittenen früheren Gouverneur von Chiapas.
Warum Mexikos oberster Wahl-Schieds­richter beinahe das Handtuch warf, hat er bis heute nicht erklärt. Der frühere Men­schenrechtsbeauftragte und Generalstaats­anwalt hatte in seinem Rücktrittsschreiben eine der politischen Parteien scharf ange­griffen, ohne sie jedoch beim Namen zu nennen. Diese habe ihn so stark unter Druck gesetzt, daß er dabeisei, seine Un­parteilichkeit zu verlieren. Die Leitartikel der Tageszeitungen rätselten noch Tage später, ob Carpizo die PRI oder die PRD gemeint hat.
Der Abgang des Innenministers zwei Mo­nate vor der Wahl wäre fast ein weiteres Kapitel in der mexikanischen “Chronik einer angekündigten Superkrise” gewor­den. Das politische System ist so ver­wundbar wie noch nie, das zeigen alleine die Ereignisse der letzten Wochen.
Kein Durchbruch in Chiapas
Am 11. Juni lehnte die zapatistische Be­freiungsarmee (EZLN) sämtliche Regie­rungsvorschläge für einen Friedensvertrag ab. Gleichzeitig wurden die Gespräche von San Cristóbal für beendet erklärt. Die Zapatisten hatten in den Monaten zuvor eine Volksabstimmung veranstaltet – in jenen Gemeinden von Chiapas, die den Aufstand unterstützten. Das Ergebnis fiel für Präsident Salinas vernichtend aus: rund 97% der indianischen Bauern vo­tierten grundsätzlich dafür, den bewaff­neten Wideratnd fortzusetzen.
Die Regierungsvorschläge wurden in allen Punkten als zu vage und unzureichend ab­gelehnt. Die Zapatisten kritisierten insbe­sondere die fehlende Bereitschaft, auf jene Forderungen einzugehen, die über Chia­pas hinausstrahlen. Die EZLN verlangt unter anderem saubere Wahlen und eine Überprüfung des Freihandelsabkommens mit den USA. Präsident Salinas werfen sie vor, einen großangelegten Wahlbetrug vorzubereiten.
Subcomandante Marcos drohte offen mit Bürgerkrieg: “Die mit historischer Blind­heit geschlagene Staatsregierung ist nicht in der Lage, zu erkennen, daß ihre Weige­rung, dem demokratischen Druck nach­zugeben, das Land in eine schmerzvolle Auseinandersetzung führen wird, mit nicht vorhersehbaren Konsequenzen”. Mexikos Aktienindex fiel am nächsten Börsentag um 3,9 Prozent.
Vorerst verpflichtet sich die Guerilla je­doch, die Waffenruhe bis zu den Wahlen Ende August einzuhalten. Außerdem er­klärten sie sich bereit, in dem von ihnen kontrollierten Gebiet des Lacandón-Ur­walds die Einrichtung von Wahllokalen zu erlauben. Hoffnungen, die Verhandlungen zwischen Regierung und EZLN könnten noch vor den Wahlen zu einem dauerhaf­ten Frieden in Chiapas führen. haben sich nach dem Nein der Zapatisten zerschla­gen.
Nur fünf Tage später trat Manuel Cama­cho Solis zurück, der Chiapas-Unter­händler von Präsident Salinas. Er hatte sich mit dem Präsidentschaftskandidat Zedillo überworfen, nachdem der Cama­cho mehrfach für das Scheitern der Frie­densgespräche verantwortlich machte. Die beiden PRI-Politiker gelten als verfeindet. Camacho hat nie einen Hehl daraus ge­macht, daß er sich selbst für den geeigne­teren Präsidenten Mexikos hält. Durch sein Ausscheiden als Unterhändler ist ein regelrechtes Vakuum entstanden, da keine zweite Persönlichkeit in Sicht ist, der Re­gierung und Zapatisten gleichermaßen vertrauen.
Am 23. Juni schließlich ernannte Präsi­dent Salinas einen neuen Chiapas-Beauf­tragten: Jorge Madrazo. Die Zapatisten dürften den bisherigen Präsidenten der nationalen Menschenrechtskomission je­doch kaum akzeptieren. Madrazo war im Januar mehrmals in Chiapas, um Armee­übergriffe zu untersuchen – bis heute ohne greifbares Ergebnis. Unterdessen wird Camacho bereits als ein möglicher ワber­gangskandidat gehandelt, für den Fall, daß es bei den Wahlen keinen klaren Gewin­ner geben sollte.
Lieber PRI als Unsicherheit?
Die bislang fast diktatorisch regierende PRI könnte erstmals weniger als 50 Pro­zent erhalten. Sogar das bislang Undenk­bare scheint möglich: ein Sieg der Oppo­sition. Zwei der jüngsten Umfragen geben der PRI 41 bzw. 28 Prozent, der rechts­konservativen Partei der nationalen Ak­tion (PAN) 29 bzw. 33 Prozent und der PRD 8,5 bzw. 13 Prozent. PAN-Kandidat Diego Fernández de Cevallos liegt somit teilweise bereits vor Ernesto Zedillo von der PRI. Cuauthémoc Cárdenas (PRD) landet weit abgeschlagen auf dem dritten Platz. Die Kandidaten der übrigen sechs Parteien spielen so gut wie keine Rolle.
Ein Ende des presidencialismo scheint in Sicht. Bislang verfügten Mexikos Präsi­denten über eine unerhörte Machtfülle, die sich nur teilweise aus der Verfassung herleiten läßt. Wichtig sind vor allem die extrem hierarchischen Strukturen der Staatspartei, die ihrem Spitzenmann bis­lang immer treu ergeben war. Die PRI hat seit 1946 alle Wahlen mit Traumergebnis­sen zwischen 74 und 92 Prozent gewon­nen. Nur 1988 war es knapp geworden.
Und diesmal? Ein Wechsel scheint mög­lich. Doch die Partei, ohne die bislang in Mexiko fast nichts läuft, hat viel zu verlie­ren. Viele Wähler könnten das für sich ganz ähnlich sehen. “Ein Oppositionssieg mag gut sein für die Demokratie, ist aber möglicherweise weniger gut für die Stabi­lität und Regierbarkeit”, sagt z.B. Arturo Sánchez vom mexikanischen Institut für politische Studien.
Die Unsicherheit hat viele Gesichter: Mehrere der reichsten Männer des Landes wurden in den letzten Monaten ge­kidnappt; eine von der Drogenmafia de­ponierte Autobombe tötete Mitte Juni in Guadalajara zwei Menschen; der Mord an Präsidentschaftskandidat Luis Donaldo Colosio ist noch immer nicht aufgeklärt.
Fußballspiele, gewonnene und verlorene, waren den Mexikanern bislang stets Anlaß für Freudenfeste – jetzt plötzlich werden blutige Straßenschlachten daraus. Da wird so mancher sein Kreuzchen doch wieder bei der Partei machen, die seit 65 Jahren Stabilität verkörpert.

Kasten:

Spendenaufruf für die EZLN
Die Kommunikation und die Kommunika­tionsmittel spielen im Kon­flikt in Chiapas eine Schlüssel­rolle. Wer Nachrichten und Bilddoku­mente produ­zieren und verbreiten kann, nimmt ent­scheidenden Einfluß auf den Gang der Dinge. Das gilt um­somehr, seitdem die Waffen erfreuli­cherweise schweigen.
Eine der Forderungen der EZLN gegen­über der Regierung ist die Ein­richtung ei­ner unabhängigen Radiosta­tion der Indí­genas, die von ihnen selbst betrieben wer­den soll, um das Recht auf wahrheitsge­treue Information über lokale, regionale, nationale und inter­nationale Ereignisse verwirklichen zu können. Die Regierung hat eine Li­zenzvergabe in Aussicht ge­stellt. Da­mit diese mögliche Radiostation je­doch eines Ta­ges wirklich unabhängig funktionieren kann, bedarf es vieler Dinge: Tonbandgeräte, Schnitteinhei­ten, Musikkassetten und natürlich Ausbildung der künftigen Volksrepor­terinnen und -re­porter”. Und natürlich braucht es Radioge­räte in den Dörfern, damit die Sendungen gehört werden können.
Außerdem hat die EZLN den legitimen Wunsch, ihre eigene Geschichte selbst in Bil­dern festzuhalten. Eine eigene Vi­deoausrüstung wird gebraucht, um sowohl die Ereig­nisse jenseits presse­konjunktu­rellen Interesses fest­halten zu können, als auch um die Möglich­keit zur Verifizie­rung mögli­cher stritti­ger Vorfälle durch Bilddo­kumente zu haben.
Nicht zu vergessen ist, daß auch die mei­sten kulturellen Aktivitäten eines Kom­munikationsmittels bedürfen, seien es Tonbandgeräte oder Platten­spieler, die wie­derum Generatoren brauchen, da es in weiten Teilen der von der EZLN kontrol­lierten Gebiete keinen Strom gibt.
Die LN rufen zusammen mit der ila dazu auf, kräftig für einen “Medienfonds” der EZLN zu spenden, mit dem solche notwendigen Anschaf­fungen getätigt werden kön­nen.
Spenden unter dem Stichwort “Medien­fonds EZLN” bitte auf das ila-Konto Nr. 583 99 – 501 beim Postgiro­amt Köln (BLZ 370 100 50) überwei­sen. (Stichwort nicht vergessen!)

Verhandlungspoker zwischen Zapatisten und Regierung

Gila: Was haltet Ihr von der Zurück­weisung des Regierungsangebotes?
Carlos Rodriguez: Die Zapatisten (EZLN) handelten sehr vernünftig, den Dialog mit der Regierung zu suchen und als ersten Verhandlungspunkt die ökono­mische Situation auf die Tagesordnung zu setzen. Denn hier zeigte die Regierung die größte Handlungsbereitschaft. Wären die Gespräche gleich zu Beginn gescheitert, dann wären weitere Verhandlungen völlig unsinnig gewesen. Diese Ausgangssitua­tion ermöglichte dann einen breiteren Dialog mit der Regierung.
Warum hat die Mehrheit der Dorfge­meinschaften den gesamten Vorschlag abgelehnt?
Es geht der Zivilbevölkerung in Chiapas nicht darum, generell Angebote, die die Regierung macht, von vornherein abzu­lehnen. Aber dieses Angebot war nicht ausreichend. Zu Anfang richteten sich die Hoffnungen der Zapatisten auf eine lokale Demokratisierung. Aber darüber wollte die Regierung nicht verhandeln. Die EZLN akzeptierte bei den Verhandlungen dennoch, daß es dabei lediglich um Dienstleistungen, wirtschaftliche Fragen, Zufahrtswege und Lebensmittelhilfe ging, aber nur aus taktischen Gründen, um die Verhandlungen nicht abbrechen zu lassen. Alle Themen von nationaler Reichweite wurden von der Regierung vom Tisch gefegt. Von den 34 Forderungen der EZLN wurden zwar 32 erfüllt, aber die beiden wichtigsten wurden ausgelassen: Bei den zentralen Forderungen nach lo­kaler Demokratisierung und kultureller Unabhängigkeit machte die Regierung keine Zugeständnisse.
War es für Euch überraschend, daß das Angebot abgelehnt wurde?
Nein. Das hat uns nicht überrascht. Wir be­finden uns gerade in der Phase vor den Wahlen. Das heißt, daß Verhandlungen, die noch vor der Wahl zu Ende geführt würden, zu frustrierenden Ergebnissen ge­führt hätten. Ich möchte hier noch einmal betonen, daß die Verhandlungen noch nicht zu Ende sind. Aber die EZLN beob­achtet die Wahlen und prüft, ob die Regie­rung ihr Wahlversprechen, saubere Wah­len durchzuführen, einhält. Ist dies nicht der Fall, greifen die Zapatisten mögli­cherweise erneut zu den Waffen.
Die Zapatisten haben die Mehrheit der indianischen Gemeinschaften befragt, ob sie trotz der schwierigen Situation ihre Forderungen aufrechterhalten wollen, ` denn es wäre ja möglich, daß sie sich mit den Ereignissen zufrieden gegeben hätten.
Niemand ist mit der jetzigen Situation zu­frieden. Wenn die Leute dem staatlichen Angebot zugestimmt hätten, hätte das einen Rückschritt in den Verhandlungen bedeutet. Aus der Zeitperspektive der In­digenas ging alles aber sehr schnell.
Die Zapatistische Bewegung gibt es seit vielen Jahren, und sie hat immer für die Emanzipation gekämpft. Aber sie kam nicht bis nach Chiapas. Dort wurden die Campesinos in der Revolution 1910-1919 als Kanonenfutter für die Landbesitzer benutzt. Die Revolution hat in Chiapas dazu geführt, daß die Landbesitzer noch mehr Land bekamen und die Indigenas mit ihrem Leben bezahlen mußten. Das ist der Grund für die Rückständigkeit der Region.
Die Regierung drückte ihre westliche Zeitvorstellung gegen die der chiapaneki­schen Bauern durch. Die Re­gierung legte fest, wann und wie verhandelt wird. Doch die Verhandlungen müssen nach dem Zeitplan durchgeführt werden, den die In­digenas bestimmen. Der Dialog zwischen der Regierung und der EZLN ist also im Moment nicht unter­brochen, sondern die Indigenas setzen ihre Zeitvorstellungen um. Bisher war es im­mer so, daß die Re­gierung Angebote machte. Aber es waren immer Vorschläge, die nie gleich­berechtigt von beiden Seiten kamen. Die Mehrheit der Indigenas ist für den Dialog, den sie selbst zeitlich be­stimmen will. Es gibt auch eine Minder­heit, die für den bewaffneten Kampf ist, und etwa zwei Prozent sind für den Plan der Regierung. Bei den Verhandlungen muß darauf ge­achtet werden, daß alle Meinungen be­rücksichtigt werden.
Was muß die Regierung anbieten?
Es gibt zwei elementare Forderungen: er­stens saubere Wahlen und zweitens eine geordnete Landaufteilung. Alle Groß­grundbesitzer müssen ihre Besitzverhält­nisse klar offenlegen, und zwar nicht nur in Chiapas, sondern in jedem Bundesstaat. Es muß einen Zensus für landbesitzende Familien geben, damit die getarnten Latifundien entdeckt werden. Sonst ist es möglich, daß jemand in einem Bundes­staat seinen Besitz verkauft, aber noch Land in einem anderen hat. Es muß für die kommenden Wahlen Wahlbeobachtungen durch die eigene Be­völkerung geben, die dafür in besonderen Kursen ausgebildet werden muß, in Zusammenhang mit den Vereinten Nationen. In Mexiko muß es außerdem einen Volksentscheid über eine neue Verfassung geben, über einen neuen Sozialpakt. Diese Verantwortung kommt auf die neue Regierung zu.
Wie stark sind die Verhandlungsposi­tionen und welche Druckmittel hat die ELZN?
Die Verhandlungen haben einen nationa­len Charakter, das heißt, alle Forderungen beziehen sich auf das ganze Land. Druck kann nur durch die aktive Teilnahme der Bevölkerung ausgeübt werden. Nach dem Mord an dem PRI-Präsidentschaftskandi­daten Colosio war die Bewegung wie ge­lähmt. Alles geriet aus den Fugen. Noch einmal wäre eine solche Situation ver­hängnisvoll. Der andere Weg, Druck aus­zuüben, muß in einer Annäherung der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Kräften des Landes bestehen. Das Ergeb­nis hängt hier in Chiapas sehr von dem Engagement der Bevölkerung ab. Dabei brauchen wir auch Hilfe von außen – in­ternationale Hilfe.
Wie kann das Problem des Hungers gelöst werden, und was machen die be­waffneten KämpferInnen zur Zeit?
Das was sie am Anfang auch gemacht ha­ben: Sie leben immer noch bewaffnet. Was die Lebensmittel angeht: Es gibt drei Millionen Einwohner in Chiapas, davon sind 90 Prozent Indigenas. Hier herrscht das niedrigste Pro-Kopf-Einkommen des gesamten Landes. Was wir brauchen, ist humanitäre Hilfe und veränderte Han­delsbedingungen. Den Bauern in Chiapas müßte es ermöglicht werden, von direkten Einnahmen zu leben. Alles spricht von Dritter Welt, aber für uns ist es die vierte Hölle. Wenn wir von dem Konzept aus­gehen, daß hier (in Deutschland) die Erste Welt ist und von hier aus Pflanzen nach Lateinamerika ka­men, muß diese Erste Welt auch zu Lösungen beitragen.
Gibt es eine Gefahr durch das mexika­nische Militär?
Es gibt ständig Truppenbewegungen, aber keine Informationen darüber, warum das geschieht. Die Anzahl der Soldaten ist nicht genau bekannt, aber man spricht von 15.000. Die Unsicherheit innerhalb der Bevölkerung ist groß.
Wer hat als Kandidat im kommenden Wahlkampf die besten Aussichten?
Die wichtigste Kraft ist die Zivilbevölke­rung. Zwei Kandidaten haben jedoch die stärkste Unterstützung durch die Presse: der PRI- und der PAN-Kandi­dat. In den Reihen der Oppositionsparteien gibt es auch charismatische Köpfe, die den politischen Forderungen der breiten Be­völkerung nä­her stehen. Aber sie tauchen so gut wie nie in den Massenmedien auf.
Also weitere sechs Jahre PRI­Regierung?
Sicher. Die Frage bleibt, welche Bünd­nisse die verschiedenen politischen Kräfte im Parlament schließen, um zu einer Mehrparteienlösung zu kommen. Mögli­cherweise ändert sich hier einiges, aber es ist für die Bevölkerung undurchsichtig. Wir Indi­genas haben nicht teil am parlamentarischen System. Die PRI dominiert alles. Es ist sehr schwierig, in dieses Parlament zu gelangen.

Bridge of Courage

In dem Buch “Bridge of Courage” wirft die US-Rechtsanwältin Jennifer Harbury einen sehr persönlichen Blick auf das Innere dieses Konflikts, in dessen Mittelpunkt die URNG (Unidad Revolu­cionaria Nacional Guatemalteca) steht. Dabei entsteht ein sachliches, ausdrucks­starkes Porträt eines Krieges, der weit über den Kampf der Mayas hinausgeht. Deshalb wird das Buch zweifellos seinen Platz unter den bemerkenswertesten Bü­chern über den bewaffneten Konflikt im Trikont einnehmen.
Bedauerlicherweise gibt das Buch nur wenig politischen Aufschluß. Es beant­wortet keine der klaffenden Fragen über die guatemaltekische Guerilla: was ist ihre gegenwärtige Strategie, wie sieht ihre der­zeitige militärische Stärke aus oder wieso wurden sie, im Gegesatz zu beispielsweise ihren salvadorianischen KollegInnen der FSLN, Anfang der 80er Jahre beinahe zer­stört, als sie außerstande waren, sich wirk­sam der (Militär-) Regierungskampagne der “Verbrannten Erde” und der Raserei der Todesschwadrone zu widersetzen.
Dafür bietet “Bridge of Courage” aller­dings etwas weitaus Bezwingenderes – eine Sammlung von testimonios der Guerilleros/as.
Diese Selbstporträts reichen vom Kurio­sen (Bericht eines Guerilleros über die Eskapaden eines Eichhörnchens, das seine Truppe adoptiert hatte) über das nachdenkliche Sinnieren Gaspar Iloms, einem der Generalkommandanten der URNG, bis zu den dunkel inspirierenden Sa­gen verschiedener Mitglieder der breiten Masse des Guerillaheeres.
Dies sind tatsächlich Stimmen aus dem tiefen Untergrund einer Guerilla, die An­fang der 80er Jahre am Abgrund der Ver­nichtung entlangwankte und erst nach ei­nigen Jahren wieder erstarkte.
Harbury präsentiert die Lebensberichte als Transkription von Monologen, deren Di­rektheit eloquent, aber auch beunruhigend ist. Das Buch beginnt mit Anita, einer Guerilla-Ärztin: “Hör jetzt auf, sei nicht schüchtern. Ich sehe ja, daß du die Narben in meinem Gesicht anstarrst. Eine große Kugel hat mir vor fast fünf Jahren bei ei­nem Gefecht mit den Militärs mein halbes Kinn weggerissen….Komm, setz dich hin und nimm was von diesem Kaffee und ich erzähl dir die ganze Geschichte.”
Zwei Seiten später beschreibt Anita ganz nüchtern, wie eine Ärztin, mit der sie in Guatemala-Stadt zusammengearbeitet hatte, von den Todesschwadronen der Re­gierung verschleppt wurde. “Ich fand sie schließlich im Leichenschauhaus, wie so viele andere auch. Sie war nackt und böse zugerichtet, ihr Gesicht bläulich von der Strangulation, kleine Schnitte mit der Ra­sierklinge und Zigarettenbrandmale über­säten ihre Arme und Beine.” Ihre Be­schreibung der Leiche fährt noch minu­tenlang fort und wird noch wesentlich grauenhafter, bevor sie dann weitererzählt, wie sie Vollzeit-Guerillera wurde und in die Berge ging.
Der persönliche Ton von “Bridge of Cou­rage” ist nicht verwunderlich – Harbury ist mit dem URNG-Kommandanten Efraín Bamaca Velasquez (“Everardo”) verhei­ratet, den sie während ihrer Materialre­cherche 1991 kennenlernte. Bamaca ver­schwand im Mai 1992 während eines Ge­fechts und wird Zeugenaussagen zufolge in wechselnden geheimen Militärgefäng­nissen festgehalten und gefoltert.
Auf diesem Hintergrund ist ebensowenig verwunderlich, daß das Buch idealistisch, aber überwältigend traurig ist. Für die Re­bellInnen hören die Opfer nie auf. In ei­nem anderen Kapitel des Buches über ihre Zeit als Guerillera im Landesinneren, be­schreibt Anita, wie sie in einem Militär­hinterhalt verletzt wurde und dann, mit ih­rem zerfetzten Kinn, zehn Tage durch die Berge taumeln mußte und dabei noch half, andere verwundete GefährtInnen zu tra­gen, um in Sicherheit zu gelangen. Schließlich wurde sie in ein Sicherheits­haus (d.h. ein geheimes Haus der URNG) gebracht, wo sie auch operiert wurde.
Aber der Alptraum endete noch nicht dort: Das sichere Haus wurde vom Militär ent­deckt, und Anita schaffte es gerade eben noch auf die Straße und in eine Bar zu entkommen, wo sie, in eine dunkle Ecke gekauert, in einer Liveübertragung im Fernsehen sah, wie das Sicherheitshaus von Armeekugeln durchsiebt und bis auf die Grundmauern abgebrannt wurde.
Während Anita beschreibt, wie sie in jener Nacht durch die Straßen irrte, auf der Su­che nach einem neuen Zufluchtsort, stößt sie eine kräftige und traurige Klage aus, die nicht nur für die URNG zutrifft, son­dern für all diejenigen, die versuchen, das Übel herauszureißen, das so fest in Gua­temala verankert ist: ” Das ist schwer, so schwer zu erzählen. All diese wunderba­ren Menschen in dem Haus, ich bin die einzige Überlebende…Der schlimmste Schmerz für mich ist zu denken, daß sie vielleicht eines Tages vergessen wer­den…Weiß irgendwer, wieviel diese Men­schen für ihr Heimatland gegeben haben?”
Jennifer Harbury widmet derzeit ihre ganze Kraft dem Bemühen, die Freilas­sung ihres Mannes zu erreichen. Unge­achtet ihrer Anstrengungen ist es ihr bis­lang nicht gelungen seinen Aufenthaltsort zu erfahren und ob er überhaupt noch lebt.
Wo ist Everardo?

Jennifer Harbury: Bridge of Courage, Common Courage Press, P.O.Box 702, Monroe ME 04951, 265 Seiten, 14.95 US-$

Der Kampf innerhalb des Kampfes

Wie begann die Beteiligung der Frauen an der Bewegung der Zapatistas?
Ramona: Wir Frauen wurden nie berücksichtigt, nicht respektiert, unsere Forderungen nie ernst genommen. Trotzdem haben wir nicht aufgehört, Respekt, Gerechtigkeit und Demokratie zu fordern.
Als wir unsere Situation er­kannten und verändern wollten, betei­ligten wir uns am Kampf, einige mit der Waffe, die Mehr­heit in den Gemeinden. Wir brauchen z.B. spezielle Geburts­kliniken, doch wir wis­sen nicht, an wen wir uns wenden können. Es gibt keine Krankenhäuser, keine Ärzte, keine Bil­dung, keine Nahrungsmittel, kei­ne Straßen – überhaupt keine Hilfs­lei­stungen. Doch wir haben die Hoffnung nicht aufgegeben. Wir wollen in Würde leben. Das ist unsere Forderung und darum kämpfen wir.
Ana : Männer und Frauen kämpfen um ihr Land, das ist die Hauptforderung von uns allen. Die Frauen helfen den Männern, die Felder zu bestellen und den Kaffee zu ernten. Die Witwen müssen ihr Land allein bearbeiten. Gesetzlich haben die Frauen kein Recht, Land zu besitzen. Innerhalb unserer Organisation gibt es dieses Recht, und wir wollen, daß das anerkannt wird. Wir wollen Land besitzen, gutes Ackerland, nicht solche Steinhaufen, die wir jetzt bearbeiten.
Wie Ramona erzählt hat, wurden wir Frauen früher nicht ernst genommen. Es gibt eine jahrhunderte alte Unterdrückung aus Gewohnheit. Die Frauen durften noch nicht mal an den Versammlungen in den Gemeinden teilnehmen. Aber als die Dörfer sich nach und nach organisierten, wurde den Frauen klar, daß auch sie sich zusammenschließen müssen. Sie organi­sierten sich, lernten und nahmen an der Bewegung teil. Sie kämpften weiter und weiter, bis sie ein Revolutionäres Gesetz der Frau verlangten.

Wie leben die indigenen Frauen?
Ana: Die Frau hat keine Ruhe, sie arbeitet von früh bis spät. Auf dem Land steht sie morgens um drei Uhr auf, um das Frühstück für die Männer vorzubereiten. Sie braucht Holz für das Feuer, also geht sie und holt Holz, sie geht und holt Mais – immer mit dem Kind auf dem Rücken oder an der Brust. Sie kommt zurück und bereitet das Essen zu und kümmert sich um die Arbeiten im Haus. So verbringt sie den ganzen Tag, von Montag bis Sonntag. Die Männer können sich wenigstens am Sonntag ausruhen, Karten oder Basketball spielen, aber die Frauen nicht, sie arbeiten den ganzen Tag, die ganze Woche – ohne Pause. Sie haben keine Vergnügungen – nichts.
Ramona: Die Frau hat weniger Zugang zu Bildung und Vergnügungen. Von klein auf schleppen wir die Geschwister herum, helfen, den Mais zu mahlen, Tortillas zu machen, das Haus zu fegen oder zu waschen. Wenn die Mutter ihr Baby zu Hause lassen muß, muß die größere Schwester auf es aufpassen und kann nicht zur Schule gehen. So erging es mir auch.
Mit 13 oder 14 Jahren werden die Frauen gezwungen zu heiraten. Wenn in den indi­genen Gemeinden einem Jungen ein Mäd­chen gefällt, geht dieser nicht zu ihr, son­dern bringt dem Vater eine Flasche Schnaps oder etwas zu essen, und wenn der Vater annimmt, ist das Mädchen ver­kauft, gezwungen zu heiraten – gegen ih­ren Willen. Viele Frauen gehen heulend zum Haus des Bräutigams oder in die Kir­che. Deshalb haben wir im Gesetz der Frauen das Recht auf freie Partnerwahl beschlossen. Im Dorf kannst du mit nie­mandem zusammen sein, wenn du nicht verheiratet bist. Es ist eine Sünde, gegen den Brauch. Wenn es entdeckt wird, wer­den beide bestraft, ins Gefängnis gesteckt oder an die Pfosten des Basketballfeldes gebunden, bis die Gemeinschaft meint, sie wären genug bestraft.

Wie seid ihr zum EZLN gekommen?
Ramona: Ich kam zum bewaffneten Kampf, als ich mein Dorf verlassen muß­te, um in der Stadt Arbeit zu suchen. Ich erlebte die Diskriminierungen der Frauen vom Land. Die Menschen in den Städten respektieren die Indígenas nicht. Sie neh­men uns nicht ernst, wenn wir unsere Pro­dukte verkaufen, sie bezahlen uns nicht gut – wir verschenken unsere Sachen fast. Wir können uns in der Stadt nicht frei be­wegen, werden verachtet und übergangen. Dadurch wurde mir vieles bewußt; mir wurde klar, daß wir uns organisieren müssen.
Ana: Das ist eine lange Geschichte. Meine Eltern waren organisiert und nahmen uns Kinder mit zu ihren Versammlungen und zu Demonstrationen. So begann ich schon mit acht Jahren Erfahrungen zu sammeln und ein politisches Bewußtsein zu entwickeln. Als die Menschen merkten, daß sie jahrelang gekämpft und nichts erreicht hatten, daß die Regierung nicht auf ihre Forderungen reagierte, begannen sie, den bewaffneten Kampf vor­zu­bereiten.
Während der friedlichen Kämpfe besetz­ten sie Ländereien – es kamen die Solda­ten und räumten sie mit Gewalt, mit Schlägen, Folter und Unterdrückung. Nach der gesamten Repression, sagten wir uns: “Wir müssen uns bewaffnen, wir müssen uns verteidigen! Wenn die Re­gierung keine friedliche Lösung will, dann eben eine gewalttätige.”
Ich kam sehr jung, mit 14 Jahren, zum EZLN. Einige Compañeros lehrten uns le­sen und schreiben, bildeten uns in Kampf­techniken aus. Später unterrichteten sie uns in Politik. Zu Beginn, vor zehn Jah­ren, waren wir zwei Frauen im EZLN, ei­ner damals noch kleinen Gruppe von acht bis zehn Leuten. Mit der Zeit füllten sich die Reihen, wir konnten eine Kompanie bilden, dann ein Bataillon, ein Regiment usw. Als wir stark genug waren, beschloß die Bevölkerung, den bewaffneten Kampf zu beginnen. Andere Frauen, die uns im EZLN sahen, lernten ihre Töchter, Schwe­stern, Enkelinnen an und sagten ihnen: “Nehmt eine Waffe und geht kämpfen!” Heute sind wir ungefähr 20 bis 30 Prozent Frauen im EZLN. Wir verrichten die glei­che Arbeit wie die Männer, militärisch und politisch.

Du bist Aufständische und Ramonas politische Vertreterin. Was ist der Unterschied?
Ana: Es gibt keinen Unterschied. Wir kämpfen für die gleiche Sache, sind Teil des EZLN: Nur daß eine Aufständische (“Insurgente”) ihre Familie verläßt, nicht mehr mit ihnen lebt und ihr auch nicht bei der Arbeit helfen kann.

Wie entstand der “Kampf innerhalb des Kampfes”?
Ramona: Als wir merkten, daß wir Frauen in den Versammlungen und Plenas nicht ernstgenommen wurden, nicht wirklich teilnehmen durften, dachte ich:” Was kann ich tun?” Wir organisierten uns, benannten Vertreterinnen und kamen mit der Frauenarbeit gut voran. Ich wurde zur Vertreterin im Geheimen Revolutionären Kommitee der Indígenas ernannt. Meine Arbeit besteht darin, die Nachrichten der Organisation den Frauen meiner Sprache mitzuteilen.
Ana: Es gibt Dinge, die wir brauchen, die den Männern einfach nicht einfallen, weil sie nur ihre Situation sehen und nicht nach der Meinung der Frau fragen. So ent­standen unsere Forderungen. Zum Bei­spiel nach speziellen Schulen, in denen auch ältere Frauen lesen und schreiben lernen können. Wir fordern ein Geburts­haus und Gynäkologen. Zu Hause liegt das Neugeborene auf dem Boden im Staub. Die Nabelschnur wird mit der Ma­chete, die der Mann zur Arbeit benutzt, durchtrennt. Es gibt keine ausreichende Gesundheitsversorgung für Frauen und Kinder. Wir brauchen Werkstätten und Maschinen, um den Frauen die Hand­arbeit, ihre Stickereien, zu erleichtern und einen eigenen Markt, auf dem sie ihre Handarbeiten verkaufen können. Die Besitzer der Kunsthandwerksläden in den Städten zahlen sehr schlecht. Die indi­genen Frauen werden stark mißhandelt. Weitere Forderungen sind Kindergärten, Vorschulen und Nahrungsmittel für die am Hunger sterbenden Kinder.
In den Gemeinden arbeiten wir daran, gleichberechtigte Strukturen für Männer und Frauen zu schaffen. Anfangs kamen nur Männer in die Versammlungen und Studienzirkel. Die Frauen beschwerten sich, die Männer können lernen, warum wir nicht? Warum gehen nur die Männer trainieren? Wir wollen auch kämpfen lernen! Inzwischen beteiligen sich viele “milicianas”, die in ihren Dörfern leben, am bewaffneten Kampf, wenn sie ge­braucht werden.

Wie ist die Liebe unter den “Insurgentes”?
Ana: Wir praktizieren gleichberechtigte Beziehungen. Wenn eine Frau heiraten möchte, weil ihr ein Compañero gefällt, muß sie den/die Vorgesetzte/n um Erlaubnis bitten. Die Männer müssen das genauso. Es gibt die Möglichkeit, sich eine Weile kennenzulernen, zusammen­zusein, und – wenn man dann noch will- anschließend zu heiraten. Alle kommen zusammen und der/die BefehlshaberIn gibt bekannt, wer heiraten möchte. In­nerhalb des EZLN gibt es verschiedene Heiratszeremonien. Wenn das Paar eine Heiratsurkunde möchte, wird diese von der/dem Vorgesetzten ausgestellt. An­sonsten bitten die beiden um die Er­laub­nis, zusammensein zu dürfen, dies nennen wir Vereinigung (unión). Religiöse Paare können auch vor dem Traualtar heiraten.
Wir “Insurgentes” können keine Kinder bekommen, weil wir immer in Bewegung sind und das Leben eines Kindes in den Bergen nicht aufs Spiel setzen können. Wenn eine Compañera ein Kind möchte, geht sie zu ihrer Familie. Und wenn sie wieder weiterkämpfen will, läßt sie das Kind dort.

Was sind die Aufgaben der Frauen innerhalb des EZLN?
Ana: Eine wichtige Rolle spielte immer die Arbeit der Frauen für die Sicherheit. Wir haben ein Kommunikationsnetz und in jedem Dorf Stützpunkte. Die Frauen in den Dörfern bedienen die Radios und geben Bescheid, wenn die Soldaten kom­men oder eine andere Gefahr besteht. Dies war auch ihre Aufgabe, als wir die Städte angegriffen haben.
In jedem Dorf bilden wir Frauengruppen und organisieren Gemeinschaftsarbeiten. Frauen, die lesen und schreiben können, bringen es den anderen bei. Die Arbeit in den Dörfern wird vor allem von ver­hei­rateten Frauen mit Kindern geleistet, die nicht am bewaffneten Kampf teilnehmen können. Sie kümmern sich darum, daß die KämpferInnen in den Bergen Essen ha­ben, bereiten Tortillas, Pinole und Pozol zu, bauen Gemüse an und bringen die Sachen in die Zeltlager. Wir jungen Frau­en kämpfen und die alten passen auf die Kinder auf.
Alles, was wir für die Armee brauchen, stellen wir selbst her. Wir haben Schneidereien und Waffenschmieden, in denen auch Frauen arbeiten und Waffen­teile bauen oder kleine Bomben, um sich zu verteidigen. Jede/r kann diese Arbeit machen. Es gibt keinen Unterschied. Zum Beispiel kochen an einem Tag die Männer und am nächsten die Frauen.

Wie denkt Ihr über den Tod?
Ramona: Wenn es schon notwendig ist zu sterben, ist es besser kämpfend zu sterben, für eine gerechte Sache, für das Wohl meines Volkes. Weil es scheinbar keine andere Möglichkeit gibt, Gerechtigkeit zu finden. Ich bin bereit, den Kampf fort­zuführen.
Ana: Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Ich spüre nichts bei der Vorstellung tot zu sein. Vielleicht, weil wir eh nie existiert haben oder ernstgenommen wur­den. Als wir friedlich kämpften, gab es schon viele Tote in den Dörfern. Viele Indígenas sterben an Hunger und Krank­heit. Es ist, als wäre schon immer Krieg, weil es schon immer viele Tote gab. Jetzt sterben wir, weil sie uns töten….
Wir Frauen sind von unserem Kampf überzeugt, und die Vorstellung zu sterben, schmerzt uns nicht. Viel schmerzlicher ist es, die Kinder an heilbaren Krankheiten (Cholera, Masern, Tetanus…) sterben zu sehen, von denen die Regierung be­haup­tet, sie existierten nicht.
Zwei Mädchen starben in meinen Armen, weil wir nichts tun konnten. Zuerst starb ihre Mutter, und wir hatten nichts zu essen für sie – sie starben. So wie diese Kinder sind tausende Kinder an Hunger oder Krankheit gestorben. Das ist nicht gerecht. Während der Zeit der friedlichen Kämpfe sind viele, sehr viele Kinder gestorben. Bei jeder Krankheitswelle wurden unzählige dahingerafft. Deshalb widmen wir uns nun dem bewaffneten Kampf.

Selbstbewußte Indígenas

Ehrliches Erstaunen, ängstliches Entset­zen, Fassungslosigkeit, Wut – Das urbane, westliche Mexiko der “Modernisierer” um die technokratische Clique von Salinas & Co. war offensichtlich nicht darauf gefaßt, daß marginalisierte Campesinos und Indí­genas aus der “hinterletzten Ecke” des Landes ihnen die Feier des Beitritts zur Ersten Welt verderben könnten. Und es kam noch schlimmer: Die im offiziellen Diskurs verdrängte agrarische Zivilisation Mesoamerikas, von der Bonfil sprach, meldete sich nicht nur zu Wort; sie ent­larvte ihrerseits das Modernisierungs­projekt des neoliberalen Establishment als eine Fiktion, die zwar – vor allem vom PRI-hörigen Fernsehimperium TELE­VISA – me­dienwirksam verkauft wird, de­ren Umset­zung vor Ort jedoch für die Mehrheit der Bevölkerung zum Alptraum gerät.
So kam es, daß sich dieses “fiktive Me­xiko” um Salinas nicht nur internationa­lem Druck, sondern besonders auch der landesweiten Solidarisierung mit dem Za­patistischen Nationalen Befreiungsheer EZLN beugen mußte. Die sogenannten Verhandlungen in der Kathedrale von San Cristóbal haben die Kluft zwischen beiden Mexikos verdeutlicht: Entsprechend ihrer über 60 Jahre bewährten Taktik des Kau­fens und Spaltens von Dissidenz entsenden Regierung und Staatspartei einen populistischen “Emissär” ohne kla­ren Auftrag und explizite Kompetenzen, der den Zapatisten mehr Geld, mehr Infra­struktur und mehr Entwicklung verspre­chen darf. Ihm gegenüber sitzen maskierte Campesinos, die als erstes bekräftigen, daß sie von der Basis der Dorfgemeinden gar nicht ermächtigt sind, mit der Regie­rung zu verhandeln, sondern nur einen “Dialog” führen. Dies entspricht dem – für die Regierung so schwer handhabbaren – Selbstverständnis des EZLN, bloß eine Organisationsform unter vielen anderen darzustellen und sich daher als bewaffne­ter Arm der chiapanekischen Indígenas und Campesinos dem politischen Willen der Dorfgemeinden unterzuordnen:
“Unsere Art zu kämpfen ist nicht die ein­zig mögliche, vielleicht ist sie für viele nicht einmal die angemessene. Andere Arten des Kampfes existieren, und sie exi­stieren zu Recht. Auch unsere Organisa­tion ist nicht die einzige, für viele ist sie vielleicht nicht einmal wünschenswert. Zu Recht existieren andere, aufrichtige, fort­schrittliche und unabhängige Organisa­tionen. Das Zapatistische Nationale Be­freiungsheer hat niemals den Anspruch erhoben, seine Art zu kämpfen sei die ein­zig legitime. Doch tatsächlich ist es für uns die einzige, die uns übrig gelassen wurde… Wir erheben nicht den Anspruch, die historische, einzige, authentische Avantgarde zu sein. Wir erheben nicht den Anspruch, unter unserer zapatistischen Fahne alle aufrichtigen Mexikaner zu ver­einen. Wir bieten unsere Fahne an, doch es gibt eine größere, umfassendere, mächtigere Fahne, die uns alle zusam­menführen kann. Die Fahne einer revolu­tionären, nationalen Bewegung, welche die diversesten Tendenzen, die unter­schiedlichsten Denkrichtungen, die ver­schiedenen Arten zu kämpfen zusammen­führen würde, unter der es jedoch nur ein Anliegen und ein Ziel gäbe: Freiheit, De­mokratie, Gerechtigkeit” (Kommuniqué der Comandancia General des EZLN vom 20. Januar).
Konsequenterweise weigern sich die Za­patistas daher auch, einen ausformulierten Programmkatalog vorzulegen, was nur Aufgabe aller Organisationen und Comu­nidades sei. Ihre Forderungen nach “Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit” bilden kein inhaltliches Programm. Sie richten sich auf Formalia und juristische Aspekte wie die Anerkennung als krieg­führende Partei und die Einhaltung der Verfassung – Formalia allerdings, deren Durchsetzung das bestehende politische System Mexikos zum sofortigen Einsturz bringen würde: “saubere” Wahlen auf al­len Ebenen, Auflösung oligarchischer Machtstrukturen, Abwahl von Kaziken, Chancengleichheit für alle MexikanerIn­nen im Wirtschafts-, Bildungs- und Ge­sundheitssektor sind unvereinbar mit den Herrschaftsprinzipien der “institutionali­sierten Revolution”.

Wiedereintritt in die Geschichte

Schon Anfang Januar haben die Zapati­sten die chiapanekische und mexikanische Zivilgesellschaft aufgefordert, den mit bewaffneten Mitteln gewonnenen Frei­raum zu nutzen und ihre Forderungen an den Staat zu artikulieren. Auch wenn es ihnen (noch) nicht gelungen ist, die ver­schiedenen nicht-militärischen Organisa­tionen am “Dialog” in San Cristóbal direkt zu beteiligen, hat der Appell des EZLN an die Indígena- und Campesino-Organisa­tionen Mexikos einen von Sonora bis Yu­catán reichenden Sturm der Basismobili­sierung ausgelöst.
Als erstes sind die chiapanekischen Dorf­gemeinden dieser Aufforderung nachge­kommen. In einem auch für die fünfhun­dertjährige Tradition lokaler und regiona­ler Widerstandsformen einmaligen Um­fang haben sich ca. 280 verschiedenste Organisationen aus Comunidades des gan­zen Bundesstaates schon am 24. Ja­nuar zu einem losen Dachverband, dem Consejo Estatal de Organizaciones Indí­genas y Campesinas de Chiapas (CEOIC, “Landesrat der Indígena- und Campesino-Organisationen von Chiapas”) zusammen­geschlossen. Obwohl die Gründung des Rates auf eine Initiative regierungsnaher Kreise zurückgeht – ein letzter verzwei­felter Versuch, die Zapatisten von ihrer Basis zu isolieren -, setzten sich die unab­hängigen Gruppen durch, bis sich schließ­lich auch die Vertreter der PRI-nahen Campesino-Organisation CNC dem For­derungskatalog der Mehrheit anschlossen: Anerkennung des CEOIC als Verhand­lungspartner, Absetzung der korrupten Lokal- und Regionalpolitiker, vollständige Revision der Landreform unter maßgebli­cher Beteiligung der Campesino-Organi­sationen sowie Umsetzung der ILO-Kon­vention 169, die eine Territorialautonomie und die verfassungsmäßige Anerkennung der Selbstbestimmungsrechte der indige­nen Völker beinhaltet.
Eine derart umfassende Plattform von Basisorganisationen, die ihren politischen Willen jenseits der üblichen staatlich-kor­porativen Kanalisation artikuliert, läutet eine vollkommen neue Beziehung ein zwischen dem “fiktiven” und dem “tiefen Mexiko”, zwischen Staat und Gesell­schaft, wie Mario Landeros von der Organisation Xi’ Nich’ aus Palenque er­klärt:
“Wir haben gemerkt, daß wir selbst die Regierung als solche darstellen müssen, daß wir unsere Regierungsform suchen müssen… Wir beginnen langsam zu reifen, um eine politische Führung für unsere so­zialen Organisationen aufzubauen. Es geht nicht mehr um PRI, PAN, PRD oder was auch immer für eine Partei. Wir sind dabei, Vereinbarungen zu treffen, die dann nicht von einer bestimmten Organi­sation, sondern von der gesamten Gesell­schaft umgesetzt werden. Das ist die Strategie zu reifen, und so den politischen Wechsel zu erreichen”.
Daß EZLN und CEOIC das regionale Mächtesystem grundlegend verändert ha­ben, zeigen nicht nur die zahlreichen Ab­setzungen korrupter, PRI-höriger Kaziken und Kommunalpolitiker im Hochland von Chiapas sowie die Besetzungen von bis­lang 1.500 Hektar Land auf Latifundien, deren Auflösung und Verteilung jahr­zehntelang von Campesino-Organisatio­nen auf dem Behördenweg eingefordert worden war. Auch die herrschenden Oligarchien reagieren, indem sie ihre Privatarmeen aufrüsten. Besitzer illegaler Latifundien ließen im Februar die Campesino-Anfüh­rer Mariano Pérez aus Simojovel und Pe­dro Méndez aus Yajalón ermorden. Gleichzeitig werden mit tatkräftiger Un­terstützung der politischen Polizei die sog. Defensas Rurales wiederbelebt, ein noch aus den nach­revolutionären Wirren stam­mendes para­militärisch organisiertes Spionage­netz. Und eine von der lokalen Händler-Elite getragene “Bürgerfront von San Cristóbal gegen die Destabilisierer” (Frente Cívico Coleto Contra los Dese­stabilizadores) agitiert unterdessen nicht nur für eine Be­endigung jeglicher Ver­handlungen mit den Zapatisten, sondern ganz besonders auch für eine Vertreibung des Bischofs Samuel Ruiz aus der Stadt.

Ein brodelnder Vulkan, der jederzeit ausbrechen kann

Chiapas ist Mexiko; der zapatistische Kampf ist keineswegs lokal begrenzt, wie Salinas gegenüber dem irritierten Aus­landskapital glauben machen wollte. Auch im Bundesstaat Morelos, der Heimat von Emiliano Zapata, hat sich ähnlich wie in Chiapas eine gemeinsame Plattform, die Unión de Comunidades Indígenas de Mo­relos (Vereinigung der Indígena-Gemein­den von Morelos), gebildet. Sie begrüßte schon am 5. Januar die Rückkehr des mythischen Revolutionärs in Gestalt der chiapanekischen Aufständischen, wie Prä­sidiumsmitglied Arturo Dimas aus Hua­zulco betont:
“Wir in Morelos sagen: Das Volk ist die Regierung. Daher hat das Zapatistische Befreiungsheer den Namen Zapatas ganz und gar nicht beschmutzt, wie von offi­zieller Seite behauptet wurde. Nein, es weist ihm den Platz in der Geschichte zu, der ihm gebührt”.
Die Solidarisierungskundgebungen rei­chen von den Maya der Halbinsel Yucatán über die Nahua aus Veracruz, die Otomí aus Querétaro und die Chontales aus Ta­basco bis zu den Yaqui und Mayo in dem an die USA angrenzenden Bundesstaat Sonora. Dort gelingt es dem Regional­Kommittee der Confederación Nacional Indígena (CNI), einer PRI-Unterorganisa­tion, zum ersten Mal, die Bevormundung durch die örtliche PRI-Spitze abzuwehren: Nach einer wochenlangen Besetzung von Regierungsgebäuden und einem “Zapati­stischen Marsch” muß die Landes­regie­rung den unabhängigen Wunschkan­dida­ten als neuen CNI-Vorsitzenden ak­zep­tieren.
Während in Sonora das korporative Machtsystem der Staatspartei und ihres Paternalismus gegenüber den Indígenas erst zu bröckeln beginnt, existieren in konfliktreicheren Bundesstaaten wie Guerrero, Oaxaca und Michoacán, die auf eine lange Tradition indianischen Wider­stands zurückblicken, bereits unabhän­gige, eigenständige Organisationen. In Guerrero sind dies der Consejo de Pueblos Nahuas del Alto Balsas und der Consejo Guerrerense 500 Años de Resistencia In­dígena: Der Balsas-Rat ist ein Zusammen­schluß von extrem marginalisierten Dorf­gemeinden, deren physische Existenz durch den Bau eines hydroelektrischen Großprojektes bedroht ist: “Wir haben über Jahre hinweg mit der Regierung ver­handelt, und nichts hat es gebracht. Was wird geschehen, wenn es wie in Chiapas keine Lösungen gibt? Unsere Geduld geht zu Ende…” (Alfredo Ramírez & Eustaquio Celestino, Verhandlungsbeauftragte des Rates).
Der Consejo Guerrerense ist 1991 im Zu­sammenhang mit Protest-Veranstaltungen gegen die offiziellen Kolumbus-Jubelfei­ern entstanden; er verhandelt im Auftrag von mehr als 400 Dorfgemeinden aus Guerrero mit offiziellen Stellen über die Freilassung von gefangenen Campesinos, die Anerkennung kommunaler Land­rechte, die Finanzierung von lokal initi­ierten Entwicklungsprojekten, die Abtre­tung von Selbstverwaltungskompetenzen an die Dorfversammlungen und über die Anpassung der Infrastrukturmaßnahmen an die regionalen Bedürfnisse. Ende Fe­bruar hat der Rat einen Marsch auf Mexiko-Stadt durchgeführt, um den Kampf des EZLN zu unterstützen und die verschiedensten Forderungen zusammen­zutragen:
“Zapatistische Brüder: Ihr seid nicht al­lein! Wir sind Abertausende, in deren ehrlichen Herzen Ihr die Wut der Würde entzündet habt, in unseren Herzen, in un­seren Völkern. Deshalb haben wir be­schlossen, diesen Marsch für den Frieden und die Würde der Indígena-Völker unter dem Motto “Ihr seid nicht allein” durch­zuführen. Wir marschieren nach Mexiko-Stadt, um ein für alle Mal unsere Forde­rungen durchzusetzen, die wir am 13. Oktober 1992 dem Herrn Präsidenten Carlos Salinas de Gortari höchstpersön­lich in seinem Regierungspalast Los Pinos vorgelegt haben. Damals sind wir von Chilpancingo bis zur Hauptstadt hunderte von Kilometern gewandert, um uns Gehör zu verschaffen. Und was bekamen wir dafür? Nichts als Blasen an unseren nackten Füßen und Überdruß in unseren Herzen und Hoffnungen, die von so weit her kommen… Deswegen sagen wir, wie unsere zapatistischen Brüder in Chiapas: Das Schweigen der Indígenas ist zu Ende – Basta Ya!”
Auch in dem an Chiapas angrenzenden Bundesstaat Oaxaca hat eine neugegrün­dete Koalition von zapotecos und chinantecos ihr Recht auf lokale und re­gionale Selbstbestimmung und ihre Unter­stützung des Kampfes des EZLN bekräf­tigt. Während einer eigentlich als Wahl­kampfveranstaltung der PRI gedachten Versammlung und in Anwesenheit des in­zwischen ermordeten Präsidentschafts­kandidaten Luis Donaldo Colosio erklärte der Dorfvorsteher von Guelatao, Víctor García:
“Unsere Forderungen nach territorialer, politischer, wirtschaftlicher, rechtlicher und kultureller Selbstbestimmung müssen verstanden werden als Antwort auf eine politische Praxis, die gekennzeichnet ist von Zentralisierung, Marginalisierung, Korruption, Wahlbetrug und Aufzwingung illegitimer Repräsentanten und Pro­gramme, die nichts zu tun haben mit unse­rer Kultur. All dies hat unsere Dörfer dazu veranlaßt, praktische und manchmal gewaltsame Lösungen zu wählen, um un­ser Überleben zu ermöglichen. Von die­sem Ort aus erneuern wir unsere Aner­kennung für verzweifelte Aktionsformen, wie diejenigen in unserem Bruderstaat Chiapas. Wir betonen, daß für uns Frie­den ausschließlich die Respektierung des Rechtes des Anderen bedeutet. Wir wün­schen Ihnen, Herr Kandidat, daß Ihr Auf­enthalt in Guelatao Ihnen Anlaß gibt zu tiefer Nachdenklichkeit und ehrlicher So­lidarität mit der mexikanischen Nation und besonders seinen Indígena-Völkern”.
Und schließlich haben die Purhépecha des Bundesstaates Michoacán Ende Februar ihre über 50 Dorfgemeinden zu einem re­gionalen Treffen ins Hochland nach Pichátaro eingeladen. Die mehr als 200 von ihren Dorfversammlungen entsandten Vertreter haben jenseits von korporativen Banden, parteipolitischen Grenzen und alten Landkonflikten zwischen einzelnen Dörfern ein politisches Programm formu­liert, das die Beziehungen zwischen Indí­genas und Staat auf eine neue Grundlage stellen und den Zusammenhalt innerhalb der Region stärken soll. Gastgeber Abelardo Torres faßt zusammen:
“Statt Regierungshilfen anzuwerben, be­stand die Zielsetzung unserer Versamm­lung darin, die Einheit der Purhépecha um eine gemeinsame Plattform von Be­dürfnissen und Ansprüchen herum zu er­streben, die wir selbst formulieren und dann auch zusammen in lokalen Projekten verwirklichen. So isoliert wie bisher kön­nen wir nichts ausrichten. Es geht darum, die gleichen Wege auch gemeinsam zu ge­hen”.
Um die Erfahrungen, Forderungen, Stra­tegien und Aktionsformen dieser ver­schiedensten regionalen Treffen, Plattfor­men und Koordinationen zusammenzutra­gen, haben ca. 30 regionale und lokale Organisationen aus ganz Mexiko an­schließend zu einer Convención Nacional Electoral de los Pueblos Indígenas An­fang März in Mexiko-Stadt geladen. Ver­treterInnen von 40 Indígena-Völkern und 110 sozialen Organisationen und Initiati­ven erarbeiteten während dieser zweitägi­gen Wahlkonvention eine Charta für die am 21. August stattfindenden Präsident­schaftswahlen. Damit sollen zum einen die politischen Parteien dazu veranlaßt werden, das “tiefe Mexiko” in ihren Wahlprogrammen zu berücksichtigen; zum anderen geht es aber vor allem darum, der Indígena- und Campesino-Be­völkerung eine nationale Artikulations­ebene zu verschaffen, von der aus das Projekt Mexiko revidiert werden soll.

Kein größeres Stück Torte – sondern ein neues Rezept

Ebenso wie die Haltung des EZLN bei den “Verhandlungen” in San Cristóbal sprengen auch die Hauptforderungen der Purhépecha, Nahua, Zapotecos, Chinante­cos etc. das assistentialistische Modell, mit dem bisher das “fiktive Mexiko” die marginalisierten Verlierer der Modernisie­rung durch punktuelle und an korporative Gefolgschaften gebundene staatliche Fürsorge- und Entwicklungsprogramme wie PRONASOL ruhigzustellen und so Protest zu kanalisieren versucht. In allen programmatischen Erklärungen sowohl der regionalen als auch der nationalen Treffen stehen nicht eine Erhöhung des PRONASOL-Etats oder eine “Verbesse­rung” der Entwicklungspro­gramme im Mittelpunkt, sondern die Ab­tretung von Souveränität. Gefragt wird nicht mehr, wer wieviel bekommt, son­dern wer nach welchen Kriterien verteilen darf. Diese Neukonzeption des Verhält­nisses des Na­tionalstaates zu den Indí­gena-Völkern be­trifft die gesamte Zivilge­sellschaft, wie das “Kommunalstatut” der Triqui von Chi­cahuaxtla aus Oaxaca ver­deutlicht:
“Die Gemeinde von San Andrés Chicahu­axtla definiert ihre Souveränität als das Recht, frei zu leben auf dem Land, das sie seit Menschengedenken bewohnt und de­ren Grenzen vom mexikanischen Staat und von unseren Nachbargemeinden aner­kannt worden sind. Statt im Widerspruch zur Souveränität des mexikanischen Staa­tes zu stehen, trägt die Souveränität des Triqui-Volkes von San Andrés Chicahu­axtla, wie auch die der anderen Völker und Kulturen, die die mexikanische Ge­sellschaft bilden, dazu bei, sie zu bereichern und zu stärken und ihr histori­schen und sozialen Gehalt zu verleihen. Statt die mexikanische Verfassung und ihre Ausführungsgesetze gegen den Willen derjenigen Völker zu formulieren und durchzusetzen, die dieses Land ge­schaffen haben und es heute bilden, müs­sen Ver­fas­sung und Gesetze ausgehend von der voll­ständigen Anerkennung dieser Völker, ih­rer ureigenen Rechte, ihrer Tra­ditionen, Bräuche und Hoffnungen erlas­sen und an­gewandt werden”.
Ausgangspunkt der Autonomiebestrebun­gen ist immer die Dorfgemeinde als die historisch zentrale Instanz der Identitäts­stiftung: Nur die Comunidad konnte im Zuge eines fünfhundertjährigen Wider­standskampfes als Freiraum bewahrt wer­den. Auf dieser lokalen Ebene ist Selbst­bestimmung daher nicht eine Forderung nach Veränderung, sondern bloß nach ju­ristischer Anerkennung des Status Quo: Auch ohne offiziellen Verfassungsrang bildet die Comunidad als Versammlung aller Gemeindemitglieder die wichtigste Säule der direktdemokratischen Traditio­nen. Ihr Überleben als eigenständige poli­tische Instanz ist jedoch in den letzten Jahrzehnten durch das Vordringen des Staates und den damit einhergenden Prak­tiken des Polarisierens und Spaltens gefährdet.

Kampf um kommunales Land

Die Verteidigung und Stärkung der Indí­gena-Gemeinde richtet sich vor allem auf die Rückgewinnung des Kommunallandes und der darauf befindlichen Naturressour­cen. Wie schon einmal Mitte des 19. Jahr­hunderts stellt die 1992 von Salinas im Zuge der NAFTA-Verhandlungen durch­gesetzte neoliberale Privatisierung des Ejido- und Kommunallands (Art. 27 der Verfassung) die materielle Basis der Co­munidad zur Disposition. In der Verteidi­gung des Landbesitzes zeigt sich die neue Qualität der Beziehungen zum Staat: Keine einzige Indígena-Organisation fordert eine Rückkehr zur alten Fassung des Artikel 27, in der das Ejido als korpo­rativ und hierarchisch kontrollierter Staatsbesitz den Vorrang hatte vor dem lokal und dezentral verwalteten Kommu­nalland. Mit ihrer Forderung nach territo­rialer Autonomie wollen die Indígenas daher nicht irgendeine Konzession oder weitere Reformen des Art.27 erhalten, sondern sich – wie es der legendäre Plan de Ayala von Emiliano Zapata 1911 vor­sah – einen Freiraum für eigene, lokale und regionale Entscheidungen sichern. Dieser Prozeß der Rückeroberung der Kontrolle über die eigenen Ressourcen hat schon während der Diskussionen um die Abschaffung der kollektiven Besitzrechte begonnen. So setzt zum Beispiel das De­creto de la Nación Purhépecha von 1991 alle Verfassungsänderungen für ihr Terri­torium außer Kraft, die das Kommunal­land betreffen:
“Auf der Grundlage unseres historischen Rechtes, des Rechtes auf Souveränität und freie Selbstbestimmung über unsere Ge­genwart und unsere Zukunft, und ange­sichts der Tatsache, daß wir die legitimen Erben und Inhaber dieses Landes sind, haben wir, Mitglieder und Gemeinden der Purhépecha-Nation das folgende Dekret erlassen: 1) Wir setzen alle Reformen des Verfassungsartikels 27 und alle eventuel­len späteren Novellierungen derjenigen Artikel der mexikanischen Verfassung au­ßer Kraft, die die Indígena-Gemeinden, die Campesinos, die Arbeiter und das Volk im allgemeinen betreffen, wie die Artikel 3, 123 und 130. 2) Wir beanspru­chen die Unverjährbarkeit, die Unveräu­ßerlichkeit und die Nicht-Beschlagnahm­barkeit des Kommunal- und Ejido-Landes sowie ihre Definition als gesellschaftli­ches Eigentum. 3) Alle Kommunal- und Ejido-Bauern, die Parzellen oder Land ei­genmächtig verkaufen, werden aus den Gemeinden ausgestoßen. 4) Alle Anführer und Dorfautoritäten, die der Reform des Artikels 27 zugestimmt haben, ohne ihre Basis zu befragen, sind abgesetzt. Erlassen im Territorium der Purhépecha-Nation, am 5. Dezember 1991. Juchari Uinapikua! / Unsere Kraft! – Die Purhé­pecha-Gemeinden Michoacáns”.

Regionalautonomie und direkte Demokratie

Diese territorialen Souveränitätsansprüche münden gleichzeitig in eine politische Re­organisation des gesamten Staates. Gefor­dert wird nicht nur eine Dezentralisierung der Kompetenzen der Zentralregierung, sondern als erster Schritt eine Reform und Neuabgrenzung der Gebietskörperschaf­ten: In vielen Bundesstaaten führt die be­wußt künstliche Grenzziehung der Muni­cipio-Distrikte und der Wahlkreise dazu, daß eine Vielzahl von Indígena-Gemein­den einem mestizischen Distriktsvorort untergeordnet sind. Dadurch soll den In­dígenas der Zugang zu regionalen oder nationalen Ämtern und Mandaten syste­matisch erschwert werden, wie Margarito Ruiz, Tojolabal-Indígena aus Chiapas und ehemaliger Parlamentsabgeordneter der oppositionellen PRD, zeigt:
“Es ist historisch erwiesen, daß die Ein­teilung in Municipios und die verschie­denen anderen Gebietskörperschaften des Landes aufgrund von Interessenkonflik­ten zwischen Caudillos und anderen lo­kalen Kräften vollzogen worden ist. Die terri­toriale Gliederung Mexikos entspricht nicht Kriterien einer wirtschaftlichen, so­zialen oder kulturellen Regionalisierung. So kommt es, daß die Tojolabal, obwohl sie über ein geschlossenes Siedlungsgebiet verfügen, auf die Municipios Comitán, Las Margaritas, Altamirano und La Inde­pendencia aufgeteilt sind. Und die Tzotzil, die auch geschlossen siedeln, wurden in fünf verschiedene Municipios eingeteilt. Dies ist das vorherrschende Modell in fast allen Indígena-Regionen des Landes”.
Daher fordert die Wahlcharta der Natio­nalkonvention die Einführung pluriethni­scher Territorien mit jeweils eigener Re­präsentanz auf bundes- und zentralstaat­licher Ebene. An diese Regio­nen, die auch die innerhalb eines Indígena-Siedlungs­gebietes lebenden Mesti­zen umfassen und unabhängig von beste­henden Municipio-Grenzen eingerichtet werden sollen, müs­sen Municipios und Bundesstaaten Kom­petenzen im Sinne der territorialen Selbst­bestimmung abtreten.
Was die Wahlen auf den verschiedenen politischen Ebenen betrifft, lehnt die ge­meinsame Charta der Nationalkonvention das herkömmliche Modell der repräsenta­tiven Parteiendemokratie als unzulänglich für die Vertretung der Indígena-Interessen ab. Da in den Comunidades Entscheidun­gen nicht nach Parteienmehrheit getroffen werden, soll für jede pluriethnische Re­gion ein spezieller Wahldistrikt geschaf­fen werden:
“Unter Berücksichtigung unserer Formen des Regierens und unserer Sozialorgani­sation sowie zur Gewährleistung der vollen Repräsentation der Indígena-Völ­ker innerhalb der staatlichen Strukturen werden die autonomen Regionen ihre in­ternen Mechanismen der Bestimmung ih­rer Vertreter jeweils eigenständig festle­gen”.

Völkerrechtliche Verträge statt mehr Almosen

Die staatliche Anerkennung der kommu­nalen und regionalen Souveränität in den Bereichen territoriale Autonomie und Ressourcenkontrolle, politische Reprä­sentationsformen, Anerkennung der Indí­gena-Sprachen und das Recht auf selbst­bestimmte Erziehungs- und Kulturinstitu­tionen soll durch eine Reform des Artikels 4 der Verfassung erfolgen. Dieser Artikel erkennt in seiner aktuellen Fassung höchst schwammig die “plurikulturelle Zusam­mensetzung der mexikanischen Nation” und die staatliche Verpflichtung zum “Schutz der Sprachen, Kulturen, Bräuche, Ressourcen und Organisationsformen der Indígena-Völker” an.
Wie weit der Weg noch ist, bis Staat und Regierungspartei tatsächlich bereit sein sollten, Kompetenzen an die Regionen und Völker Mexikos abzutreten, zeigt das letzte offizielle Zugeständnis von Salinas an die Autonomieforderungen der Indí­genas: Kaschiert als Teil des “Verhandlungsergebnisses” mit dem EZLN wurde im März eine Comisión Nacional de Desarrollo Integral y Justicia Social para los Pueblos Indígenas er­nannt, in der jedoch bezeichnenderweise kein einziger Indígena vertreten ist. Das altbewährte Konzept “Assistentialismus für Indígenas, aber ohne Indígenas” wird erneut angewandt. Und auch der Aufga­benbereich der Nationalen Kommission ist identisch mit dem bestehenden, bereits 1948 gegründeten und mittlerweile vom Notprogramm PRONASOL vollständig aufgesogenen Instituto Nacional Indigeni­sta, dessen endgültige Abschaffung aller­orts gefordert wird.
Das korporative politische System Mexi­kos scheint sich – trotz “Modernisierung”, “Rückzug des Staates”, “Deregulierung” und ähnlicher technokratischer Ideolo­geme – aus Gründen des Machterhaltes der Elite des “fiktiven Mexiko” von über­kommenen Mustern der Kanalisierung von Protest, der Integration mittels Kor­ruption sowie der Disziplinierung durch Parteikanäle nicht lösen zu können. Was tun? Der abtrünnige Entwicklungsplaner und heutige Graswurzelaktivist Gustavo Esteva empfiehlt Sterbehilfe:
“Der Kampf um die einzelnen Forderun­gen und um das Land als solches bewir­ken eine schnelle und intensive Politisie­rung des öffentlichen Lebens, wodurch das Absterben des herrschenden politi­schen Systems beschleunigt wird, eines Systems, das meiner Ansicht nach bereits im Sterben liegt. Die gegenwärtige Her­ausforderung besteht darin, Bedingungen zu schaffen, um dem System einen würdi­gen Tod und ein ehrenhaftes Begräbnis zu bieten. Wenn wir diese Agonie oder sogar den Todesfall abstreiten oder zu verber­gen versuchen, wird der unbestattete Ka­daver schon sehr bald die übelsten Ge­rüche absondern”.
Das Tragische und Gefährliche liegt in der Ungleichzeitigkeit der Ereignisse und Akteure: Während sich der Apparat mitten in seiner Agonie gegenüber der Gesell­schaft weiterhin verhält wie vor vierzig Jahren, hat die Zivilgesellschaft selbst längst begonnen, der Aufforderung des Subcomandante Marcos von Mitte Januar zu folgen: Vorsichtig streift sie die ihr aufgezwungene Maske ab und erkennt langsam im noch ganz unbekannten, eige­nen Spiegelbild die Konturen des “tiefen Mexiko”.

Editorial Ausgabe 239 – Mai 1994

Noch immer herrscht Krieg in Chiapas. Es gibt eine Waffenruhe, mehr nicht, auch wenn die Kämpfe vom Januar schon fast wieder in Vergessenheit geraten sind. Die Schüsse von Tijuana im Norden haben die Schüsse von Chiapas im Süden überdeckt. In Tijuana starb der Präsidentschaftskan­didat der Regierungspartei PRI, Luis Donaldo Colosio. Die Schüsse im Süden bewirkten Aufbruch – die Schüsse im Nor­den bewirkten Lähmung. So schien es.
Colosio, der Technokrat aus der neolibe­ralen Schule und salinistischen Kader­schmiede, hatte für Kontinuität gestanden, und seinen Wahlkampf nur unter größten Mühen den neuen Realitäten nach Chiapas anpassen können. Wahlkampf­manager von Salinas war er gewesen. Der Ruf des Wahlbetrügers haftete ihm an – wie allen vorher. Für das “Solidaritäts”-Programm PRONASOL stand sein Name, für jenes Programm, dessen Versagen der Chiapas-Aufstand so deutlich gemacht hatte.
Bis heute ist unklar, wer die Auftraggeber für den Mord waren. Klar ist: Wenn das Attentat aus kaltem politischen Kalkül ge­plant wurde, dann von Gegnern jeder Veränderung. Denn der Mord hat die Stimmung verändert. Plötzlich wurde be­wußt, daß Aufbruch auch Unsicherheit bedeutet, Parteiendiktatur hingegen Sicherheit. Plötzlich wurde bewußt, daß etwas, das aus den Fugen gerät, auch schwierig neu zusammenzusetzen sein könnte.
Die regierende PRI hat mit der Ernen­nung Ernesto Zedillos zum neuen Kandi­daten dokumentiert, was viele im ersten Moment für das einzig wünschenswerte hielten: Keine Experimente, nichts aufs Spiel setzen. Zedillo – die größtmög­liche Kontinuität des salinistischen Pro­jektes.
Natürlich sehen Umfragen auch Zedillo bei über 50 Prozent der WählerInnen-stimmen. Und bislang scheint es unter den politischen Parteien keine zu geben, die den offenkundigen Niedergang der PRI und ihre internen Streitigkeiten für sich zu nutzen wüßte.
Auch die Bauern- und Bäuerinnenbewe­gungen, die indianischen Organisationen, die sich nach dem Aufstand von Chiapas offensiver denn je in der Öffentlichkeit zeigen und am 75. Todestag Emiliano Zapatas einige zehntausend Menschen auf dem “Zocalo” zusammenbrachten, schei­nen – und das macht sie sympathisch – ihre politischen Forderungen erst einmal un­mittelbar ausfechten zu wollen. Ihre Option ist nicht eine Partei oder die an­dere, sondern Demokratie und vor allem Land.
Und darum wird in diesen Tagen in Chiapas gekämpft. Tausende von Hektar Land sind in der Hand von Bauern und Bäuerinnen. Schon geben sich einige der Besitzenden geschlagen, reden von staat­lichem Ankauf und Entschädigungszah­lungen. Schon aber gibt es dort auch Tote, wo sich Viehzüchterverbände bewaffnen. Der kurze Moment der Einigung, den der Mord an Colosio hervorbrachte, war oh­nehin ein hauptstädtischer, ist aber längst wieder aufgebraucht. Auf dem Land geht die Polarisierung weiter.
In Chiapas herrscht noch immer Krieg. Weniger denn je können heute die Bilder von Anfang März, die Bilder aus der Frie­denskathedrale von San Cristóbal de las Casas darüber hinwegtäuschen. Selbst der Versuch, die Verhandlungen zwischen Re­gierung und Zapatistas wiederaufzuneh­men, gerät zum schwierigen Unterfangen. Die Drohung mit Gewalt ist damit in Mexiko heute ein effektives Mittel der po­litischen Auseinandersetzung. Darin liegt die Gefahr, aber darin liegt vor allem auch das Armutszeugnis für das so gründ­lich “modernisierte” Mexiko.

Durchzug im Mief der Korruption

Die Indígenas, die im sonst von Touri­stInnen bevölkerten San Cristóbal de las Casas kleine Stoffpuppen verkaufen, ha­ben rasch umgestellt. Ihre Figuren, die sie auf den kleinen Tischen am Straßenrand vor der Kathedrale anbieten, tragen heute schwarze Ski-Masken – Hommage an “Subcomandante Marcos” und die anderen Zapatistas, die maskiert in der Kathedrale mit dem Friedensemissär der Regie­rung verhandelten. Was einige hier ganz marktwirtschaftlich zu Geld machen, scheint im ganzen Land Geltung zu haben: Die Unterstützung der indianischen Be­völkerung für die chiapanekischen Zapati­stas.
Aus dem Bundesstaat Guerrero waren hunderte von Indígenas zu Fuß nach Me­xiko-Stadt gelaufen, hatten den “zócalo” besetzt, den Hauptplatz, und in klarer So­lidarität mit den Zapatistas ihre eigenen Forderungen vorgetragen. Nach wenigen Tagen wurden sie vom Präsidenten emp­fangen, und wenig später konnten sie mit einem Bündel voller Zusagen den Heim­weg antreten. In San Cristóbal trafen sich Mitte März VertreterInnen von Indígena-Organisationen aus ganz Mexiko, zusam­mengeschlossen im “Rat der Indianer- und Bauernorganisationen” (CEOIC). CEOIC war nach Beginn des Chiapas-Aufstandes als Dachorganisation von mehr als 280 Gruppen gegründet worden. Das Treffen endete mit einem Forderungskatalog zur Veränderung der Verfassung: Indianische Formen der Selbstverwaltung sollen aner­kannt, die verschiedenen Indianer­sprachen generell als zweite Amtssprache zugelas­sen werden. Die staatliche India­nerbehörde soll von den Indígenas selbst geleitet werden. Letztendlich sollen an den Gerichten des Landes spezielle “Ämter für indigene Rechtsprechung” und wissen­schaftliche Beiräte zur Ausarbei­tung indi­gener Schulerziehungspro­gramme einge­richtet werden. Die indiani­schen Organi­sationen sind lauter gewor­den, seit der Aufstand der EZLN in Chia­pas die Regie­rung zum Einlenken ge­zwungen hat.
Und eingelenkt hat die Regierung tatsäch­lich. Das Angebot, das sie nach zehn Verhand­lungstagen der EZLN zur Been­digung des Konfliktes in Chiapas unter­breitet hat, ist noch kein Abkommen. Wenn Präsident Carlos Salinas immer vom “Friedensschluß” spricht, so könnte ihm das Ärger einbringen. Denn zu Recht be­steht Subcomandante Marcos darauf, daß es bislang nichts anderes gibt als eine Waffenruhe, eine Pause im Krieg also, und einen Vorschlag der Regierung, der zur Unterzeichnung eines Friedensab­kommens führen könnte.

Die Landfrage bleibt der Knackpunkt – seit 500 Jahren

Dennoch ist das Angebot der Regierung weit mehr als eine Lappalie. Die Antwor­ten auf die 34 Forderungen der Guerilla sind zwar recht allgemein formuliert, so daß da noch einiges an politischer Über­setzungsarbeit notwendig ist – zumal in die verschiedenen Indianersprachen. Weitreichend aber ist das Angebot den­noch: In vielen Punkten wäre eine tatsächliche Umsetzung regelrecht revo­lutionär (vgl. Dokumentation in diesem Heft).
Hauptstreitpunkt bleibt erwartungs­gemäß die Landfrage. Die Guerilla hatte gefor­dert, ein völlig neues Agrarreformge­setz auszuarbeiten, das wieder im Sinne der mexikanischen Revolution von 1917 die Umverteilung sichern sollte. Minde­stens aber sollte der 1991 reformierte Pa­ragraph 27 der mexikanischen Verfassung wieder in seiner ursprünglichen Fassung gelten. 1991 war der Schutz des indiani­schen Ejido-Besitzes praktisch aufgeho­ben worden. Seither blühten in Chiapas der Verkauf von Ländereien und die Boden­spekulation.
Die Regierung hat sich auf eine generelle Reform weder in der einen noch in der anderen Richtung eingelassen. Lediglich für den Bundesstaat Chiapas selbst hat sie unmittelbare Vorschläge unterbreitet, wie die Landbesitzfrage dort zu regeln sei. Das geht nicht ohne politische Kosten, und prompt rebellieren die “coletos”, die Mestizen von San Cristóbal, gegen die Verhandlungen, gegen Bischof Ruiz, ge­gen Manuel Camacho, aber vor allem ge­gen “diese Indios”.
Auch eine Reform des Wahlrechts ist in Aussicht – aber zunächst nur in Chiapas. Alles weitere bleibt dem Parlament vor­behalten. Das aber wird sich in diesen Ta­gen zu mehreren Sondersitzungen treffen, um über die im Grunde genommen hin­länglich bekannte Forderung nach Mecha­nismen, die saubere Wahlen garantieren, zu beraten.

Wahlrechtsreform, und neue Gedanken zur Kandidatenkür…

Und im Hinblick auf die Präsident­schaftswahlen im Sommer empfiehlt sich immer nachdrücklicher eben jener Frie­densunterhändler Manuel Camacho Solis. War er bei der ersten Kandidatenfindung der PRI noch gegenüber Luis Colosio un­terlegen, so entziehen immer größere Teile der Partei dem Wunschkandidaten des derzeitigen Präsidenten die Unterstüt­zung. Eine innerparteiliche Oppositions­gruppe “Demokratie 2000” erklärte, sie hätten schon 5.000 Unterschriften für Ca­macho als Kandidaten gesammelt, und eine andere Gruppe innerhalb der PRI gab gar bekannt, sie werde fortan überhaupt den Kandidaten der oppositionellen PRD Cuathemoc Cárdenas unterstützen.
Zwar ist über Camachos eigene Absichten noch nichts bekannt. Daß er aber trotz des großen Drucks, sich ob seiner Rolle als Unterhändler aus der aktiven Politik zu­rückzuziehen, in einer Rede ankündigte, er sei nicht bereit, seine politischen Rechte aufzugeben, läßt die Spekulationen fröhlich weiterblühen. Und immerhin: Carlos Fuentes schrieb über die Wahlen, sie müßten so sauber sein, daß man selbst einen Wahlsieg von Colosio glauben würde. Mit diesem Kandidaten sehen die Chancen der PRI nicht besonders gut aus. Camacho hingegen hat nicht nur einiges Verhandlungsgeschick bewiesen, er ging auch belobigt von Medien-Superstar “Subcomandante Marcos” aus den Ge­sprächen heraus, und das Bild, wie beide die mexikanische Fahne halten, ging um die Welt.

…aber wird sich für das indianische Mexiko viel ändern?

All das haben die Zapatistas losgetreten, aber derzeit lenkt es genau von ihnen und den vielen anderen Problemen ab, die ne­ben der Frage der Demokratisierung und der Präsidentschaft auch entscheidende Gründe für ihren Aufstand waren. Wäh­rend sich ein Großteil der mexikani­schen Gesellschaft in einer gewissen Scham über den Gegensatz zwi­schen Bundes­hauptstadt und ländlicher Region, zwi­schen arm und reich im eige­nen Land re­lativ einig ist, sind die politi­schen Konse­quenzen aus dieser Scham doch zu bezwei­feln. Was jahrhundertelang an den Rand gedrängt worden ist, kann nicht so plötz­lich zum bestimmenden Element der Poli­tik werden. So scheint es, als ob ge­rade diejenigen Forderungen der EZLN, über die die Regierung nicht verhandeln wollte – die aber auch den gering­sten Be­zug zur indianischen Realität ha­ben – die mittel­ständische Gesellschaft am meisten inte­ressieren: Wahlrechtsreform und die Zukunft der PRI-Regierung. Wenn selbst PRI-Kandidat Colosio mitt­lerweile eine internationale Überwachung der anste­henden Präsidentschaftswahlen ins Auge faßt, wenn das Parlament dem­nächst in Sondersitzungen über eine Wahlrechtsre­form debattieren wird, dann ist das zwar eine Dynamik in der politi­schen Kultur Mexikos, die in dieser Art von nieman­dem zu erwarten war. Ande­rerseits ist fraglich, ob sich über Reformen der de­mokratischen Spielregeln hinaus auch das Verhältnis zwischen dem indiani­schen und dem mestizischen Mexiko tatsäch­lich verändern wird. Und da sind Zweifel an­gebracht. Denn die Instru­mente, die im Regierungsangebot zur Verbesserung der Situation der Indígenas genannt werden, sind durchaus nicht re­volutionär. Wie sagte Camacho Solis bei der Vorstellung der Ergebnisse: “Die Ver­handlungen hat­ten ihre Grenzen: Es ist nichts akzeptiert worden, was die verfas­sungsmäßige Ord­nung schwächen könnte.” Außerdem lobt er: “Ohne das Vertrauen und die Rücken­deckung des Präsidenten wären diese Er­gebnisse nicht möglich ge­wesen. Die Hilfe der staatlichen Institio­nen in Chia­pas war entscheidend. Die Spielräume, die die Zivilgesellschaft dem Frieden ver­schafft hat, die Parteien, die Kirchen, die sozialen Organisationen und die Medien, haben dieses politische Er­gebnis ermög­licht. Die mexikanische Ar­mee hat ver­antwortungsbewußt zu der po­litischen Lö­sung beigetragen.” So ist nie­mand ausge­schlossen, niemand wird in Frage gestellt.
Dennoch zeigt sich gerade an den nervö­sen Reaktionen derjenigen, die in Chiapas etwas zu verlieren haben, daß die Karten doch neu gemischt werden. Schon ist die Rede von einer chiapaneki­schen Contra, schon wird von Überfällen und Mordan­schlägen auf indianische Füh­rer berichtet. Wo IndianerInnen die Ge­bäude der Stadt­verwaltungen besetzt hielten und die Ab­setzung der PRI-Bür­germeister forder­ten, gab es zum Teil handfeste Auseinan­dersetzungen mit AnhängerInnen der Re­gierungspartei. Auf lokaler Ebene vertei­digt die alte Herrschaft ihre Macht ohne Rücksicht auf diplomatische Etikette.

Unterstützung für die Indígenas oder nur für “Marcos”?

Auch die Indígenas entwickeln eine Dy­namik und erhalten Auftrieb. Nur: Sie werden bei den sozialen Kämpfen, die sie jetzt führen und die da noch kommen, weit weniger von der Öffentlichkeit unter­stützt werden, als das in der Frage der Wahlrechtsreform der Fall ist. Denn keine der bestehenden Parteien, auch nicht die moderat-linke PRD, kann ihrerseits auf die uneingeschränkte Unterstützung der Indígenas rechnen, noch könnte sie ihrer bisherigen Klientel die Forderungen der Indígenas nach territorialer Autono­mie vermitteln. Octavio Paz, erklärter re­gierungsnaher Gegner des Zapatista-Auf­stands, hat hier in einem Kommentar zu den Verhandlungsergebnissen sicher auf den Punkt gebracht, was mestizischer Konsens sein dürfte: “Was die Forderung nach einer Reform des Verfassungsarti­kels 4 betrifft, wäre es schwerwiegend, den indianischen Gemeinden autonome Verwaltungen zuzugestehen. Das nämlich würde bedeuten, daß gleichzeitig zwei Gesetze in Kraft wären: das nationale und das traditionelle. In politischer und kul­tureller Hinsicht ist der Pluralismus eine heilsame Angelegenheit, das aber ist auch die Integrität und Einheit der Nation.” Nein, so weit wie die nicaraguanischen SandinistInnen – nach langen blutigen Kämpfen – mit der Autonomie für die in­dianisch bewohnte Atlantikküste gegan­gen sind, möchte sich in Mexiko niemand vorwagen – zumal jede Regelung für Chiapas nahezu zwangsläufig zum Präze­denzfall für die anderen Bundesstaaten mit einem hohen Anteil indigener Bevöl­kerung werden könnte. Und letztendlich könnten viele in Mexiko-Stadt denken: Vielen Dank, liebe Zapatistas, daß ihr in dem Mief von Wahlbetrug und Korruption ein wenig Durchzug veranstaltet habt – aber nun langt’s auch allmählich mit eu­rem Auf­stand da unten.

Kasten:

Revolutionäres Gesetz der Frauen

Im gerechten Kampf für die Befreiung unseres Volkes hat die EZLN die Frauen in den revolutionären Kampf miteingeschlossen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrem Glauben oder ihrer politischen Herkunft. Die einzigen Bedingungen bestehen darin, sich die Forderungen des ausgebeuteten Volkes zu eigen zu machen und in der Verpflichtung, die Gesetze und Vorschriften der Revolution zu erfüllen. Um die Situation der Arbeiterinnen in Mexiko zu berücksichtigen, wurden ihre gerechten Forderungen nach Gleichheit und Gerechtigkeit im folgenden Gesetz aufgenommen:

 1. Die Frauen haben das Recht, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrem Glauben und
     ihrer politischen Herkunft in dem Maße am revolutionären Kampf teilzunehmen
     wie es ihr Wille und ihre Fähigkeiten zulassen.
 2. Die Frauen haben das Recht auf Arbeit und einen gerechten Lohn.
 3. Die Frauen haben das Recht, selbst zu bestimmen, wieviele Kinder sie bekommen.
 4. Die Frauen haben das Recht, sich an den Gemeindeversammlungen zu beteiligen
     und Ämter zu übernehmen, wenn sie frei und demokratisch gewählt worden sind.
 5. Die Frauen und ihre Kinder haben das Recht auf besondere Aufmerksamkeit in
     Hinblick auf ihre Gesundheit und Ernährung.
 6. Die Frauen haben ein Recht auf Bildung.
 7. Die Frauen haben das Recht, ihren Partner frei zu wählen und dürfen nicht zur
     Eheschließung gezwungen werden.
 8. Keine Frau darf geschlagen oder körperlich mißhandelt werden, weder von
     Angehörigen noch von Fremden. Versuchte Vergewaltigung oder Vergewaltigung
     werden streng bestraft.
 9. Frauen können Führungspositionen in der Organisation und militärische Ränge im
     bewaffneten revolutionären Heer bekleiden.
10. Die Frauen unterliegen allen Rechten und Verpflichtungen, die in den Gesetzen
     und Regeln der Revolution festgelegt sind.
Aus: La Jornada 8. Februar 1994
Übersetzt von: Susan Drews

Abschied vom Comandante

“Wenn es mal so wäre”, kommentiert der sandinistische Befreiungstheologe Ernesto Cardenal die Frage, ob die Sandinistische Befreiungsfront (FSLN) die Zapatistas unterstützen würde. Denn sie tun es nicht. Die FSLN hat genauso wie die guatemaltekische URNG jahrelange Unterstützung von der mexikanischen Regierung erfahren, sei es materiell oder diplomatisch. Die PRI-Regierung erkannte die Guerilla-Bewegungen als “kriegführende Parteien” an, und in Mexiko-Stadt fanden viele Asyl, die als politische FührerInnen von Befreiungsbewegungen fliehen mußten.
Das ist verständlicher Grund für vornehme Zurückhaltung. Zuneigung korrumpiert die Analyse. Unverständlich aber ist, was ein “legendärer” Revolutions-Comandante sich an politischem Unsinn so leistet: Der ehemalige sandinistische Innenminister Tomás Borge, einziger noch lebender Mitbegründer der FSLN. Der ist richtig sauer über den Chiapas-Aufstand. Die Zapatistas stehlen seinem gerade veröffentlichten Buch die Show: Die Biografie von Mexikos Präsidenten Carlos Salinas de Gortari, ein Buch über “den großen Staatsmann und Modernisierer Mexikos.” Nun zeigt Chiapas, wie Borge drucksend zugibt “ein Schwarzes Loch” in der ansonsten “substantiellen wirtschaftlichen Entwicklung” Mexikos. Es könnte ja egal sein, würde Borge nicht die ganze FSLN mit ins politische Schlamassel ziehen. Im Interview mit dem El Nuevo Diaro meint der Alt-Revolutionär, er wolle “nicht den geringsten Zweifel lassen: Die FSLN ist die Freundin der Regierung Mexikos und der PRI.” Und setzt nach: “An der Atlantikküste meines Landes ereignete sich eine ethnische Rebellion unter Führung der Miskitos. Was die Regierung Mexikos in den ersten Tagen nach Beginn der Ereignisse in Chiapas tat, hat gewisse Ähnlichkeit mit dem, was wir nach einigen Jahren Krieg taten. Deshalb begrüßen wir den Versuch der Regierung Mexikos, eine Verhandlungslösung zu finden.” Als ob nicht lediglich der Druck der Öffentlichkeit und der Gewehre die Regierung Salinas davon abgehalten hätte, die aufständischen Zapatistas kurzerhand zusammenzuschießen.
Daß Salinas seinen Innenminister auswechselte, nachdem dieser für tagelange Menschenrechtsverletzungen in den vom Militär abgesperrten Gebieten in Chiapas Anfang Januar verantwortlich war und der öffentliche Druck riesig wurde, ist für Borge “praktische Selbstkritik” der Regierung Salinas, aber nicht “am Gehalt ihrer Amtsführung oder der globalen Strategie der Regierung, sondern eine kühne und notwendige Selbstkritik an bestimmten, jetzt ganz offensichtlichen Fehlern.”
Borge erklärt kurzerhand, die Aufständischen in Chiapas müßten wohl über sehr gute Kontakte zu Menschenrechtsorganisationen weltweit verfügen. Und überhaupt sei, wie man höre, eigentlich Bischof Samuel Ruiz für all das verantwortlich. Der habe seit zwanzig Jahren an der Vorbereitung des Aufstandes gearbeitet. Aber Borge sieht Hoffnung. Der neue PRI-Kandidat Luis Donaldo Colosio sei “ein Freund der Antworten vor Ort, weniger der bürokratischen Formalitäten.” So werde schon eine Lösung gefunden werden, die für ganz Lateinamerika Vorbild sein werde.
Eigentlich schade. Irgendwie war Tomás Borge, der alte, der radikale, doch sympathisch. Zeit, Abschied zu nehmen.

Gewalt ist manchmal die Medizin

Die Rebellion in Chiapas hat Gewissen aufgewühlt. Im Guten wie im Schlechten. Für viele Intellektuelle, die sich an der kontinuierlichen Diskussion nationaler Probleme in den Medien beteiligen, hat der von der EZLN erklärte Krieg die Hoffnung auf revolutionäre Veränderungen wiederbelebt. Auf Veränderungen, die erlauben, daß die Güter für alle erreichbar sind und nicht nur für einige Privilegierte. Und diese Hoffnung ist wiedergeboren, nicht weil die Zapatisten sich Marxisten oder Maoisten nennen, sondern eben weil sie sich Zapatisten nennen.
Die Armen und Ausgegrenzten, die nicht mit der Ersten Welt konkurrieren können, zu der Salinas uns angeblich hinführen will, haben plötzlich VerfechterInnen gefunden, die grundsätzliche Veränderungen der nationalen Politik und der internationalen Einschätzung unserer ökonomischen Situation erreicht haben. Sie warfen einen Innenminister, der eine Garantie für Wahlbetrug war, und einen kazikischen Gouverneur hinaus. Sie eröffneten die Möglichkeit sauberer Wahlen in Mexiko, was wir, die politischen Parteien, nicht hatten erreichen können. Diejenigen, die ausgeschlossen sind von Reichtum, Gerechtigkeit und Freiheit finden sich in der EZLN wieder. Nicht nur die Indígenas auf dem Land, sondern auch die, die in den großen Städten leben, haben ihnen ihre Symphatie bekundet, außerdem die MestizInnen. Deshalb erweisen auch viele Intellektuelle ihnen ihre Zustimmung, schreiben ermutigende Botschaften an die KämpferInnen, veranstalten Sammlungen, um Kleidung, Lebensmittel oder Medikamente in die chiapanekischen Dörfer zu schicken, die durch Armee und EZLN von der Außenwelt abgeschnitten sind.
Diese Intellektuellen beteiligen sich an den Diskussionsrunden und an den Märschen durch die Straßen und einige schreien, schreien sich heiser vor lauter Enthusiasmus. Sie haben selbstverständlich weder die Verbrechen Hitlers noch die Stalins vergessen, und auch nicht die Korruption, wie man sie in der Ex-UdSSR gesehen hat. Noch weniger vergessen sie, daß in den Ländern, wo das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft wurde, eine politisch dominante Klasse zu einer neuen Bourgeoisie wurde, noch privilegierter als in den kapitalistischen Ländern. Aber der Kampf in Chiapas enthält einen Bestandteil, der dem Ganzen erst die Würze gibt: Der Kampf geht um die Rechte von Millionen Indígenas, ausgegrenzt aus ihrem eigenen natürlichen Reichtum, zu unerwünschten AusländerInnen in ihrem eigenen Vaterland geworden. Es geht um nichts geringeres als um die Forderung nach sauberen Wahlen und damit um den Übergang zur Demokratie. Herausragende Intellektuelle wie Octavio Paz, die der Regierung nahe stehen, kritisieren das Verhalten der anderen Intellektuellen, die von dem Aufstand in Chiapas begeistert sind und verurteilen die Gewalt im Abstrakten. Sie übersehen dabei geflissentlich, daß die größten sozialen Errungenschaften der Geschichte nur durch schonungslose Gewalt, wie bei der Französischen Revolution zustande kamen. Paz hat vergessen oder täuscht das jedenfalls gut vor, daß einer der wichtigsten Faktoren des Aufstandes in Chiapas die korrupten Machenschaften der Regierung Carlos Salinas waren, für den er nur flammendes Lob und sanfte Kritik hat.

Der Mangel an Sensibilität der herrschenden Klasse

Octavio rühmt die jüngsten Handlungen von Salinas und ignoriert, daß der das Jahr damit begann, gegen die “Delinquenten und professionellen Gewalttäter” zu wettern, und wie er die KämpferInnen der EZLN sonst noch nannte. Man kann ja zum Frieden und zur Eintracht aufrufen. Man darf dann aber nicht vergessen, daß es die Freunde von Octavio Paz sind, die den Betrug organisiert haben, der Carlos Salinas de Gortari zum Präsidenten der Republik aufsteigen ließ. Paz hat wohl mitbekommen, daß Mexiko eines der am wenigsten vertrauenswürdigen Länder in Bezug auf die Legitimität von Wahlen ist. Darüber hat er allerdings nichts gesagt. Wir stehen auf Seiten der Aufständischen von Chiapas, weil wir mit ihnen in der Kritik der aktuellen Situation übereinstimmen. Aber vor allem unterstützen wir ihre Vorschläge zur Beendigung der fünfhundertjährigen Ausgrenzung der Indígenas. Der Mangel an Sensibilität der regierenden politischen Klasse hat unerträgliche Ausmaße erreicht. Der Luxus einiger Weniger ist eine Beleidigung der Armen. Nicht nur in Chiapas, sondern auch in Morelos, Veracruz, Hidalgo, Guerrero und Oaxaca. Und nicht nur Unternehmer und Geschäftsleute schwelgen im Luxus, nein auch die Regierungsbeamten. Die Korruption in Mexiko stinkt, aber einige riechen sie wohl nicht mehr. Je mehr die angesehenen Intellektuellen sich durch durch ehrenvolle Erwähnungen, Auszeichnungen und andere Preise ködern lassen, desto schwächer wird ihre Kritik an der Regierung bis sie vollständig verschwindet. Das ausgegrenzte, verletzte, gedemütigte, seiner Würde beraubte Volk schaut zu. Der Mangel an Sensibilität einiger Intellektueller wächst in dem Maße, wie das System sie mit Ehren und Gunstbezeugungen überhäuft.
Wir dürfen die Unzulänglichkeiten und Gebrechen unseres Systems nicht nur im Abstrakten erkennen. Es ist gut, daß die Parteien kritisiert werden (alle, denn bei allen gibt es Fehler, Mängel und Sektiererei) genauso wie die Militärs und ihre Führer. Aber wir müssen auch die Lektion verstehen, die uns die KämpferInnen der EZLN in Chiapas erteilt haben. Ihre Führung habe sich in das indianische Volk eingeschleust, behauptet Paz. Aber um das zu schaffen, mußten sie mit ihnen und wie sie leben und nicht nur einige Tage, Wochen oder Monate, sondern Jahre. Der richtige Ausdruck wäre hier also nicht, “sich eingeschleust haben”, sondern integriert sein. So und nur so ist es möglich, das Vertrauen dieser ausgestoßenen und seit jeher gedemütigten Bevölkerung zu gewinnen.
Der Friede in Mexiko ist gefährdet. Es liegt in den Händen der Regierung, das Land an die Indígenas von Chiapas zu übergeben und dafür die Landbesitzenden im öffentlichen Interesse zu enteignen. Es liegt außerdem in ihren Händen, schnell Gerechtigkeit zu schaffen und die Menschenrechte dieser MexikanerInnen zu respektieren. Ihre wichtigste Aufgabe aber ist, klare und saubere Wahlen zu garantieren, die von unabhängigen BürgerInnen beaufsichtigt werden. Das Vertrauen der Indígenas kann sicherlich nicht gewonnen werden, indem Salinas überraschenderweise Tuxtla Gutierrez besucht und dabei wie ein Präsident, mit dunklem Anzug und Krawatte, gekleidet ist, wenn er an seinen Sitzungen sonst im Hemd teilnimmt. Zur Krönung des Aufzuges fehlte nur noch die Präsidentenschärpe. Es wird keinen Fortschritt geben, wenn er in die Schweiz fliegt, um sich mit den großen Bankiers zu treffen, während die Gemeinden in Chiapas vom Militär umzingelt sind. Es ist Zeit, daß Salinas Bereitschaft zum Handeln erkennen läßt, nicht repressiv, sondern politisch. Es sind keine Devisen mehr notwendig in Mexiko. Was die Regierung vielmehr braucht, ist Vernunft, Besonnenheit, Sensibilität, Liebe zu den Marginalisierten und Respekt für die Würde der freien Männer und Frauen. Die regierungsnahen Intellektuellen werden noch mehr unter dem Taten der Marginalisierten und der Begeisterung der unabhängigen Intellektuellen leiden müssen. Ihre gescheiten Analysen stoßen zusammen mit der elementaren Rationalität derjenigen, die seit Jahrhunderten unter der Unterdrückung leiden und nun Basta gesagt haben. Gewalt ist manchmal die beste Medizin, um soziale Ungerechtigkeiten zu kurieren. Dies zeigten uns Hidalgo, Morelos und Zapata und andere unvergeßliche MexikanerInnen. Und außerdem zeigten sie, wie irgendein Intellektueller von kleinerem Format gesagt hat, daß die Gewalt gewöhnlich gegen die zurückschlägt, die sie anwenden, um das Volk zu befreien. Die Zeitgenossen beklagten den Tod dieser Helden. Millionen von MexikanerInnen segnen heute die Entscheidung, daß sie ihr Leben opferten, damit wir heute würdevoller leben können.

Basta!

Freiheit statt Coca-Cola

Natürlich geht es in materieller Hinsicht, wie auch dem ‘Tagesspiegel’ klar sein dürfte, nicht um koffeinhaltige Erfrischungsgetränke, sondern um einen verzweifelten Aufschrei gegen Hunger und Verelendung. Natürlich geht es um den Kampf gegen Landraub und Massenarmut. Schon im Landesdurchschnitt lebt die Hälfte der MexikanerInnen unterhalb der Armutsgrenze. In Chiapas, einem bedeutenden Rohstofflager des Landes, ist es aufgrund von Rassismus, Flüchtlingselend und einem perfekt geschmierten Kazikensystem ein bedeutend höherer Anteil der Bevölkerung, der um das tägliche Überleben bangen muß. Und natürlich war das neoliberale Schockprogramm der 80er Jahre, inklusive der Reprivatisierung von Gemeinschafts- und ejido-Land, nicht nur die Eintrittskarte zu NAFTA, sondern außerdem Ursache von verstärkter Ausbeutung und Unterdrückung des indigenen Teils der Bevölkerung.
Eine rein ökonomische Betrachtungsweise jedoch versperrt den Blick auf das Freiheitsbedürfnis der Aufständischen. Der Schlachtruf “Tierra y Libertad” ist weder nur aus revolutionärer Tradition heraus gewählt worden, noch als alleiniger Protest gegen die Raffgier von Großgrundbesitzern, Viehzüchtern und Holzunternehmen. Der Schrei nach Freiheit richtet sich gegen die Menschenrechtsverletzungen in Mexiko und gerade in Chiapas, gegen die Repression organisierten Protests, gegen Bevormundung, illegale Verhaftungen, Folter und Morde. Da diese Verbrechen erst mit der Duldung oder Förderung durch lokale und regionale PRI-PolitikerInnen möglich sind, ist der Aufstand zugleich eine Herausforderung des politischen Systems, eines Herrschaftsapparates, dessen Funktion die organisierte Unterdrückung freier Meinungsäußerung ist. Jede Bombe auf ZivilistInnen und jede Exekution von gefangenen Zapatistas legitimiert diesen Aufstand aufs Neue.

Der Verrat des revolutionären Erbes

Als im November 1991 der Artikel 27 der mexikanischen Verfassung über Landverteilung und Eigentumsrechte modifiziert wurde, um eine Privatisierung von Gemeinschaftsland und damit eine Ausdehnung von Großgrundbesitz zu ermöglichen, fiel eine zentrale rechtliche Säule des sozialen Teils der Verfassung von 1917. Vergebens appellierte der Vorsitzende der Linksopposition PRD, Cuauhtémoc Cárdenas, an das revolutionäre Erbe und folgerte: “Es ist wieder an der Zeit, sich mit den Fahnen von Emiliano Zapata zu erheben, für wirtschaftliche Unabhängigkeit und nationale Souveränität”. Der Erfolg von Cárdenas bei den Präsidentschaftswahlen von 1988 war ein deutliches Zeichen an die PRI, daß weite Teile der Bevölkerung das einfordern, was die Verfassung aus der Revolutionszeit vorschreibt: Soziale Gerechtigkeit, nationale Unabhängigkeit und ein Vorgehen des Staates gegen die Privilegien der Eliten. Daß die PRI, wie ihr Name vorgibt, die Revolution ‘institutionalisiert’ habe, wollte eine stetig steigende Zahl von MexikanerInnen nicht mehr glauben. Die Dominanz von ausländischem, besonders US-amerikanischem Kapital, die Verquikkung von Wirtschaftselite und politischer Führung und der undemokratische Charakter des Systems sprechen eine andere Sprache.
Die Erhebung mit den Fahnen Zapatas, die Cárdenas gefordert hatte, findet nun statt, allerdings anders, als sich das die linkspopulistischen Neocardenistas vorgestellt hatten. Tiefgreifende Veränderungen, so das Signal aus Chiapas, lassen sich nicht über Wahlen erreichen, sondern nur über eine Erhebung des Volkes, in dessen Namen, aber gegen dessen Interessen, regiert wird. Zu tief sitzt das Mißtrauen gegenüber dem politischen System. Dieser militante Widerstand, so betonen die Zapatistas, ist nicht nur notwendig, sondern entspricht dem eigentlichen Geist der Verfassung. So wird im ersten Aufruf der EZLN die Verfassung zitiert: “Das Volk hat zu jeder Zeit das unveräußerliche Recht, die Form seiner Regierung zu wechseln oder zu ändern”. Der PRI wird somit das Recht abgesprochen, als Treuhänderin der Revolution zu regieren, als deren legitime VertreterInnen sich die Zapatistas betrachten. Die Revolte von Chiapas ist somit ein Fanal, das die PRI innenpolitisch weiter schwächt und außenpolitisch diskreditiert. Von der EZLN wird Salinas in einem Atemzug mit General Porfirio Díaz genannt, dem Diktator, gegen den sich Zapata vor 80 Jahren erhob. Die Parallelen zu dessen Aufstand sind so offenkundig, daß das Emblem ‘Verräter der Revolution’ nun dauerhaft an der PRI kleben bleiben wird.

“An das Volk von Mexiko”

Das Berufen auf revolutionäre Traditionen gilt seit fünf Jahren im internationalen politischen Diskurs als äußerst unfein. Von daher hat Mario Vargas Llosa in seinem Kommentar zum Aufstand in ‘El Pais’ aus seiner Sichtweise heraus natürlich völlig recht, wenn er von der EZLN als einer “anachronistischen Bewegung” spricht. Es ist in der Tat kaum anzunehmen, daß ein ‘Marsch auf Mexiko-Stadt’ die Regierung Salinas stürzt und im Gegenteil zu befürchten, daß das brutale Vorgehen der Militärs noch zahlreiche Opfer fordern wird, bis Chiapas ‘befriedet’ ist und der Repressionsapparat mit gesteigerter Gründlichkeit wieder arbeiten kann. Mit dem “ideologischen Salto rückwärts” (der ultimativen Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und radikaler Demokratisierung), den Llosa anprangert, müssen sich die Verfechter der ‘Strukturanpassungsprogramme’, zu denen der peruanische Schriftsteller gehört, schon auseinandersetzen. Offensichtlich ist der Ruf nach Freiheit und Gerechtigkeit zu populär, um ihn noch glaubwürdig in die Mottenkiste der Geschichte verbannen zu können.
Wie also kann eine Wirtschaftspolitik gerechtfertigt werden, die nur einer dünnen Oberschicht zugute kommt? Llosas Argumentation schwankt zwischen der Alternativlosigkeit nationaler Wirtschaftspolitik angesichts der Rahmenbedingungen des Weltmarkts (was auf staatlicher Ebene schwer zu bestreiten ist) und den auf lange Sicht wohltätigen Auswirkungen neoliberaler Wirtschaftspolitik für alle. Der Anspruch der PRI, die ganze Nation zu vertreten, kann nur dann aufrechterhalten werden, wenn der proklamierte Sprung des Landes in die ‘Erste Welt’ allen Bevölkerungsschichten Vorteile bringt. Die sozioökonomischen Realitäten Mexikos widersprechen dieser Lesart neoliberaler Schockprogramme grundlegend, und diesen Widerspruch betonen die Aufständischen. Der PRI wird nicht nur abgesprochen, legitime Vertreterin des revolutionären Erbes zu sein, sondern ebenso, ‘nationale’ Politik zu betreiben.
Die EZLN prangert in ihrem Aufruf nicht nur die “Abhängigkeit von ausländischen Mächten” und die Politik der Regierungskreise an, die “bereit sind, unsere Heimat zu verkaufen”. Dieser Vorwurf wurde zwar medienwirksam durch das zeitgleiche Inkrafttreten von NAFTA und dem Beginn des Aufstandes unterstrichen, doch die Zielrichtung ist eine andere, innenpolitische. Warum sonst, wenn die Mobilisierung der EZLN bereits seit Jahren läuft, fand die Revolte nicht vor der Abstimmung des US-amerikanischen Senats über NAFTA statt? Der Aufruf der Zapatistas wendet sich bewußt “an das Volk von Mexiko”, und, so betonen die Kämpfer, “wir haben ein Vaterland, und die Trikolore wird geliebt und respektiert”. In einem Interview führt Commandante Marcos explizit aus: “Wir sind MexikanerInnen, das eint uns, außerdem die Forderung nach Freiheit und Demokratie. Wir wollen unsere wirklichen RepräsentantInnen wählen”. Die EZLN besetzt auf diese Weise den Begriff ‘Nation’, und prangert zugleich die politische Elite als ‘Verräter’ und ‘unpatriotische’ Vertreter von Partikularinteressen an. Mehr als alles andere greift dieser Vorwurf die ideologische Hegemonie der PRI an.
NAFTA gewinnt durch diese Lesart eine andere Bedeutung: Über Jahrzehnte ist der ‘Antiimperialismus’ gegen die ‘Gringos’ aus dem Norden ein zentraler Bestandteil der nationalen Ideologie Mexikos gewesen. Durch die Öffnung der Grenzen ist diese Haltung von seiten der Regierung nicht mehr aufrechtzuerhalten. Durch das Brandmarken des ‘Ausverkaufs’ des Landes erhält so die Opposition ein wirkungsvolles propagandistisches Instrument in die Hand, um generell die Defizite der PRI-Politik aufzuzeigen.

Internationaler Imageverlust

Fortwährend hatte die liberale Presse in den USA für die Annahme von NAFTA getrommelt. Zwar wurde in Kommentaren von Zeit zu Zeit auch die Wahrung der Menschenrechte in Mexiko gefordert, aber grundsätzlich war dies eine zu vernachlässigende Größe. Nunmehr finden endlich die progressiven Kräfte in den Medien Widerhall, die von jeher ein Überdenken des Freihandelsabkommens mit einem repressiven Regime gefordert haben, und die relativ wenig mit dem Nationalpopulismus eines Ross Perot gemeinsam haben. Das Konzept von Salinas, sein Regime als aufstrebende Demokratie auf dem Sprung in die ‘Erste Welt’ auszugeben, wird durch den Aufstand empfindlich geschwächt. Mehr als alle Wirtschaftsdaten zeigt der militante Protest der Ausgebeuteten, daß die Ungleichheit in Mexiko strukturell ist, und nicht etwa ein unbedeutender Schönheitsfleck einer im wesentlichen erfolgreichen ‘Modernisierung’. Die Massaker durch Militärs, die Bombardierung der Zivilbevölkerung, die Verletzungen von Pressefreiheit und Genfer Konvention zeigen auch dem blauäugigsten Freihandelsenthusiasten auf, mit was für einem Regime hier Handel getrieben wird. Dies wird aller Voraussicht nach NAFTA nicht kippen. Aber die mexikanische Regierung kann den internationalen Druck nicht ignorieren, und sei es auch nur, um InvestorInnen nicht zu verschrecken.
Die Legitimität der PRI-Dominanz ist durch den Aufstand in Chiapas ein weiteres Mal und in unübersehbarer Form in Frage gestellt worden. Noch ist nicht absehbar, ob die Vorherrschaft der PRI so stark geschwächt wurde, daß die Tage der ‘Demokratur’ bereits gezählt sind. Aber die Parteibonzen sind durch den Aufruf der EZLN gewarnt: “Heute haben wir gesagt: Basta!”

Was wird aus den guatemaltekischen Flüchtlingen?

Die Antwort von Ricardo Curtz, einer der Vertreter der CCPP, ist immer die gleiche: “Mit den Vorgängen in Chiapas haben die Flüchtlinge nichts zu tun”. Um dies zu unterstreichen, betont ein Kommuniqué der CCPP: “Falls ein/e JournalistIn, ein/e RepräsentantIn einer Institution oder irgend eine andere Person in den Lagern nach der aktuellen Situation fragt, muß man/frau klarstellen, daß die guatemaltekischen Flüchtlinge dazu keine Informationen oder Meinung haben.”
Die abweisende Haltung der CCPP zu dem Aufstand der Zapatistas ist verständlich und drückt die schwierige Lage der guatemaltekischen Flüchtlinge in Chiapas, aber auch in Mexiko überhaupt, aus. Auch wenn das Ausmaß der Auswirkungen auf die GuatemaltekInnen in Mexiko noch nicht abzusehen ist, hat sich deren Situation ohne Zweifel verschlimmert.
Obwohl die Flüchtlinge in dem Abkommen zwischen den CCPP und der guatemaltekischen Regierung vom Oktober 1992 eindeutig als Zivilbevölkerung anerkannt sind, ziehen mexikanische und guatemaltekische Behörden, aber auch die Presse im In- und Ausland, erneut eine angebliche Verbindung zwischen den Flüchtlingen, der guatemaltekischen Guerilla URNG und den Zapatistas der EZLN.
Sprecher der Regierungen in Mexiko und Guatemala behaupten immer wieder, GuatemaltekInnen und SalvadorianerInnen seien an dem Konflikt beteiligt. Der einzige “Beweis” ist bislang die Festnahme von Jesús Sánchez Galicia, von dem gesagt wird, er sei Guatemalteke und einer der Chefs der EZLN. Der guatemaltekische Arzt Rubén Alejandro Bailey, der in Mexiko ein Stipendium zur Ausbildung zum Facharzt hat, wurde unter ähnlicher Anschuldigung verhaftet.

Propaganda gegen Flüchtlinge

Da nach Meinung der mexikanischen Regierung der Konflikt “importiert” wurde, berichteten guatemaltekische JournalistInnen aus Chiapas von einer aggressiven Stimmung gegenüber ihren Landsleuten. “Wenn wir uns als GuatemaltekInnen zu erkennen gaben, wurden wir von vielen Leuten in Comitán und San Christobal de las Casas beschimpft”, so Mariano Gálvez von der Radiostation Patrullaje Informativo.
Die Flüchtlingslager in Chiapas liegen nicht direkt in dem umkämpften Gebiet. Da jedoch die Zufahrtswege zu den Lagern während der ersten Tage des Konflikts abgeschnitten waren, war die Besorgnis um die Flüchtlinge sehr groß. Inzwischen hat sich jedoch herausgestellt, daß es dort keine Zwischenfälle gegeben hat.
Nach Angaben einiger BeobachterInnen in Guatemala-Stadt ist nicht auszuschließen, daß guatemaltekische Flüchtlinge an dem Aufstand der Zapatistas beteiligt sein könnten. Als Mayas fühlen sie sich mit ihren Brüdern und Schwestern in Chiapas, die sie nach ihrer Flucht aus Guatemala vor 10 Jahren solidarisch aufgenommen hatten, eng verbunden. Und die soziale und ethnische Problematik im Hochland Guatemalas und in Chiapas unterscheidet sich nur unwesentlich.
Aus einigen Lagern wird berichtet, daß sich mehrere mexikanische Familien aus den Kampfgebieten dorthin geflüchtet hätten, eine genaue Zahl ist jedoch nicht bekannt.
Wie sich der Konflikt auf die Arbeit der humanitären Organisationen in den Lagern auswirken wird, läßt sich nicht absehen. Dort ist es vor allem der Bischof Samuel Ruiz von der Diözese in San Cristobal de las Casas, der sich seit Anfang der 80er Jahre stark für die humanitäre Unterstützung der Flüchtlinge eingesetzt hat. Es wird befürchtet, daß die Arbeit der Kirche in Chiapas in Zukunft streng kontrolliert wird. Auch eine Absetzung von Monseñor Ruiz, die schon vor Monaten im Gespräch war, ist nicht auszuschließen.
In diesem Zusammenhang fordert auch die Nationale Koordinationsstelle der mexikanischen NROs zur Unterstützung der Flüchtlinge in Mexiko (CONONGAR) die Respektierung ihrer Arbeit in den Lagern und Sicherheitsgarantien für ihre MitarbeiterInnen, von denen die NROs lange Zeit keine Nachricht hatten.
Auch für die Flüchtlinge in den Bundesstaaten Campeche und Quintana Roo bleibt der Konfllikt nicht ohne Folgen. Mitglieder einer Delegation von Flüchtlingen aus diesen beiden Gebieten, die für den 10. Januar eine Reise nach Guatemala zur Vorbereitung der für April geplanten Rückkehr in die Provinz Petén beabsichtigten, erhielten von den mexikanischen Behörden keine Erlaubnis, ihre Lager zu verlassen.

Verkehrte Verhältnisse: Flucht nach Guatemala

Die guatemaltekische Zeitung “La República” berichtete am 10. Januar, Hunderte von Familien, guatemaltekische Flüchtlinge, guatemaltekische SaisonarbeiterInnen und mexikanische Campesinos/as seien aus Angst vor der Repression aus Chiapas nach Guatemala geflohen. Offiziell wurde diese Meldung nicht bestätigt, doch auch ein Mitglied der CCPP in Guatemala-Stadt vermutet, daß viele der nicht anerkannten und verstreut lebenden Flüchtlinge von sich aus nach Guatemala zurückgekehrt, und nun Flüchtlinge im eigenen Land sind.
Lange Zeit war die für den 12. Januar geplante Rückkehr von 201 Familien (947 Personen) aus Lagern im Landkreis Comalapa in Chiapas unklar. Anfang Januar sprachen sich VertreterInnen der UNHCR und der mexikanischen Flüchtlingsorganisation COMAR für eine Verschiebung der Rückkehr aus. CCPP, mit Unterstützung von Rigoberta Menchú, hielten jedoch an dem ursprünglichen Termin fest. Schließlich erklärten sich die mexikanischen Behörden bereit, einige der Vorbereitungen von Comitán zum Grenzort La Mesilla zu verlegen, und die Flüchtlinge kehrten ohne nennenswerte Probleme zurück. In Chaculá, im Landkreis Nentón der Provinz Huehuetenango, werden sie sich neu ansiedeln. Nach der Rückkehr von 350 Familien im Januar vergangenen Jahres in die Region Ixcán, Provinz Quiché, war dies die dritte organisierte und kollektive Rüchkehr von guatemaltekischen Flüchtlingen.

Der Druck wächst – Die Schwierigkeiten bleiben

Die Ereignisse in Chiapas werden den Druck der Flüchtlinge auf die CCPP, möglichst schnell die Bedingungen für die Rückkehr weiterer Gruppen zu eröffnen, verstärken. Doch die beiden Hauptprobleme für sie in Guatemala bleiben bestehen: Die Schwierigkeiten, Land zu bekommen und die Militarisierung, die ihr Leben bedroht.
Als Beispiel sei hier die Situation der 200 Mitglieder der Kooperative “Ixcán Grande” in Quiché genannt, die am 8. Dezember 1993 in die Ortschaft “Tercer Pueblo” ihrer Kooperative zurückkehren wollten. Hier befindet sich ein Stützpunkt des Militärs, und die Streitkräfte zeigten sich nicht bereit, diesen zu verlegen, angeblich “zum Schutz der Bevölkerung”. Aus diesem Grund mußten die RückkehrerInnen provisorisch und unter unwürdigen Bedingungen in der Ortschaft Vera-cruz untergebracht werden.
Die Flüchtlinge stammen meist aus den Grenzregionen zu Mexiko, die nach wie vor Gebiete des militärischen Konfliktes zwischen dem Militär und der URNG sind. Mit dem Konflikt in Chiapas und unter dem Vorwand, das Eindringen von Zapatistas nach Guatemala zu verhindern, hat die militärische Präsenz im Grenzgebiet der Provinzen Huehuetenango, San Marcos, Quiché und Petén zugenommen. Die guatemaltekischen Streitkräfte schließen auch gemeinsame Aktionen mit dem mexikanischen Militär nicht aus.
Rigoberta Menchú, die nach Guatemala kam, um die Rückkehr der Flüchtlinge am 12. Januar zu begleiten, drückte ihre Besorgnis aus, daß das guatemaltekische Militär den Konflikt in Mexiko als Vorwand benutzen könnte, die Rückkehrer stärker zu kontrollieren und die Repression in den Konfliktgebieten zu verstärken.
Der Konflikt in Chiapas macht eine verstärkte internationale Aufmerksamkeit für die Situation der guatemaltekischen Flüchtlinge, offiziell anerkannt oder nicht, und die der RückkehrerInnen in Guatemala dringend notwendig.

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