Massenhaftes Schweigen und kämpferische Worte

„Habt Ihr‘s gehört? Es ist der Klang Eurer Welt, die in sich zusammenfällt. Der der unseren, die aufersteht. Der Tag, der der Tag war, war Nacht. Und Nacht wird der Tag sein, der der Tag wird. Demokratie! Freiheit! Gerechtigkeit!“. Dies waren die knappen Worte des Kommuniqués der Generalkommandantur des Geheimen Revolutionären Indigenen Komitees (CCRI-CG) der EZLN am Nachmittag des 21. Dezember 2012. An jenem Tag endete der 13. Baktún und damit ein Zyklus des Maya-Kalenders. Um diesem Tag beizuwohnen, hatten sich deutlich mehr Tourist_innen als üblicherweise in Palenque, einem der Orte mit Maya-Ruinen, eingefunden. Sie staunten nicht schlecht als gegen mittag des als möglicher Weltuntergang fehlinterpretierten Tages ca. 6 000 vermummte Maya-Nachfahr_innen dort eintrafen. Die zivile Basis der EZLN aus der nördlichen Region des südmexikanischen Bundesstaats Chiapas nahm den zentralen Platz der Stadt für mehrere Stunden unbewaffnet, friedlich und schweigend ein. Bereits in den Morgenstunden „besetzten“ auf die gleiche Art eine ähnliche Anzahl an Zapatist_innen aus der Region des Lakandonischen Urwalds den nahe gelegenen Ort Ocosingo. Am frühen vormittag füllte die Basis der EZLN die Hauptplätze von San Cristóbal de Las Casas, Altamirano und Las Margaritas.
Die Schweigemärsche von laut mexikanischer Presse 40 000 Zapatist_innen in die fünf Kreisstädte und das am selben Tag erschienene Kommuniqué rückten die EZLN schlagartig ins Licht der mexikanischen Öffentlichkeit. Die Bewegung, die in den letzten Jahren von vielen totgesagt worden war, hatte sich mit einem Mal massiv zurückgemeldet. Es war die größte Mobilisierung der EZLN seit dem bewaffneten Aufstand am 1. Januar 1994. Damals waren neben San Cristóbal, Ocosingo, Altamirano und Las Margaritas auch drei weitere kleinere Städte eingenommen worden. In der linken überregionalen Presse wurde das Ereignis vom 21. Dezember dann auch als Zeichen dafür gewertet, dass die Bewegung nicht an Stärke eingebüßt habe und die von ihr in den 1990er Jahren aufgeworfenen Themen, vor allem im Bereich indigene Rechte und Kultur, immer noch aktuell seien. Aufmerksamkeit erregte zudem die große Partizipation junger Zapatist_innen. Somit rückte für eine breitere Öffentlichkeit der Generationswechsel in den Blick, den lokale, in zapatistischen Gemeinden arbeitende Organisationen schon seit einiger Zeit konstatieren konnten. Ein Großteil der lokalen Presse hingegen, die seit langem im Ruf steht, von der jeweiligen amtierenden Regierung gekauft worden zu sein, reagierte mit Zurückhaltung bis Unverständnis über die Bedeutung der Schweigemärsche.
Die Reaktionen der Regierung ließen nicht lange auf sich warten. Bereits am 22. Dezember erklärte der neue Gouverneur von Chiapas, Manuel Velasco Coello, die Mobilisierung sei friedlich abgelaufen und die Polizei sei an jenem Tag nicht auf den Straßen präsent gewesen, um einen störungsfreien Ablauf zu ermöglichen. Velasco Coello hatte die Bewegung bei seiner Amtsantrittsrede am 8. Dezember erwähnt und wenige Tage vor der Mobilisierung vom 21. Dezember die Freilassung von zwei inhaftierten Zapatist_innen angeordnet, was als Zeichen der Entspannung gewertet wurde. Dennoch betrachten Sympathisant_innen der EZLN den neuen Gouverneur, der einer Oligarchenfamilie entstammt, mit viel Skepsis. So koaliert seine Partei – die Grün-Ökologische Partei Mexikos – die ideologisch mit anderen Grünen Parteien kaum mehr als den Namen gemeinsam hat, in Chiapas mit der verhassten Revolutionären Institutionellen Partei (PRI).
Am 24. Dezember reagierte der Innenminister Miguel Ángel Osorio Chong für die mexikanische Bundesregierung in einem Interview mit der Tageszeitung La Jornada auf die Ereignisse: „Ihr kennt uns noch nicht, seid nicht voreilig“, waren seine Worte an die EZLN. Die neue PRI-Regierung fühle sich den indigenen Gruppen Mexikos verpflichtet. „Präsident Peña Nieto weiß um die Probleme, deshalb wird er die indigene Bevölkerung unterstützen und sich speziell der von Chiapas annehmen“, so Osorio Chong. Des Weiteren verwies er auf den kürzlich zwischen den drei großen Parteien PRI, PAN (Partei der Nationalen Aktion) und PRD (Partei der Demokratischen Revolution) geschlossenen „Pakt für Mexiko“, in dem neben den großen politischen Projekten der neuen Regierung auch mehrere Vorhaben in Bezug auf die indigene Bevölkerung aufgelistet werden. Zwischen Weihnachten und Neujahr meldeten sich auch mehrere Kongressabgeordnete mit der Forderung, die 1995/96 für den Dialog mit der EZLN ins Leben gerufene interparlamentarische Kommission für Versöhnung und Befriedung (COCOPA) zu reaktivieren und auf die Forderungen der Aufständischen einzugehen. Die Umsetzung der damals ausgehandelten so genannten Verträge von San Andrés scheiterten 2001 an der parteiübergreifenden Ablehnung des mexikanischen Parlaments.
Mit einem ausführlicheren Kommuniqué meldete sich EZLN am 30. Dezember zu Wort. Darin erklärt sie ihre Mobilisierung vom 21. Dezember als Reaktion auf die Rückkehr der PRI an die Regierungsmacht, wobei sie die Amtseinführung des neuen Präsidenten Peña Nieto als „medialen Staatsstreich“ bezeichnet: „Wir haben uns gezeigt, um sie wissen zu lassen, dass wir genau so wenig weg waren wie sie.“ Ebenso rechnet sie mit den Teilen der mexikanischen Linken ab, die die EZLN für die umstrittene Wahlniederlage der PRD im Jahr 2006 mitverantwortlich gemacht hatte machte, da die Zapatistas dem PRD-Kandidaten López Obrador die Unterstützung versagt hatten. In Anspielung auf die erneute Niederlage der PRD bei den Präsidentschaftswahlen 2012 stellt sie fest: „Sechs Jahre später sind zwei Dinge klar: Sie brauchen uns nicht, um zu versagen. Wir brauchen sie nicht, um zu überleben.“ Während die großen Medien sie in den letzten Jahren totgeschwiegen hätten, habe die EZLN ohne jegliche Regierungshilfe und trotz „Angriffe aller Art“ die Lebensbedingungen in ihren autonomen Gebieten deutlich verbessert, besonders die Ernährungssituation, die der Bildung und der Gesundheitsversorgung: „Die indigenen Priistas [Anhänger_innen der PRI; Anm. d. Red.] kommen in unsere Krankenhäuser, Kliniken und Labors, weil es in denen der Regierung weder Medizin, Apparate, Ärzte noch qualifiziertes Personal gibt“.
Auch werden im Kommuniqué weitere Schritte angekündigt. So bestätigt die EZLN ihre Zugehörigkeit zum Nationalen Indigenen Kongress, einem Zusammenschluss indigener Organisationen, den sie 1996 im Rahmen der Abkommen von San Andrés mit der mexikanischen Bundesregierung ins Leben gerufen hatte. Zudem wolle sie wieder verstärkt Kontakt mit den Anhänger_innen der „Sechsten Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald“ in Mexiko und weltweit aufnehmen. Viele von ihnen mobilisieren seit 2006 unter dem Namen „Die Andere Kampagne“ strikt außerparlamentarisch für ein antikapitalistisches Mexiko.
Deutlich macht die EZLN vor allem, dass sie unabhängig von dem bisherigen feindlichen und auch künftigen Verhalten der parteipolitischen Klasse Mexikos sowie der Massenmedien existiert und existieren wird: „Wie sich am 21. Dezember 2012 gezeigt hat, sind alle gescheitert“. Gesprächsbereitschaft mit der neuen Regierung schließt die EZLN im Kommuniqué nicht explizit aus, verweist jedoch gleichzeitig auf deren Bringschuld: „Es bleibt daher der Bundesregierung (…) überlassen zu entscheiden, ob sie die Politik zur Aufstandsbekämpfung wieder aufgreifen möchte, (…) oder ob sie ihre Verpflichtungen anerkennt und erfüllt und die indigenen Rechte und Kultur auf eine konstitutionelle Ebene erhebt, wie in den so genannten Abkommen von San Andrés festgesetzt, die 1996 von der Bundesregierung unterzeichnet wurden“.
Neben dem Kommuniqué wurden am 30. Dezember auch zwei Briefe des Sprechers der EZLN, Subcomandante Insurgente Marcos, veröffentlicht. Einer der Briefe, mit dem Titel „Wir kennen Euch nicht?“ und an „die Damen und Herren da oben“ adressiert, bezieht sich auf die Äußerungen des mexikanischen Innenministers vom 24. Dezember. In Form von rhetorischen Fragen („Ist das nicht der, der…?“) zeigt Marcos systematisch auf, wie die PRI-Regierungspolitiker_innen in den letzten Jahren für alle möglichen Formen von Repression und Korruption verantwortlich waren. Bei Innenminister Osorio Chong selbst erinnert Marcos daran, dass gegen diesen ein Ermittlungsverfahren wegen Verbindungen zum Drogenkartell Los Zetas geführt worden sei.
Eine fast schon Tradition zu nennende Gewohnheit im Schreibstil von Marcos findet sich am Ende wieder: die Postskripte. Darin bietet er „den schlechten Regierungen ein Handbuch mit zehn Schritten“ an, „um einen Zapatisten zu identifizieren und wissen zu können, ob gesagt werden kann ‚Man hat Kontakt mit der EZLN‘ oder nicht“. Darin macht er klar, dass die Zapatist_innen die Regierung um nichts bitten werden, und sich weder kaufen noch einschüchtern lassen.
Der zweite Brief des Subcomandante ist vor allem eine Abrechnung mit der Regierung von Ex-Präsident Felipe Calderón und dessen Partei PAN. So dürfte das „massenhafte Schweigen vom 21. Dezember“ diesen klargemacht haben, dass ihre Politik der Aufstandsbekämpfung gescheitert sei. Marcos bezeichnet Calderóns Regierung als „die kriminellste, unter der das Land seit Porfirio Díaz (mexikanischer Präsident, der bis zur Revolution 1911 jahrzehntelang diktatorisch regierte; Anm. d. Red.) gelitten habe “. Er erinnert zudem daran, dass es die PAN war, die im Januar 1994 für eine militärische Lösung in Chiapas plädiert hatte. Denn deren Ansicht nach „drohten wir damit, das Land in ein Blutbad zu tauchen. Nun stellt sich heraus, dass Ihr, an der Regierung, Terror, Angst, Zerstörung und Tod in alle Ecken unseres bereits übel zugerichteten Landes ausgeweitet habt.“
Sowohl das Kommuniqué als auch die beiden Briefe haben erneut verschiedene Reaktionen der politischen Klasse und einiger Intellektueller hervorgerufen, deren Tenor von Zustimmung zu einzelnen Aussagen bis hin zu Ablehnung seitens einiger Parlamentarier_innen der drei großen Parteien reichte. Der Gouverneur von Chiapas richtete einen Brief an die EZLN, in dem er sich für die Umsetzung der Abkommen von San Andrés aussprach. Zudem sicherte er der Bewegung unter anderem zu, ihre Ländereien zu respektieren, in Gemeinden mit zapatistischer Präsenz vorsichtig bei der Planung und Umsetzung von Regierungsprogrammen vorzugehen sowie sich für gerechte und dauerhafte Lösungen der Konflikte in den Gemeinden San Marcos Avilés und Comandante Abel einzusetzen. Die landesweite oppositionelle Friedensbewegung MPDJ äußerte Sympathie für die Anliegen der EZLN und zeigte Bereitschaft, mit ihr zusammenzuarbeiten.
Die mexikanische Bundesregierung hat derweil die frühere Kommission für den Dialog und die Verhandlungen in Chiapas in Kommission für den Dialog mit den Indigenen Völkern umbenannt und das ehemalige Mitglied der COCOPA, Jaime Martínez Veloz von der PRD, zu deren Vorsitzenden ernannt. Präsident Peña Nieto selbst bereiste am 21. Januar zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt Chiapas, um in Las Margaritas, einem der Landkreise mit zapatistischer Präsenz, das neue Regierungsprogramm „Nationaler Kreuzzug gegen den Hunger“ einzuweihen. Doch für wie wenig glaubwürdig die EZLN dessen Kampagne hält, verdeutlichte ein Plakat, das die Bewegung am Tag von Peña Nietos Ankunft in Chiapas auf ihrer Homepage veröffentlichte. Adressiert an „Ali Baba und seine 40 Räuber (Gouverneure, Minister und Speichellecker)“ heißt es: „Wir finden keine Worte, um unser Gefühl gegenüber Ihrem Kreuzzug gegen den Hunger auszudrücken. Daher ohne Worte“ und ein Bild eines ausgestreckten Mittelfingers.
Bis Mitte Januar sind drei weitere Verlautbarungen der EZLN erschienen, weitere sind angekündigt. Die Regierungen in Mexiko-Stadt und Tuxtla Gutiérrez (Chiapas) richten gezwungenermaßen ihre Augen wieder auf die indigene Bevölkerung und die Zapatist_innen. Diese jedoch, auf Distanz zur politischen Klasse und den Institutionen, gehen nun – wie im Kommuniqué vom 30. Dezember angekündigt – erneut auf jene zu, „die unseren Weg begleitet haben und begleiten, ohne sich den medialen und politischen Moden zu ergeben.“

Mehr Infos und die Kommuniqués auf:
www.enlacezapatista.ezln.org.mx
www.chiapas.eu Preis // Website

Belohnung für Angriffe

Fast scheint es so, als sollte mit einem erneuten Übergriff der Jahrestag des letzten begangen werden. Am Morgen des 6. September begann eine bewaffnete Gruppe, Ackerland der zapatistischen Neuen Siedlung Comandante Abel im Autonomen Landkreis La Dignidad (Nördliche Zone von Chiapas) zu besetzen und ein Camp aufzubauen. Im Laufe des Tages feuerte sie mehrere Schüsse ab. Am Tag darauf war die Zahl der Belagerer von 55 auf 150 angestiegen. Als einer der Zapatisten sein Haus verließ, um die Besetzer zu beobachten, wurde er unter anderem mit einem Gewehr des Typs AR-15 beschossen. Kurze Zeit später umstellte die Gruppe das Dorf. Der 8. September begann für die Zapatist_innen ebenfalls mit Schüssen, so dass sich eine Gruppe von Frauen, Kindern und Älteren in die Berge und von dort in ein Nachbardorf aufmachte, um sich in Sicherheit zu bringen.
Die Siedlung war zu diesem Zeitpunkt knapp ein halbes Jahr alt, ihre Bewohner_innen waren zuvor aus der Gemeinde San Patricio weggezogen, nachdem dort die Einschüchterungen und Übergriffe durch eine andere bewaffnete Gruppe nicht aufzuhören schienen. Diese erste Belagerung am 10. September 2011 hatte auf ähnliche Weise begonnen wie in diesem Jahr. Zeitgleich zu den Bewohner_innen der Neuen Siedlung Comandante Abel verließ eine Gruppe von Zapatist_innen in der nahegelegenen Gemeinde Unión Hidalgo ebenfalls ihr Hab und Gut, nachdem sie von ihren Nachbar_innen mehrere Male mit dem Tode bedroht worden waren.
Der zuständige Rat der Guten Regierung von Roberto Barrios, Organ der regionalen autonomen zapatistischen Selbstverwaltung, sah sich genötigt, innerhalb von drei Wochen dreimal öffentliche Erklärungen über das Schicksal der von den Übergriffen betroffenen Zapatist_innen und die Situation in den betroffenen Dörfern abzugeben. Doch auch die anderen vier Räte der Guten Regierung mussten in den letzten Monaten mindestens einmal zur Feder greifen, um Vorfälle aus ihrer Region bekannt zu machen. Die Zunahme von Konflikten zwischen der zivilen Basis der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) und anderen Gruppierungen geht einher mit anderen aufflammenden Konflikten in Chiapas. Dass dies mit dem Ende der Regierungszeit des chiapanekischen Gouverneurs Juan Sabines und des Präsidenten Felipe Calderón zusammenfällt, ist allerdings nicht verwunderlich, denn es kam in Mexiko häufig vor, dass in der Periode zwischen der Wahl und dem Amtsantritt eines Regierungschefs Konflikte zunahmen beziehungsweise durch die staatlichen Kräfte gewaltsam gelöst wurden.
Dennoch ist die aktuelle Situation in Chiapas und vor allem die der zapatistischen Basis so angespannt wie schon seit Jahren nicht mehr, wenn man die Anzahl der Meldungen der Räte der Guten Regierung sowie deren Inhalte als Maßstab nimmt. In der Region der Cañadas, die am Rande des Lakandonischen Urwalds liegt, schwelen seit mehr als einem Jahr die Streitigkeiten zwischen Zapatist_innen und der Organisation Landwirtschaftlicher Kaffeepflanzer von Ocosingo (ORCAO). Auch hier geht es um Land, allerdings mit gemeinsamer Vergangenheit. Im Zuge des zapatistischen Aufstands 1994 wurden nämlich in dieser Region Ländereien sowohl von der Zapatistischen Nationalen Befreiungsarmee (EZLN) als auch von kleinbäuerlichen Organisationen wie der ORCAO und der Ländlichen Vereinigung kollektiver Interessen (ARIC) besetzt, mitunter sogar gemeinsam. Dass es nun zu Konflikten zwischen der EZLN und diesen Organisationen kommt, hat mehrere Gründe: Zum Einen wird Ackerland immer knapper und dieses ist immer noch die Lebensgrundlage für die indigene Bevölkerung auf dem Land. Die Organisation, die ihren Mitgliedern Land anbieten kann, sichert sich damit die Unterstützung ihrer Basis. Zum Anderen treibt die Regierung weiterhin das Programm zur Zertifizierung und Privatisierung von Gemeindeland voran, das mit der Verfassungsreform von 1992 begann. Sie ermöglichte den Verkauf von Gemeinschaftsland, der vorher verboten war. Diese Reform des Agrarregimes war einer der Gründe für den Zulauf zur EZLN und den darauf folgenden Aufstand. Jedoch haben es die Regierungen seitdem gut verstanden mit einem Mix aus Anreizen und Drohungen immer mehr Gemeinden dazu zu bringen, das Zertifizierungsprogramm mitzumachen.
Hinter den Konflikten stecken öfter Impulse von außen. So zum Beispiel im Fall der Meldung des Rates der Guten Regierung von La Realidad von Mitte August diesen Jahres. Sie berichtet von Drohungen und dem Versuch der Enteignung seitens Anhänger_innen der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) und der Grünen Ökologischen Partei Mexikos (PVEM) aus dem Dorf Veracruz. Bei dem Streitobjekt handelt es sich um eine Lagerhalle, die die Zapatist_innen der Region von La Realidad zur Lagerung von Kaffee und zum Verkauf nutzen. Der Rat der Guten Regierung schildert, dass zwei Männer aus dem Dorf zu ihnen kamen und „sagten, ihre Gruppe wolle die Lagerhalle benutzen, denn die Regierung würde ihnen zwei Projekte geben und sie bräuchten das Gebäude, um mit den Projekten zu beginnen“. Dabei geht es häufig um Regierungsgelder für landwirtschaftliche oder kommunale Zwecke, die den Gemeinden zur Verfügung gestellt werden; Geld, dass die größtenteils von Subsistenzwirtschaft lebenden indigenen Kleinbäuerinnen und -bauern aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation gut gebrauchen können. Die Folge dieser Regierungspolitik ist jedoch eine Zunahme der Spannungen und Konflikte in den Gemeinden mit zapatistischer Präsenz, die von der Regierung zumindest in Kauf genommen wird, wenn nicht sogar gewollt ist.
Die Häufung der Vorfälle in den letzten Monaten und die Art des Vorgehens der Gruppen, die die Zapatist_innen einschüchtern, hat dazu geführt, dass einige, mit der EZLN solidarische Kollektive die Angreifer_innen als paramilitärische Gruppen bezeichnet haben. In der Zeit von 1995 bis 2000 waren in Regionen unter zapatistischem Einfluss mehrere solcher Gruppierungen aktiv, ihre Übergriffe, Morde und Vertreibungen sind von lokalen Menschenrechtsorganisationen dokumentiert worden. Jedoch sei, so Marina Pagès vom Internationalen Friedensdienst (SIPAZ), bei den aktuellen Konflikten Vorsicht angebracht, wenn es um die Bezeichnung der Angreifer_innen gehe. Pagès erklärte gegenüber den LN: „Jeder Konflikt muss in seinem Kontext analysiert werden. Dann wird oft klar, dass es sich um lokale Probleme mit spezifischen Ursachen handelt. Mitunter gehören zu der nicht-zapatistischen Gruppe in einem Konflikt Personen, die früher selbst in der EZLN organisiert waren.“ Nach einer von Menschenrechtsorganisationen gebrauchten Definition sind die Paramilitärs vom Staat aufgebaute, finanzierte und trainierte zivile bewaffnete Gruppen, die die Aufständischen durch Einschüchterungen, Drohungen und Gewalt in ihrem Wirken eindämmen sollen. Dies traf auf Gruppierungen in den 1990er Jahren zu, ist jedoch nach bisher bekannten Informationen bei den aktuellen Konflikten eher nicht zutreffend.
Auf der Suche nach Ursachen für die Häufung der Übergriffe auf zapatistische Gemeinden hat Marina Pagès eine weitere Erklärung parat. Die Koordinatorin von SIPAZ, der im Bereich der Beobachtung und Konfliktbearbeitung seit 1995 in den indigenen Gebieten von Chiapas arbeitet, verweist gegenüber LN auf die „Lösung“ anderer Landkonflikte in den letzten Jahren: „Im Fall von San Patricio 2011, sowie bei anderen Landstreitigkeiten hat die chiapanekische Regierung Verhandlungen mit den Angreifern geführt und diesen Landtitel gegeben. So wurden sie im Endeffekt für ihre Taten mit Land belohnt. Dies könnte dazu geführt haben, dass andere Gruppen in letzter Zeit mit der Aussicht auf eine solche Belohnung ebenso diese Strategie der Belagerung und Einschüchterungen für aussichtsreich gehalten haben.“ Pagès hält es auch für möglich, dass die Konflikte, deren Zunahme in den Zeitraum nach der Präsidentschafts- und Gouverneurswahl vom 1. Juli fällt, den verursachenden Gruppen Vorteile bei Verhandlungen verschaffen, da diese Demonstration der Stärke dazu führe, dass sie von der Regierung ernst genommen würden.
Weitere Nutznießerin der Konflikte ist die Regierung des scheidenden Gouverneurs Juan Sabines Guerrero (PRD). Seine Amtszeit endet am 7. Dezember. Indem er seinem Nachfolger Manuel Velasco Coello die Lösung der Konflikte zusätzlich zu einer Rekordverschuldung von fast 40 Milliarden mexikanischen Pesos hinterlässt, kann Sabines hoffen, vorerst von Untersuchungen verschont zu bleiben, die unter Umständen über mögliche Misswirtschaft, Korruption oder andere strafbare Vergehen während seiner Amtszeit angestellt werden könnten.
Die zunehmenden Konflikte zwischen Zapatist_innen und nicht-zapatistischen Gruppen sind Teil einer komplexen politischen Situation, in der Chiapas und Mexiko ein Regierungswechsel bevorsteht. Sie können, neben den oben aufgeführten Erklärungen, auch als Teil der andauernden Strategie der Aufstandsbekämpfung betrachtet werden. Sofern Manuel Velasco als Gouverneur eine ähnliche Politik verfolgen wird wie Juan Sabines – worauf Aussagen des gewählten Gouverneurs hindeuten – wird sich an dieser Situation in nächster Zeit nicht viel ändern. Offen ist zudem, wie sich mit Enrique Peña Nieto die Rückkehr der Partei der Insitutionalisierten Revolution (PRI) an die Macht auf Bundesebene auf die zapatistische Bewegung auswirken wird. Bisher hat er sich über den noch anhaltenden Konflikt in Chiapas nicht geäußert. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass er im Gegensatz zu seinen Vorgängern an einer Lösung interessiert sein wird. Vielmehr deutet die Ernennung des kolumbianischen Generals Oscar Naranjo – in seiner Heimat war er unter anderem an der Bekämpfung der kolumbianischen Guerilla FARC beteiligt – zum Sicherheitsberater des neuen Präsidenten eher auf eine Fortsetzung der Aufstandsbekämpfung als auf eine friedliche Beilegung hin.

Die Höhen und Tiefen des politischen Aktivismus

Mit der führungsstarken NGO-Arbeiterin Maria und dem Punk Praxedis aus Mexiko-Stadt macht sich Ramor Ryan im Rahmen eines Solidaritätseinsatzes in die Tiefen des Lakandonischen Urwalds auf, um in einer zapatistischen Gemeinde ein Trinkwassersystem aufzubauen. Während der umfassenden, aber auch sehr harten und oft monotonen Arbeit werden sie mit Problemen und Unannehmlichkeiten des rauhen Alltags konfrontiert. Neben den rein praktischen Fragen der Ernährung, Unterkunft, Gesundheit und Schutz vor den großen und kleinen Gefahren des Urwalds, stellen sich den Aktivist_innen Fragen über ihre persönliche und politische Rolle und die Effektivität ihres Beitrags zur zapatistischen Autonomie. Als sich die Solidaritätsbrigade personell vergrößert, wächst auch das interne Konfliktpotential.
Mit wohlüberlegter Selbstkritik arbeitet Ryan das Wechselspiel von normativen Vorstellungen und Erwartungen der Protagonist_innen mit den real existierenden Bedingungen des Urwalds heraus. Wie weit lassen sich die Prinzipien eines veganen Hardcore-DIY-Punks aus Europa mit den teilweise patriarchal anmutenden usos y costumbres der indigenen Gemeinden vereinen? Wo fangen koloniale Verhaltensmuster an? Wie gestaltet sich internationale Solidarität auf Augenhöhe, wenn eine Gruppe vor ökonomischen und sozialen Privilegien strotzt?
Ryan bedient sich eines sehr angenehmen, fesselnden und lesefreundlichen Erzählstils. Seine Sprache ist plastisch, verliert sich stellenweise in Details und verzichtet auf akademischen Kauderwelsch, ohne unpräzise zu sein. Konkrete und durchaus unterhaltsame Anekdoten der Rahmenhandlung dienen als Ansatzpunkt für theoretische Fundierungen des Erzählten. Dadurch werden eventuell aufgeworfene Verständnisfragen umgehend beantwortet, ohne dass der Lesefluss gestört wird. Der Autor verzichtet darauf die Mitglieder der Solidaritätsbrigade und der zapatistischen Organisation als selbstlose Idole oder omnipotente Held_Innen zu verklären. Stattdessen bestimmen greifbare, fehlerbehaftete und gerade deswegen sehr menschliche und liebenswürdige Charaktere das Bild. Nicht zuletzt dieser Aspekt macht das Buch sehr ehrlich und glaubhaft und lässt über kleinere Tippfehler großzügig hinwegsehen.
Der Autor vermag es, die komplexe politische und soziale Lage in den zapatistischen Gebieten Chiapas‘ umfassend und verständlich zu erklären. Viele Aspekte des indigenen Zusammenlebens – etwa Aufbau und Struktur der zapatistischen Gemeinden, das Gesundheitswesen, der Umgang mit Migrant_innen und Nicht-Zapatist_innen – werden der Leserschaft geradezu spielerisch beim Lesen beigebracht. Verständliche und leicht zugängliche Literatur zur zapatistischen Autonomie sind immer noch Mangelware. Dieses Buch leistet einen beachtlichen Beitrag diese Lücke zu schließen und ist daher Einsteiger_innen in die Materie sehr zu empfehlen. Kurzum: Der Zapatistische Frühling hat auch noch im Winter und erst recht unter dem Weihnachtsbaum Saison.

Ramor Ryan // Zapatistischer Frühling – Anatomie eines subversiven Wasserprojektes und Lektionen in internationaler Solidarität // Unrast Verlag // Münster 2012 // 224 Seiten // 14,80€ Euro

Stadt der Zukunft

Ein alter Kinderschuh, verdreckt, zerrissen – so fängt die Begegnung mit der Gewalt in der nordmexikanischen Stadt Ciudad Juárez an. Vor dem städtischen Museum in Querétaro, Hauptstadt des gleichnamigen zentralmexikanischen Bundesstaates, stehen etwa 70 Besucher_innen. Dunkel gekleidete, bleich geschminkte Personen reichen ihnen verschiedene Gegenstände: Kleidung, Spielzeug, alte Telefonrechnungen und Fotos, geborgen aus den über 100.000 verlassenen Häusern in Ciudad Juárez. Was die ehemaligen Eigentümer_innen der Gegenstände zum Verlassen der Stadt bewegte, wo sie sich inzwischen befinden, ob sie überhaupt noch leben – all diese Fragen bleiben der Vorstellungskraft jedes Einzelnen überlassen. Mit den Gegenständen in der Hand geht es in den dunkel ausgeleuchteten Museumssaal. Während der nächsten rund vier Stunden Programm bleiben sie in den Händen der Zuschauer_innen wie ein Beweis der Realität des Dargestellten.
In nüchternen Zahlen beinhaltet die Realität von Ciudad Juárez im Jahr 2010 über 3.000 Tote, darunter hunderte Frauenmorde. Bis heute hat sich daran nichts zum Besseren gewandt. Seitdem unter Präsident Calderón 2008 das Militär in die Stadt einmarschierte, um den „Krieg gegen die Drogen“ aufzunehmen, ist die Gewalt eskaliert, inzwischen gilt Ciudad Juárez als gefährlichste Stadt der Welt. Die größte Gefahr für die Bewohner_innen geht längst vom Militär selbst aus, das die Zustände in Ciudad Juárez oft zum eigenen Vorteil ausnutzt (siehe LN 454). Hinzu kommt die angespannte Situation an der Grenze zu den USA aufgrund der illegalen Immigration, bei der es immer wieder zu unaufgeklärten Todesfällen kommt. Der Zirko Nómada de Kombate (ZNK), auf Deutsch in etwa „Nomadenzirkus des Gefechts“, will seinen Zuschauer_innen diese Situation vermitteln und sie aufklären: „Wenn du nicht weißt, was in Ciudad Juárez passiert, wie willst du es dann in deiner Stadt verhindern?“ Unter diesem Motto entsteht eine Zusammenstellung unterschiedlichster Kunstformen, Eindrücke, die weiter gehen als bloße Statistiken. „Musik, Grafik, Video, Gerüche, Szenographie, Performance, Symbolismus, aussagekräftige Objekte – letztlich kann jede Person die Situation auf eigene Weise erfahren“, erläutert ein Aktivist im Gespräch den Vorteil der Vielfalt. Was er als „totale Kommunikation“ bezeichnet, gestaltet sich auf der Bühne derweil als Lesung von selbstverfasster Literatur über die Eindrücke eines Rückkehrers nach Ciudad Juárez. „Die Atmosphäre ist intensiv, verlassene Häuser, ausgebrannte Geschäfte, einsame Straßen, die Omnipräsenz der Polizei.“ Die Beschreibung widmet sich nun den Frauenmorden in Ciudad Juárez, deren Anzahl nur im Bundesstaat Estado de México höher ist. Zeitgleich erhebt sich aus Mülltüten schreiend eine zur Unkenntlichkeit mit Farbe beschmierte Frau. Die Situation wird durch die Rapperin Oveja Negra („Schwarzes Schaf“) der Batallones Femeninas aus Ciudad Juárez aufgelöst. „Cuántas más?“ – „Wie viele noch?“, schallt es durch den Raum. Entstanden ist die Idee des Programms über einen längeren Zeitraum. „Schon als Student erlebte ich 1996/97 kleinere Kriege der narcos (Drogenhändler) in Ciudad Juárez und wurde politisiert“, beschreibt ein Aktivist, der sich Alas Blisset nennt und mit seiner Erzählung Ciudad Futuro den Namen des Projektes prägte, den Prozess. „Im Jahr 2010 verbannte uns die Stadt, denn die Militarisierung bedrohte unsere eigene Sicherheit als Aktivisten. Also reiste ich durch das Land, erzählte den Menschen von den Geschehnissen in meiner Stadt. Mit der Zeit stellte ich fest, das überall, in Torreón, Monterrey, Cuernavaca, Tijuana die gleichen ersten Anzeichen der Gewalt vorhanden waren. Die nächsten Geschehnisse konnte ich praktisch voraussagen. Ciudad Juárez war die Stadt der Zukunft.“ Diese Warnung wird seitdem durch den ZNK in ganz Mexiko verbreitet, denn „viele Menschen glauben immer noch, nicht von den Problemen betroffen zu sein.“
Auf der Bühne spricht inzwischen ein Aktivist über die Opfer der Gewalt in Ciudad Juárez, zeigt Bilder von verschwundenen Familien, von Militärs, die Häuser von Protestierenden anzünden. Eine Theaterdarbietung verdeutlicht die Probleme am Grenzübergang zwischen Ciudad Juárez und dem US-amerikanischen El Paso. In bewegten Bildern erfahrbar wird die „Stadt der Zukunft“ für Besucher_innen durch die ersten Ausschnitte des Dokumentarfilms „Ciudad Futuro – sobreviviendo Juaritos“, den die Gruppe aktuell dreht, um für noch breitere Aufmerksamkeit zu sorgen. Szenen zeigen einen jungen Mann, der die Folgen der Gewalt in seiner Nachbarschaft beschreibt, Videoaufnahmen von Schüssen an der Grenze zu den USA. Die Aktivist_innen überlassen acht- bis zwölfjährigen Kindern die Kamera, als diese sie durch ihre Spielstätten in den verlassenen Häusern führen. Der Konflikt, die Militarisierung, die Gewalt scheint für sie Normalität geworden zu sein.
Im November soll der Dokumentarfilm fertig gefilmt werden – eine erneute Rückkehr nach Ciudad Juárez steht bevor. Davor tourt die Gruppe durch ganz Mexiko: Tijuana, Querétaro, Mexiko-Stadt, Puebla, Tepico, Nayarit sind nur einige Beispiele. Die kreative Ausrichtung des Projektes bietet dabei Künstler_innen aus den jeweiligen Städten eine Anlaufstelle. In jeder Stadt ändert sich so das Programm, immer wieder stoßen neue Aktivist_innen zu der Gruppe, vergrößern das Netzwerk und tragen ihren Teil auf der Bühne bei. „Wir funktionieren wie Lego“, erläutert Alas Blisset die Dynamik. „Wir alle haben etwas zu sagen und jeder Beitrag lässt sich wie ein neuer Stein auf das Programm setzen.“ Manche der Neuen reisen mit in die nächsten Städte. Einen weiteren wichtigen Punkt des Projektes bildet die Vernetzung zwischen stetig reisenden Aktivist_innen und denen mit festem Wohnsitz. „In Mexiko-Stadt helfen uns Menschen mit unserer Audiobearbeitung, der Produzent unseres Dokumentarfilms kommt aus Querétaro und hier befindet sich ebenfalls die Radiostation des ZNK, das rixomaradio. Diese Arbeiten können wir unterwegs kaum leisten. Als friedlichste Stadt Mexikos ist Querétaro zudem ein Rückzugsort und eine strategische Basis für uns, da beispielsweise unsere Radiostation in Ciudad Juárez permanent durch Polizei und Militär bedroht wäre.“ Ciudad Futuro fungiert somit nicht nur als landesweite Aufklärungskampagne, sondern trägt aktiv zur Vernetzung von Künstler_innen und Aktivist_innen bei und schafft feste Standpunkte einer kreativen Gegenbewegung zur staatlichen Repression in Mexiko.
Kunst als landesweiter Protest. Zur eigenen Beschreibung benutzt der ZNK inzwischen die Bezeichnung „artivistas“ statt „activistas“. „Als Aktivist schrie ich nur heraus, was mir nicht passte – immer in Solidarität mit irgendjemandem: den Zapatisten, gegen Frauenmorde, gegen Militarisierung. Doch plötzlich musste ich in Juárez mein eigenes Leben verteidigen. Dieses Gefühl kann ich nur durch Kunst ausdrücken.“ Doch für Blisset und den restlichen ZNK hat die Kunst neben dem Selbstausdruck und der erleichterten Beteiligungsmöglichkeit für neue Personen einen weiteren entscheidenden Vorteil. „Wir haben gemerkt, dass der einfache Protest, der Aktivismus, nicht reicht. 2010 füllten wir die Straßen mit Protesten gegen die Militarisierung und gegen Calderón als Präsidenten. Was passierte? Unsere compañera Susana Chávez, Dichterin und Autorin des Kampfrufes ‚Ni una más‘ gegen die Frauenmorde, wurde getötet und verstümmelt. Weitere mit uns verbundene Rapper und Protestierende wurden ebenso ermordet. Protest kann nur sagen, wogegen wir sind. Die Kunst kann tiefere Fragen stellen und mit verschiedenen Ausdrucksformen mehr Menschen erreichen. Die große Frage ist, wie wir mit einer Gesellschaft kommunizieren können, die solche Geschehnisse erlaubt – wir müssen den Menschen die Augen öffnen!“
Und das Konzept der Mischung von Kunst und Information geht auf. Das Interesse an den Vorstellungen ist groß, die Diskussionen unter Besucher_innen im Anschluss vielfältig, Erzählungen, Gedichte und Sticker werden gekauft. „Gerade jetzt mit dem als Repressor bekannten neuen Präsidenten Mexikos, Enrique Peña Nieto, interessiert das Thema noch mehr Menschen“, so ein Aktivist. Am Ende des Programms, nach knapp vier Stunden vielfältiger Eindrücke, ein letzter Rapsong, die Aufforderung aufzustehen und zu tanzen: „Zeigen wir, dass wir leben, dass wir noch nicht tot sind!“ Sich sichtbar machen, Menschen erreichen, warnen und vernetzen – der ZNK bildet eine wachsende Gemeinde kreativer Aktivist_innen, die der Gewalt trotzt und neue Wege der Aufklärung sucht, um ihre Ahnung der Stadt der Zukunft zu verhindern.

Zwischen Autonomie und Manipulation

Indigene Autonomie ist ein heißes Thema in Oaxaca, seit im Sommer 2010 die Vier-Parteien-Allianz von Gabino Cué die Gouverneurswahlen gewonnen hat und viele Schlüsselfiguren aus der Indigenenbewegung in die neue Landesregierung gewechselt sind. So ist der ehemalige Chef der Indigenenorganisation Ser Mixe, Adelfo Regino, neuer Minister für Indigene Angelegenheiten. Für die Zapatist_innen war er in den 1990er Jahren als Berater in den Verhandlungen mit Vertreter_innen des mexikanischen Staates über eine Verfassungsänderung tätig. Der Gesetzesentwurf scheiterte zwar 2001 am Widerstand der Parteien PAN, PRI und PRD im Kongress, aber zehn Jahre später bemühen sich in Oaxaca einige der ursprünglichen Protagonist_innen um eine Umsetzung auf Länderebene.

Im südlichen Bundesstaat Oaxaca erklärt sich die Hälfte seiner Bewohner_innen einer der 17 verschiedenen indigenen Ethnien zugehörig. Zudem ist der knapp vier Millionen Einwohner_innen zählende Staat einer der ärmsten Mexikos. In starkem Kontrast hierzu steht der Reichtum an Bodenschätzen und natürlichen Ressourcen, die sich zumeist auf den Territorien der indigenen Bevölkerung befinden – doch bei der Ausbeutung werden die dort lebenden Menschen noch immer nicht konsultiert oder am Gewinn beteiligt.

Aufgrund seiner unzugänglichen Geographie und einer Geschichte hartnäckigen Widerstands gegen Besatzer_innen hat sich gerade in Oaxaca eine große Vielfalt an indigenen Sprachen und kulturellen Praktiken entwickelt. Heute noch sind es die Selbstversorger_innen-Gemeinden von Zapoteken, Mixes, Mixteken, Triquis, Chinanteken und Chontales, wo die Usos y Costumbres, ein „Gewohnheitsrecht“, das Zusammenleben in der Dorfgemeinschaft organisiert. Dieses Gewohnheitsrecht ist nicht einheitlich, doch sind einige Elemente besonders charakteristisch: das Cargo-System, die Asamblea, Tequio und Gozona, sowie eine auf Opfer-und-Täter-Ausgleich basierende Justiz.

Das Cargo-System stellt eine Hierarchie politischer und religiöser Ämter dar. Jugendliche in der Pubertät übernehmen Boten- und Polizeiaufgaben und erst in fortgeschrittenem Alter werden Posten wie Agente (Gemeindevorstand) und Alcalde (Richter) übernommen. Die wichtigen Ämter werden meist jährlich durch die Gemeindeversammlung bestimmt, in der volljährige Gemeindemitglieder, aber oft nur jene mit eigenem Landtitel, eine Stimme haben. Sämtliche Amtsinhaber_innen in durch Usos y Costumbres verwalteten Gemeinden verrichten ihren Dienst an der Gemeinschaft ohne Bezahlung und können jederzeit von der Gemeindeversammlung abberufen werden. Trotz der basisdemokratischen Elemente sind Frauen sowohl als Stimmberechtigte als auch als Amtsinhaberinnen eine Seltenheit. Eine Ausnahme bilden zumeist Witwen oder jene wachsende Zahl Frauen, deren Männer in die USA oder den Norden Mexikos migriert sind.

Tequio ist ein unentgeltlicher Dienst der an Wochenenden gemeinsam verrichtet wird. Dies kann die Instandhaltung der Gemeindegrenze oder die Reparatur einer durchs Dorf führenden Straße sein. Gozona hingegen ist eine Arbeitsleistung für Verwandte oder Nachbar_innen, beispielsweise bei der Ernte, die bei Gelegenheit durch eine entsprechende Gegenleistung entgolten wird.

Die Rechtsprechung nach Usos y Costumbres ist von allen beschriebenen Elementen des Gewohnheitsrechts von größter Relevanz für die Beziehung zwischen Staat und indigenen Völkern, da sie die staatliche Rechtsprechung ersetzt. Entsprechend ist sie integraler Bestandteil jeglicher Forderungen nach indigener Autonomie in Mexiko. Auf vermeintliche Normenverstöße folgt in der Regel ein 24-stündiger Aufenthalt des Delinquenten im Dorfgefängnis. Die Gerichtsverhandlung vor einem Gremium aus Dorfautoritäten findet am folgenden Abend in Anwesenheit des Opfers statt und zielt auf eine Entschädigung ab, die künftige Konflikte und Racheakte zu vermeiden sucht.

Obwohl die Ursprünge des indigenen Gewohnheitsrechts weit vor der Eroberung durch die Spanier liegen, entstammen viele seiner Elemente der Kolonialzeit. Weitere kamen mit den Verwaltungsstrukturen für kollektiven Landbesitz hinzu, die sich mit der Landreform im Zuge der Mexikanischen Revolution etablierten.

In den 1970er Jahren begann sich republikweit ein indigenes Selbstbewusstsein zu artikulieren, das sich in Oaxaca mit der Gründung von Basisorganisationen und Piratenradios manifestierte, die in indigenen Sprachen sendeten. Der eigentliche Durchbruch kam erst 1994 mit dem Zapatistenaufstand. Motiviert durch die landesweiten Kampagnen der indigenen Rebell_innen und die Medienaufmerksamkeit, entstanden überall neue Strukturen indigener Selbstorganisation. Interne Debatten darüber, wie indigene Autonomie in Mexiko konkret aussehen könne, wurden auch außerhalb von Chiapas auf großen multiethnischen Zusammenkünften wie dem Congreso Nacional Indígena geführt und entsprechende Forderungen formuliert.

Der Staatsapparat reagierte darauf mit Repression und jenen Strategien der Vereinnahmung, die der PRI über viele Jahrzehnte die Kontrolle über die ländliche Peripherie gesichert hatten. In Oaxaca wurden so Mitte und Ende der 1990er Jahre von den PRI-Regierungen Diódoro Carrascos und José Murats Gesetze verabschiedet, die den indigenen Gruppen Oaxacas weitergehende Autonomierechte einräumten als irgendwo sonst in der Republik. Zeitgleich und beauftragt durch dieselben Regierungen wurde indigene Selbstorganisation durch Bespitzelung, politische Morde und den Einsatz von Polizei und Militär unterdrückt und zerschlagen.

Vor allem die Gesetzesnovellen zum Wahlrecht führten zu drastischen Veränderungen der Praxis in den 570 municipios von Oaxaca, von denen inzwischen 418 nicht mehr über das Parteiensystem, sondern mittels Usos y Costumbres ihre Verwaltung bestimmen. Was auf den ersten Blick wie ein Erfolg indigener Selbstorganisation aussieht, gestaltet sich bei genauerem Hinsehen ambivalent. So hatte die PRI in den Wahlen vor der Gesetzesänderung auf dem Land viele Stimmen an Oppositionsparteien verloren und die Initiative mutet an wie ein geschickter Schachzug, mit dem Ziel, den selben Cliquen die Macht zu erhalten, die auch schon mit Hilfe der PRI staatliche Gelder und Land unter ihrer Kontrolle hatten. Zudem laufen gewohnheitsrechtliche Abstimmungen trotz ihrer basisdemokratischen Elemente oft Prinzipien der Gleichberechtigung zuwider, wenn nur etablierten Familienvätern mit Landtiteln ein Stimmrecht eingeräumt wird. Ein weiterer kritischer Punkt liegt in der Möglichkeit der Staatsregierung, bei Konflikten innerhalb der Gemeinde die gewählten Autoritäten abzuberufen (desaparición de poderes) und eine_n Verwalter_in einzusetzen, die in der Regel der stärksten Partei im Landesparlament angehört – in Oaxaca immer noch die PRI. Die Präsenz eines_r externen Verwalter_in verstärkt in der Regel jedoch existierende Spannungen zwischen den Interessengruppen, die mit gewohnheitsrechtlichen Praktiken eventuell hätten gelöst werden können. De facto hat die durch die Einführung der Usos y Costumbres erzeugte Rechtsunsicherheit bei gleichzeitiger willkürlicher Eingriffsmöglichkeit des Staates Konfliktherde geschaffen, die langfristig eine indigene Autonomie in Oaxaca eher verhindern.

Im Sommer 2010 erschütterte ein politisches Erdbeben Oaxaca, als der Kandidat der Oppositionsallianz aus sozialdemokratischer PRD, Convergencia (Mitte-links), PT (links) und konservativ-katholischer PAN, Gabino Cué, die Gouverneurswahlen gegen Eviel Pérez von der PRI gewann. Der neue Gouverneur hatte bei seinem Amtsantritt den Rückhalt weiter Teile der sozialen Bewegung und sorgte dafür, dass viele ihrer erfahrensten Leute in die Regierung übernommen wurden. Allerdings wurden die progressivsten Köpfe nicht auf die einflussreichsten Ministerien verteilt, sondern nahmen vor allem in den Bereichen Menschenrechte, Frauen und indigene Angelegenheiten ihre Arbeit auf.

Das Ministerium für Indigene Angelegenheiten (SAI) wurde zum Sammelbecken ehemaliger Vorkämpfer_innen für indigene Rechte. Eines ihrer erklärten Ziele ist die Umsetzung des Ley Indígena (Indigenengesetz), das zwar bereits 1998 in die Verfassung von Oaxaca aufgenommenen wurde, seither aber – ohne entsprechende Sekundärgesetze – unwirksam blieb und dessen Existenz weiten Teilen der Bevölkerung noch unbekannt ist. Gemeinsam mit den meisten indigenen Organisationen in Mexiko, hat die neue Belegschaft der SAI das Ziel, im Ley Indígena von 1998 nur teilweise enthaltene Rechte in der Sekundärgesetzgebung von Oaxaca zu verankern. Diese beinhalten die Autonomie indigener Bevölkerungsgruppen, samt Rechtssystemen und Territorien.

Dabei werden mit Territorium nicht nur das Land, Bodenschätze und natürliche Ressourcen bezeichnet, sondern auch die auf dem entsprechenden Gebiet vorhandene Kultur, inklusive Sprachen, Anbaumethoden, Cargo-System, Rechtsnormen etc. Die in der Landeshauptstadt ansässige Allianz indigener und Menschenrechts-NGO Colectivo Oaxaqueo en Defensa de los Territorios (Oaxaquenisches Kollektiv zur Verteidigung der Territorien), die seit 2009 existiert und momentan den Widerstand gegen den Bergbau im Tal von Ocotlán begleitet, ist beispielhaft für die Weiterentwicklung und Publikmachung dieses Territorienkonzepts.

Vor der konkreten Umsetzung des Ley Indígena steht eine breit angelegte Informationskampagne, bei der die SAI sich auf ihre Kontakte zu einer Reihe indigener NGOs und deren Basisgemeinden stützt. Allerdings gestalten sich eineinhalb Jahre nach dem Regierungswechsel diese Beziehungen nicht immer einfach, weil die Erwartungen der Basis nach raschen Veränderungen in weiten Teilen unerfüllt geblieben sind. Dies hat seine Ursache vor allem in den völlig anders gelagerten Interessen jener Teile der Regierung, die über Macht und Ressourcen verfügen und die Ministerien für Wirtschaft und innere Sicherheit kontrollieren. Ihnen sind die Interessen ausländischer Großinvestor_innen wichtiger als die der ehemaligen Basis ihrer Kolleg_innen aus der SAI. So hat sich der Gouverneur Cué kurz nach seinem Amtsantritt auf Seiten ausländischer Bergbauunternehmen positioniert, deren Präsenz in Regionen lukrativer Erzvorkommen in den vergangenen Monaten in Oaxaca zu Toten und Verletzten geführt hat. Im Januar und März wurden beispielsweise zwei Aktivisten ermordet, die in der zapotekischen Gemeinde San José Progreso den Widerstand gegen den kanadischen Konzern Fortuna Silver organisierten.

 

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Die Harmonie des Herzens

Tzeltal ist eine der 14 im Südosten Mexikos gesprochenen Maya-Sprachen. Die jMeltsa’anwanej (tzeltal für: Konfliktschlichter_innen oder -mediator_innen), haben wenig mit Richter_innen westlicher Gesellschaften gemein; weder sind sie Rechtsexpert_innen, noch haben sie ein Studium absolviert. Sie sind indigene Bauern und Bäuerinnen, die ihre Rechte als inhärenten Teil ihrer Form zu leben und ihrer Gesellschaftsstruktur begreifen. Das Rechtssystem der Tzeltales beruht auf ihrer kulturellen Kosmovision, der Weisheit der Ahnen, darauf, wie sie ihre Religiosität und ihr Sein auf der Erde verstehen. Die Traditionen der Tzeltales sind jedoch nicht statisch, es werden Elemente übernommen, die sie bereichern, selbst wenn sie – wie die Menschenrechte – einer anderen Kultur entspringen, um sie aus der eigenen Sicht dann neu zu interpretieren.

In der Tzeltal-Kultur stellt das Vorhandensein eines Problems oder eines Konfliktes (tzeltal: wocolil) innerhalb der Gemeinde eine Unordnung, einen Verlust von Harmonie (tzeltal: ju’un pajal o’tanil / ein ganzes Herz) dar, die durch Aussöhnung (tzeltal: suhtesel o’tanil / Wiederkehr des Herzens) erneut hergestellt werden muss. Wenn also jemand eine andere Person schädigt, heißt das, dass sein Herz fortgegangen ist (tzeltal: cheb o’tanil / zwei Herzen). Dialog und eine friedliche, aggressionsfreie Lösung des Problems setzen daher voraus, dass das Herz der Person, die sich einer anderen gegenüber schlecht verhalten und so die Harmonie der Gemeinschaft gestört hat, wieder an seinen Platz zurückgebracht werden muss, damit wieder ein ganzes Herz existiert und die Harmonie in das Territorium zurückkehrt: das friedliche Zusammenleben. Harmonie wird also als eine Form verstanden, Beziehungen zu pflegen. Harmonie wird mit den höheren Wesen herzustellen gesucht, den Schutzheiligen der Natur und der einzelnen Dörfer, mit sich selbst, in der Ehe und mit den Kindern, in der Gemeinschaft und mit der Natur.

Als ich bei meinem letzten Aufenthalt im Februar 2012 jMeltsa’anwanej bei ihrer Arbeit begleitete, lernte ich eine Gemeinde kennen, in der es ein heftiges Problem aufgrund einer Auseinandersetzung um Land zwischen zwei Mitgliedern eines ejidos gab. Bei dieser Form des kollektiven Landbesitzes gibt es im Gegensatz zur tierra comunal einzeln bewirtschaftete Parzellen. Die jMeltsa’anwanej waren gerufen worden, um sich mit dem Fall vertraut zu machen und als Mediator_innen zu vermitteln. Eine der an dem Konflikt beteiligten Personen gehörte den autonom organisierten Zapatist_innen an und wandte sich daher auch an die zuständige zapatistische Instanz. Es wurde ein Treffen an dem umstrittenen Ort organisiert und eine Art mündliche Anhörung abgehalten. Wie in anderen Fällen hatten die jMeltsa’anwanej zuvor bereits Untersuchungen angestellt, was mehrere Wochen oder Monate dauern kann. Dabei wird mit jeder der Konfliktparteien einzeln gesprochen und es werden weitere möglicherweise beteiligte Personen oder, sofern vorhanden, Zeug_innen aufgesucht. Die Treffen werden mit Gebeten eingeleitet und abgeschlossen, in denen das gute Wirken der Konfliktschlichter_innen und die Erlangung der Harmonie erbeten wird.

Bei dem ersten Treffen vereinbarten die Mediator_innen und die Betroffenen einen weiteren Termin zur Landvermessung, der einen Monat später stattfinden sollte. Bei diesem nächsten Treffen begannen die jMeltsa’anwanej, die Zuständigen der Zapatist_innen, die lokalen Amtsträger_innen und die Betroffenen, das Land zu vermessen bis der unter den Konfliktparteien umstrittene Teil ersichtlich wurde. Dann wurde eine Urkunde abgefasst, in der die Konfliktparteien vereinbarten, das Problem jeweils für sich zu analysieren, um dann eine friedliche Lösung zu erarbeiten. Und damit sind sie derzeit noch befasst.

Die jMeltsa’anwanej arbeiten in keinerlei Gebäuden, von denen aus Recht gesprochen wird; stattdessen werden die Orte des Konfliktgeschehens aufgesucht, um die Umstände und die beteiligten Personen kennenzulernen; auch existieren keine festen Fristen. Jeder Fall bedarf einer individuellen Lösung, da auch die Probleme jeweils von unterschiedlichen Menschen und Umständen verursacht wurden.

Die wocolil oder Konflikte, die einen Verlust an Harmonie in der Gemeinschaft auslösen, können unterschiedlich gelagert sein. Meist sind sie familiärer Art, wie Beziehungsprobleme, die Art der Eheanbahnung und Erbschaftsstreitigkeiten, oder sie stehen im Zusammenhang mit Land und natürlichen Ressourcen.
Sofern es zu keiner Einigung kommt, kann auch mehr Zeit eingeräumt werden, um zu einer Einigung zu gelangen. In anderen Fällen kann es auch passieren, dass sich eine der Parteien dazu entscheidet, die offiziellen Justizbehörden anzurufen. Die Zuständigkeit der unterschiedlichen Rechtssysteme ist in Mexiko jedoch nicht genau geregelt. Normalerweise kommt es bei der Tzeltal-Justiz nicht zu Strafen, sondern zu Wiedergutmachungen. Manuel Guzmán Gutiérrez, oberster jMeltsa’anwanej für das Gebiet Tumbo erklärt die Praxis so: „Es kommt auf das Problem an. Ein Beispiel: Ist ein Tier in die milpa eingedrungen, zählen wir, wie viele Pflanzen es zerstört hat, damit sie dem Eigentümer der Parzelle zurückerstattet werden. Bei einer Schlägerei wird auf Einigung gedrungen. Wer verletzt wurde, begibt sich in medizinische Behandlung und die Kosten dafür muss der Angreifer tragen. Eine Strafgebühr gibt es nicht.“

Das Amt der jMeltsa’anwanej wurde von der Jesuitenmission Bachajón und dem Zentrum für Indigene Rechte Chilón (CEDIAC) wiederbelebt. Zum Bistum San Cristóbal de Las Casas gehörende Jesuitenmissionare nahmen ihre Arbeit im Gebiet der Tzeltales 1958 auf. Sie waren vom Geist der Befreiungstheologie getragen, für die Samuel Ruíz während seiner Amtszeit als Bischof (1959 bis 1999) eintrat. Sie gründeten die Organisation CEDIAC im Jahr 1992 mit dem Ziel einer Menschenrechtsarbeit, die an den Kontext angepasst war. Das vorherrschende Element war daher auch die Verteidigung von Land und Territorium, als Grundlage für die Stärkung der indigenen Autonomie der Tzeltal-Gemeinden.

In den indigenen Gemeinschaften wird die „Ausübung von Autorität“ traditionell als „Verpflichtung“ aufgefasst, als Dienst an der Gemeinschaft und niemals als vergüteter Posten. Voraussetzungen für die Ausübung des Amtes sind: die einvernehmliche Ernennung durch die Gemeinschaft, die genaue Kenntnis über die Amtsführung und ein tadelloser Lebenswandel. Der jMeltsa’anwanej bekommt für seine Arbeit kein Geld und ist für drei Jahre gewählt. Beratend zur Seite steht dem Amtsträger die sogenannte comitiva.

Um einen Verlust von Erfahrungen und Kenntnissen durch das Rotationsprinzip zu vermeiden, wird das traditionelle System von banquilal (großer Bruder) und ihts’inal (kleiner Bruder) angewandt. Die mit der Lösung von Konflikten betraute comitiva besteht aus einem banquilal, einem ihts’inal und einem xuht (Letzten), der als Lernender die Kenntnisse über Konfliktlösung und das Rechtssystem der Tzeltales praktisch erwirbt. Jede comitiva wählt ein Oberhaupt, eine Person, die durch die Zahl der in ihrem bisherigen Leben ausgeübten Ämter hohes Ansehen genießt und die Aufgabe hat, „das Herz der jMeltsa’anwanej aufzumuntern, ihre Arbeit zu überwachen und darauf zu achten, dass sie die Werte der Harmonie und der Suche nach Wahrheit verfolgen. Darüber hinaus gibt es noch eine_n Sekretär_in, der_die mit der Abfassung von Dokumenten betraut ist.
Die Ernennung für das Amt erfolgt während eines Festes der Gemeinde, der „Aussaat“, das eine große kulturelle Bedeutung hat. Hier wird das Amt öffentlich verliehen und vor der Gemeinschaft legitimiert. Bei der Zeremonie wird das Amt an einen Mann und seine Ehefrau vergeben. Traditionell werden daher verheiratete Männer mit der Funktion betraut, wenngleich dies im Begriff der Veränderung steht. Dominga Gutiérrez Gómez, die Frau eines jMeltsa’anwanej im Gebiet von San Jerónimo Tulihjá, führt dazu aus: „Als ich begann, fiel es mir sehr schwer. Ich schämte mich, zu sprechen und ich konnte es einfach nicht, ich wollte nicht gehen. Aber jetzt schon, weil ich mich jetzt auszudrücken weiß. Und wenn wir jetzt Probleme lösen, schäme ich mich nicht zu sprechen; seit ich im Amt bin, haben sich mir der Verstand und das Herz mehr geöffnet“.

Die Tzeltales durchleben große soziokulturelle Veränderungen, die sich natürlich auch auf ihr Rechtssystem und die Ernennungspraxis für das Amt von Konfliktschlichter_innen auswirken. Dies betrifft zum einen die Ernennung von jungen Menschen, sowohl jungen Männern als auch Frauen, zum xuht, die aufgrund des soziokulturellen Wandels noch unverheiratet sind; sie sind mehrheitlich zweisprachig, da sie Abitur gemacht haben und sowohl ihre eigene Sprache als auch das Spanische lesen und schreiben können. Obwohl junge Frauen dabei immer noch in der Minderheit sind, kann ihre Arbeit eine Neubelebung der Traditionen und des Ämtersystems bedeuten. Zum anderen wurde im Jahr 2011 erstmals eine nur aus weiblichen jMeltsa’anwanej bestehende comitiva gebildet. Dies geschah auf den Wunsch von Frauen aus mehreren Gemeinden – zur speziellen Bearbeitung jener Fälle, in denen Frauen die Betroffenen oder Geschädigten sind.

Die gewählten Amtsträger_innen müssen sich durchgehend korrekt verhalten und ihre Arbeit in die Gemeinden tragen. Von der Rechtmäßigkeit ihres Handelns im Amt hängt auch ab, ob die Menschen auf sie zukommen, um ihre Hilfe als Mediator_innen in Anspruch zu nehmen. Sollte die Gemeinschaft, das Oberhaupt oder die Koordinator_innen einen Amtsmissbrauch eines Mitglieds der comitiva beobachten, so kann dieses zeitweise vom Dienst entbunden werden.

Bereits in der Vergangenheit besuchten die jMeltsa’anwanej Kurse und Workshops, die regelmäßig von der Mission und von CEDIAC organisiert wurden. Seit 2011 gibt es einen zweijährigen Lehrgang über das Rechtssystem der Tzeltales, durch den die Arbeit der Schlichter_innen noch verbessert werden soll. Dort werden zum einen bestimmte Aspekte der nationalen Gesetzgebung und der Menschenrechte behandelt, zum anderen findet eine Reflexion über das Rechtssystem der Tzeltales statt, indem andere Formen von indigener Justiz innerhalb und außerhalb Mexikos diskutiert werden.

Im Gebiet der Tzeltales, in dem die Mission und die jMeltsa’anwanej arbeiten, leben ungefähr 200.000 Einwohner_innen, die sich auf 532 Gemeinden verteilen – 70 Prozent davon sind katholisch. Es umfasst die Kommunen Chilón und Sitalá sowie Teile von Yajalón und Pantelhó.

Die geographische Unterteilung der Tzeltales steht neben der räumlichen Unterteilung der autonomen indigenen Bewegung der Zapatist_innen. Diese bestehen aus den Autonomen Aufständischen Zapatistischen Kommunen, die jeweils mehrere Gemeinden umfassen, und den Caracoles, bestehend aus mehreren autonomen Kommunen. Die Juntas der Guten Regierung befinden sich in den Caracoles, den politisch-kulturellen Zentren der autonomen zapatistischen Struktur. Dort treffen sich die autonomen Instanzen der verschiedenen Kommunen des Caracols, um die alle betreffenden Fragen zu besprechen, etwa Bildungs-, Gesundheits-, Kommunikations- und landwirtschaftlich-ökologische Projekte. Außerdem dient der Ort der Lösung von Konflikten innerhalb ihres Gebietes, die nicht auf Gemeinde-Ebene gelöst werden konnten. Auf ein und demselben Gebiet koexistieren also verschiedene indigene Rechtssysteme: einerseits das auf der Kosmovision der Tzeltales beruhende Rechtssystem, das von CEDIAC angestoßen wurde, andererseits die Juntas der Guten Regierung, die von den Unterstützer_innen der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) gebildeten Konfliktlösungsinstanzen.

Das Gebiet der Tzeltales ist ein Spiegel der in Chiapas herrschenden Vielfalt. Die indigenen Völker von Chiapas sind sehr heterogen, sie haben wenig mit dem statischen, einseitigen Bild der Folklore zu tun, das von Massenmedien und konservativen politischen Eliten gezeichnet wird. Die einer indigenen Kultur angehörenden Menschen gehören unterschiedlichen bäuerlichen, politischen oder militärischen (etwa der EZLN) Gruppen an, sowie unterschiedlichen Religionen.

Für die Tzeltales ist die Mutter Erde heilig: Die Berge, die Felsen, die Höhlen, das Wasser – sie bilden die Grundlagen ihrer eigenen Wurzeln. Diese nicht-materielle Sicht auf Natur bildet den Nährboden für ihren Widerstand gegen Großprojekte der mexikanischen Regierung, durch die sie von ihrem Territorium vertrieben werden sollen. Dazu gehören der Bau von Straßenverbindungen, Öko-Tourismus-Projekte, Initiativen zum Verkauf von Ländereien, zum Bau von Staudämmen oder Bergbauprojekten. Das Rechtssystem der Tzeltales dient daher nicht nur der Konfliktlösung, es weist der Bevölkerung ebenso den Weg zur Harmonie, zu der auch der Schutz und die Ruhe der Mutter Erde gehören.

Die dialogorientierte, friedliche Suche nach Harmonie und Frieden ist weit entfernt von den Klischees, die indigene Justiz mit Menschenrechtsverletzungen und vielfachen Verstößen gleichsetzen. Das Beharren der Tzeltales auf der Beibehaltung eigener Normen und Konfliktlösungsmechanismen als Teil ihres Anspruchs auf Autonomie, ist auch die Antwort auf eine offizielle staatliche Justiz, die weder ihre Sprache spricht noch ihre Kultur versteht; die in den meisten Fällen Indigene kriminalisiert und so zum repressiven Arm der Staatsmacht wurde. Oftmals wird Indigenen nicht das Recht auf eine Verdolmetschung in die eigene Sprache – und damit einen fairen Prozess – zugestanden, weshalb die Gefängnisse voll von Indigenen sind, die nicht einmal wissen, warum sie inhaftiert wurden. Machtmissbrauch und Korruption machen den Gang zum Gericht für Indigene zu einem Luxus, den sie sich meist nicht leisten können. Ein Teilnehmer des Lehrgangs über Tzeltal-Justiz beschreibt das so: „Unsere Fälle werden nicht bearbeitet. Fließt kein Geld, werden die Auseinandersetzungen auch nicht gelöst“.

 

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// Neue Fratze im alten Sumpf

Das politische Elend Mexikos hat ein Gesicht: Enrique Peña Nieto. Der Kandidat der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) verschaffte seiner Partei bei den Präsidentschaftswahlen das ersehnte Comeback, nachdem sie im Jahr 2000 nach 71 Jahren an der Macht abgewählt worden war. Dafür bedurfte es angesichts dürftiger Konkurrenz nicht viel: Die PRI präsentierte sich weitgehend programmfrei, indes mit einem hübsch anzusehenden Kandidaten, einer großangelegten Medienoffensive und einer Menge Zuckerbrot und Peitsche für das überwiegend arme Wahlvolk. Das Kalkül ist aufgegangen: Peña Nieto, als ehemaliger Gouverneur des Bundesstaates Estado de México direkt verantwortlich für die brutale Repression und die schweren Menschenrechtsverletzungen gegen die Bevölkerung von Atenco im Jahr 2006, wird neuer Präsident Mexikos. Das spricht für sich.

Keine Frage: Wahlen in Mexiko ohne Wahlbetrug sind weiter undenkbar. Wieder einmal konnte oder wollte das Bundeswahlinstitut, das eine der bestfinanzierten Behörden seiner Art weltweit ist, nicht für einen Ablauf sorgen, der dem Resultat weitgehende Legitimität verschafft. So ist es kaum verwunderlich, dass der Zweitplatzierte Andrés Manuel López Obrador von der sozialdemokratisch orientierten PRD Einspruch eingelegt hat und Gegner_innen der PRI in vielen Städten Protestdemonstrationen durchführen. López Obradors Niederlage 2006 gegen Felipe Calderón beruhte weithin unumstritten auf Wahlbetrug. Praktiken des Wahlbetrugs sind allerdings keiner der großen mexikanischen Parteien fremd. Es ist eher die Dimension, die den Unterschied macht. Die PRI ist dabei unerreicht. Der Sieg der PRI zeugt fraglos nicht nur von einem immensen Willen zur Macht, sondern auch von einer beachtlichen ökonomischen und politischen Kapazität. Zählt man die unverhohlene Parteinahme des Fernsehduopols von Televisa und TV Azteca für Enrique Peña Nieto hinzu, kann man den Klagen über die unfairen und unfreien Wahlen nur beipflichten.

Dennoch: Der reflexhafte Aufschrei der parlamentarisch orientierten Linken, die Wahlbetrug und Medienmanipulation als Ursachen ihrer Niederlage ausmachen, greift nicht nur als Erklärung zu kurz, sondern lenkt auch von den eigenen Unzulänglichkeiten ab. Tatsächlich ist es López Obrador und seiner PRD zu keinem Zeitpunkt gelungen, sich als ernsthafte bundesweite politische Alternative zu dem Sumpf aus Korruption und Gewalt zu etablieren, der Mexikos Politik ausmacht. Das liegt nicht nur daran, dass die PRD auf das Spiel der PRI eingegangen ist und ebenfalls einen oft sinnentleerten, auf ihren Kandidaten zentrierten Wahlkampf geführt hat. Es liegt vor allem daran, dass die PRD mit Skandalen um gefälschte parteiinterne Wahlen, der Fortsetzung der repressiven Politik ihrer Vorgänger dort, wo sie regiert sowie einer mehr als fragwürdigen Bündnispolitik mit der rechtskonservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) in verschiedenen Bundesstaaten auf sich aufmerkam gemacht hat. Sie hat sich damit noch deutlicher als das entlarvt, was sie in den Augen der zapatistischen „Anderen Kampagne“ von 2006 schon immer war: ein weiterer Akteur im selben Zirkus.

Der Zirkus vermag schon lange keine Begeisterung mehr zu wecken. Lag im Wahljahr 2006 angesichts des sicher geglaubten Sieges von López Obrador, der zapatistischen „Anderen Kampagne“ oder des Volksaufstandes im Bundesstaat Oaxaca eine gewisse Aufbruchstimmung in der Luft, war dieses Mal die Sehnsucht der meisten Menschen nach der Vergangenheit spürbar. Die über 60.000 Ermordeten der letzten sechs Jahre im Rahmen des sogenannten Drogenkrieges zeugen von dem Abwärtsstrudel der entgrenzten Gewalt, in dem Mexiko sich befindet. So haben sich anscheinend die meisten Wähler_innen für die Partei entschieden, der sie am ehesten zutrauen, die Drogenkartelle mit weniger tödlichen Kollateralschäden in das schmuddelige mexikanische System zu integrieren. Und das ist die, die es erschaffen hat: die PRI.

Kandidat_innen ohne Konzepte

Der 11. Mai 2012 wird bereits jetzt als „schwarzer Freitag“ für den in Umfragen weiterhin führenden Präsidentschaftskandidaten der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI), Enrique Peña Nieto, bezeichnet. Bei einem Wahlkampfauftritt an der Iberoamerikanischen Universität in Mexiko-Stadt rechtfertigte er einen verheerenden Polizeieinsatz in Atenco von 2006 während seiner Amtszeit als Gouverneur des Bundesstaates Mexiko, bei dem Protestierende und Unbeteiligte angegriffen, zwei Jugendliche erschossen, unzählige Personen verletzt und sogar vergewaltigt wurden. Als er daraufhin vor erbosten Studierenden, die ihn als Mörder bezeichneten, durch einen Hintereingang regelrecht fliehen musste, warf er den Protestierenden vor, bezahlte Mitglieder anderer Parteien zu sein. 131 Studierende wiesen den Vorwurf umgehend in einem Youtube-Video zurück. Unter dem Twitter-Slogan „#YoSoy132“ (etwa: Ich bin die Nummer 132) folgten in Anlehnung an die 131 Studierenden ein Protestmarsch in Mexiko-Stadt mit über 15.000 Teilnehmer_innen. Die Bewegung fordert eine Demokratisierung der mexikanischen Medien, das Recht auf freie Information und eine unvoreingenommene Wahlberichterstattung, stellt sich jedoch explizit nicht hinter eine bestimmte Partei oder deren Kandidat_innen. Welche Auswirkungen „#YoSoy132“ auf den Ausgang der Wahl haben wird, kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingeschätzt werden. Einen Erfolg konnte die Bewegung aber bereits verbuchen: Neben TV Azteca hat auch der größte Fernsehsender Televisa der Forderung nachgegeben, die zweite Fernsehdebatte der Kandidat_innen am 10. Juni auf den Kanälen mit den höchsten Einschaltquoten zu übertragen.
Im Schatten dieser Ereignisse droht den mexikanischen Streitkräften der größte Korruptionsskandal und die schwerste Krise ihrer jüngeren Geschichte. Mitte Mai wurden die ehemaligen Generäle Tomás Ángeles Dauahare, vor wenigen Jahren noch stellvertretender Verteidigungsminister, Ricardo Escorcia Varga, der aktive Brigadegeneral Roberto Dawe González sowie der Oberstleutnant a.D. Silvio Isidro de Jesús Hernández Soto festgenommen und eine 40-tägige Untersuchungshaft gegen sie verhängt. Ihnen werden Verbindungen zum Organisierten Verbrechen vorgeworfen. Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft sind weitere Festnahmen nicht ausgeschlossen, gegen mehrere Militärs sowie Beamte der Bundespolizei wird wohl ermittelt.
Vor allem die Festnahme von Ángeles Dauahare hat einige Beobachter_innen überrascht. Er gilt als einer der einflussreichsten Militärs der letzten Jahrzehnte. Der heute 70-Jährige war Militärattaché der mexikanischen Botschaft in Washington, persönlicher Sekretär von Verteidigungsminister Enrique Cervantes Aguirre (1994 – 2000) und in dieser Eigenschaft Repräsentant der Streitkräfte bei den „Friedensgesprächen“ von San Andrés zwischen Regierung und der Zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN). Ángeles Dauahare war 1997 aktiv an der Verhaftung und Verurteilung des Generals Jesús Gutiérrez Rebollo beteiligt, dem damaligen Antidrogen-Zar, der in Wahrheit aber für Amado Carrillo Fuentes arbeitete, den legendären Gründer des Juárez-Kartells, der wegen seiner Luftflotte, die Drogen in die USA transportierte, auch „El Señor de los cielos“ (Herr der Lüfte) genannt wurde. Zudem wirkte er an der später annullierten Verurteilung von General Mario Arturo Acosta Chaparro wegen Verbindungen zum Drogenhandel mit. Acosta Chaparro, einer der Hauptverantwortlichen des sogenannten „schmutzigen Krieges“ gegen die linke Opposition in den 1970er Jahren, dem zahlreiche Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, für die er nie belangt wurde, war Ende April am helllichten Tage in Mexiko-Stadt erschossen worden. Bisher wurde niemand wegen der Tat festgenommen.
Ángeles Dauahare war zuletzt am 9. Mai auf einem von der PRI-nahen Colosio-Stiftung veranstalteten Forum zu Nationaler Sicherheit & Recht in San Luís Potosí aufgetreten, bei dem Peña Nieto anwesend war. Der General kritisierte dort öffentlich die Strategie von Präsident Felipe Calderón im „Krieg gegen die Drogen“. Es fehlten konkrete Zielsetzungen. Auch trat er für die Schaffung eines neuen Polizeikörpers oder einer nationalen Gendarmerie ein, eine Idee, die auch Peña Nieto vertritt. In der mexikanischen Presse wurde spekuliert, Ángeles Dauahares Festnahme könnte ein Versuch sein, den Kandidaten der PRI zu diskreditieren. Die Generalstaatsanwaltschaft dementierte dies. Die Festnahmen „haben keinen politischen Hintergrund, noch besteht irgendeine Beziehung zum laufenden Wahlkampf oder den beteiligten Kandidaten“.
Die genauen Vorwürfe hat die Generalstaatsanwaltschaft bisher noch nicht veröffentlicht. Auch wurde bisher noch nicht formal Anklage erhoben. So bleibt vieles spekulativ. Die juristische Figur der Untersuchungshaft von 40 Tagen erlaubt es den Behörden, die Beschuldigten solange festzuhalten ohne Beweise vorlegen zu müssen oder Anklage zu erheben, wie die Untersuchungen andauern.
Einige Beobachter_innen und der Präsident selbst versuchen, die Inhaftierung der Generäle als Erfolg im Kampf gegen die Kartelle zu verkaufen. Man gehe gegen Korruption vor. Doch angesichts der Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft in der Vergangenheit oft Delikte „erfunden“, Verdächtige „fabriziert“ und Recht und Gesetz mehr als einmal als Instrument gegen politische Gegner eingesetzt hat, erscheint es keineswegs sicher, dass Anschuldigungen auch wirklich Substanz haben. Zu oft wurden in der Vergangenheit spektakuläre Festnahmen inszeniert, nach denen es danach nicht einmal bis zum Prozess kam oder die Prozesse verloren wurden.
Wie man es auch dreht, entweder wird die Staatsanwaltschaft wieder politisch instrumentalisiert, oder die Beschuldigungen erweisen sich als stichhaltig, was beweisen würde, dass auch die Streitkräfte bis in höchste Stellen unterwandert sind. Angesichts der Schlüsselrolle, die die Armee in Calderóns Drogenkrieg einnimmt, wären das fatale Aussichten. Der Präsident verteidigte hingegen die Armee und würdigte ihre „Anstrengung und patriotische Aufgabe im Kampf gegen die Drogenkartelle. Ohne die Präsenz der mexikanischen Streitkräfte wäre das Land wahrscheinlich schon in die Hände der Kriminellen gefallen“, versucht Calderón ein optimistisches Bild seiner Amtszeit zu zeichnen.
Verlautbarungen, nach denen ein Rückgang der Gewalt zu verzeichnen sei, erscheinen angesichts der Realität aber fast zynisch. Vielmehr hat seit dem offiziellen Beginn des Wahlkampfes vor zwei Monaten die Gewalt erneut zugenommen. Bei Schießereien zwischen Drogenbanden in Sinaloa gab es mehr als 30 Tote, Massaker in Tamaulipas, Jalisco und Nuevo León in den vergangenen Wochen kosteten mehr als 100 Menschenleben; hinzu kommen die Morde an vier Journalisten in Veracruz. Mexiko ist heute ein bedeutend unsichereres Land als zu Calderóns Amtsantritt; der institutionelle Zerfall, vor allem von Polizei und Justiz, und die soziale Auflösung der mexikanischen Gesellschaft sind in den vergangenen fünfeinhalb Jahren vorangeschritten. Die Armee als zentrales Element im Kampf gegen die Drogenkartelle übernimmt dabei Aufgaben, für die sie weder vorgesehen, noch ausgebildet ist. Auch verstößt ihr Einsatz in Teilen gegen die Verfassung; immer wieder kommt es zu Gesetzesüberschreitungen, Missbrauch und Menschenrechtsverletzungen. Erst Ende Mai beklagte der Jahresbericht des US-Außenministeriums, das keineswegs verdächtig ist, ein besonderer Kritiker repressiver Maßnahmen gegen die Drogenkartelle zu sein, das dritte Jahr in Folge ein Klima der Straflosigkeit durch das „Verschwinden“ von Personen, außergerichtliche Exekutionen, Folter und brutale Maßnahmen gegen Zivilpersonen durch die mexikanische Armee.
Man müsste meinen, dass angesichts der Situation die Frage um die zukünftige Sicherheitsstrategie einen zentralen Platz im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf einnimmt. Doch andere Themen dominieren. Von den Kandidaten, die sich um die Nachfolge Calderóns streiten, gibt es bisher allenfalls vage Versprechungen, die Gewalt „einzudämmen“ und das Land zu „befrieden“. Wie das geschehen soll, bleibt unklar.
Keiner der Bewerber_innen glaubt, die gegen die Kartelle eingesetzte Armee bald in die Kasernen zurückbeordern zu können. Peña Nieto, der die PRI nach zwölf Jahren zurück an die Macht führen soll, die sie mehr als 70 Jahre uneingeschränkt inne hatte – in gewisser Weise ist die Macht der Drogenkartelle ein historisches Erbe seiner Partei – will das Militär weiter in den gewalttätigsten Regionen des Landes einsetzen und zur Unterstützung eine militarisierte Polizei unter ziviler Führung schaffen. Zudem soll die Bundespolizei aufgestockt, die Polizeiausbildung verbessert, sowie das Justizsystem und die Gefängnisse modernisiert werden. Die an den Plan Colombia angelehnte Mérida-Initiative, über die US-Militärhilfe in Millionenhöhe ins Land fließt, will Peña Nieto fortsetzen. Der Schlüssel, um der Gewalt Einhalt zu gebieten, sei aber „wirtschaftliches Wachstum, um Arbeitsplätze zu schaffen“, so der PRI-Kandidat.
Die Kandidatin der regierenden konservativ-katholischen PAN, Josefina Vázquez Mota, unterstützt Präsident Calderón in seinem Feldzug gegen die Kartelle. Doch damit gewinnt man in Mexiko, das die Gewalt leid ist, keine Wahl. Sie wirkt verloren zwischen Ankündigungen, die Politik von Calderón weiterzuführen oder damit zu brechen. Eine klare Strategie hat auch sie nicht. Vázquez Mota bekräftigt immer wieder, nicht mit dem Organisierten Verbrechen zu „paktieren“; mehr als einmal hat sie angedeutet, dass die PRI genau dies getan habe, als sie noch an der Regierung war. Sie will die Armee weiter in den Straßen belassen, da eine „vertrauenswürdige“ Polizei fehlt. Parallel soll eine nationale Polizei mit 150.000 Einsatzkräften geschaffen werden. Ganztagsschulen sollen die soziale Gefüge stärken und die 32 Polizeikörperschaften der einzelnen Bundesstaaten unter einem einzigen Kommando vereinigt werden. Auch müsse die US-Regierung mehr Verantwortung übernehmen und den Drogenkonsum in ihrem Land reduzieren, so die Kandidatin der PAN.
Mit einer versöhnenden Botschaft wartet Andrés Manuel López Obrador, genannt AMLO, von der sozialdemokratischen PRD auf. Er wolle „mehr Umarmungen und weniger Kugeln“. Man müsse bei den sozialen Ursachen ansetzen, mehr Arbeitsplätze schaffen. Zudem sprach er sich für eine Legalisierung auch harter Drogen aus, wenn dies „Frieden garantiere“, eine Position, die in Lateinamerika in den vergangenen Monaten an Raum gewonnen hat. Auch er will die Armee in den Straßen belassen, solange die Polizei nicht in der Lage ist für Sicherheit zu sorgen, da bei einem Rückzug die Bevölkerung „schutzlos“ allein gelassen würde.
Alle drei Kandidat_innen wollen die endemische Korruption und Vetternwirtschaft, die als Nährboden für die Drogenbanden gilt, bekämpfen. Wie genau das geschehen soll, deuten sie nur an. AMLO beispielsweise hat vorgeschlagen, ein Ministerium für Ehrlichkeit zu schaffen. Die astronomischen Gehälter der Politiker_innen in Mexiko will er drastisch kürzen und die Einsparungen für Sozialprogramme und höhere Mindestlöhne verwenden. Der Eindruck bleibt, dass alle drei ein wenig hilflos vor dem vom aktuellen Amtsinhaber losgetretenen „Krieg gegen die Drogen“ und der überbordenden Gewalt stehen. Die Bevölkerung dringt auf mehr Sicherheit. Dafür aber sind mehr als nur gute Vorsätze nötig.

Startschuss für den Eiertanz

Der Wahlkampf hat offiziell begonnen. In den Wochen um Ostern hatten sich die drei aussichtsreichsten Kandidat_innen für die Präsidentschaftswahlen Chiapas ausgesucht, um ihre Kampagnen zu starten. Enrique Peña Nieto, Kandidat der Allianz zwischen der Partei der Institutionellen Revolution PRI und der Grünen Ökologischen Partei Mexikos PVEM, versammelte seine Anhänger_innen in der PRI-Hochburg San Juan Chamula und später in Comitán, nahe der Grenze zu Guatemala. Josefina Vázquéz Mota, die für die Partei der Nationalen Aktion PAN antritt, wählte die Grenzstadt Tapachula aus, um für sich zu werben. Und Andrés Manuel López Obrador – auch AMLO genannt –, der zum zweiten Mal nach 2006 für die Wahlallianz zwischen der Partei der Demokratischen Revolution PRD, der Partei der Arbeit PT und der Bürgerbewegung MC ins Rennen geht, trat vor der Kathedrale im Herzen von San Cristóbal de Las Casas auf.
Während Vázquez Mota in Chiapas vor allem mit Unternehmer_innen sprach, war bei den Auftritten von Peña Nieto und AMLO mehrheitlich die indigene Wähler_innenschaft präsent. Dass beide sich dementsprechend für Respekt gegenüber den indigenen Traditionen und Gebräuchen aussprachen, verwunderte nicht wirklich. Lediglich López Obrador erwähnte in seiner Rede die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung EZLN, der er nach eigenen Worten „die Hand zur Versöhnung und Zusammenarbeit“ ausstrecke. Eine Antwort der Zapatist_innen ließ bisher auf sich warten. Wer für die Region nach Unterschieden in den Vorschlägen der Anwärter_innen auf das höchste mexikanische Amt suchte, wurde enttäuscht. Denn alle versprachen Investitionen in die Infrastruktur in Chiapas und mehr oder weniger ähnliche Maßnahmen zum Ankurbeln der Wirtschaft, um den Lebensstandard der vor allem auf dem Land sehr armen und marginalisierten Bevölkerung zu verbessern.
Für die beiden derzeit wichtigsten Politikfelder in Mexiko, die Sicherheits- und die Wirtschaftspoliti gilt – mit ein paar Ausnahmen — dasselbe. Peña Nieto und AMLO haben angekündigt, die aktuelle Sicherheitsstrategie überprüfen zu wollen, bevor sie Änderungen daran vornehmen. Und Vázquez Mota sprach sich für die Fortführung der Politik von Calderón in diesem Bereich aus. Somit ist nicht zu erwarten, dass die mexikanische Armee und Marine bald von den Straßen in die Kasernen zurückkehren. Momentan haben sie Polizeiaufgaben übernommen.
Im Bereich der Wirtschaftspolitik unterscheiden sich die drei Kandidat_innen in ihren Wahlversprechen vor allem im Umgang mit dem staatlichen Ölunternehmen PEMEX. Die Kandidatin der PAN und der Kandidat der PRI sprachen sich für Investitionen aus der Privatwirtschaft in den Konzern aus. López Obrador dagegen erklärte, PEMEX würde unter einer von ihm geführten Regierung komplett in staatlicher Hand bleiben. Am erstaunlichsten in Bezug auf Wirtschaftsfragen ist, dass López Obrador auf den Unternehmer_innensektor zugegangen ist, obwohl dieser noch vor sechs Jahren eine öffentliche Kampagne gegen ihn geführt hatte. Anfang März traf er sich mit Vertreter_innen des mexikanischen Unternehmer_innenverbandes Coparmex, um ihnen seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen zu erläutern. Auch wenn die mexikanische Presse das Treffen als eher kühl beschrieb, erklärte López Obrador, man sei auf der Suche nach „Versöhnung, die die Umstände erfordern, denn um vorwärts zu kommen, braucht das Land Einigkeit“.
Über allen Fragen schwebt aber der Drogenkrieg. Zum einen ist da die Gewalt zwischen den verschiedenen Kartellen. Diese hat sich seit Beginn der Amtszeit von Felipe Calderón vor fast sechs Jahren aufgrund seines „Krieges gegen den Drogenhandel“ so sehr verstärkt, dass manche Beobachter_innen davon ausgehen, dass sie die Durchführung und den Ausgang der Wahlen mit beeinflussen wird. Wozu die Narcos fähig sind, haben sie im Juni 2010 bewiesen, als sie den PRI-Kandidaten für die Gouverneurswahl in Tamaulipas ermordeten. So hat der mexikanische Verteidigungsminister Guillermo Galván Galván im Februar erklärt, dass in manchen Regionen des Landes das organisierte Verbrechen „den Staat verdrängt hat“. Ob sich in diesen von Gewalt geplagten, vor allem im Norden des Landes gelegenen Gebieten der Gang zu den Urnen entsprechend demokratischen Kriterien durchführen lässt, kann man durchaus in Frage stellen. Andererseits wird schon seit einer Weile öffentlich über die Verbindungen von Teilen der politischen Klasse zu im Drogenhandel tätigen Kreisen diskutiert. Dabei geht es um personelle Verbindungen, aber auch um die Finanzierung von Wahlkampagnen, die normalerweise ohne Konsequenzen bleibt. Fälle wie der von Gregorio Sánchez, der 2010 als Kandidat der PRD für das Gouverneursamt in Quintana Roo durch Kronzeugen der Bestechung durch den Drogenhandel beschuldigt und daraufhin inhaftiert wurde, sind eher die Ausnahme. Die Bundeswahlbehörde IFE erklärte, es gebe Mechanismen, um die Herkunft von Spendengeldern an die Parteien und Kandidat_innen aufzuklären. Jedoch hat Mexiko im Vergleich zu anderen Ländern in der Region kaum eine umfassende Gesetzgebung gegen Geldwäsche. So bleiben Zweifel, ob die Kampagnen ausschließlich mit „sauberem” Geld finanziert werden.
Zwei Monate vor den Wahlen ist noch relativ unklar, wie sich die sozialen Bewegungen zu den Kandidat_innen positionieren. Die Bewegung für Frieden in Gerechtigkeit und Würde, die sich im April 2011 um den Schriftsteller Javier Sicilia gebildet hatte und seitdem für einen Strategiewechsel in der Sicherheitspolitik kämpft, war in den letzten Wochen hauptsächlich mit internen Prozessen beschäftigt. Sie versteht sich vor allem als Sammelbecken für Familienangehörige von Opfern eben der Gewalt, die der Einsatz des Militärs in der Bekämpfung des organisierten Verbrechens hervorgerufen hat. Daher kann man eine einheitliche Position zu den verschiedenen Präsidentschaftsanwärter_innen nicht unbedingt erwarten. Dennoch erklärte Sicilia jüngst, dass Peña Nieto „der Schlimmste von allen“ sei, da er „die Rückkehr zur Geringschätzung der Bürger“ und „eine Legalisierung des Verbrechens im weiteren Sinne“ bedeute. AMLO sei „der Beste“ und Josefina Vázquez Mota „eine gute Frau, eine ehrliche Frau“. Das Problem seien jedoch die Strukturen hinter den Kandidat_innen. Denn solange „nicht konsequent an der Transformation der staatlichen Strukturen gearbeitet wird“, werde Mexiko nicht aus dieser Krise der Korruption und Gewalt herauskommen.
In Chiapas, wo der Wahlkampf offiziell noch gar nicht begonnen hat, laufen dennoch die Kampagnen schon seit einiger Zeit auf Hochtouren. Vom Kandidaten mit den besten Aussichten auf das Gouverneursamt, Manuel Velasco Coello von der PVEM, kann sogar behauptet werden, dass er die letzten fünf Jahre bereits Werbung für sich gemacht hat. Der erst 32-jährige Senator hat in dieser Zeit fast jeden Tag eine bezahlte Anzeige in den Lokalzeitungen geschaltet. Diese kamen als ausschließlich positive Berichterstattung über seine politischen Aktivitäten und Meinung zu aktuellen Fragen daher. Als Anzeigen muss das für ‚normale‘ Zeitungsleser_innen nicht unbedingt ersichtlich sein, doch diese Methode ist eine mittlerweile gängige Praxis in den Printmedien. Selbst in der überregionalen linken Tageszeitung La Jornada hat sie Einzug gehalten, und auch die chiapanekische Regierung von Juan Sabines Guerrero hat sich ihrer ausführlich bedient.
„Güero“ Velasco, wie der junge Senator auch genannt wird, gilt als Sabines‘ Wunschkandidat. Es ist ein offenes Geheimnis, dass letzterer zu Beginn seiner Amtszeit die wichtigsten Medien des Bundesstaats mit Geschenken und Geld bedacht hat, um deren Berichterstattung zu beeinflussen und kritische Meldungen zu unterbinden. Insofern wäre die Medienkampagne von Velasco Coello gegen den Willen des amtierenden Gouverneurs gar nicht denkbar gewesen. Sabines hatte zwar versucht, seinen politischen Ziehsohn Yassir Vázquez bei der PRD als Kandidaten durchzusetzen, war damit aber gescheitert.
Dass der „Güero“ für die PVEM antritt und das mit Wohlwollen des amtierenden Gouverneurs, hat mit der chiapanekischen Eigenheit zu tun, dass hier die Parteizugehörigkeit eigentlich keine Rolle spielt. Sabines hatte bis kurz vor den Gouverneurswahlen 2006, für die er im Namen der PRD kandidierte, als Bürgermeister der chiapanekischen Hauptstadt Tuxtla Gutiérrez ein Parteibuch der PRI. Ähnlich wie damals bestimmte diesmal maßgeblich der politische Zirkel der Bundeshauptstadt die Kandidat_innen-Kür der PRD. Die Wahl fiel auf María Elena Orantes. Die ehemalige PRI-Senatorin hatte vergeblich darauf gesetzt, von ihrer Partei nominiert zu werden. Die PRI ließ jedoch aufgrund der Allianz zwischen PRI und PVEM Velasco Coello den Vortritt. So trat Orantes kurz darauf aus jener Partei aus. Weitere potentielle Anwärter_innen der PRI oder solche, die sich Chancen ausgerechnet hatten, begnügten sich letztlich mit einer Kandidatur für den Senat bzw. das Bundesparlament. Bei der PAN ist noch nicht entschieden, wer im Wettkampf um die Stimmzettel antritt. Da die Partei abgesehen von einigen sehr wenigen Bastionen aber keine Basis in Chiapas hat, wäre ein Sieg der PAN bei den Gouverneurswahlen wohl eine große Überraschung. Sowohl Velasco Coello als auch María Elena Orantes waren bei den eingangs erwähnten Veranstaltungen „ihrer“ Präsidentschaftskandidat_innen anwesend, durften aber aufgrund rechtlicher Bestimmungen keine Wahlwerbung in eigener Sache betreiben.
Doch wofür steht nun eigentlich Manuel Velasco? Abgesehen von allgemeinen Versprechen wie z.B. mehr Unterstützung für alleinstehende Mütter war von ihm bisher nicht viel zu hören. Wahrscheinlich ist aber, dass er die Politik von Juan Sabines fortsetzt, der vor allem Infrastrukturprojekte und den Ausbau des Tourismus-Sektors sowie die Entstehung von so genannten „Ländlichen Städten” gefördert hat. Dies meist ohne Rücksicht auf die Interessen der lokalen Bevölkerung; Protest und Widerstand wurde in den letzten Jahren entweder kooptiert oder unterdrückt. Die verschlechterte Situation von Menschenrechtsverteidiger_innen im Bundesstaat ist dafür nicht das einzige Zeichen, wenn auch das deutlichste. Insofern ist nach den Wahlen in Chiapas keine große Veränderung der Politik zu erwarten, die Frage ist eher, ob es schlimmer oder nicht ganz so schlimm wird wie unter dem amtierenden Gouverneur wird.
Bei den Präsidentschaftskandidat_innen führt derzeit Peña Nieto die Umfragen vor Vázquez Mota an, an dritter Stelle kommt López Obrador. Viele Beobachter_innen gehen davon aus, dass PRI-Kandidat tatsächlich der nächste Präsident wird. Obwohl eine Rückkehr zum alten PRI-Regime, das im Jahr 2000 nach 70 Jahren die Macht abgeben musste, unwahrscheinlich ist, kann man doch einen populistischen und zugleich autoritären Regierungsstil erwarten, wie er bei Peña Nieto in seiner Zeit als Gouverneur des Bundesstaates Mexiko zu sehen war. Absehbar ist zudem die Fortsetzung einer neoliberalen Politik, wie sie schon unter den Regierungen ab 1982 praktiziert wurde, als mit der Privatisierung von Staatsbetrieben begonnen wurde und Mexiko den Vorgaben supranationaler Institutionen wie dem Internationalen Währungsfond (IWF) und der Weltbank zu folgen begann. Wie lange aber die mexikanische Gesellschaft die Verschärfung sozialer Ungleichheit als Folge dieser Politik – die Militarisierung zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens – sowie die Repression von Protesten und Widerstand aushalten wird, ist fraglich.

Die Abenteuer von Sinzapatista

„He Junge, Schein!“ Ein Mann stößt mit seinen Schuhen den Jungen an, der auf einer Schachtel sitzt und schläft. Doch Tito wacht nicht auf. Die Skimaske, die der Junge während des gesamten Films nicht abnimmt, weist ihn als Schuhputzer aus. Er ist in einer Traumwelt, die sich immer wieder mit der Wirklichkeit vermischt.
Der Film Pacha spielt im Jahr 2003, während des Gaskrieges, als in den großen Städten Boliviens die Menschen in Massen für die Verstaatlichung der Gasreserven und gegen den amtierenden Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada, genannt Goni, demonstrierten. In den bürgerkriegsähnlichen Wirren begleitet der Film den jungen Schuhputzer auf der Suche nach seinem Arbeitsgerät und seinen Schuhen, die ihm während eines Nickerchens gestohlen wurden.
Seine Suche führt ihn durch ein revolutionäres La Paz, in dem abertausende Menschen aufbegehren gegen die unerträglichen Verhältnisse, in denen sie leben müssen. Dabei begegnet Tito einem kommunistischen Schuhmacher, der ihm ein Paar Sandalen schenkt und ihm den Spitznamen „Sinzapatista“ gibt. Wörtlich übersetzt heißt das „Ohne-Schumacher“, es ist aber auch eine Anspielung auf die mexikanischen Zapatisten. Und Tito alias Sinzapatista sieht ja auch aus wie deren Subcomandante Marcos, dessen Bild auf das T-Shirt des Schuhmachers gedruckt ist. So wie man eben dem Sub Marcos ähnlich sieht, wenn man eine Skimaske trägt.
Am verhängnisvollsten ist Sinzapatistas Begegnung mit einer scheinbar geistig verwirrten Obdachlosen. In der Traumwelt von Sinzapatista entpuppt sie sich als mystische, weise Frau, eine Verkörperung von Pacha Mama, der Mutter Erde. Sie führt ihn auf eine rätselhafte Reise durch die spektakulären Landschaften des andinen Hochlandes und schließlich ans Meer.
Der Film des mexikanischen Regisseurs Héctor Ferreiro läuft in der Sektion Generation Kplus, dem Kinderprogramm der diesjährigen Berlinale. Doch sind die Adressat_innen wohl weniger europäische Kinder als eher solche wie Sinzapatista. Die Bilder des Films sind bisweilen sehr drastisch und brutal, doch nichts, was ein bolivianischer Schuhputzer nicht ohnehin schon einmal erlebt hat. Dafür gibt es andere Szenen, die Dinge zeigen, die ein Schuhputzer aus der Großstadt La Paz vielleicht noch nie gesehen hat. Die Obdachlose/Pacha Mama führt Sinzapatista durch die spektakulärsten Landschaften Boliviens, zu den Salzwüsten bei Potosí, heißen Quellen, majestätisch-kahlen Tälern in den Hochanden und blumenbewachsenen Wiesen mit idyllischen Höfen.
So hat der Film eindeutig einen politischen und wohl auch pädagogischen Anspruch. Man könnte auch von Agitprop sprechen. Den Zuschauer_innen wird in den Traumsequenzen eine Idee davon gegeben, wie das buen vivir, das „gute Leben“ aussehen könnte. Mit diesem indigenen Konzept bezeichnen sowohl die bolivianische Regierung als auch die zahlreichen und vielfältigen sozialen Bewegungen Boliviens ihre Utopie von einer gerechten Gesellschaft. Doch wie soll man sich ein „gutes Leben“ vorstellen, wenn man tagtäglich mit dem Kampf um das eigene Überleben beschäftigt ist? Hier will der Film offenbar eine Imaginationshilfe geben, ein Traumfilm für bolivianische Schuhputzer_innen sozusagen. Die grandiosen und gut gemachten Naturaufnahmen des Films zeigen das Schöne, das auf der Welt noch existiert.
Doch bisweilen hat der Film auch seine Längen. Und bei den esoterisch angehauchten Lebensweisheiten, die Pacha Mama dem Sinzapatista mitgibt, fragt man sich, was wohl zehn- bis zwölfjährige Kinder mit diesem Film anfangen können. Auch die politische Botschaft ist so diffus wie penetrant in den Film eingebaut. Wenn sich in einer Traumsequenz von Sinzapatista historische Bilder unter anderem von Ché Guevara, toten US-Soldaten, Raketenstarts, dem Bau der Berliner Mauer und dem Schuhwurf auf George W. Bush aneinander reihen, wirkt das beliebig und unglaubwürdig als Traum eines etwa 10-Jährigen. Als am Ende seine mystische Reise Sinzapatista an den Strand führt und er so die nationalistische Utopie Boliviens vom Zugang zum Meer realisiert, wirkt es gar etwas lächerlich.
Dennoch handelt es sich um einen sehr interessanten Film. Die mexikanisch-bolivianische Produktion nutzt sehr einfache Mittel, was den Filmgenuss nicht immer erhöht, doch ist er ein wichtiges Dokument, welches das Selbstverständnis politischer Aktivist_innen in Bolivien künstlerisch artikuliert. Immer wieder wird die Handlung unterbrochen und man sieht Originalaufnahmen von den Protesten 2003 und Aussagen von Demonstrant_innen, in denen sie ihre Forderungen stellen: „Es reicht! Goni soll gehen! Wir, die Armen und historisch Entrechteten Boliviens, wollen nun an die Macht!“ Der Gaskrieg 2003 war das einschneidende Ereignis Boliviens, das die aktuelle Entwicklung des Landes prägt. Wer sich für das aktuelle Bolivien interessiert, sollte sich den Film daher auf jeden Fall ansehen.

Pacha // Héctor Ferreiro // 88 Minuten // Bolivien/Mexiko 2011 // Sektion Generation Kplus

Bewegte Territorien

Seit einem guten Jahrzehnt wählt Lateinamerika überwiegend links. Die Länder, in denen noch immer offen neoliberale Regierungen an der Macht sind, lassen sich mittlerweile an einer Hand abzählen. Den Wahlsiegen linker Politiker_innen vorausgegangen waren häufig massive Mobilisierungen sozialer Bewegungen, die in vielen Fällen bis heute die neuen Regierungen stützen und gegen Versuche eines rechten Rollbacks verteidigen. Gemeinsam ist vielen dieser Mobilisierungen, dass sie ohne straffe Organisierung stattfanden. Zeigt sich in Lateinamerika also ein aus emanzipatorischer Sicht zu begrüßendes Modell für das Zusammenspiel von Regierungen und Bewegungen? Mitnichten, argumentiert der uruguayische Bewegungsintellektuelle Raúl Zibechi in seinem bereits 2008 veröffentlichten und nun auf Deutsch erschienenen Buch Territorien des Widerstands. Nicht kurzfristige politische Erfolge, sondern die langfristige politische Dynamik in den Peripherien der lateinamerikanischen Metropolen ist das, was ihn interessiert. Territoriale soziale Beziehungen, die vor allem aus ländlichen Räumen bekannt sind, seien mittlerweile auch in den Armenvierteln der Städte zu beobachten. Auf diese Territorien bezogen, in denen die maßgeblichen Aufstände der letzten Jahre ihren Ausgangspunkt hatten, verwirft der Autor die aus dem europäischen und nordamerikanischen Kontext stammende Analysekategorie „soziale Bewegung“. Stattdessen schlägt er den Begriff „Gesellschaften in Bewegung“ vor. Diese verortet er in den autonomen und selbstverwalteten Räumen inmitten der hegemonialen Gesellschaftsform.
In diesen Territorien sieht Zibechi Widerstand gegen das bestehende System, aber auch konkrete Ansätze für nicht-kapitalistische Lebensformen, in denen sich Gebrauchswerte gegen Tauschwerte durchsetzen. Die verbreitete Meinung, die linken Regierungen hätten Räume der Partizipation für Bewegungen geöffnet, hält der Autor für zu kurz greifend. Vielmehr seien die Bewegungen heute schwächer und fragmentierter als je zuvor. Sozialprogramme und die Einbeziehung von Aktivist_innen in Regierungsarbeit führten zu einer Schwächung, Spaltung und Einhegung des Widerstands.
Im Gegensatz zu den Strategien rechter Regierungen sei dafür keine Repression nötig. Die staatliche Durchdringung der Armenviertel und die „Kunst, die Bewegungen zu regieren“ stelle jedoch einen ebenso „tiefgreifenden Angriff auf erkämpfte autonome Räume“ dar. Die „Hoffnung auf einen radikalen antikapitalistischen Wandel“ gehe somit nicht von Regierungen, sondern von diesen Territorien aus, in denen vielfältige soziale Beziehungen existierten, die als „Grundlage für eine Rekonstruktion der Gesellschaft“ dienen könnten.
Zibechi zeichnet in seinem Buch kein umfassendes Bild des Kontinents. Die Analyse ist, wie er selbst schreibt, vorläufig und wirkt dementsprechend teilweise fragmentarisch. Die konkreten Beispiele beziehen sich meist auf die Andenländer, den Cono Sur und die Zapatist_innen im mexikanischen Chiapas. Das Verhältnis zwischen Regierungen und Bewegungen scheint tatsächlich durchaus differenzierter zu sein. Aber Zibechi bietet theoretische und praktische Ansatzpunkte, um sich der emanzipatorischen Dimension der Armenviertel ein Stück weit anzunähern. Anstatt umfassende Antworten zu geben, wirft er selbst viele Fragen auf. Und zwar konsequent jenseits der Regierungen formuliert.

Raúl Zibechi // Territorien des Widerstands. Eine politische Kartografie der urbanen Peripherien Lateinamerikas // Assoziation A // Berlin/Hamburg 2011 // 176 Seiten // 16,90 Euro

Das letzte Mittel

Es ist das letzte Mittel, das ihnen geblieben ist. Sieben indigene politische Gefangene sind am 29. September im Gefängnis von San Cristóbal de Las Casas, gelegen im südlichen Bundesstaat Chiapas, in einen unbefristeten Hungerstreik getreten. Sie sind fest entschlossen, den Protest bis zu ihrer Freilassung fortzusetzen. Vier weitere gesundheitlich angeschlagene Gefangene, darunter der Lehrer Alberto Patishtan, unterstützen die Aktion mit einem täglichen zwölfstündigen Fasten. Wenig später schlossen sich zwei weitere Häftlinge aus anderen lokalen Gefängnissen der Protestaktion an, womit der Hungerstreik inzwischen von 13 Gefangenen aus vier Häftlingskollektiven geführt wird.
Die Umstände, unter welchen die Indigenen gefangen und bis zu 60 Jahren Gefängnis verurteilt wurden, sind haarsträubend. Alberto Patisthan beispielsweise wurde im Juni 2000 durch einen vermeintlichen Augenzeugen beschuldigt, an einem Hinterhalt gegen eine Polizeipatrouille beteiligt gewesen zu sein, bei dem 10 Polizisten starben. Der 40-jährige Pathistan, der als Grundschullehrer in der Region Altos arbeitete, war dem lokalen Bürgermeister von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) seit langem ein Dorn im Auge. So hatte Pathistan immer wieder Korruptionsfälle aufgedeckt, in die der Bürgermeister verstrickt war, und versucht, Leute dagegen zu mobilisieren. Gabriela Patishtan, die Tochter des Lehrers, betont im Interview, dass der Sohn des damaligen Bürgermeisters ausgesagt habe, dass der Zeuge gekauft und die Verhaftung von Alberto Patishtan ein abgekartetes Spiel gewesen sei. Tatsächlich nahm der angebliche Zeuge später von seiner Aussage Abstand, gilt heute jedoch als spurlos verschwunden.
Die aktuelle Aktion der Gefangenen orientiert sich an einem historischen Erfolg: Mit einem langen Hungerstreik im Jahre 2008 gelang es mehreren Dutzend politischen Gefangenen in Chiapas, ihre bedingungslose Freiheit wiederzuerlangen. Einzig Alberto Patishtan, der zu 60 Jahren Haft verurteilt wurde, verweigerte die Bundesregierung unter Präsident Felipe Calderón die Haftentlassung. Letztes Jahr wurde er dank der Intervention von zahlreichen solidarischen Personen zur Behandlung einer schwerwiegenden Augenkrankheit in das Spital Buen Vivir in der Hauptstadt des Bundesstaates, Tuxtla Gutiérrez, eingeliefert. Doch der Name des Krankenhauses („Gutes Leben“) steht im krassen Gegensatz zu den Erfahrungen des gefangenen Lehrers. Nicht nur blieb die Behandlung seines Augenleidens erfolglos, sondern auch die Haftbedingungen waren unerträglich: Während fünf Monaten wurde Patishtan mit Handschellen 24 Stunden am Tag an das Spitalbett gefesselt und sozial isoliert.
Die Tochter von Alberto Patisthan, Gabriela Patishtan, zeigt sich im Gespräch mit den Lateinamerika Nachrichten am ersten Tag des neuen Hungerstreiks sehr um die Gesundheit ihres Vaters und der anderen Hungerstreikenden besorgt. Zugleich betont die 20-jährige Jurastudentin aber, dass die Aktion ein Signal sei, „dass wir trotz allem weiterkämpfen, trotz der Folter, der Misshandlungen und der Gefängnisverlegungen weiterhin die Freiheit der politischen Gefangenen fordern”.
Der Fall von Alberto Patishtan, der inzwischen über 11 Jahre unschuldig im Gefängnis sitzt, ist symptomatisch für das marode Justizwesen Mexikos. Gemäß dem viel diskutierten Dokumentarfilm Presunto Culpable („Angeblich Schuldig“, verfügbar auf youtube.com) wurden über 90 Prozent der Gefangenen in Mexiko allein aufgrund von Zeugenaussagen verurteilt.
Unter den weiteren Hungerstreikenden sind zwei Gefangene aus dem Dorf Mitzitón, das der zapatistischen Anderen Kampagne nahe steht und so immer wieder in Konflikt mit den Behörden gerät. Vor allem durch ihren Widerstand gegen den Bau einer privaten Autobahn nach Palenque haben die Dorfbewohner_innen den Zorn der staatlichen Repräsentant_innen aus sich gezogen. Die beiden Tzotzil-Indigenen wurden wegen einer angeblichen Entführung im Jahr 2002 zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Tatsächlich hatten sie „nur“ gemäß den indigenen Gebräuchen einen Dorfbewohner wegen einer fehlenden Begleichung einer privaten Schuld vorübergehend festgenommen. Ein typischer Fall von Kriminalisierung der indigenen Selbstverwaltung.
In den ersten Tagen des Hungerstreiks war die einzige Frau, die an der Aktion beteiligt ist, besonders perfiden Einschüchterungen ausgesetzt: Das Gefängnispersonal drohte Rosa López Díaz, man werde ihr ihren zweijährigen Sohn wegnehmen, falls sie den Hungerstreik nicht abbreche. Dies gab die Versammlung der Organisationen der Anderen Kampagne in San Cristóbal bekannt, die die Hungerstreikenden unterstützt. Zudem habe die Gefängnisverwaltung versucht, die Gefangene zur Unterschrift von Dokumenten zu zwingen, deren Inhalt sie nicht kenne.
Am 7. Oktober konnte Alberto Patishtan aus dem Gefängnis heraus ein Telefoninterview geben: „Wir sind im neunten Hungerstreiktag und machen weiter. Wir empfinden einfach Wut und Zorn darüber, dass unschuldige Leute im Knast sind. Die Richter verurteilen nur auf Grund von fadenscheinigen Beweisen. Wir, und insbesondere die Compañera Rosa, erleiden auch Momente von Aufruhr aufgrund der Bedrohungen, aber wir müssen darüber stehen und weiter kämpfen”, so Patishtan. Im selben Telefoninterview gab der Grundschullehrer bekannt, dass der Arzt, welcher von Seiten der Gefangenen zur Überprüfung ihrer gesundheitlichen Verfassung angefordert wurde, in einem zweiten Anlauf Zugang zum Gefängnis bekam, nachdem ihm dies zuerst verweigert wurde.
Einen Tag später begannen die Familien der Hungerstreikenden und mit ihnen solidarische Organisationen wie das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas eine Dauerkundgebung auf dem Platz vor der Kathedrale San Cristóbals. Als eine der ersten solidarischen Stimmen war hier diejenige der Bewegung für einen Frieden mit Gerechtigkeit und Würde zu hören. Die Unterstützer_innen der Gefangenen hoffen, dass diese neue landesweite Bewegung, angeführt von dem Dichter Javier Sicilia (siehe LN 445/446), ihrem Anliegen größere Öffentlichkeit verschaffen kann. Denn im Vergleich zum weitgehend erfolgreichen Hungerstreik von 2008 ist heute eine große Lücke auf Seiten der Gefangenen zu spüren: Der im Januar dieses Jahres verstorbene Bischof Samuel Ruiz, der auch Präsident des Menschenrechtszentrums war, hatte sich sehr für die vorzeitige Entlassung der über 40 Hungerstreikenden eingesetzt. Eine der letzten öffentlichen Auftritte von Bischof Ruiz war die Übergabe eines nach ihm benannten Menschenrechtspreises an Alberto Patishtan.

Mit Zapatismus gegen Sarrazin

Der Zapatismus vereinnahmt jedes gesprochene, gesungene oder geschriebene Wort über ihn als Teil eines globalen Diskurses. Für die „Diskursguerilla“ aus dem lakandonischen Urwald ist dieses Verhältnis von Theorie und Praxis eine konstituierende Strategie. Selbst diese Zeilen stehen in einem solchen Verhältnis zu dem Aufstand im mexikanischen Chiapas, der 1994 als indigener Protest gegen das Freihandelsabkommen NAFTA begann und mit seiner neuartigen Rhetorik mehr als nur eine Projektionsfläche linker Weltanschauungen wurde. Er ist immer schon mehr als ein Kampf um indigene Rechte gewesen, denn die Aufständischen suchen stets den Dialog mit der Zivilgesellschaft, weit über Mexiko hinaus. So inspirierten die Zapatistas eine ganze Generation zu Alternativen jenseits des Neoliberalismus und prägten die globalisierungskritische Bewegung.
„Aus Gründen der weltweiten Aufmerksamkeitsökonomie“ scheint der globale Zapatismus in letzter Zeit an Momentum verloren zu haben. Dies nimmt der Wiener Soziologe und Kunsthistoriker Jens Kastner zum Anlass, seine bisherigen Aufsätze zu dem Thema zu überarbeiten, zu erweitern und in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Anhand des zapatistischen Mottos „Alles für alle – für uns nichts!“ skizziert der Autor den diskursiven Zapatismus als Vereinigung zweier ambivalenter emanzipatorischer Forderungen: Anerkennung kultureller Differenzen und soziale Gleichheit. Während Identität und Differenz den Ausgangspunkt zapatistischer Theorie bilden würden, bleibe das Ziel der sozialen Gleichheit fest im Blick. Diese „post-differenzialistische Perspektive“ des Zapatismus zeige exemplarisch, dass „partikularistische und universalistische Ansprüche keinesfalls so unvereinbar gegenüber stehen, wie die Begriffe im akademischen Diskurs oft gehandelt werden.“ Somit entsage der Zapatismus statischen, primär auf Identitäten rekurrierenden Konzeptionen von Kultur. Er lasse sich instruktiv gegen das ausgrenzende Gerede über „Wir“ und „die anderen“ des Rechtspopulismus anführen.
Kastner bezieht sich in diesem Zusammenhang auch auf die Anfang 2011 in der Jungle World geführte Debatte um den Geltungsanspruch eines linken Universalismus vor dem Hintergrund von Identität und Multikulturalismus. Die Diskussion hatte sich am Slogan „Alles für alle“ entzündet. Somit kann das Buch als Reaktion darauf gelesen werden, aber nicht ausschließlich. Kastner offenbart in den inhaltlich ineinanderfließenden Kapiteln ein fundiertes Wissen über die vielfältige Rezeption des Zapatismus, konzentriert sich dabei aber in erster Linie auf den akademischen Bereich und die Sozialtheorie. Hier habe, so die Kernthese des Buches, der Zapatismus neue Impulse für emanzipatorische Konzepte geliefert.
Die Denkanstöße für Pop und Pentagon werden vergleichsweise vernachlässigend behandelt, sodass eventuell durch den Titel geweckte Erwartungshaltungen nicht erfüllt werden. Mit analytischer Schärfe stellt Kastner dafür die bekannten Dimensionen des Zapatismus vor. So erfüllt das Buch auch die Funktion einer einsteigerfreundlichen Übersicht über den zapatistischen Diskurs. Es ist dem Autor zugutezuhalten, dass er in seinen Ausführungen verschiedene Forschungsansätze kritisch reflektiert, ohne dabei in wissenschaftstheoretische Problemstellungen fernab des eigentlichen Themas abzuschweifen.
Ob es Kastner gelingt, den Zapatismus wieder ins Gespräch zu bringen? Ein Anfang ist gemacht.

Jens Kastner // Alles für alle! Zapatismus zwischen Sozialtheorie, Pop und Pentagon // edition assemblage // Münster 2011 // 120 Seiten // 12,80 Euro

Hundert Jahre Vergeblichkeit

„Tierra y Libertad“ („Land und Freiheit“) lautete die zentrale Forderung, für die Hunderttausende mexikanische Landlose, Kleinbauern und Kleinbäuerinnen vor hundert Jahren in die Revolution (1910 bis 1920) zogen. Obwohl das daraus entstandene politische System keinesfalls zu einer gerechten Landverteilung führte, brachte die Revolution immerhin die Stärkung des ejido-Systems und somit Landzugang für einen großen Teil der mexikanischen Landbevölkerung mit sich. Dabei ist das ejido keine Erfindung der Mexikanischen Revolution, sondern eine juristische Figur aus der Kolonialzeit, als indigenen Bäuerinnen und Bauern sowie Siedler_innen kleine Landparzellen zugestanden und in lokale Verwaltung gegeben wurden. Ursprünglich bezeichnete ejido in Spanien Gemeindeflächen außerhalb des Ortes.
Im (post-)revolutionären Mexiko galt ejido-Land als Teil des „sozialen Landsektors“, es blieb im staatlichen Besitz und wurde den Nutzer_innen, den ejidatarios, zur zeitlich unbegrenzten gemeinschaftlichen Nutzung überlassen. Durch seine Unverkäuflichkeit war es den kapitalistischen Warenkreisläufen über den Handel mit Landflächen in gewisser Weise entzogen. Die bis heute gültige Verfassung von 1917 schrieb in Artikel 27 die Form des ejido als gemeinschaftlichen Landbesitz fest. Dabei hatte die Revolution nicht sofort einen grundlegenden Wandel in der Struktur des Landbesitzes gebracht, wie die revolutionären Bauernbewegungen um Emiliano Zapata und andere lokale Anführer damals immer wieder gefordert hatten. Erst unter der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas (1934 bis 1940) kam es mit der Verteilung von 11.347 ejidos, einer Fläche von etwa 20 Millionen Hektar, zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensbedingungen vieler Menschen auf dem Land.
Wirklich kollektiv gewirtschaftet, wie von Cárdenas angedacht, wurde allerdings nur in einer Minderheit der ejidos und regional sehr unterschiedlich. Der Großteil der ejido-Familien bebaute jeweils eine kleine Parzelle, während politische Partizipation und Konfliktlösungen über die ejido-Verwaltung als lokaler Organisationseinheit funktionierten. In der offiziellen Revolutionsrhetorik spielten die ejido-Wirtschaft und die Vorstellungen über das ländliche Mexiko eine wichtige Rolle – und durch die Organisation der ejidos fungierten diese auch als ländliche Unterstützungsbasis der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI), die jahrzehntelang quasi als Staatspartei regierte.
Es sollte nicht aus dem Blick geraten: Über Jahrzehnte hatte Mexiko eine weit gerechtere Landverteilung als die meisten anderen lateinamerikanischen Länder. Dennoch waren die Phasen in der mexikanischen Geschichte nur kurz, in denen die Agrarpolitik dem Revolutionsmythos annähernd gerecht wurde. Staatliche Unterstützung war fast immer auf Agrarunternehmen gerichtet, die eine „moderne“, technisierte Landwirtschaft betrieben. Der ejido-Sektor und der kleinbäuerliche Landbesitz mit Parzellen von unter fünf Hektar beschäftigten noch in den 1960er Jahren 70 Prozent der ländlichen Arbeitskräfte, bekamen aber nur 38 Prozent der Agrarinvestitionen ab. Die ländliche Armut war (und ist) groß. Häufig reichte das, was eine Familie über die ejido-Parzelle erwirtschaften konnte, nicht zum Leben und musste doch wieder durch die Arbeit auf großen haciendas aufgebessert werden. Die alten Abhängigkeitsverhältnisse blieben also oft bestehen; häufig behielten die hacendados die produktivsten Ländereien und das Monopol auf Infrastruktur und Weiterverarbeitung, etwa in der Zuckerindustrie. Neue Abhängigkeitsverhältnisse gegenüber der PRI kamen hinzu. Immer wieder wurde das Ende der Landverteilung verkündet. Der letzte größere Versuch der Landverteilung fand Anfang der 1970er Jahre statt, als der Nahrungsmittelbedarf des Landes längst wieder teilweise mit Importen gedeckt werden musste: Unter Präsident Echeverría (1970 bis 1976) wurden noch einmal circa sechs Millionen Hektar Land verteilt.
Vor allem im Zuge der radikalen Liberalisierungspolitik, die der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank dem mexikanischen Staat seit Ausbruch der Schuldenkrise 1982 verordnet hatten, verlor das ejido-System kontinuierlich an staatlicher Unterstützung. 1992 war für die mexikanischen Bäuerinnen und Bauern sowie alle Landlosen das entscheidende Jahr, als Präsident Salinas de Gortari die Veränderung des Artikels 27 der Verfassung durchsetzte: ejido-Land war ab sofort nicht mehr unverkäuflich und die Verteilung von Land wurde für endgültig beendet erklärt – obwohl das Ministerium für Agrarreform bis heute existiert. Umgesetzt wurde die Verfassungsänderung über Programme, welche die Weltbank mit entworfen hatte: Entscheidend war dabei das Programm PROCEDE, das vor allem Parzellen registrieren und zertifizieren, Rechte auf die Nutzung von Gemeindeland festlegen und individuelle Besitztitel festschreiben sollte.
In den von der Weltbank vorangetriebenen marktgestützten Landreformen der 1990er Jahre, die laut Plan auch in Brasilien, Südafrika oder Kolumbien zu ländlichem Wohlstand verhelfen sollten, spielte die geregelte Enteignung ungenutzter Flächen in Privatbesitz, wie sie in früheren Initiativen zur Landreform immer mitdiskutiert – seltener durchgesetzt – worden waren, keine Rolle mehr: Die Umverteilung von Land sollte über Kauf und Verkauf von Parzellen auf freiwilliger Basis geschehen und so einen dynamischen Markt für Land erzeugen. Denn ein Grund für die ländliche Armut, so sah es die Weltbank, wäre eben das Fehlen dieses dynamischen Marktes, der für eine ausgeglichenere Verteilung des Landbesitzes und eine höhere Produktivität des bewirtschafteten Landes sorgen würde.
Für die ejidatarios bedeuteten die individuellen Besitztitel vor allem eine Privatisierung gemeinsam verwalteten Landes. Die Verfassungsänderung stellte die Idee des „sozialen Landsektors“ auf den Kopf: „In diesem Gesetz gibt es keine rechtliche Grundlage für soziale Modelle des Landbesitzes“, lautete eine weit verbreitete Kritik Anfang der 1990er Jahre. Dennoch: Mit 84 Prozent hat der Großteil der ejidatarios und gemeinschaftlich Wirtschaftenden am Prozess der Zertifizierung über PROCEDE teilgenommen – wenn auch nur 65,7 Prozent der ejido-Flächen zertifiziert wurden. Besonders größere und in Oaxaca viele kollektiv bewirtschaftete ejidos (tierras comunales) nahmen nicht am Programm teil, um den kollektiven Besitz zu bewahren. Gleichzeitig ist es offensichtlich über PROCEDE nicht gelungen, Besitztitel vollständig festzuschreiben; Konflikte über die Begrenzungen von ejido-Land sind heute an der Tagesordnung. Laut Ana de Ita, eine der wenigen Autor_innen, die zu Landkonzentration nach der Reform arbeiten, haben gerade mal 0,43 Prozent der ejidatarios vollständigen Privatbesitz aus ihrem Land gemacht. De Ita vermutet diejenigen vor allem am Rand von Städten, in der Hoffnung, ihre Parzellen teurer verkaufen zu können.
Die Zurückhaltung bei der Nachfrage nach Besitztiteln versuchte die Weltbank damit zu erklären, dass auf privates Land Steuern erhoben würden. Deren Autoren_innen, die offensichtlich nicht begreifen können, wieso gerade in Oaxaca, Guerrero und Chiapas – Bundesstaaten mit einer großen indigenen Bevölkerung – die Akzeptanz von PROCEDE sowie der Privatisierung kleiner und kleinster Parzellen so gering war, schreiben in einem Bericht von 2001: „Es gibt, wenn überhaupt, kaum Unterschiede zwischen zertifizierten ejidos mit großer indigener Bevölkerung und denen in nicht-indigenen Gemeinden. [..] Die zögerliche Annahme von PROCEDE in indigenen Gemeinden ist auf Konflikte, Ungleichheiten im Zugang zu Land und Ressourcen, und das fehlende Humankapital und wirtschaftliche Potential zurückzuführen“. Wie radikal der Wandel für viele kollektiv wirtschaftende Gemeinden gewirkt haben muss, wird aber dann deutlich, wenn Land nicht nur als tierra, als zu bewirtschaftendes Gut, sondern auch als territorio verstanden wird, ein Raum, der als zentraler Bezugspunkt des Gemeindelebens Identität birgt. Land in Kollektivbesitz ist häufig in langen Kämpfen errungen worden und funktioniert auch als soziales Netz. Die meisten zusätzlichen Aktivitäten richten sich auf den lokalen Konsum und Verkauf, als Nebenquelle für Einkünfte. Die gesellschaftliche Rolle von Land geht weit über ein einfaches Produktionsmittel hinaus.
Im Grunde gibt es zwei Sichtweisen zur Bedeutsamkeit der Änderung des Artikels 27. Die eine lautet, diese habe nur eine Entwicklung fort- und festgeschrieben, die bereits seit den 1960er Jahren die ejidos immer schlechter gestellt habe. Zudem sei ejido-Land schon seit Jahrzehnten illegal verpachtet worden. Gleichzeitig ist aber beispielsweise aus zapatistischen Gemeinden in Chiapas zu hören, dass die Verfassungsänderung durchaus als entscheidender Schnitt begriffen wurde, und die Angst ihr gemeinschaftlich bewirtschaftetes Land zu verlieren, ein wesentlicher Grund für den Aufstand 1994 war. So äußerte Subcomandante Marcos in jenem Jahr gegenüber der Zeitung La Jornada: „Als die Regierung die brillante Idee hatte, den Artikel 27 zu reformieren, wurde das zu einem mächtigen Katalysator in den Gemeinden. Diese Reformen haben jede legale Möglichkeit untergraben, zu Land zu kommen“. Die Auswirkungen waren also unterschiedlich, je nachdem, inwieweit die ejido-Wirtschaft in der Region wirklich umgesetzt worden war – und wie viele Landlose dort lebten. Denn mit dem endgültigen Stopp der Verteilung von ejido-Land gab der Staat auch das letzte Bemühen auf, den demografischen Veränderungen gerecht zu werden. So wuchs die mexikanische Bevölkerung von knapp 20 Millionen im Jahr 1940 bis 1990 auf über 80 Millionen (heute circa 112 Millionen).
Vor allem aber hat das Zusammenspiel mit den Konsequenzen des Nordamerikanischen Freihandelsvertrags NAFTA, der 1994 in Kraft trat, die Bedingungen für Landbesitz nachhaltig verändert. Nämlich die Tatsache, dass kaum eine mexikanische Kleinbauernfamilie noch vom Anbau von Mais und Bohnen für den mexikanischen Markt überleben kann, weil dieser von Mais aus industrieller US-Produktion verdrängt wurde. Zudem öffnete die Regierung den ejido-Sektor seit den 1980er Jahren sukzessive für ausländische Direkt­investitionen: Joint Ventures sollten zwischen ejidatarios und Privatwirtschaft entstehen. Mit dem industriellen Anbau etwa von Ölpalmen für Agrosprit in Chiapas ergeben sich damit auch im Süden Mexikos ganz neue Räume für Investitionen.
Das mexikanische Aktionsnetz gegen den Freihandel RMALC weist darauf hin, dass heute zwar nicht der Verkauf, aber die Verpachtung von ejido-Land sehr weit verbreitet ist. „Leute, die von den Erträgen der kleinen ejido-Parzellen nicht mehr leben können, wandern aus und verpachten teilweise an Unternehmen. Die Pacht ist meistens lächerlich gering“, so ein Sprecher. Für die Agrar­unternehmen scheint dies der günstigste Weg zu Land zu sein; wer an sie verpachtet, bekommt die Böden, wenn überhaupt, meist ausgelaugt zurück. Obwohl also die meisten Kleinbäuerinnen und Kleinbauern ihr Land nicht verkauft haben, sorgten diese Faktoren dafür, dass viele ihr Land verlassen haben. Sie gehören zu den Hunderttausenden Migrant_innen, die „auf der anderen Seite“ des Zauns, in den USA, zum Beispiel als Tagelöhner_innen in der Ernte arbeiten.
Unterstützungs-Programme für Kleinbäuerinnen und Kleinbauern gibt es kaum. Zwar wurde als cash-transfer-Programm für mexikanische Landwirt_innen das Programm Procampo eingeführt, das die erwarteten Einkommensverluste durch NAFTA abfedern sollte. Doch Subventionen und staatliche Hilfen konzentrieren sich meist in den oberen Einkommensschichten und im kommerziellen Anbau. Die liberalen Strukturanpassungsprogramme hatten als ein zentrales Element in Mexiko nicht nur die „Klärung“ privater Eigentumsrechte. Mit ihnen wurden auch die speziell für den ländlichen und ejido-Bereich gedachten Kreditinstitute „verschlankt“ oder abgebaut. Ohnehin schwindet nicht nur die wirtschaftliche Grundlage; auch wenn das Land anderweitig genutzt werden soll, müssen die Leute gehen: „Überall werden Leute enteignet, sei es über geringe Entschädigungszahlungen oder über Drohungen und Repression und sogar grupos de choque (bezahlte Schlägerbanden; Anm. d. Red.), vor allem dort, wo Bergbau eine Rolle spielt oder Staudämme gebaut werden sollen“, so ein Sprecher der Mexikanischen Liga für Menschenrechte. So setzen sich Privatisierung und Konzentration von Landbesitz langsam wieder durch. Und hundert Jahre, nachdem sich die arme Landbevölkerung für „Land und Freiheit“ der Revolution anschloss, ist diese Forderung für die Mehrheit ihrer Nachkommen weiter aktuell.

Mein Pakt, dein Pakt

Seit Jahren lebt Mexiko in einem absurden Krieg, den Präsident Felipe Calderón zu Beginn seiner Amtszeit Ende 2006 erklärt hat. Ein Krieg, den die Regierung und die großen Medien als Kreuzzug gegen den Drogenhandel und für mehr Sicherheit präsentiert haben, einen Krieg gegen das organisierte Verbrechen. Doch die Realität, in der die große Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung lebt, ist eine andere. Sie ist bestimmt von der herzzerreißenden Traurigkeit und dem Schmerz, den der Tod von Tausenden von Menschen in diesem Krieg auslöst. Die Gewalteskalation hat seit 2006 mehr als 40.000 Menschen das Leben gekostet; mehr als 10.000 sind verschwunden. Dies hat zu einem Leben in ständiger Angst geführt. Eine Angst nicht nur vor anonymen Verbrechern, die in dunklen Gassen lauern, sondern vor allem vor Verbrechern, die im Schutz von Justiz und Staat agieren.
Doch in diesem desillusionierenden Umfeld ist seit einigen Wochen eine sehr heterogene soziale Bewegung entstanden, die unter dem Banner des Pazifismus auf die Straßen geht. Die Menschen machen ihrer Empörung über den Terror Luft, der das Land beherrscht. Und obwohl in Mexiko grausame Verbrechen seit langem auf der Tagesordnung stehen, geht die Entstehung dieser Bewegung auf ein einzelnes Verbrechen zurück.
Am 28. März dieses Jahres sorgte die Nachricht einer grausamen Entdeckung für Aufmerksamkeit. An der Autobahn kurz vor der Stadt Cuernavaca, eine Autostunde südlich von Mexiko-Stadt, fand man die Leichen von sieben jungen Menschen, die offensichtlich gefoltert und erstickt worden waren. Unter den Ermordeten befand sich auch Juan Francisco Sicilia, 24 Jahre alt. Dessen Vater, Javier Sicilia, ist ein in Mexiko bekannter Dichter, der der Befreiungstheologie nahe steht und regelmäßig für die zwei wichtigsten Printmedien der mexikanischen Linken schreibt, die Zeitung Jornada und die Zeitschrift Proceso. Nach dem Tod seines Sohnes verkündete Sicilia seinen Abschied von der Poesie: „Die Welt ist des Wortes nicht würdig, ich kann keine Poesie mehr schreiben, die Poesie existiert nicht mehr in mir.“ Sein Schmerz bewegte das ganze Land.
Um Sicilia formierte sich daraufhin eine Art Avantgarde. Hauptsächlich bestand sie aus Freunden und MitarbeiterInnen, die alle auf die eine oder andere Weise dem progressiven künstlerisch-intellektuellen – und offenbar auch christlichen – Zirkel im zentralmexikanischen Bundesstaat Morelos angehören. Gemeinsam organisierte diese Gruppe Demonstrationen und Kundgebungen vor allem in Cuernavaca. Rasch breitete sich die entstehende soziale Bewegung aber in ganz Mexiko aus. Ihr Ziel: ein Frieden, der auf Gerechtigkeit und Würde basiert.
Die improvisierte Mobilisierung brachte – erstmals seit langem – reformistisch-progressive Sektoren der gemäßigten Linken, die auf Wahlerfolge setzen, mit denen der radikalen Linken zusammen, wie MarxistInnen, AnarchistInnen und ZapatistInnen, denen antikapitalistische Projekte gemein sind. Im April fanden landesweit immer wieder von sehr unterschiedlichen Gruppen organisierte Demonstrationen für den Frieden statt. Sogar in den Regionen, in denen es kaum organisierte Bewegungen gibt und Straflosigkeit und Unsicherheit herrschen, gingen die Menschen zu Hunderten und Tausenden auf die Straße.
Später konzentrierte sich die intensive Mobilisierung auf einen Demonstrationszug, zu dem Sicilia aufgerufen hatte. Ausgangspunkt war am 5. Mai Sicilias Heimatstadt Cuernavaca; drei Tage später sollte er in Mexiko-Stadt ankommen. Parallel dazu fanden Solidaritätsdemonstrationen in ganz Mexiko und weltweit statt. Die Demonstration spiegelte den christlich-gandhianischen Charakter wider, den Sicilia und seine Gruppe für die Mobilisierung angestrebt hatten: Zu Tausenden absolvierten die Teilnehmenden den gesamten Weg schweigend.
Bei der Ankunft in Mexiko-Stadt am 8. Mai hatte sich der Marsch in ein riesiges Menschenmeer verwandelt, von mehr als 100.000 TeilnehmerInnen war die Rede. Bei der Abschlusskundgebung – inmitten von Sprechchören, die den Rücktritt von Präsident Felipe Calderón forderten – rief Sicilia, umgeben von Dutzenden Angehörigen von Ermordeten, zu einer Karawane Richtung Ciudad Juárez auf. Die Stadt an der Grenze zu den USA ist Epizentrum des Schmerzes, Symbol für die Straflosigkeit und Grausamkeit, unter denen die mexikanische Bevölkerung leidet. Ziel solle sein, am 10. Juni in dieser gefährlichsten Stadt der Welt einen „nationalen Pakt“ zwischen den Behörden und der Zivilgesellschaft zu schließen. Die sechs beinhalteten Forderungen könnten laut Sicilias Gruppe einen Weg zur Transformation des Landes weisen und konzentrierten sich auf das Sichtbarmachen der Opfer und deren Familien, ein Ende der aktuellen Kriegsstrategie der Regierung, ein Ende der Korruption und der Straflosigkeit, ein entschiedenes Vorgehen gegen die ökonomischen Wurzeln der organisierten Kriminalität, die Wiederbelebung des sozialen Zusammenhaltes sowie darauf, den Weg in Richtung einer partizipativen und repräsentativen Demokratie zu gehen.
Den ganzen Mai über entstanden unterschiedliche Foren, vor allem in Universitäten und anderen Bildungsstätten, in denen die Vorschläge Sicilias und seiner Gruppe diskutiert wurden. Mehrheitlich lehnten diese Foren die Idee ab, einen Pakt mit der Regierung zu schließen. Zentraler Kritikpunkt dabei war, dass ein solcher impliziere, den Präsidenten als legitimen Gesprächspartner zu akzeptieren – obwohl dieser doch ein Hauptverantwortlicher für das Problem sei. So begründete Julián Contreras von der Zivilbürgerlichen Volksfront Ciudad Juárez die Ablehnung seiner Organisation mit einer langen Liste staatlicher Repression gegen die BewohnerInnen seiner Stadt. Unter anderem sei der Staat direkt oder indirekt verantwortlich für die Ermordung von AnführerInnen verschiedener lokaler Bewegungen und Organisationen. Es gebe deshalb keinerlei Spielraum für Verhandlungen mit der Regierung. Viele Gruppen vereinbarten daher, zwar mit Delegierten an der Karawane teilzunehmen, jedoch mit dem Mandat, dass ein Abkommen nur zwischen BürgerInnen auf Augenhöhe diskutiert und beschlossen werden könne. Ein Konflikt mit der Gruppe um Sicilia war damit zwar bereits vorprogrammiert. Offensichtlich überwogen aber für viele AktivistInnen die Möglichkeiten, die die Karawane mit einem großen Medieninteresse bot, deren Konfliktpotential.
Am Morgen des 4. Juni setzte sich die Karawane in Bewegung, 700 Personen verteilt auf 12 Busse und Dutzende Autos. Auf dem knapp 3.000 km langen Weg gen Juárez wurden Demonstrationen und Treffen organisiert, die die Probleme der jeweiligen Region sichtbar machen und den Berichten der Opfer Raum geben sollten. Die Reise war lang und kompliziert, mit ständigen Verzögerungen. Station wurde in Mexiko-Stadt, Morelia, San Luis Potosí, Zacatecas, Durango, Saltillo, Monterrey, Torreón, Chihuahua und schließlich in Ciudad Juárez gemacht. Einige dieser Städte waren noch vor kurzem kosmopolitische Orte, deren BewohnerInnen in relativer Ruhe leben konnten. Doch in wenigen Jahren haben sie sich in Städte verwandelt, in denen die Angst vor der unmenschlichen, grausamen Gewalt des Drogenhandels permanent ist. Die Drogenkartelle haben den Tod systematisch in eine Botschaft verwandelt und Verstümmelung in ihr Medium. Bilder von verstümmelten Leichen, die von Brücken baumeln, und von abgetrennten Extremitäten auf öffentlichen Plätzen sind alltäglich geworden.
Je näher die Karawane ihrem Ziel kam, desto mehr sorgten die Frustration und der Schmerz als ständige Begleiter der Karawane für eine Atmosphäre schrecklicher Anspannung. Tag für Tag, früh und spät hörten die TeilnehmerInnen Zeugenaussagen über den alltäglichen und systematischen Missbrauch durch Polizisten und Soldaten, die in ihrer Menschenverachtung den schlimmsten Verbrechern nicht nachstehen. So der Bericht eines Einwohners von Monterrey, der laut seinen Angehörigen inzwischen von Marinesoldaten ermordet wurde: „Ich bin 26 Jahre alt, verheiratet und habe drei kleine Kinder. Am 21. März 2010 wurde ich von der lokalen Polizei festgenommen mit der Behauptung, ich sei ein Drogendealer. Doch nie wurde ich vor Gericht gestellt oder verurteilt, nie hat eine offizielle Anhörung stattgefunden. Während meines Abtransports kam es zu einer Schießerei zwischen Polizei und einer bewaffneten Gruppe, bei der ich verletzt wurde. Marinesoldaten haben mich dann in einem Helikopter abtransportiert, der Chef der Polizei war dabei. Später wurde ich geschlagen und gefoltert. Meinen leblosen Körper bedeckten sie, und am nächsten Tag fand man mich auf einem Brachgelände. Die Marine behauptet hingegen, sie hätten mich in ein Krankenhaus gebracht und der Polizei übergeben.“ Frauen im Bundesstaat Chihuahua berichteten von der massenhaften sexuellen Gewalt gegen sie, die von Polizisten, Soldaten und Bandenmitgliedern verübt wird, ohne dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden.
Im Norden Mexikos sieht man nicht selten Hügel, auf denen ein riesiges „Z“ prangt, als Symbol für die Vorherrschaft eines der grausamsten Drogenkartelle, der „Zetas“. Sie sind ein klarer Beweis dafür, wie die Herrschaft in Mexiko aufgeteilt ist und dass das Land nicht nur vom Staat kontrolliert wird. Die nördlichen Bundesstaaten zeigen, dass die Feuerkraft der Kartelle denen der Polizeibehörden und sogar der Armee überlegen ist, und sie diese in Schach halten können. Doch was bedeutet das? Mehr Polizei, mehr Soldaten? Auf keinen Fall! Denn die „Zetas“ entstanden ursprünglich aus Eliteeinheiten der mexikanischen Armee, die von ausländischen Spezialisten für die Aufstandsbekämpfung trainiert wurden. Wir brauchen nicht noch mehr Armee.
Bei den Treffen der Karawane zeigte sich deutlich die Realität im Land. Öffentliche Plätze, die in anderen Zeiten der Bevölkerung zur Erholung dienten, sind inzwischen aus Angst vor Gewalt und Unsicherheit entvölkert. Dennoch verließen diesmal hunderte, manchmal tausende mutige Menschen ihre Häuser, um ihre Empörung auszudrücken und gemeinsam den Verlust von so vielen Söhnen und Brüdern, Müttern und Ehefrauen zu beweinen.
Die Teilnehmenden der Karawane waren ZeugInnen der unmenschlichen Gewalt, die den Norden Mexikos beherrscht. Institutionen, die die Integrität der Bevölkerung schützen könnten, gibt es kaum. In Ciudad Juárez, wo ein Drittel aller Morde in Mexiko passieren, begann die Zielrichtung der Bewegung sich zu verwischen – die Karawane traf auf die Realität der dortigen Bewohner. Bei allen Stationen hatte die Karawane Verspätung; doch in Juarez war es keine Verspätung von Stunden oder Tagen, sondern die Initiative kam in jeder Hinsicht zu spät, Jahre zu spät.
Zwar konnte die Mobilisierung durch das Medieninteresse die brutale Fäulnis sichtbar machen, die die mexikanische Bevölkerung zerfrisst und die Gewalt, die alle MexikanerInnen verinnerlicht haben. Doch die Bewegung konnte nicht mehr sein als ein aufmerksames Ohr und eine brüderliche Umarmung. Die hoffnungsvollen Menschen bemerkten schnell, dass die Aktionen nicht mehr waren als Symbole in einem Meer von Sinnlosigkeit. Symbole, die sicherlich sehr notwendig sind, der chaotischen Situation aber nicht gerecht werden können.
In Juárez sind die Menschen schon viele Schritte weiter. Wie die KolumbianerInnen haben sich die JuarenzerInnen daran gewöhnt, über Gewalt und Ungerechtigkeit beim Morgenkaffee zu sprechen. In Juárez ist schon alles passiert – von Feminicidios (systematische Frauenmorde, siehe LN 444), dem Massaker an 18 Jugendlichen Anfang 2010, bis hin zu zahlreichen ermordeten MenschenrechtsaktivistInnen. In Juárez haben die Menschen ihre Erfahrungen mit den Behörden gemacht; sie erwarten nichts mehr von der Regierung und sind nicht bereit, sich erneut betrügen zu lassen. So äußerte ein Bewohner auf dem Treffen mit der Karawane: „Wir hatten hier schon einen Pakt mit der Regierung, Calderón war schon hier, und sehen Sie wie es uns geht, alles ist beim alten oder schlimmer. Señor Sicilia, wir haben es hier schmerzlich gelernt, mit dem Blut verhandelt man nicht.“
In Juárez vollzog sich die Spaltung der Karawane, die schon seit Beginn in ihr angelegt war. Die TeilnehmerInnen der Karawane erarbeiteten am 10. Juni dort in Arbeitsgruppen mit hunderten von interessierten EinwohnerInnen ein gemeinsames Dokument als Ergebnis der Arbeitsgruppen. Zentrale Forderungen darin waren, das Land sofort zu demilitarisieren, Präsident Calderón und verschiedene seiner Mitarbeiter vor Gericht zu stellen, die Bankgeschäfte transparent zu gestalten sowie die Drogen zu entkriminalisieren. Diese Punkte sahen die AktivistInnen als unerlässlich, um dem Kampf eine breitere Basis zu geben. Doch über den Charakter der Dokumente gingen die Meinungen weit auseinander. Ein Teil der TeilnehmerInnen betrachtete das Abschlussdokument als neuen Pakt, auf dessen Grundlage künftige Gespräche zu führen seien. Beim Initiator der Karawane, Sicilia, stießen die Ergebnisse aber auf Ablehnung, besonders die Punkte der sofortigen Demilitarisierung und des politischen Gerichtsverfahrens gegen Calderón. Denn die Strategie, die die Gruppe um Sicilia seit Beginn der Bewegung entworfen hatte, richtete sich schließlich auf die Möglichkeit, das direkte Gespräch mit Calderón zu suchen. Diese Möglichkeit wäre natürlich dahin, verfolgte seine Bewegung explizit eine Doppelstrategie gegenüber dem Präsidenten. Nur einen Tag später erklärte Sicilia, der einzig gültige Pakt sei derjenige, der im Mai auf der Großdemonstration in Mexiko-Stadt formuliert wurde. In einer späteren schriftlichen Stellungnahme begründete er: „Was in Juárez verlesen wurde, waren die Protokolle von Arbeitsgruppen. […] Bei der Verlesung wurde gesagt, dass es sich um einen vorläufigen Text handele und noch viele andere Dinge fehlen würden, für die es eine breitere Konsultation benötige. Zu sagen, es handele sich um ein Abkommen, ist einfach lächerlich.“
Dieser Schritt von Sicilia und seinen MitstreiterInnen wurde von einer ganzen Gruppe der TeilnehmerInnen als unilaterales, autoritäres Vorgehen empfunden und erzeugte in der Karawane ein Klima großer Enttäuschung. Die Gruppe hatte den ganzen Weg der Karawane im Glauben zurückgelegt, dass ihre Sichtweisen gehört und respektiert werden würden. Einige TeilnehmerInnen bezeichneten Sicilia gar als Verräter an der Karawane. Andererseits gab es auch Gruppen der radikalen Linken, die den „Pakt“ von Juárez und dessen Zustandekommen kritisierten. So hätten zum Beispiel Familienangehörige der Opfer vielen Punkten des Dokuments nur zugestimmt, um Zwist zu vermeiden. Insgesamt verweist der Streit um die Bedeutung des Treffens in Juárez vor allem auf die Schwierigkeit eines sehr heterogenen Bündnisses, eine gemeinsame Handlungsbasis zu finden.
Trotz aller Uneinigkeit fand am 23. Juni im Schloss von Chapultepec in Mexiko-Stadt unter enormer Medienpräsenz ein öffentliches Treffen zwischen Sicilia, begleitet von seinen engsten MitstreiterInnen, und Calderón sowie einiger Minister statt. Eine kleine Gruppe von Familienangehörigen der Opfer erhielt dabei die Gelegenheit, emblematische Fälle von Ungerechtigkeit und Straflosigkeit öffentlich zu machen, die sie durch staatliche Stellen erlitten hatten. Sicilia forderte von Calderón eine Entschuldigung für die über 40 000 Toten und die schrittweise durchzuführende Demilitarisierung des Landes. Doch Calderón erklärte seinerseits: „Ich bitte nur um Entschuldigung für die Unschuldigen, die gestorben sind, aber nicht dafür, die Armee gegen Verbrecher eingesetzt zu haben. Ich bedauere es, dies nicht früher und stärker getan zu haben.“
Das dreistündige Treffen endete mit unklaren Ergebnissen. In die Fälle, bei denen Menschen Calderón persönlich um strafrechtliche Aufklärung bitten konnten, ist dem Anschein nach Bewegung gekommen. Doch die Mehrheit der Betroffenen hatte diese Möglichkeit nicht. Für sie ist Gerechtigkeit weiterhin in weiter Ferne. Am Ende vereinbarten Sicilia und Calderón, eine Kommission zu bilden, die ein weiteres Treffen in drei Monaten vorbereiten soll. Und während geredet wird, vergeht die Zeit und die Leute sterben weiter. Sei es am Hunger – oder bestialisch ermordet in dem absurden Krieg, in den die Regierung das Land geführt hat.

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