Gegenöffentlichkeit schaffen

Informationen aus Lateinamerika sind wieder gefragt. Nachdem das fälschlicherweise ausgerufene „Ende der Geschichte“ Anfang der 1990er Jahre die meisten sozialen Bewegungen des amerikanischen Kontinents in eine Art kollektiver Schockstarre versetzt hatte, schrumpfte auch hierzulande das Interesse an Lateinamerika zunächst rapide. 1994 vermochten die ZapatistInnen mit ihrem „Ya Basta“ vom Süden Mexikos aus das Schweigen zu brechen. Doch erst Ende des letzten Jahrtausends kehrten soziale Bewegungen massiv ins politische Geschehen zurück. Hatten sich viele Bewegungen während der neoliberal dominierten 1990er Jahre auf spezifische Politikfelder zurückgezogen, gewannen nun wieder Forderungen nach tief greifender politischer Transformation die Oberhand. Damit einher gingen neue Machtperspektiven, die, angefangen in Venezuela 1999, in zahlreichen Ländern des Kontinents zur Etablierung progressiver, häufig durch soziale Bewegungen gestützte Regierungen führten. Seitdem wird auch in hiesigen Medien wieder verstärkt über Lateinamerika berichtet. Besonders was Venezuela angeht, dominiert allerdings ein einseitiger Diskurs, der von Schlagworten wie „Populismus“ oder „Autoritarismus“ geprägt ist, während interessante politische Prozesse oft wenig Beachtung finden. Um die deutschsprachige Informationslandschaft zu Lateinamerika inhaltlich zu bereichern, gründeten einige Journalisten und Lateinamerika-Experten im Juli 2007 das ehrenamtlich betriebene Internetportal amerika21.de. „Wir haben in Venezuela erlebt, welche positiven Entwicklungen im Bildungsbereich, bei der Gesundheitsversorgung und in der Arbeitswelt in kurzer Zeit erreicht wurden“, berichtet Redaktionsmitglied Malte Daniljuk. „Besonders in den riesigen Armenvierteln dieses reichen Landes erlebt man eine unglaubliche politische Beteiligung. Diese sehr wichtigen Erfahrungen wollen wir auch anderen zugänglich machen.“ Die Seite bietet täglich aktualisierte Nachrichten und Hintergrundartikel, die teilweise auch aus anderen linken Medien stammen. Somit stellt sie eine Ergänzung zu bereits länger existierenden Periodika zu Lateinamerika dar. Berichtete amerika21 zunächst fast ausschließlich über Venezuela, finden mittlerweile auch regelmäßig Nachrichten zu regionaler Integration oder anderen links-regierten Ländern wie Bolivien und Ecuador Platz. Die Schwerpunkte variieren dabei je nach Ereignislage. Nach dem Putsch in Honduras im Juni dieses Jahres etwa rückte das zuvor wenig beachtete Land in den Vordergrund der Berichterstattung. Vorwürfe von KritikerInnen, wonach die Seite die linken Regierungen Lateinamerikas uneingeschränkt in Schutz nehme, weist Daniljuk zurück: „Wir berichten ganz klar aus der Perspektive der sozialen Bewegungen, und damit auch oft genug kritisch gegenüber einzelnen Maßnahmen der jeweiligen linken Regierungen.“ Da amerika21 einen Beitrag zur Gegenöffentlichkeit leisten wolle, hieße das aber eben auch, der häufig auf Falschmeldungen basierenden Berichterstattung der kommerziellen Medien Paroli zu bieten. „Damit kommen wir automatisch in eine Logik der Gegeninformation, bei der wir scheinbar immer die Position derjenigen einnehmen, die von den bürgerlichen Medien angegriffen werden“, resümiert Daniljuk. Die gravierendsten Fälle werden von der Redaktion in einem Media-Watch-Blog kommentiert. Darüber hinaus bietet das Portal ein Forum für die Vernetzung von Solidaritätsgruppen, Terminankündigungen und seit Anfang des Jahres auch eine spanischsprachige Unterseite. In Zukunft möchte amerika21 die Berichterstattung auf weitere Länder des Kontinents ausweiten.

www.amerika21.de

„Ich glaube nicht an diese Art Demokratie”

Du trittst offen dafür ein, nicht zu wählen. Keine Gewissensbisse, dass durch die Stimmenthaltung die parlamentarische Rechte gestärkt wird?
Nein, auf diese Argumente lasse ich mich nicht ein. Ich werd‘ nicht wählen, nicht dieses Jahr oder irgendwann. Ich glaube nicht an diese Art der Demokratie.

Soll heißen? Politik soll man nicht den Berufspolitikern überlassen?
Ja, ich glaube es gibt inzwischen viele Menschen in Mexiko, die sich von den staatlichen Vertreterinnen und Vertretern und deren Politik abwenden, die uns keine Zeit lässt zu verstehen, was gerade in unserem Land passiert. Dem sollte man sich widersetzen und versuchen besser die Realität zu verstehen, in der wir leben.

Du sprichst von der Realität. Wie nehmen denn Kampagnen der Parteien Stellung zu den dringlichsten Problemen der mexikanischen Gesellschaft?
Die Kampagnen der Parteien sind heuchlerisch. Da wird Mexiko als durchweg demokratisches Land dargestellt und dabei weiß jeder, dass das gerade nicht der Realität entspricht. Nicht dass die Wahlversprechen nicht reizvoll wären: Dem Verbrechen den Kampf ansagen, Arbeitsplätze und würdigere Lebensbedingungen schaffen. Und die Leute, die verzweifelt sind in einem Leben voller Ausbeutung, Gewalt und Entwürdigungen sehen diese Verheißungen oft als einen Ausweg an. Doch letztlich sind die Regierenden selbst am Anstieg von Gewalt und Verbrechen beteiligt.

Was soll das heißen? Ein Mangel an sicherheitspolitischen Initiativen kann man der Regierung Calderón ja nun gerade nicht vorwerfen…
Ich würde das eher unter dem Wort Repression zusammenfassen. Ein Staat, in dem es keine Arbeit gibt, in dem sich multinationale Unternehmen breit machen, in dem nur einige Wenige Geld und Reichtümer besitzen und wo es immer gefährlicher wird, dagegen etwas zu sagen. Denn das einzige was die Regierenden wirklich tun, ist gegen soziale Bewegungen und die allgemein wachsende Unzufriedenheit einer zunehmend verzweifelten Bevölkerung vorzugehen. Das heißt, diskursiv machen sie mit dem Verbrechen und der Unsicherheit Schluss. Tatsächlich bauen sie jedoch den Polizeiapparat um, machen ihn für die Aufstandsbekämpfung fit. Es können noch so viele Menschenrechtsabkommen unterschrieben werden; die UNO kann sich noch so oft besorgt zeigen; dem gegenüber stehen politische Machtgruppen, die sehr gut innerhalb krimineller Netzwerke organisiert sind.

Du sagst, die Unzufriedenheit würde wachsen. Aber wächst nicht genauso schnell das Misstrauen und Denunziantentum in der Bevölkerung?
Klar, es gibt viel Misstrauen, begleitet jedoch – und das ist entscheidend – von einem brutalen Staatsterrorismus. Diese Art von Gewalt, die Kampagne [der Grünen Partei Mexikos, Anm. d. Red.], die Todesstrafe für Entführer und Mörder einzuführen, das alles schafft ein allgemeines Gefühl der Ohmacht. Die Leute sagen, „eigentlich kann ich nichts mehr tun, denn sonst droht mir auch so was“. Denn wenn wer den Mund aufmacht, wird als Krimeneller abstempelt. Und klar spürt man diese Paranoia, diese lähmende Angst – ein weiteres Element der Repression.

Du hast vor drei Jahren die Stürmung der Gemeinde Atenco von über 3000 Uniformierten miterlebt. Rückblickend sehen viele politische Chronistinnen und Chronisten Atenco als Auftakt einer neuen Qualität staatlicher Repression gegen soziale Bewegungen. Was war denn so grundsätzlich neu?
Der Polizeieinsatz entsprach der Strategie einer „Bevölkerungskontrolle“. Als die Einheiten in die Gemeinde Atencos eindrangen, ließen sie keinen Zweifel daran, dass sie für diese Art Einsätze geschult wurden, eine gegen die Bevölkerung gerichtete Aufstandsbekämpfung. Dass ist der Beginn repressiver Maßnahmen die bis heute anhalten.

Warum fand gerade die Art Repression ihren Anfang in Atenco?
Das was in Atenco geschah, könnte man einerseits als staatliche Racheaktion bezeichnen. Denn der Stachel, wegen dieser rebellischen Gemeinde vier Jahre zuvor den Bau eines internationalen Flughafens aufgeben zu müssen – und wir reden hier vom größten Infrastrukturprojekt der damaligen Regierung unter Vicente Fox – saß tief. Andererseits ging es aber auch darum, die damals von der Zapatistischen Befreigungsarmee EZLN initierte „Andere Kampagne” aufzuhalten, innerhalb derer landesweit neue solidarische Netze geknüpft wurden. Das konnten wir später auch im Gefängnis spüren, mit jedem Unterstützerbrief der uns erreichte.

Die staatliche Repression fand damals ihren perfidesten Audruck in der sexualiserten Folter, welche die Polizisten in Atenco gegen festgenommene Frauen ausübte. Wie erklärst du dir rückblickend dieses Vorgehen, das später von der Regierung als spontane Entgleisungen einiger Polizisten abgetan wurde?
Ich denke, dass sich in dieser Praktik der gesellschaftliche Machismus auf zweifache Weise ausdrückte. Zum einen waren wir die Kriegsbeute, um den Aufständigen zu zeigen: „Schau her, wir haben gewonnen. Wir haben eure Frauen, euer Land und wir machen mit euch was wir wollen.“ Auf der anderen Seite war es aber auch ein Schlag gegen die wachsende Präsenz der Frauen in den sozialen Bewegungen, um ihnen zu sagen: „Pass auf, wenn du aus dem Haus gehst und deine traditionelle Rolle aufgibst, dann wird dir das gleiche geschehen wie ihnen.”

Du warst selbst fast zwei Jahre im Knast. Wie beurteilst Du, dass als Teil des aktuellen Sicherheitsdiskurses in Mexiko der Bau neuer Gefängnisse forciert wird?
Ich habe zwei Strafanstalten kennengelernt und beide waren hoffnungslos überbelegt. In jeder Zelle waren doppelt oder dreimal so viele Menschen wie vorgesehen. Die Bedingungen im Gefängnis sind menschenunwürdig. Die Nahrung ist minderwertig, es gibt keine Ärzte, die dir wirklich helfen können, die Korruption ist gigantisch. Die Regierung nennt diese Orte offiziell „Zentren der sozialen Wiedereingliederung”. Aber das Einzige, was du dort wirklich lernst, ist die Gesellschaft zu verabscheuen. Du kommst rein, als Bauer, Arbeiter oder Unwissender, was deine institutionellen Rechte angeht, und kommst völlig pervertiert wieder raus mit einem Hass gegen alle.

Wie schützt man sich dagegen?
Ich habe nach dem Gefängnis zwei Mal eine Therapie besucht. Und dort haben sie mir gesagt: Dir haben sie im Gefängnis deine Unschuld geraubt. Und klar, sie haben sie mir geraubt. Es ist nicht so, dass ich vorher mit geschlossenen Augen gelebt hätte. Aber im Gefängnis bin ich mir bewusst geworden, wie roh die Repression in Mexiko wirklich ist. Wie leicht wird jemandem ein Delikt untergeschoben, wird jemand dort körperlich, sexuell oder psychisch gefoltert.

Wie erklärst du dir, dass die mexikanische Regierung auf internationalem Parkett nie direkt mit solchen Vorwürfen konfrontiert wird? Aus Unwissenheit oder schauen andere Regierungen lieber weg?
Ich wurde im vergangenen Jahr von der Lateinamerikabeauftragten des norwegischen Parlaments zu einem Treffen eingeladen. Und sie brachte ihre Beunruhigung über die Menschenrechtssituation in Mexiko zum Ausdruck, insbesondere über die Praktiken sexualisierter Folter gegenüber Frauen. Als wir so redeten fragte ich sie, was denn die norwegische Regierung konkret tun könne, um die Menschenrechtslage in Mexiko zu verbessern. Und sie sagte, dass sie einen Brief schreiben und eine Einschätzung der norwegischen Botschaft in Mexiko anfordern könnte. Ich fragte sie daraufhin, warum Norwegen nicht den Handel mit Mexiko aussetze, wenn die Sorge der norwegischen Regierung über die Menschenrechtssituation dort so groß sei. Und sie sagte, dass sei leider nicht möglich. Ist ihre Sorge also gar nicht so groß? Am Ende ist es wohl eine Interessenfrage.

Hat man eine Wahl? Die Wahldiskussion in Mexiko
Am 5. Juli fanden in Mexiko Kommunal- und Zwischenwahlen im Senat statt (Die Ergebnisse lagen bei Redaktionsschluss noch nicht vor). Die daraus resultierenden neuen oder alten Mehrheiten werden entscheidenden Einfluss auf die Politik der restlichen Amtszeit von Präsident Felipe Calderón von der ultrakonservativen Partei Nationale Aktion (PAN) haben. Es geht um weitere legale Schützenhilfe im staatlichen „Krieg gegen die Drogen”, um die Durchsetzung infrastruktureller Großprojekte und natürlich den weitern Machterhalt von inzwischen neun Jahren PAN in den Regierungsgeschäften. Doch die Opposition schläft nicht. Die Politdinosaurier der jahrzehntelang vorherrschenden Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) wollen verlorenes Land gut machen, stellen sich selbst als erfahrenere Strategen in Zeiten wirtschaftlicher Krisenstimmung dar. Die Führung der zerstrittenen links-zentristischen Partei der Demokratischen Revolution (PRD) dagegen verspricht einerseits großmütig, dass mit ihnen die Bevölkerung ganz sicher etwas zu gewinnen hat („así gana la gente”) und versucht gleichzeitig, den unermüdlichen Messias in den eigenen Reihen, den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Manuel López Obrador (AMLO), mundtot zu machen. Denn dieser wirbt unverfroren für die Arbeiterpartei (PT) und eine weitere linke Minipartei namens Convergencía. Sein Kalkül: je nötiger die PRD die beiden Unterstützerparteien braucht, die fest hinter AMLO stehen, um auf lokaler Ebene mehrheitsfähig zu werden, desto mehr wird er parteiintern auch wieder an Einfluss gewinnen.
Die mexikanischen Grünen gehen derweil mit der Forderung „Todesstrafe für Entführer und Mörder” recht erfolgreich auf Stimmfang. Über 10 Prozent der MexikanerInnen finden dieses Vorhaben laut aktuellen Umfragen unterstützenswert. Derweil haben die Kommentatoren der beiden großen mexikanischen Medienunternehmen Televisa und TV Azteca zur Stimmenthaltung aufgerufen, um den Parteien kollektiv das Misstrauen auszusprechen. In der Annahme, dass diesem Aufruf eher unentschlossene BürgerInnen als die StammwählerInnen von PRI und PAN folgen werden, kritisierten dies viele linke WahlbeobachterInnen als unverhohlene Unterstützung der mexikanischen Rechten. Die linksliberale Presse hat daher zum Sturm auf die Urnen getrommelt.

Poesie und Kritik

Er ist der passendste Vorwortschreiber, den der Verlag für dieses Buch finden konnte. Der in Puebla (Mexiko) lehrende Politikwissenschaftler John Holloway setzt die Lesenden sogleich auf die Spur – mit einem Vorwort, das vibriert: irgendwo zwischen Inspiration und Revolte.
Der Text des uruguayischen Journalisten Raúl Zibechi Bolivien – Die Zersplitterung der Macht knüpft an die zapateske Rebellen-Poesie an. Zentral ist in der ersten Hälfte des Buches die Interpretation der Massenproteste von 2000 und 2003 in den Städten El Alto und Cochabamba als eine andine Variante der an Antonio Negri angelehnten prophetistischen Vision einer Massenbewegung aus autonomen Produzentinnen und Produzenten: dezentriert und dennoch koordiniert, machtvoll, aber nicht auf den Staat bezogen.
In den „Kriegen“ um Wasser und Erdgas habe es keine Trennung zwischen Führern und Geführten gegeben: „Es waren Aufstände, die außerhalb der Gewerkschafts-, Bauern- oder Parteiverbände organisiert und gewonnen wurden, ohne ein oben und unten“.
Im Zentrum dieser rebellischen Netzwerke stehe die in El Alto „neu erfundene“ städtische Gemeinschaft, eine andine Form der Kollektivität, in der Erfahrungen der indigenen Aymara-Welt, der historischen Bauern- und Minengewerkschaften, der Migration, der urbanen Armut und des Kolonialismus verschmelzen. Eine wichtige Ressource sei die Aymara-Ordnung, die Macht und Gemeinschaft nicht spalte, sondern in Räten vereine, ein anti-staatliches Prinzip.
Ziemlich exakt nach der Hälfte des Buches vollzieht Zibechi eine erstaunliche Wende. Nun behandelt er Probleme und Widersprüche der zuvor glorifizierten Organisationsform. Die Aymara-Netzwerk-Gemeinschaft werde von Institutionalisierungsprozessen und staatlichen Kooptierungsversuchen durchzogen und zum Teil davon überformt. So im Fall der Föderation der Nachbarschaftsräte (FEJUVE), die für Zibechi bereits eine Art Verstaatlichung der sozialen Prozesse darstellt. Die FEJUVE sei eine Brücke zum Staat, ein Herd der Korruption: „Der Klientelismus zwischen Führern der Nachbarschaftsvereinigungen und den politischen Parteien und dem Staatsapparat war ein offenes Geheimnis“.
Während sich die erste Hälfte des Buches einer Sprache bedient, die zur Revolutionsfolklore im Stil von weltweitem Zapatismus, argentinischen Piqueteros & Co. geworden ist, so beeindruckt der zweite Teil mit seiner präzisen und kritischen Analyse der Situation in El Alto in den 1990er Jahren. Die Darstellung der Prozesse um die Partei CONDEPA (etwa: „Vaterlandsbewusstsein“) sind zutreffend als Versuche geschildert, Staat und Politik mit dem urbanen Aymara-Territorium zu verknüpfen. Danach folgt eine kritische Auseinandersetzung mit der in El Alto nicht selten praktizierten Lynchjustiz, die mit der kommunitären Rechtssprechung der Indigenen nichts mehr zu tun habe.
Im Epilog geht Zibechi mit der Regierung von Evo Morales ins Gericht. Die Schattenseiten seien größer als zu Regierungsbeginn erwartet. Die Schwierigkeiten seien nicht nur der Regierungspraxis des Vereinnahmens und Korrumpierens im CONDEPA-Stil geschuldet, sondern auch dem erbitterten Konflikt mit der Oligarchie im Tiefland. Zibechi hat in seinen Text viele Interviewpassagen unter anderem mit dem Vizepräsidenten Álvaro García Linera und dem ehemaligen Erziehungsminister Felix Patzi eingeflochten. Ein dynamisches Buch: poetisch, analytisch, am Schluss kritisch.

Raúl Zibechi // Bolivien – Die Zersplitterung der Macht // Mit einem Vorwort von John Holloway // Edition Nautilus // Hamburg 2008 // 192 Seiten // 15,90 Euro // www.edition-nautilus.de

Von Reformern und Revolutionären

Gegen den lateinamerikanischen Trend der letzten Jahre, der zu Regierungen geführt hat, die zumindest ihrem Eigenverständnis nach links sind, ist in Mexiko eine dezidiert rechte Partei an der Macht. Die seit dem Jahr 2000 regierende Partei der Nationalen Aktion PAN ist wirtschaftspolitisch neoliberal, gesellschaftspolitisch strikt konservativ und im Umgang mit sozialen Konflikten repressiv. Ist Mexikos Linke also erstarrt? Nein, denn Mexiko weist wie kaum ein anderes Land ein lebendiges, heterogenes Spektrum an linken Kräften auf, das der Politikwissenschaftler Albert Sterr zum Thema seiner neuesten Publikation gemacht hat. Mexikos Linke – Ein Überblick. Soziale Bewegungen, Guerillagruppen und die „Andere Kampagne“ der Zapatisten wird seinem Titel gerecht: Sterr stellt die wichtigsten oppositionellen Kräfte, wie Parteien, soziale Bewegungen und Guerillas, vor, ordnet sie typologisch ein und ist um eine nachvollziehbare Einschätzung ihrer Bedeutung bemüht. Der vorangestellte historische Abriss und die Portraitierung der PAN-Regierung charakterisieren die derzeitigen Rahmenbedingungen für die Linke und machen das Buch damit auch für Mexiko-EinsteigerInnen verständlich.
Einen Schwerpunkt der Analyse bildet die Auseinandersetzung mit der linkszentristischen Partei der Demokratischen Revolution PRD. Deren letzter Präsidentschaftskandidat Andrés Manuel López Obrador, genannt AMLO, unterlag in den von vielen als manipuliert bezeichneten Wahlen 2006 dem PAN-Kandidaten Felípe Calderón äußerst knapp. Sterr zeichnet die innerparteilichen Konfliktlinien der PRD nach und wie sie sich strategisch gegenüber der Regierung positioniert. Während der parlamentarische Flügel prinzipiell innerhalb der staatlichen Institutionen Politik machen will und zur punktuellen Zusammenarbeit mit der Regierung bereit ist, lehnt der Flügel um AMLO dies mit Verweis auf deren „illegitimen Charakter“ ab. Stattdessen setzt AMLO auf außerparlamentarische Arbeit wie beispielsweise auf die Bewegung gegen die Privatisierung des staatlichen Ölkonzerns Pemex oder den Nationalen Demokratischen Konvent CND, der durch Bündelung der außerparlamentarischen Opposition eine Gegenmacht etablieren soll. Im Zusammenspiel mit dem gewerkschaftlichen Debattenforum Nationaler Dialog DN sieht Sterr im CND den derzeit einzigen potenziellen Träger einer „reformorientierten sozialen Massenbewegung“.
Die Zapatistas handelt Sterr dagegen relativ knapp ab und kritisiert deren Taktik der letzten Jahre. Ihre Pauschalablehnung der PRD, ihre Nichtbeteiligung am CND und das lange Schweigen zu der Volksbewegung in Oaxaca ab 2006 bedeuteten eine „sektiererische Wendung“, die den Zapatistas deutlich an Einfluss gekostet habe. Als scheinbar paradox bezeichnet Sterr den Umstand, dass die auf bewaffnete Aktionen setzenden anderen Guerillas einen differenzierteren Umgang mit der PRD und anderen gemäßigten Linken pflegen.
Es scheint, als räume der Autor eben diesen diversen Guerillabewegungen überproportional viel Platz im Verhältnis zu ihrer tatsächlichen Bedeutung ein. Denn die meisten dieser Gruppierungen dürften auch in Mexiko recht unbekannt sein. Doch ist es Sterrs erklärte Absicht, eine breite Informationsgrundlage zu liefern, auf welcher die LeserInnen seine Einschätzungen nachvollziehen können. Dabei gesteht er einigen der Gruppen durchaus das Potenzial zu, sich zu einer Art „ländlichen Vetomacht“ zu entwickeln, die im Falle einer flexiblen Bündnispolitik auch auf die Bundespolitik Einflusschancen hätte.

// Manuel Burkhardt

Albert Sterr // Mexikos Linke – Ein Überblick // Neuer ISP Verlag // Köln 2008 // 216 Seiten // 22 Euro.

Würdige Wut und Widerstand

Der Schluss brachte die aktuelle Situation auf den Punkt: Comandante David hatte soeben im Namen der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) das Festival offiziell für beendet erklärt, da bat eine junge Frau nochmal kurz um Aufmerksamkeit. In einem der zapatistischen Dörfer sei es gerade zu einem Zusammenstoß zwischen Zapatistas und Mitgliedern der indigenen Bauernorganisation ORCAO gekommen, bei dem es mehrere Verletzte gegeben habe. So zeigte sich einmal mehr, dass die EZLN zum einen immer noch in der Lage ist, mehrere tausend Menschen auf einem weiteren ihrer internationalen Treffen zusammenzubringen, während andererseits ihre Basis in den selbstverwalteten Gemeinden Anfeindungen und Angriffe nicht-zapatistischer Gruppen erdulden muss.
Das Erste Weltweite Festival der Würdigen Wut, das in der Tradition der Intergalaktischen Treffen für die Menschheit und gegen den Neoliberalismus von 1996 gesehen werden kann, begann am 26. Dezember in Mexiko-Stadt. Neben der mexikanischen Hauptstadt waren das caracol von Oventic, eines der fünf regionalen Verwaltungszentren der zapatistischen Autonomie, sowie San Cristóbal de Las Casas in Chiapas die Stationen des Festivals, wo es am 5. Januar dieses Jahres endete.
Das Programm war vielfältig: An den Podiumsdiskussionen beteiligten sich VertreterInnen von Basisorganisationen wie Via Campesina oder des Nationale Indigenen Kongresses (CNI) Mexikos, linke Intellektuelle wie John Holloway oder Michael Hardt, politische AktivistInnen wie die ehemalige Kommandantin der nicaraguanischen SandinistInnen, Mónica Baltodano, oder ehemalige Gefangene, die während der Zusammenstöße im zentralmexikanischen Atenco 2006 festgenommen worden waren. Thematisch drehten sich die Diskussionen um vier Aspekte des Kapitalismus: Ausbeutung, Enteignung, Repression und Abwertung. Diesen wurden Andere Wege gegenübergestellt: die Andere Stadt, Andere Soziale Bewegungen, die Andere Geschichte und die Andere Politik. Letztere wurde am ausführlichsten behandelt und nahm die komplette Zeit des Festivals in San Cristóbal ein.
In den Beiträgen spiegelte sich die Vielfältigkeit und Erfahrungen der verschiedenen lokalen Kämpfe wieder. So sprach Gustavo Esteva, Leiter der Universidad de la Tierra in Oaxaca-Stadt, von den Erfahrungen des Aufstands in Oaxaca 2006 und einer möglichen Radikalisierung des Widerstands. Er mahnte die Linke zur Selbstkritik und hob die Bedeutung einer anderen Form der Demokratie in einem antikapitalistischen System hervor: „In den letzten 20 Jahren haben wir Mexikaner die Grenzen der repräsentativen Demokratie kennengelernt“. Auch werde die Notwendigkeit einer neuen Verfassung deutlich. Oscar Olivera von der Koordination zur Verteidigung des Wassers und des Lebens aus Bolivien berichtete vom erfolgreichen Kampf gegen die Privatisierung des Wassers in Cochabamba, zeigte aber auch auf, dass die Regierung von Evo Morales sich mehr und mehr von ihrer Basis entferne. Zudem kamen Solidaritätsgruppen zu Wort, die von eigenen Problemen in ihren Ländern berichteten. Da erzählten VertreterInnen von Ya Basta aus Italien vom Widerstand gegen die Errichtung einer großen Müllhalde am Rande Neapels, gegen die sich die BewohnerInnen zur Wehr setzen oder der Opposition gegen einen US-amerikanischen Militärstützpunkt im norditalienischen Vicenza. Auch griechische AktivistInnen, die in den letzten Wochen mit ihrer Entrüstung über die politischen Verhältnisse in ihrem Land international Schlagzeilen gemacht hatten, waren mit einem Beitrag vertreten.
Im Vergleich zu anderen von den Zapatistas ausgerufenen Treffen ermöglichte das Festival eine neue, horizontalere Form des Austauschs. Im Vorfeld waren die mexikanischen und internationalen Gruppen und Organisationen, die sich der Sechsten Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald der EZLN angeschlossen hatten, angeschrieben und eingeladen worden, am Festival mit einem Stand oder Redebeitrag teilzunehmen. Von ihnen folgten mehr als 250 aus Mexiko und 25 aus weiteren Ländern dieser Einladung und so gab es auf dem Festivalgelände in Mexiko-Stadt 136 Stände, an denen sich die BesucherInnen und TeilnehmerInnen über verschiedene lokale Kämpfe und Aktivitäten der AusstellerInnen informieren konnten. Dazu boten ein Kinozelt und zwei Bühnen kulturelle Abwechslung. Der Auftritt von Panteón Rococo am 29. Dezember stellte wohl den musikalischen Höhepunkt dieses Programms dar.
Zum Jahreswechsel zog das Festival dann nach Oventic, Verwaltungssitz der zivilen zapatistischen Struktur im Hochland von Chiapas. Dort wurde mit Musik und Theaterstücken der 15. Jahrestag des zapatistischen Aufstands vom 1. Januar 1994 begangen. Comandante David wies in der Hauptansprache des Abends auf die immer noch von Marginalisierung und Repression gekennzeichnete Situation der indigenen zapatistischen Gemeinden hin und rief dazu auf, die Solidarität zwischen den linken, antikapitalistischen Kräften im Kampf gegen den neoliberalen Kapitalismus in Mexiko und weltweit zu stärken.
Die Arbeit der Zapatisten ist momentan alles andere als leicht. Es vergeht kein Monat, in dem nicht einer der fünf Räte der Guten Regierung in einem Kommuniqué über Probleme mit den staatlichen Stellen oder anderen Organisationen berichtet. Die letzte Erklärung des Rates der Guten Regierung von Morelia ist dementsprechend auch beispielhaft für die Situation der indigenen Gemeinden: Zu Beginn des Jahres gab es einen Zusammenstoß zwischen Mitgliedern der Regionalen Organisation der Kaffeebauern von Ocosingo (ORCAO) und Zapatistas in einem Dorf nahe einer der Hauptverkehrsstraßen des Bundesstaates. Grund waren Streitigkeiten um die Nutzung von Land, das im Zuge des Aufstands von den Zapatistas besetzt worden war. Und auch der Öko-Tourismus, ein Hauptprojekt der aktuellen chiapanekischen Regierung, betrifft das Land, auf dem Zapatistas leben. Im gleichen Kommuniqué erklärt der Rat von Morelia, Anhänger der Revolutionären Institutionellen PRI aus Agua Clara hätten „unsere Compañeros mit Flaschen und Steinen angegriffen“.
Und dennoch: Die Aufständischen gehen weiter ihren Weg der Selbstverwaltung und machen dabei Fortschritte. Oberstleutnant Moises, Teil der militärischen Struktur der EZLN und zuständig für den internationalen Bereich der Anderen Kampagne, berichtete auf dem Festival der Würdigen Wut von den Entwicklungen in den autonomen Regionen. „Die Compañeros des caracols von La Realidad haben die Banpaz, die Zapatistische Volksbank, geschaffen“. Diese sei als Ergebnis einer Konsultation der zapatistischen Gemeinden ihrer Region entstanden und solle für kollektive Projekte genutzt werden. Ein weiteres Beispiel: Die Zapatistas des caracols von La Garrucha haben AgraringenieurInnen ausgebildet. „Früher wussten sie nicht, was das ist, aber jetzt wissen sie es, weil sie die Arbeit selbst praktizieren“. Der Kommandantin Hortensia blieb es vorbehalten, über die Beteiligung der Frauen innerhalb der zapatistischen Strukturen zu sprechen. Sie wies darauf hin, dass in den vergangenen 15 Jahren in diesem Bereich viel erreicht worden sei. Der Tatsache, dass die Frauen auf der militärischen und auf der zivilen Ebene Ämter innehätten, sei der Kampf um Gleichberechtigung innerhalb der Bewegung vorausgegangen. In einigen Regionen fehle es noch an Verständnis für die Wichtigkeit der Beteiligung der Frauen, so dass noch Arbeit vor ihnen liege. „Aber in den 25 Jahren des Bestehens der EZLN und den 15 Jahren des bewaffneten Aufstands haben wir wichtige Fortschritte erreicht“.
In San Cristóbal war Subcomandante Marcos, militärischer Chef und Sprecher der Zapatistas, nach einem Jahr medialer Abwesenheit wieder präsent. In seinen Wortbeiträgen kritisierte er erneut die politische Klasse Merxikos, sprach von der Verbindung des Präsidenten Calderón zu einem der Kartelle in dessen „Kampf gegen den Drogenhandel“ und von der „hysterischen“ Bewegung um den ehemaligen Präsidentschaftskandidat der sozialdemokratischen Partei der Demokratischen Revolution (PRD), Andrés Manuel López Obrador. Die Intellektuellen um López Obrador kritisieren die EZLN wegen ihrer Distanzierung von allen Parteien und der Kritik des Subcomandante an López Obrador immer wieder scharf. Marcos, der in einem außerplanmäßigen Beitrag auch die Angriffe der israelischen Armee auf die Zivilbevölkerung in Gaza kritisierte, betonte zum Abschluss die Bedeutung der Vielschichtigkeit innerhalb der Anderen Kampagne in Mexiko und auf internationaler Ebene. „Deswegen wollen wir Euch bitten, dass wir aus unserer Stärke keine Schwäche machen sollten. So viele und so unterschiedlich zu sein, erlaubt uns, die Katastrophe zu überleben, die sich anbahnt, und etwas Neues zu schaffen. Wir möchten Euch bitten, dass dieses Neue auch anders sein möge.“
Die EZLN hat mit dem Festival der Würdigen Wut der Anderen Kampagne einen neuen Impuls geben können. Sie hat gezeigt, dass sie trotz der Zerstrittenheit der mexikanischen Linken weiterhin ein nationaler und internationaler Referenzpunkt ist. Sowohl auf dem Festival als auch aufgrund der aktuellen Situation in den indigenen zapatistischen Gemeinden ist deutlich geworden, dass der Weg der Autonomie mit meist äußeren Schwierigkeiten belastet ist, aber auch bedeutende Fortschritte gemacht hat.

KASTEN:

Entwicklung der EZLN
Die EZLN hat in anderthalb Jahrzehnten einen langen und schwierigen Weg zurückgelegt. Nach zwölf Tagen Krieg zu Beginn des Jahres 1994 folgten zwei Jahre verschiedener Bemühungen, einen Dialog mit der mexikanischen Regierung zu etablieren. Mit der Unterzeichnung der Abkommen von San Andrés über indigene Rechte und Kultur am 16. Februar 1996 brachten sie einen vermeintlich ersten Erfolg. Doch wurden diese von der Regierung nicht in Gesetze umgewandelt, die den indigenen Völkern Mexikos auch rechtlich eine Anerkennung ihrer Kultur, sozialen und politischen Organisationsformen zugesichert hätten. Der endgültige Bruch mit dem mexikanischen politischen System kam 2002, als eine Klage vor dem Obersten Gerichtshof Mexikos scheiterte, die sich gegen eine verwässerte Verfassungsreform über indigene Rechte gerichtet hatte, welche mit den Abkommen von San Andrés fast nichts mehr gemein hatte.
Bereits ab 1996 hatten die Zapatistas indes mit dem Aufbau selbstverwalteter Strukturen begonnen, der die Situation der Dörfer langsam, aber stetig verbesserte, vor allem im Bereich der Bildung und Gesundheit. Nicht zu unterschätzen ist, dass all dies vor dem Hintergrund eines von der Regierung geführten Krieges niederer Intensität geschah und geschieht, dessen zentrales Element der Aufbau und die Unterstützung paramilitärischer Gruppen ist, die durch Feindseligkeiten und Angriffe die zivile Basis der EZLN zermürben sollen. Die Gründung der Räte der Guten Regierung, einer regionalen Instanz der Koordination und indigenen Rechtssprechung im August 2003 stellt den bisherigen Höhepunkt der zapatistischen Autonomie dar – auch wenn diese fünf Jahre nach ihrer Einführung immer noch mit verschiedenen Problemen zu kämpfen haben. Doch diese sind nicht unlösbar. Die Anwendung des Prinzips „Gehorchend regieren“, das die Rotation der Ämter und eine Absetzung bei Missbrauch derselben einschließt, hat allerdings diese Organe zu einer Schule der Selbstverwaltung der RebellInnen gemacht und sie davor bewahrt, dem Übel der übrigen mexikanischen Politik, der Korruption, zum Opfer zu fallen.
// Thomas Zapf

„Ich werde nie mehr einen Aufstand mit Sturmmütze machen!“

Nachdem die Fotositzung abgeschlossen war, stieg Marcos ab und fragte mich, wo ich das Interview machen wolle. Ich wollte einen privaten Rahmen. „Dann also los, vielleicht werde ich danach keine Interviews mehr geben“, sagte er zu meiner Verwirrung. Sollte das heißen, dass dies das letzte Interview seines Lebens sein würde? Er sagte etwas zu seinem Begleitschutz und ging auf den Holzschuppen zu, in dem Ricardo, Roberto, fünf Ausländer, die an einer Beobachterbrigade des CAPISE teilnahmen, und ich untergebracht waren. […] Ich schaltete die Glühbirne an, denn der Bau hatte keine Fenster und es war dunkel. Wir setzten uns auf eine der Holzbänke am Tisch, die wir nachts als Bett benutzten. Die beiden Eskorten hielten sich während der vier Stunden, die das Interview dauerte, vor dem Schuppen auf. […] Marcos legte seine großkalibrige Waffe ab und schob sie beiseite. Er postierte seine beiden unabkömmlichen Pfeifen auf den Holztisch. Ich holte meinen Notizblock hervor und schaltete mein Aufnahmegerät an. […].

[Laura Castellanos befragt den Sup über die neue Strategie der ZapatistInnen, weniger zu reden und mehr zuzuhören, und erinnert an den Medienrummel, der insbesondere beim Marsch nach Mexiko-Stadt im Jahre 2001 um die ZapatistInnen gemacht wurde]

„Weniger zu reden und mehr zuzuhören, heißt das auch eine geringere Aufmerksamkeit für Subcomandante Marcos? Warst du denn nicht auch irgendwann von der Aufmerksamkeit der Medien geblendet?“
„Wir sind nicht der Ansicht“, antwortete er ruhig.
„Einige meinen, dass du dich manchmal wie eine Diva aufgeführt hast“, fragte ich nach.
„Nein, wie eine Diva nicht, wie ein Rockstar“, erwiderte er ironisch.
[…]
„Ist dir das Ganze wirklich nie zu Kopf gestiegen?“, insistierte ich.
„Soweit ich weiß, nicht. Nie wurde jemandem willkürlich der Wunsch zu einem Gespräch verweigert.“
„Aber ich meine damit nicht nur die Medien, sondern dass man auf einmal den Eindruck gewann, dass du konfus geworden bist.“
„Ja, ich kann mir durchaus vorstellen, dass dieser Eindruck bei den Außenstehenden erweckt wurde, bei uns nicht, denn die Außenstehenden werden von den Sturmmützen angezogen.“
„Ungeachtet der Sturmmütze bist du ein Mann, ein Mensch, auf den die ganze Aufmerksamkeit gerichtet war; du warst ständig im Rampenlicht und hattest … eine Menge Fans.“
„Fans! Das ist doch lächerlich, was du dir da zusammenreimst“, erwiderte er scharf, während er sich auf dem Stuhl zurechtsetzte. Ich hatte den Eindruck, dass er allmählich ungehalten wurde.
„Beim Marsch der Farbe der Erde 2001 zählte niemand nach, wie viele Menschen auf dem Zócalo waren, das war damals nicht gefragt, aber der Platz war gerammelt voll. Vier Jahre später gab es eine Versammlung in Ciudad Sahagún, in Hidalgo, zu der vier Menschen gekommen waren: der Verkäufer einer linken Zeitung, ein Junge, der Marcos kennen lernen wollte, eine Frau, die zufällig vorbei gekommen war und der Veranstalter. Ich schoss mir weder eine Kugel durch den Kopf und ging auch nicht zum Psychiater“, warf er lachend ein und löste damit die Spannung, die einen Moment zuvor geherrscht hatte. „Wenn wir jemals überschätzt haben, was über die Medien erreicht werden kann, dann 1994, als die Bewegung tatsächlich weltweit in allen Medien war; in diesem Jahr gaben wir praktisch ein Interview nach dem anderen.“
„Und es hat dir geschmeichelt, dass sie dir Sexappeal zugeschrieben haben?“
„Nein! Ich bitte dich, wem gefällt es denn, sexuell belästigt zu werden! Wie kann eine Frau so etwas sagen!“, antwortete er verärgert und ich musste unwillkürlich lachen.
Marcos war aufgebracht. Er machte eine Pause, um seine Pfeife anzuzünden. Ich dachte, er würde das Interview wegen meiner Impertinenz abbrechen, aber er antwortete in einem nachdenklichen Tonfall:
„Nein, einfach deshalb, weil es nie so klar wie in diesen Momenten ist, dass die Anziehungskraft von einem Symbol und nicht von einem selbst ausgeht … Anziehend wirkt das Mysterium, die Maske, genau darauf zielten die Medien ja auch immer ab. Ich habe nicht einmal den Vorteil eines Brad Pitt, Al Pacino oder Robert Redford, die als Personen anziehend wirken. Das hier ist eine Maske und was du dahinter vermutest. Dass ich im Rampenlicht stand, hatte deshalb auch nicht die geringste Wirkung auf mich“, er rückte die Sturmmütze so zurecht, dass etwas von seinem Gesicht zum Vorschein kam: ein kleines Stück Bart.
„Und wie fühlt man sich so hinter einer Sturmmütze?“
„Es ist sehr heiß, wenn es heiß ist, und wenn es kalt ist, dann klebt sie an der Haut und wird hart, denn sie ist aus dünnem Material. Es ist das Schlimmste, was dir passieren kann. Ganz im Ernst, ich werde nie mehr einen Aufstand mit einer Sturmmütze machen!“
„Und wenn du Hunger hast? Mit der Mütze über dem Kopf kannst du doch nicht essen.“
„Ich muss allein essen. Wir hatten das Ganze auch gar nicht so geplant, es war eine Folge des Aufstands. Die Sturmmütze war so etwas wie ein Notbehelf für den Tag des Aufstands, danach wollten wir sehen, wie es weiterging. Außerdem wären wir nie auf den Gedanken gekommen, dass die Sturmmütze so ein starkes Interesse auslösen könnte. Es war mehr ein Problem unserer Compañeros, denn die mussten ja in ihre Gemeinschaften zurückkehren und liefen Gefahr, von irgendeinem PRI-Mitglied wiedererkannt zu werden, das sie im Fernsehen gesehen hatte. Uns selbst war es ziemlich egal, da wir davon ausgingen, dass die sowieso bald wissen, wer wir sind. Wir mussten sie allerdings anziehen, um mit gutem Beispiel voranzugehen.“
„Macht die Sturmmütze denn heute noch einen Sinn?“
„Ja, denn sie ist zu einem Symbol geworden. Ursprünglich war das rote Halstuch unser Symbol. Es sollte unser Erkennungszeichen werden. Heute ist die Sturmmütze unser Erkennungsmerkmal. Und dann gab es ja auch noch dieses ganze Hin und Her, dass wir sie ausziehen und unser wahres Gesicht zeigen sollten. Worauf wir sagten: ‚Gut, wir werden sie abnehmen, wenn auch ihr Politiker euer wahres Gesicht zeigt.’ Auf diese Weise wurde sie zu einem Symbol und deshalb haben wir sie immer noch auf. Und ich ziehe sie auch deshalb nicht ab, weil sonst mein Sexappeal flöten gehen würde, wie du dazu sagst“, versetzte er, worauf wir beide lachten.
Auszug aus:
Subcomandante Marcos Kassensturz
Mit freundlicher Genehmigung
des Nautilus Verlags

Weiterhin am Brodeln

Was ist eigentlich in Oaxaca los? 2006 noch hatten monatelange Proteste nationale und internationale Aufmerksamkeit erregen können (siehe LN 390). Sie richteten sich gegen die korrupte und repressive Regierung des Bundesstaates. Getragen wurden die Proteste von der Volksversammlung der Völker Oaxacas APPO, die ein Zusammenschluss von mehr als 350 Gewerkschafts-, Indígena- und Studierendenorganisationen und anderen sozialen Bewegungen ist. Während es (inter)national inzwischen ruhiger um die APPO geworden ist, ist sie in Oaxaca selbst auch heute noch in aller Munde. Auf einer Großdemonstration im November des letzten Jahres sprach der neu gewählte Generalsekretär der APPO vom „Volk der Barrikaden“, das trotz der Repression seine Würde behalten habe. Chefs von Nichtregierungsorganisationen frotzelten beim Feierabendbier darüber, ob die APPO noch lebe oder nur noch ein Zombie sei. Regierungsangestellte rätselten über die nächste Mobilisierung der LehrerInnen der Gewerkschaftssektion 22, damals einer der Motoren der Bewegung, und schimpften sie einen korrupten Haufen. GeschäftsinhaberInnen und TaxifahrerInnen fluchten über die ökonomische Krise, an der natürlich die APPO Schuld hatte.
Die monatelange Mobilisierung von 2006 mit ihrer Aktionsvielfalt, mit Dialog und Barrikaden, mit den Besetzungen und der Beschlagnahmung von Staatseigentum, mit den gewonnenen Auseinandersetzungen mit der Polizei, mit den Bewegungsradios, dem Volksfernsehen und den Fiestas hat die Gesellschaft Oaxacas geprägt und polarisiert. Sie hat aber auch unglaublich viel Kraft gekostet und wurde teuer bezahlt. Dies zeigte sich vor allem nach der verlorenen Straßenschlacht vom 25. November 2006, als 143 Leute verhaftet, gefoltert und in ein Sicherheitsgefängnis im Norden des Landes deportiert wurden (siehe Kasten). Die sichtbaren Köpfe der APPO gingen ins Exil oder landeten im Gefängnis.
Während die APPO momentan mehr in den Köpfen und Herzen der Leute existiert denn als reale Aktionseinheit („Jedem seine APPO“, nannte dies der engagierte Soziologe Víctor Raúl Martínez), hat es die Sektion 22 der LehrerInnengewerkschaft geschafft, der korrupten Gewerkschaftszentrale die Erfüllung ihrer zentralen Forderung abzuringen: die Wahl einer neuen Gewerkschaftsführung. Dies wurde nötig, weil der Gewerkschaftssekretär Rueda Pacheco, der Ende Oktober 2006 einen gezinkten Streikabbruch erzwang, seit Anfang 2007 verschwunden ist. Im September 2008 wählten die Delegierten der 70.000 LehrerInnen Oaxacas erstmals ein von den etablierten Politgruppen unabhängiges Basismitglied zum Generalsekretär. Mit dem Landschullehrer Azael Santiago Chepi besetzt zudem erstmals ein Indigener dieses Amt .
Nach der Neubestückung aller Posten innerhalb der Administration der Gewerkschaft beginnt sich abzuzeichnen, wohin der Zug fährt: Die Sektion 22 brach die Verhandlungen mit der Regierung ab und stellte dem verhassten Gouverneur Ulises Ruiz ein Ultimatum bis Weihnachten 2008, um ihre Forderungen zu erfüllen: Freilassung der drei politischen Gefangenen der Bewegung, Löschung aller Haftbefehle und Übergabe der 80 Schulen (von insgesamt 14.000), welche sich in der Hand der Sektion 59 befinden. Letztere ist eine Art Streikbrechergewerkschaft und sollte die Sektion 22 schwächen. Sie wurde von der korrupten Führung der nationalen Lehrergewerkschaft 2006 aus LehrerInnen rekrutiert, die der in Oaxaca regierenden Revolutionären Institutionellen Partei PRI angehören. Sollte Ulises Ruiz den Forderungen der Sektion 22 nicht nachkommen, würden die LehrerInnen in einen unbefristeten Streik treten. Zwar hat der Gouverneur das Ultimatum verstreichen lassen, doch wurde Mitte Januar nach erfolgreichen Mobilisierungen zumindest erreicht, dass das Innenministerium der Bundesregierung schriftlich zusicherte, sich um die Umsetzung der Forderungen zu kümmern. Passiert ist bisher aber noch nichts. Bislang verzichten die LehrerInnen noch auf einen Streik. Statt dessen nutzen sie Protestaktionen, wie am 22. Januar, als sie die Einweihung einer Windkraftanlage durch Präsident Calderón stundenlang blockierten. Dabei setzt die Sektion 22 weiter auf die APPO und versteht sich als deren organisatorisches Rückgrat. Tatsächlich ist die Gewerkschaft bei aller Kritik die einzige politische Kraft mit der Legitimität, alle APPO-Sektionen zu mobilisieren. So ist es denn auch sie, die zum zweiten bundesstaatlichen Kongress der APPO aufruft, der vom 20. bis 22. Februar dieses Jahres stattfinden wird.
Auf diesen Kongress darf man gespannt sein. Denn dass die APPO lange Zeit kaum die Fähigkeit besaß, mit einer Stimme zu sprechen, ist nicht nur der Repression zu verdanken. Nach dem Scheitern der vereinenden Hauptforderung „Weg mit dem Mörder Ulises Ruiz!“ und dem darin aufblitzenden anti-systemischen Ansatz konzentrierten sich die traditionell zerstrittenen politischen Organisationen Oaxacas wieder auf ihre internen IntimfeindInnen und darauf, wie aus der Situation Profit zu schlagen ist. So ging inzwischen die Koordination der Frauen Oaxacas COMO, die im August 2006 den Fernsehsender Canal 9 besetzt hatte und auf Sendung gegangen war (die männlichen Anführer der APPO beklagten sich daraufhin, dass ihnen die Kontrolle über die Frauen entglitten sei!), in den Streitigkeiten zwischen den politischen Gruppierungen um die Hegemonie innerhalb der Organisation unter.
Die Männer ihrerseits stritten sich um den Führungsanspruch innerhalb der APPO, was sich insbesondere an der Frage der Beteiligung an der formalen Demokratie von Mexiko zeigt – und damit auch der Wahrnehmung ökonomischer Vorteile. Während sich Zenen Bravo von der stalinistischen Revolutionären Volksfront FPR gar ins Lokalparlament wählen liess, führen andere Alpha-Tiere der APPO wie der erst 2008 aus dem Knast entlassene Flavio Sosa einen Eiertanz zwischen Parteilogik und APPO auf. Fazit: Nach dem politischen Erdbeben von 2006 haben die meisten Organisationen die kostspielige Fundamentalopposition wieder aufgegeben und verhandeln mit den MachthaberInnen über ihre Quotenbeteiligung an ökonomischer und politischer Macht, über Ressourcen und Taxilizenzen. Zurück zur „alten Art, Politik zu machen“, in zapatistischen Worten.
Die umstrittenste Kraft innerhalb der APPO ist VOCAL, die Stimmen Oaxacas für den Aufbau von Autonomie und Freiheit. Dieses Kollektiv von Jugendlichen, das sich trotz eines unumstrittenen internen Anführers glühend antiautoritär gebärdet, schüttet oft das Kind mit dem Bade aus. So griffen sie auf den Demonstrationen der APPO nicht nur Institutionen von Staat und Kapital an. Sie provozierten auch interne Schlägereien mit anderen APPO-Organisationen. Insbesondere die FPR ist das Ziel dieser Angriffe. Selbst deren Genosse Germán Mendoza Nube, der im Rollstuhl sitzt, seit ihn das Militär wegen Guerillaaktivitäten niedergeschossen hat, wurde verprügelt. Ein buchstäblicher politischer Scherbenhaufen. Die Regierung von Oaxaca freut‘s.
Trotz dieser negativen Entwicklungen hält die Mobilisierungskraft der APPO an. Wöchentlich gibt es Demonstrationen zu diversen Anliegen. Die Großdemonstration vom 25. November 2008 in Gedenken an die Repression von 2006 vermochte über 100.000 Leute zu mobilisieren. Auffällig war die hohe Anzahl von Menschen, die offensichtlich keiner politischen Gruppe oder Gewerkschaft angehörten. 2006 bildeten gerade sie die Basis der Bewegung, indem sie von August bis November Nacht für Nacht auf den Barrikaden waren und die weitläufige Stadt kontrollierten. Mit anderen Worten: „El pueblo“ ist nach wie vor da, protestiert und würde für eine radikale Änderung der Verhältnisse wohl auch wieder Kopf und Kragen riskieren. Was fehlt, ist eine Plattform, um dieses Potenzial in politische Aktionen umzusetzen.
Der Höhepunkt der Gedenkdemonstration war die Rückkehr der Doctora Bertha, die 2006 den Sanitätsdienst für die Barrikaden aufbaute. Sie wurde als „Stimme des Widerstands“ im besetzten Radio Universidad bekannt und hatte zur militanten Verteidigung der besetzten Universität gegen die anrückende Bundespolizei aufgerufen. Aufgrund der massiven Drohungen musste sie das Land Hals über Kopf verlassen. Nun, zwei Jahre später, erklärt sie in einer ergreifenden Rede die Umstände ihrer Flucht: „Am 25. November 2006 drang die Angst unter den Türen hindurch in die Häuser, gelangte in unsere Kleidung, gelangte in die Luft, die wir atmeten, das Wasser, das wir tranken, in allem war die Angst“. Die mutige Doctora Bertha steht für viele, die sich aufgrund der Repression oder der internen Streitigkeiten zurückgezogen haben, aber langsam wieder auftauchen. So verließen viele Frauen die COMO und gründeten das Kollektiv Mujer Nueva, das Basisaktivitäten in den Außenbezirken organisiert. Diese Initiativen sind für die Medien zwar uninteressant, markieren aber Zeichen der Kontinuität. Ein weiteres Beispiel für die Nachwirkungen der APPO sind die autonomen Gemeinderadios, die gerade in den indigenen Regionen im letzten Jahr wie Pilze aus dem Boden schossen.
Während die APPO also zumindest partiell auf Erfolge verweisen kann, ist sie bezüglich ihres personifizierten Hauptgegners, des PRI-Gouverneus Ulises Ruiz, erfolglos geblieben. Allen Rücktrittsforderungen zum Trotz ist er weiterhin im Amt, und seine Partei gilt als Favorit für die bundesstaatlichen Parlamentswahlen in diesem Jahr. Die tiefe Verankerung der PRI, die in Oaxaca seit den 1920er Jahren an der Macht ist, in den Strukturen des Bundesstaates lässt sich offenbar nicht in wenigen Jahren aufbrechen. So wird wohl auch der nächste Gouverneur Oaxacas – gewählt wird dieser im Jahr 2010 – aus den Reihen der PRI kommen und Ruiz in repressiver Energie kaum nachstehen. Momentaner Favorit für diesen Posten ist der Hardliner Jorge Franco alias „El Chuky“. Franco ist ein früherer Schlägertruppführer an der Universität. Als Innenminister Oaxacas 2006 war er für die Organisation der Repression verantwortlich, und er treibt Geld bei den Unter- nehmerInnen der Stadt ein, um die paramilitärische „Brigada Blanca“ zu bezahlen, welche die Barrikaden der APPO angriff. Mit Ruiz, El Chuky und ihrer Art, Politik zu machen, wächst auch der Einfluss der Strukturen der organisierten Kriminalität innerhalb des Staatsapparats – sofern sie nicht schon immer Teil der Politik waren.
„En Oaxaca no pasa nada“, also alles ist ruhig, das betont immer wieder Gouverneur Ulises Ruiz, der damit den Protest unsichtbar machen möchte. Die Meldungen aus dem ganzen Bundesstaat sprechen eine andere Sprache: 60 Municipios, das sind 12 Prozent der Bezirke, leiden unter so starken internen Konflikten, dass eine Konfliktpartei formell die Absetzung des jeweiligen Gemeindepräsidenten beantragt hat. Die Antwort der Regierung Ruiz ist immer dieselbe: „No“. So schwelen politische Auseinandersetzungen und Landkonflikte weiter ohne Lösung vor sich hin. Waffen sind gerade in indigenen Regionen oft in grosser Zahl vorhanden, und es kommt immer wieder zu politischen Morden. Oaxaca bleibt angesichts des ungelösten politischen Konfliktes ein Pulverfass. Ob die APPO der sozialen Unrast wieder einen organisatorischen Ausdruck verleihen kann, wird sich bei ihrem Kongress im Februar zeigen müssen..

KASTEN:

Suche nach Gerechtigkeit
Ein wichtiger Strang der sozialen Bewegung in Oaxaca ist der Kampf gegen die Straflosigkeit. So haben 29 ehemalige politische Gefangene eine Sammelklage gegen die politischen Verantwortlichen der Repression und Folter vom 25. November eingereicht. Ein mutiger Schritt gegen die aktuellen Machthaber, der vom „Komitee 25. November“ juristisch und mit einer Kampagne begleitet wird, die Unterstützung aus 17 Ländern fand.
Seit dem 17. Oktober 2008 sitzt zudem Juan Manuel Martínez Moreno in Haft. Der APPO-Aktivist soll bei den Auseinandersetzungen am 26. Oktober 2006 den US-amerikanischen indymedia-Aktivisten Brad Will umgebracht haben. Es ist eine absurde, an den Haaren herbei gezogene Anklage. Sie stellt die mit Videos und Bildern von den Tätern gut dokumentierten wahren Geschehnisse (schießende PRI-Funktionäre) auf den Kopf. Dahinter steckt letztlich, dass die US-Regierung von Mexiko die „Lösung” des Falls Brad Will forderte, und dies innerhalb von 120 Tagen. Andernfalls würden Hunderte von Millionen Dollar für die Bekämpfung der mexikanischen Drogenmafia im Rahmen der „Initiative Mérida” (siehe LN 402) nicht ausbezahlt. Drei Tage nach dem Besuch der damaligen Außenministerin Condoleeza Rice in Mexiko und 48 Stunden vor Ablauf des US-Ultimatums verhaftete die Polizei Juan Manuel und schrieb neun weitere Aktivisten zur Verhaftung aus, die zur „Verdunkelung” des Verbrechens beigetragen hätten. All dies, nachdem zwei Jahre lang in Sachen Aufarbeitung des Verbrechens (und der weiteren über 20 Morde) nichts geschah. Im Dezember wurden dann die ersten 197 Millionen US-Dollar aus Washington bewilligt. Es scheint, dass diese absurde Anklage in den Augen der US-Behörden einer „rigorosen, glaubhaften und transparenten Untersuchung“ entspricht, wie dies der Anex H.R. 2642 der “Initiative Merida” fordert. Das „Komitee 25.November“ verteidigt Juan Manuel und ruft zu internationaler Unterstützung auf.
// Direkte Solidarität mit Chiapas

Fernsehen als Mittel der Kritik

Am 6. Juli 1988 gewann in Mexiko angeblich der Kandidat der regierenden PRI, Carlos Salinas de Gortari, die Präsidentschaftswahl. Noch am Wahltag wurden Anschuldigungen der Wahlfälschung laut. Obwohl die mexikanische Öffentlichkeit massiv gegen die Wahl protestierte, wurde Salinas ohne weitere Untersuchungen zum Präsidenten erklärt. Die Massenmedien, insbesondere das Fernsehen, berichteten nur sehr eingeschränkt über die Anschuldigungen der Wahlfälschung und die Protestbewegung. In diesem politischen Klima gründete eine Gruppe von JournalistInnen und FilmemacherInnen den canalseisdejulio als unabhängige Produktionsgesellschaft.
Seitdem hat sich canalseis in etwa 60 Dokumentarfilmen vieler Themen angenommen, die andere Medien links liegen ließen oder erst später in ihrer Relevanz und Problematik erkannten. So produzierte canalseis eine der ersten kritischen Auseinandersetzungen mit NAFTA, mit La guerra de Chiapas eine erste visuelle Analyse des Zapatisten-Aufstands von 1994 und kurz nach der gewalttätigen Niederschlagung der sozialen Bewegungen in Atenco mit Romper el cerco einen der bekanntesten Dokumentarfilme zu dem Thema.
Neben der schnellen Reaktion auf politische Entwicklungen zeichnet sich die Arbeit des canalseis durch die akribische Recherche von historischen Ereignissen aus, die der Zensur zum Opfer fielen, zum Beispiel in Tlatelolco: Las claves de la masacre und Halcones: Terrorismo del estado. Beide Filme präsentieren Analysen von ZeugInnenaussagen und Bildmaterial über die Massaker, die 1968 und 1971 an der mexikanischen Studierendenbewegung verübt wurden.
Durch den Gebrauch von Satire und Farce werden Themen zur Sprache gebracht, deren Behandlung ohne diese Stilmittel nur mit großer Bitterkeit möglich wäre. Zum Beispiel entblößt Democracia para imbéciles („Demokratie für Dummköpfe”) den diskursiven Gebrauch des Wortes „Demokratie” unter der Fox-Regierung, der keine Verbindung zur politischen Praxis aufweist und so zu einer Entwertung des Demokratiebegriffs führt. Der Gebrauch von Satire in diesem und anderen Filmen von canalseis hat die jeweiligen Regierungen oft verärgert, und canalseis ist immer wieder Angriffen und Zensur ausgesetzt gewesen.
Oft wird die Behauptung erhoben, dass canal-seis der PRD nahe stehe und deshalb im täglichen Machtspiel Mexikos klar einzuordnen sei. Tatsächlich versteht sich canalseis in den Worten von Mario Viveros, einem der Angehörigen des Kollektivs, aber als „Aktivist seiner eigenen Unabhängigkeit”. „Innerhalb seiner sehr bescheidenen Möglichkeiten versucht canalseis zu sagen ‚Schau hin, denk nach, versuche zu verstehen, schau was wirklich passiert‘”, sagt Mitbegünder Carlos Mendoza.
Die Position des canalseis hat sich in den letzten 20 Jahren nicht maßgeblich verändert. 2008 wie schon 1988 bemüht sich das Kollektiv um die Unterstützung und Stärkung der Zivilgesellschaft durch zuverlässige Informationen, die ihr die Entwicklung von eigenen Standpunkten ermöglicht.
Der Vorsitzende der Filmschule der UNAM, Armando Casas, bezeichnete canalseisdejulio kürzlich als „praktisch das einzige vertrauenswürdige visuelle Medium, das ein Verständnis der Realität Mexikos der letzten 20 Jahre erlaubt”. Trotz ständiger Unterfinanzierung überlebt die Produtionsgesellschaft durch das Engagement seiner MitarbeiterInnen und die Unterstützung seines Publikums.

Vorwand Drogenhandel

„Dieses Mal hat es nicht geklappt. Aber wir kommen wieder, in zwei Wochen. Und dann kommen wir auf jeden Fall in die Gemeinde rein“. Diese unverhohlene Drohung sprachen SoldatInnen gegenüber den zapatistischen BewohnerInnen der indigenen Gemeinde Hermenegildo Galeana aus. Das geht aus einem Kommuniqué des Rats der Guten Regierung von La Garrucha, einem der fünf regionalen Verwaltungszentren der zapatistischen Autonomie, hervor. Bisher wurden die Drohung noch nicht wahr gemacht.
Am 4. Juni war die Armee zusammen mit einer lokalen Polizeieinheit und einem Trupp der Justizpolizei AFI zunächst in die Gemeinde La Garrucha, später dann in Galeana und San Alejandro, eingedrungen. Als Vorwand gaben sie die Suche nach Marihuana-Feldern an. Es war die heftigste Provokation der Regierung gegenüber den ZapatistInnen in den letzten Jahren.
Und es war nicht der einzige Einsatz von Militärs und Polizei in einer zapatistischen Gemeinde. Bereits am 19. Mai führten SoldatInnen, AFI- und chiapanekische PolizistInnen eine gemeinsame Operation in der Gemeinde San Jerónimo Tulijá, im autonomen Landkreis Ricardo Flores Magón, durch. Zunächst wurde die Suche nach einem Labor für Raubkopien als Motiv angegeben, später ein intrakommunitärer Konflikt zwischen Familien, die der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) angehören. Einige Tage später hieß es dann von Seiten der chiapanekischen Regierung, der Einsatz sei auf der Suche nach Drogen und Waffen eingeleitet worden. Keines dieser drei Motive erklärt jedoch, warum ausschließlich ZapatistInnen Ziel des Einsatzes waren.
Beiden Einsätzen ist ein Muster gemeinsam: Sie wurden von KennerInnen der lokalen Strukturen geleitet. In San Jerónimo Tulijá wurde ein Bewohner des Dorfes, der als Soldat in Cancún stationiert ist, während seines Urlaubs zur entscheidenden Figur. Er zeigte auf die Häuser der UnterstützerInnen der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN). Daraufhin drangen die Soldaten in mehrere Häuser ein und bedrohten eine Frau, das Kind auf dem Arm, mit dem Tod. Später zogen sie vor ein Haus, das Teil der zapatistischen Infrastruktur darstellt. Die zapatistischen Frauen des Dorfes verhinderten, dass Armee und Polizei die Sicherheitsstrukturen der zapatistischen ZivilistInnen angreifen konnten. In La Garrucha wurde der Einsatz von der lokalen Polizei geleitet. „Es war Feliciano Román Ruiz, und wir wissen, dass er ein Polizist aus Ocosingo ist“, so der Rat der Guten Regierung von La Garrucha.

SoldatInnen drangen in mehrere Häuser ein und bedrohten eine Frau mit dem Tod

Ende Mai berichteten regierungsnahe Medien über die Zerstörung von Hanffeldern in der angeblich zapatistischen Gemeinde Nuevo Chamizal im Biosphärenreservat Montes Azules. Lokale Nichtregierungsorganisationen stellten bald darauf klar, dass im genannten Dorf keine ZapatistInnen leben. Doch es deutet alles darauf hin, dass es Strategie der föderalen Regierung ist, die ZapatistInnen des Drogenanbaus und -handels zu beschuldigen, um möglicherweise eine Offensive gegen die zapatistischen Gemeinden zu rechtfertigen. Ähnliche „Anschuldigungen“ hatte es zwar schon früher gegeben, allerdings ohne dass das Militär in zapatistische Gemeinden eingedrungen war.
Auch in der Gemeinde Morelia kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Dort war in der Zeit kurz nach dem Aufstand 1994, als die gesamte Gemeinde in der EZLN organisiert war, ein Stück des Gemeinschaftslandes den Aufständischen überlassen worden. Daraufhin entstand dort eines der fünf aguascalientes , ein Treffpunkt für das Zusammenkommen der EZLN mit der Zivilgesellschaft. 2003, wurde er in das caracol, ein zapatistisches Verwaltungszentrum, umgewandelt. Die mittlerweile mehrheitlich zur PRI gewechselten DorfbewohnerInnen forderten nun Ende April das Land zurück, auf dem sich das caracol befindet. Nach einigen konfrontativen Gesprächen mit dem Rat der Guten Regierung begannen die Aggressionen. Die PRI-AnhängerInnen stellten den ZapatistInnen mehrmals den Strom ab. Als diese ihre Elektrizitätsleitungen reparierten, wurden sie gewaltsam angegriffen. In der Folge wurden über 30 Personen auf beiden Seiten verletzt. Mittlerweile wurden die PRI-AnhängerInnen von der chiapanekischen Regierung „entschädigt“.

Im nördlichen Teil von Chiapas wurden Militärkontrollposten eingerichtet

Insgesamt haben die Militärbewegungen und ‑einsätze in den letzten Wochen zugenommen. Im nördlichen Teil von Chiapas wurden mehrere Militärkontrollposten eingerichtet. Die BewohnerInnen der betroffenen Gemeinden haben daraufhin öffentlich ihre Sorge ausgedrückt, dass es zu einer Zunahme von Feindseligkeiten gegen die widerständischen Gemeinden kommen könnte. Vor allem in dieser Region hat in den letzten Jahren der Widerstand gegen die hohen Stromtarife zugenommen. Mehrere Gemeinden zahlen keinen Peso mehr an das halbstaatliche Energieunternehmen CFE. Dieses hatte in einigen Fällen unverhältnismäßig hohe Rechnungen für die BewohnerInnen von Dörfern ausgestellt, in deren Haushalten zwei Glühbirnen der einzige Stromverbrauch waren.
Nicht nur die ZapatistInnen sind von der aktuellen Welle der Einschüchterung betroffen. Am 29. Mai konnten die Frauen der indigenen Gemeinde El Carrizal, auf dem Weg von San Cristóbal in Richtung der Täler des Lakandonischen Urwalds gelegen, ein Eindringen der Armee und der chiapanekischen Polizei verhindern. Auch in diesem Fall handelt es sich um die Kriminalisierung sozialer Organisationen, denn das besagte Dorf ist Mitglied der Bauernorganisation Emiliano Zapata (OCEZ). Diese wiederum ist innerhalb der Landesweiten Front im Kampf für den Sozialismus (FNLS) organisiert. Abermals war der Vorwand die Suche von Marihuana-Feldern in der näheren Umgebung.
„In diesem Jahr haben wir von verschiedenen Gemeinden Beschwerden über Militär- und Polizeieinsätze erhalten, die sich durch die Art der Durchführung dieser Aktionen in die Logik der Aufstandsbekämpfung einreihen,“ heißt es in einer jüngst veröffentlichen Pressemitteilung des Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé de Las Casas zur Situation in Chiapas. „Diese Ereignisse dürfen nicht isoliert betrachtet werden und müssen im Rahmen einer Offensive gegen die indigenen Gemeinden im Widerstand gesehen werden,“ so das Menschenrechtszentrum weiter. Das Zentrum für politische Analysen und sozio-ökonomische Forschung (CAPISE) hat in seinem jüngsten Bericht die aktuellen Militärbewegungen im Lakandonischen Urwald aufgeführt und erklärt, dass „die Offensive (des Staates) gegen die zapatistischen Gemeinden auf ihrem Gebiet weiter geht und zunimmt.“ Die Medien schweigen währenddessen darüber. Beide Organisationen stimmen überein, dass die vom Militär angeführte Begründung, den Drogenanbau zu bekämpfen, nur ein Vorwand ist, um den Widerstand der indigenen Gemeinden zu brechen.
Als Reaktion auf die Einsätze des Militärs und der Polizei haben prozapatistische Gruppen der Zivilgesellschaft in Mexiko zu Protesten und gemeinsamen Aktionen aufgerufen. Mehrere lokale Gruppen der Anderen Kampagne, einer mexikoweiten pazifistischen Initiative der EZLN, haben in verschiedenen Städten des Landes zu Demonstrationen gegen die Armeeprovokationen aufgerufen. Mitte Juni haben diverse alternative Radio-Stationen, die in der Anderen Kampagne organisiert sind, einen Tag lang über die jüngsten Ereignisse berichtet.
Auch international blieben die Reaktionen nicht aus. In Australien und Neuseeland haben Solidaritätsgruppen vor den mexikanischen Botschaften demonstriert. Zapatistische Kollektive in Madrid und Barcelona konnten Mitte Juni während des Besuchs des mexikanischen Präsidenten Felipe Calderón in hörbarer Nähe ihrer Empörung über die jüngsten Provokationen Ausdruck verleihen. Verschiedene Solidaritätsgruppen weltweit haben Protestbriefe an die mexikanische Regierung geschrieben und das Ende der Aktionen verlangt.
Mittlerweile sind in den europäischen Kollektiven die Vorbereitungen für eine Solidaritätskarawane angelaufen. Diese wird vom 27. Juli bis zum 12. August, in Koordination mit mexikanischen Gruppen und Organisationen, in die zapatistischen caracoles und Gemeinden reisen, um die aktuelle Situation kennen zu lernen und später in den Herkunftsländern der TeilnehmerInnen darüber berichten zu können. Entstanden war die Initiative bei einem Treffen von 28 europäischen Solidaritätsgruppen Anfang Mai in Athen. Jetzt, wo sich die Lage der zapatistischen Gemeinden zuspitzt, gibt es klare Zeichen, dass sie nicht allein sind.

Weitere Infos // www.frayba.org.mx // www.capise.org.mx // www.chiapas98.de // www.europazapatista.org

„Wenn der Knopf gedrückt wird, geht es los“

Wie wahrscheinlich ist ein Krieg in Chiapas, nicht ein Krieg niederer Intensität, sondern ein Krieg im herkömmlichen Sinn?

Die Gefahr für kriegerische Auseinandersetzung zwischen dem Militär, der nationalen und bundesstaatlichen Polizei einerseits und den zapatistischen Gemeinden andererseits ist sehr hoch. Auf Grund dieser Gefahr und einer ganz neuen Qualität der Aggressionen hat sich die EZLN (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung, Anm. der Red.) im vergangenen Dezember von der nationalen und internationalen Zivilgemeinschaft verabschiedet. Die zapatistische Armee zog sich in ihre Gemeinden zurück, um sich auf einen möglichen Angriff gegen sie vorzubereiten.

Wie wollen die zivilen Autoritäten der Zapatisten, die Juntas de Buen Gobierno auf die Aggressionen reagieren?

Sie versuchen der Aggression mit mehr Autonomie entgegen zu treten. Ganz konkret sollen mehr Schulen und Krankenhäuser aufgebaut werden.

Hat sich seit dem Amtsantritt von Präsident Calderón im Jahr 2006 etwas verändert?

Zur Zeit gibt es Umstrukturierungen bei dem mexikanischen Militär im zapatistischen Gebiet. Mit Präsident Calderón ist die Ultrarechte weiterhin an der Macht und die hat eine klare Position zu den Zapatisten. Die 56 permanenten Stützpunkte des Militärs im zapatistischen Gebiet bestehen zu 90 Prozent aus Spezialeinheiten für die Guerillabekämpfung. Das ist ein Alarmzeichen, denn wo es Spezialeinheiten gibt, werden paramilitärische Gruppen aufgebaut. Die Paramilitärs sind wieder in Erscheinung getreten und haben die Unterstützergemeinden der Zapatisten bedroht. Die Organisationen der öffentlichen Sicherheit, die Bundes- und die Bundesstaatspolizei sind in diesen Prozess involviert. Zum ersten Mal seit über zehn Jahren ist es durch die Bundesstaatspolizei und paramilitärische Gruppen wieder zu Folterungen gekommen. Das Militär selbst will weiterhin als „die Guten“ erscheinen und hält sich zurück.

Das Militär hat also eine eher passive Haltung?

Nein! Sie haben eine aktive Rolle in dem erneuten Aufbau der paramilitärischen Gruppen. Das Militär agiert aber eher verdeckt, so dass es den Anschein hat, als ob die Auseinandersetzungen nur zwischen den unterschiedlichen indigenen Gruppen abliefen. So als ob es zu den Gebräuchen der indigenen Bevölkerung gehören würde, sich gegenseitig abzuschlachten, dieses Bild vom indigenen Wilden, das in unserem Land immer wieder entworfen wird.

Wie schätzt du die militärische Schlagkraft der zapatistischen Armee ein?

Die kenne ich nicht! Wir wissen auch nicht, ob ein Angriff des mexikanischen Militärs gegen die Zapatisten bevorsteht. Aber wir wissen, dass die Armee zum Angriff bereit ist. Wenn der Knopf gedrückt wird, geht es los.

Welche Gruppen gibt es bei den Paramilitärs?

Die Paras von Paz y Justicia (Friede und Gerechtigkeit) wurde reaktiviert. Eine andere Gruppe von Paramilitärs wurde 1998 aus der Taufe gehoben. Sie heißt Organisation für die Verteidigung der indigenen Rechte und campesin@s, kurz OPDIC. OPDIC hat paramilitärische Einheiten und eine zivile Organisation. Es gibt Mitglieder bei der OPDIC, die wissen gar nicht, in was für einer Organisation sie tätig sind. Aber die Führung ist paramilitärisch. Das Landwirtschaftsministerium hat besonders in der jüngsten Vergangenheit der OPDIC Landtitel überschrieben.

Zu welchem Zweck?

Mit Landtiteln als juristische Grundlage setzen diese paramilitärischen Organisationen die Zapatisten unter Druck. Sie stellen Strafanzeigen wegen illegaler Landname und Raub und beantragen bei der Agrarbehörde die Räumung der zapatistischen Gemeinden von ihren „illegal besetzten“ Ländereien.

Neben den militärischen Institutionen, wie wird Druck auf die Zapatisten von anderer Seite aufgebaut?

Die Umweltbehörde hat viele tausende Hektar Land in den zapatistischen Gebieten als neue Naturschutzgebiete ausgewiesen. Die mexikanische Regierung stellt sich als eine Regierung dar, die sich um den Umweltschutz kümmert. Diejenigen, die die Natur zerstören, brandroden und den Wald abholzen, seien die indígenas. Also muss man rechtliche Grundlagen schaffen, um die indigenen Gemeinden von ihren Ländereien vertreiben zu können. Bleiben darf nur, wer den Tourismus als Arbeitssektor für sich akzeptiert. Der Diskurs von Calderón zusammen mit dem Gouverneur von Chiapas, der der linken Partei der Demokratischen Revolution PRD angehört, ist klar: Der Tourismus soll in Chiapas so stark wie nur möglich gefördert werden und der Entwicklungsmotor für die Region werden. Es ist eine Wirtschaftsoffensive des Staates gegen die Zapatisten.
Dazu gehören auch die ganzen Straßenprojekte, die für den Tourismus in der Selva Lacandona, dem Kerngebiet der Zapatisten, und in der Region um Agua Azul und Palenque wichtig sind. Auch der Plan Puebla Panama ist in diesem Zusammenhang zu sehen.

Wie verlaufen denn die Konfliktlinie in der Selva Lacandona selbst?

Lange bevor die Zapatisten 1994 an die Öffentlichkeit traten, gab es bereits eine intensive Wanderungsbewegung indigener Bevölkerung aus dem Hochland in die Selva Lacandona. Das nahm seinen Anfang in den 50er und 60er Jahren. 1972 bekamen die Lacandonen, eine indigene Gruppe aus der Selva Lacandona, 614.000 Hektar übertragen und 1988 wurde dieser formale Landtitel mit 500.000 Hektar bestätig. Der mexikanische Staat gab 66 Lacandonen-Familien Landtitel, ein wirklich außergewöhnlicher Fall von Landverteilung: Nur die Gemeinden und Dörfer, die bereit waren ihre Ländereien zu verpachten oder zu verkaufen bekamen diese Landtitel. Die anderen indigenen Völker, die in der Selva Lacandona lebten, wie Tzeltales, Tzotziles, Choles, Tojolabales, Mames, wurden einfach nicht beachtet.

Wie wird dann mit den anderen Ethnien umgegangen?

Wenn die Gemeinden, die keine Lacandonen sind, ihre Ländereien legalisieren und Landtitel erhalten wollen, werden zum gemeinschaftlichen Landbesitz nur Personen zugelassen, die keine Zapatisten sind. So werden die Zapatisten und ihre Unterstützer zu illegalen Landbesetzern. Die einzige Möglichkeit für die Zapatisten bleiben zu können ist, ihre Unterstützung für die EZLN aufzugeben und so die Aussicht auf einen Landtitel zu bekommen. Das ist eine Quelle für innerdörfliche Konflikte.

In der Selva Lacandona gibt es ja neuerdings viele Tourismusprojekte.

Ja, stimmt. Die Regierung bewirbt die Selva Lacandona mit Werbespots im Fernsehen. „Wir retten den Regenwald, und sie können mithelfen: Kommen Sie in die Selva Lacandona!“ Mann, das sozialen Netz in den Dörfern der Lacandonen ist total zerstört! Da sind die Lacandonen in ihren riesigen Pick-Ups, auf ihren Motorrädern, mit ihren super neuen Handys. Und wenn die Touristen kommen, dann werfen sie schnell iher traditionelle Kleidung über, dieses lange weiße Hemd, und bedienen die Touristen. Wenn die Touristen wieder weg sind, ziehen sie sich ihre Hosen und T-Shirts wieder an.

Wie schätzen Sie die Ökotourismusprojekte in Chiapas ein, die immer zahlreicher werden?

Es gibt den herkömmlichen Tourismus, in dem die indigenen Gemeinden wie San Juan Chamula und Zinacathan in der Nähe von San Cristobal de las Casas zu einer Art Choreografie gehören, so etwas wie ein dekoratives Beiwerk zu einer Reise. Andere Agenturen präsentieren sich als Ökotourismusagenturen mit einer Verantwortung für die Umwelt, aber diese funktionieren auch in der Logik des Wirtschaftsmodells „Entwicklung durch Tourismus“.

Was stört Sie denn daran?

Der Prozess der Selbstbestimmung der indigenen Gemeinde, der Aufbau von Autonomie, die Rettung der traditionellen Werte, der Sitten und Gebräuche, dieser Prozess wird durch den Tourismus als Entwicklungsmodell zerstört. Ein gutes Beispiel dafür sind die berühmten Wasserfälle von Agua Azul. Die Bevölkerung von Agua Azul ist inzwischen vollkommen auf den Tourismus angewiesen. Zwar gibt es auch Organisationen, die eigentlich sinnvolle ökologische Projekte machen, aber es gibt kein integrales Projekt, das all diese Ideen mit dem Gedanken der freien indigenen Selbstbestimmung verbindet. An diesem Punkt arbeiten wir von CAPISE. Diese Ökotourismusagenturen schauen nicht über den Tellerrand ihrer ökologischen Vision und realisieren nicht, dass um sie herum das soziale Netz zerstört wird. Das ist aber genau die Folge von der Wirtschaftsentwicklung durch ihren Tourismus.

Aber kann sich nicht jede Gemeinde selbst entscheiden, inwieweit sie sich dem Tourismus öffnen will?

Das Problem ist, dass durch das ganze Geld, das mit dem Tourismus zu verdienen ist, der Druck auch auf die Gemeinden wächst, die mit dem Tourismus nichts zu tun haben wollen. Zum Beispiel die zapatistische Gemeinde Bolon Ahau, die ein wunderschönes Stück Land an den Wasserfällen von Agua Azul hat. Es wird nun von den Tourismusentwicklern Druck auf die Gemeinde ausgeübt, dass auch sie Touristen aufnehmen sollen. Ansonsten müssten sie gehen. Doch die Gemeinde hat die Entscheidung getroffen, dass sie ihr Land weiter bewirtschaften und an ihrer traditionellen Lebensform festhalten will.

Die Mehrheit der EuropäerInnen kommt nach Mexiko als TouristInnen? Was können Sie ihnen raten?

Wo das soziale Netz extrem zerstört ist, wie zum Beispiel in Agua Azul, da sollte man einen großen Bogen herum machen. Sicherlich muss man aber differenzieren, denn sonst kann man ja nirgendwo mehr hin fahren. Jeder Ort hat seine Zeit und seine Entwicklung, darüber sollte man sich erkundigen. Als Tourist oder Reiseleiter soll man sich über die Region und über die gesellschaftlichen Vorgänge und Verhältnisse informieren. Wir von CAPISE haben eine Kampagne ins Leben gerufen: Keine Touristen nach Agua Azul, solange die Fälle von Folter und Bedrohung gegen die Gemeinde von Bolton Ahau nicht aufhören. Es gibt also Gemeinden, die versuchen sich auf eine radikale Weise gegen das Wirtschaftmodell zur Wehr zu setzten. Die Regierung hat ihre Position auch verschärft: Jetzt drohen nicht mehr nur niedrige Löhne, sondern auch Enteignung und Vertreibung. Die Aggressionen werden vom Staat geführt und die Gemeinden verteidigen sich gegen diese Angriffe.

Homepage von CAPISE: www.capise.org.mx

„Amo Tihuihui!“ – „Sei nicht der Depp!“

Wenn es um die Situation von Indigenen in Mexiko und deren Kampf für ihre Rechte geht, fokussiert sich die Öffentlichkeit zumeist auf Chiapas und Oaxaca. Weit weniger Aufmerksamkeit findet hingegen die Situation in der multiethnischen Kulturregion Huasteca, die sich im Osten Mexikos vor allem über die Bundesstaaten Hidalgo, San Luis Potosí, Veracruz und Tamaulipas erstreckt. Wie auch in anderen indigen geprägten Regionen, leidet die dortige Bevölkerung an sozialer Marginalisierung, die sich in überdurchschnittlicher Armut, ungerechter Landverteilung, politischer Benachteiligung und Menschenrechtsverletzungen ausdrückt. Nach jahrzehntelangem Kampf indigener Organisationen auf der ganzen Welt haben inzwischen auch staatliche und internationale Institutionen teilweise anerkannt, dass eine Verbesserung der Situation nicht ohne die Anerkennung und die Durchsetzung indigener Rechte zu erreichen ist. Doch zwei zeitnahe Ortstermine machen deutlich, dass die theoretische Konzeption in der Praxis, hier in der Huasteca, auf zahlreiche Probleme stößt.
Der erste Ortstermin führt uns in die mexikanische Hauptstadt. Hier traf sich Ende April der internationale Entwicklungsfond der Indigenen Völker zu einem „Technischen Arbeitstreffen zum Monitoring indigener Rechte und Entwicklung mittels der Anwendung von Indikatorensystemen“. Unter diesem sperrigen Titel diskutierten ExpertInnen unter anderem Indikatoren zur UN-Erklärung der Rechte der Indigenen Völker vom Jahr 2007 und zur Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation IAO, einer UN-Sonderorganisation, die ebenfalls wichtige Grundrechte indigener Völker bestimmt. Auch wurde eine Analyse aller Klagen von indigenen Einzelpersonen oder Kollektiven, die bis vor den Interamerikanischen Gerichtshof gelangten, erstellt. An Kritik wurde nicht gespart, so wurde darauf hingewiesen, dass die formelle Existenz von Rechtstexten noch gar nichts darüber aussage, ob diese überhaupt einklagbar seien, zur Anwendung kämen und positive Effekte zeigten. Andere Kritikpunkte bezogen sich darauf, dass das Problem von Indikatoren weniger ein technisches als ein konzeptionelles sei. So würde den „Staatistiken“ von der Bevölkerung nicht viel Glauben geschenkt, weil die Staaten als verlogen gelten und beispielsweise die Interamerikanische Entwicklungsbank sich rhetorisch um die „armen“ Indigenen besorgt zeige, andererseits aber mit Mega-Entwicklungsprojekten besonders die Territorien der indigenen Völker zerstöre.
Von besonderem Interesse an dieser Stelle war die Präsentation eine Studie zu indigenen Gemeinden im Bundesstaat San Luis Potosí, wo ein wichtiger Teil der Huasteca Kulturregion angesiedelt ist. Ausgangspunkt der Untersuchung war, dass die heftig kritisierte Verfassungsreform zu indigenen Rechten und Kultur im Jahr 2001 die Selbstbestimmung und Autonomie der indigenen Völker Mexikos ganz offen gelassen hatte. Die Konkretisierung dieser heiklen Punkte wurde den jeweiligen Bundesstaaten überlassen. Heute haben lediglich Oaxaca und San Luis Potosí die indigenen Völker als Rechtssubjekte – eine der zentralen Forderungen der zapatistischen Bewegung – anerkannt. Damit die abstrakten Gesetzestexte keine Papiertiger blieben, bedürften sie der Konkretisierung und Operationalisierung durch unter- und nachgeordnete Gesetze. Genau diese seien in San Luis Potosí erlassen worden, beispielsweise ein eher unscheinbares Gesetz bezüglich administrativer Angelegenheiten der indigenen Rechtssprechung. Damit wird jedoch die indigene Policia Comunitaria (Gemeindepolizei) legalisiert und dazu ermächtigt, präventive Verhaftungen vorzunehmen (siehe LN 403). Ein anderes wichtiges sekundäres Gesetz erlaubt den indigenen Gemeinden die autonome Entscheidung darüber, ob und wie alkoholische Getränke in ihren Dörfern vertrieben werden.

Die Bevölkerung glaubt den offiziellen „Staatistiken“ nicht

Das hört sich zwar recht fortschrittlich an, doch der zweite Ortstermin, diesmal in Hidalgo, zeigt, dass die Betroffenen in der Huasteca sich nicht mit den per Gesetz gewährten Autonomieregelungen zufrieden geben. Am 10. April feierte in dem Dorf Tecoluco Calpan die Landbesetzungsbewegung ihr 30-jähriges Bestehen. Im Zuge der Fiesta wurde das Haus, das einst dem örtlichen Kaziken gehörte und in dem damals Bauern gefoltert wurden, zu einer Casa Popular umfunktioniert und eingeweiht. Tropische Hitze erdrückt den ärmlichen Ort im Grenzgebiet zu Veracruz, von wo der mexikanische Staat erst vor kurzem einen Militärstützpunkt abgezogen hat. Mehrere Kühe werden geschlachtet, Blumenkränze aufgehängt, traditionelle Musik gespielt und Tänze aufgeführt. Eingeladen sind VerterterInnen von anderen sozialen Bewegungen aus verschiedenen Bundesstaaten. Im politischen Programmteil werden dann Reden auf Nahuatl und Spanisch gehalten und ein selbst produziertes Buch mit dem Titel „Unsere eigene Geschichte“ vorgestellt. Darin finden sich die Geschichten „von unten“, vom jahrzehntelangen Widerstand in 19 huastekischen Dörfern, welche in stundenlangen Versammlungen kollektiv erarbeitet wurde.
Denn zu erzählen gibt es viel: Zuerst wurden die Landbesetzungen von den quasistaatlichen Bauernorganisationen und linken politischen Parteien organisiert. Allerdings mussten die campesin@s feststellen, dass sie von diesen permanent übervorteilt wurden. Daraufhin lösten sie sich von diesen los und gründeten 1978 die Unabhängige Organisation der Vereinten Völker der Huastecas (OIPUH). Die OIPUH wiederum schloss sich 1986 mit anderen autonomen Landebesetzungsorganisationen zu der Demokratischen Front Ostmexikos Emiliano Zapata (FDOMEZ) zusammen. Diese konnte in den 80er Jahren alleine in Hidalgo um die 30 000 Hektar Land zurückerobern. In den 90er Jahren gelang es ihr, sich auch in Veracruz auszubreiten. Ihre politische Orientierung kann als eine Art Nahuatl-Marxismus beschrieben werden. Sie ist eher der orthodoxen Linken in Mexiko zuzuordnen und wird, wie viele andere radikale Indígena-Organisationen in extrem armen Gegenden, mit der Guerilla Revolutionäre Volksarmee EPR in Verbindung gebracht. Trotz starker staatlicher Repression ist die FDOMEZ weiterhin aktiv und initiierte 2007 die Nationale Kampffront für den Sozialismus (FNLS). Außerdem entstand aus der Landbesetzungsbewegung 1992 ein autonomes Menschenrechtskomitee in Hidalgo, das Komitee für Menschenrechte der Huastecas und Sierra Oriental (CODHHSO). Der bewusste Verzicht auf staatliche Unterstützung bringt jedoch auch erschwerte Arbeitsbedingungen mit sich: der Computer ist ständig kaputt, seit längerem fehlt das Geld für die Miete und Arbeitsreisen können nur auf Pump oder durch Spenden finanziert werden. Zudem ist die Arbeitsatmosphäre von Angst geprägt. Anfang der 90er Jahre gab es wiederholt Morddrohungen gegen die MitarbeiterInnen und das Büro musste zeitweilig (bis 1997) nach Mexiko-Stadt verlagert werden. Auch heute noch wird das Büro immer wieder von Unbekannten beschattet, die durch ihr militärisches Auftreten auffallen.
Pedro Hernández Flores, Präsident des CODHHSO, kommt aus einem extrem armen Nahua-Dorf, war von Anfang an in der Landbesetzungsbewegung aktiv und ist heute eine anerkannte Autorität in den organisierten Dörfern. Auf Grund der Repression musste er die Region verlassen und beteiligte sich Jahre lang in verschiedenen Orten Mexikos an Protestaktionen und Organisationsarbeit, um den Kampf in der Huasteca zu stärken. Wegen eines offensichtlich von den Behörden fingierten Delikts verbrachte er Ende der 90er Jahre zwei Jahre im Gefängnis, wo er seinen Grundschulabschluss nachholte. Gegenwärtig ist er dabei, ein Netz von Menschenrechtsmonitoren in der Huasteca aufzubauen. Eingebettet in das traditionelle indigene Ämtersystem, das in der Teilnahme an kollektiven Arbeiten und der Erfüllung spezieller Gemeindeaufgaben besteht, werden regelmäßig autonome Menschenrechtsworkshops auf Nahuatl abgehalten. Die wichtigsten Aspekte sind dabei die Organisation und Motivation der Monitore, das Bewusstsein bezüglich der Existenz ihrer Rechte in den Dörfern zu verbreiten, sich für die Einhaltung der Rechte stark zu machen sowie sich die grundlegenden Methoden zur Dokumentierung und Denunzierung von Menschenrechtsverletzungen anzueignen. Im Gespräch betont Pedro Hernández Flores, dass es nicht darum gehe, sich auf gesetzliche Regelungen zu verlassen, „sondern darum, was zu tun ist, damit die Gesetze eingehalten werden. Ohne Organisation gibt es keine Bewusstseinsbildung und keine Verteidigung. So wie wir die Landrechte im Zuge von Kämpfen errungen haben, so werden wir sie durch die Passivität wieder verlieren“.

Der Verzicht auf staatliche Unterstützung bringt erschwerte Arbeitsbedingungen mit sich

Die Verabschiedung der Erklärung der Rechte der Indigenen Völker der UNO im September 2007 sieht er wenig euphorisch, denn diese Rechte stünden nur auf dem Papier. Zudem seien von Rechtsverletzungen in der Huasteca ja nicht nur die indigenen, sondern alle campesin@s betroffen. Generell scheint ihm eine ethnische Unterscheidung am Problem vorbeizugehen: „In unserer Denkweise trennen wir die Sachen nicht so: Indigener hier und Nicht-Indigener da, weil das Problem ist hierbei nicht ,der Indigene’. Das Problem ist die Struktur des kapitalistischen Systems. Es geht um den Aufbau eines Systems, worin alle die gleichen Rechte und den gleichen Respekt genießen, worin alle alles haben.“ So will er trotz gewisser juristischer Fortschritte auch weiterhin die Rechte der Menschen in der Huasteca nicht institutionellen Händen überlassen, sondern selbstständig für diese kämpfen. In einem der Menschenrechtsworkshops brachte er die Sache auf den Punkt: „Amo Tihuihui!“ – „Sei nicht der Depp!“.

Letztes Mittel Hungerstreik

Plötzlich war das Licht aus. Unruhe brach aus in El Amate, dem chiapanekischen Gefängnis, von dem es heißt, dort säßen die besonders gefährlichen VerbrecherInnen. Sofort bildeten die anderen Gefangenen einen Schutzwall um die Gefangenen der „Stimme des Amate“, die seit über zwei Jahren einen plantón, eine Art Dauerprotestcamp, im Innenhof des Gefängnisses aufrecht erhalten. Einige befinden sich seit Februar dieses Jahres im Hungerstreik befinden. Das Gerücht, die Hungerstreikenden könnten in andere Gefängnisse verlegt werden, hatte eine Solidarisierung der Gefangenen bewirkt. Dies geschah in der Nacht des 11. März.
Die Situation beruhigte sich schließlich wieder – trotz der Feindseligkeiten von Seiten der Gefängniswärter. „Hört mit dem Hungerstreik auf!“ forderten sie. Doch die Gefangenen machten weiter. Zacario Hernández Hernández, seit über 5 Jahren Gefangener in El Amate, hatte in jener Nacht fast einen Monat im Hungerstreik hinter sich. Der Tsotsil-Indígena war derjenige, der am 12. Februar mit diesem drastischen Mittel begann, dem sich in den darauf folgenden Tagen und Wochen weitere Gefangene in diesem und zwei weiteren Gefängnissen in Chiapas anschließen sollten.
Hernández und drei weitere Familienangehörige, Katholiken aus der Gemeinde Tres Cruces, die zum Landkreis der Touristenattraktion San Juan Chamula gehört, waren im Januar 2003 während eines Polizeieinsatzes verhaftet worden. Ihnen wurde vorgeworfen, mehrere Personen umgebracht zu haben. Aber die wirklichen Gründe der Verhaftungen hängen wohl mit der vermeintlichen oder tatsächlichen Beeinträchtigung politischer, sozialer und wirtschaftlicher Interessen der Kaziken, der lokalen Machthaber, zusammen. Diese haben in Chamula seit mehreren Jahrzehnten das Sagen und warfen früher massenhaft unliebsame Personen aus den Dörfern, weil diese durch ihren Glauben oder ihrer politischen Überzeugung das Machtmonopol der Kaziken in Frage stellten. Mittlerweile bedienen sie sich „legaler“ Tricks in Komplizenschaft mit der Polizei, um sich der Leute zu entledigen, die ihnen gefährlich werden könnten.
Eine Gruppe von Gefangenen des Gefängnisses El Amate, in ihrer Mehrheit Tsotsil-Indígenas, haben sich vor über zwei Jahren zur Gefangenenorganisation „Die Stimme des Amate“ zusammengeschlossen. Sie betrachten sich als politische Gefangene, die aufgrund ihrer politischen und sozialen Aktivitäten verhaftet wurden, und nicht weil sie Verbrechen begangen hätten. Die Organisation ist Teil der Anderen Kampagne, die die Zapatistische Armee zur Nationalen Befreiung (EZLN) vor zwei Jahren initiiert hat. Die Mitglieder der „Stimme des Amate“ haben sich seit ihrer Gründung mehrmals öffentlich zu ihrer Situation und im Rahmen der Anderen Kampagne geäußert. Sie stellen auch Hängematten her, welche von Soli-Kollektiven in Chiapas und darüber hinaus verkauft werden. Damit versuchen die Gefangenen, ihre und die wirtschaftliche Situation ihrer Familien zu verbessern.

Es ist unklar, wer neben den politischen Gefangenen noch freikam – vielleicht gehören auch Paramilitärs dazu.

Das Gefängnis El Amate heißt im offiziellen Sprachgebrauch Zentrum für Soziale Wiederanpassung (CERESO) Nr. 14 und befindet sich in Cintalapa de Figueroa, im Westen von Chiapas, nahe der Grenze zum Bundesstaat Oaxaca. Es ist die Nachfolgeanstalt von Cerro Hueco, dem Gefängnis, in welchem bis zu seiner Schließung vor gut zwei Jahren noch die Schwerverbrecher des Bundesstaates saßen, aber auch vermeintliche beziehungsweise bekennende ZapatistInnen.
Der Hungerstreik, der im El Amate begann, weitete sich bald auf zwei weitere Haftanstalten aus. Im Gefängnis Los Llanos (CERESO Nr. 5), nahe San Cristóbal de Las Casas, begannen Häftlinge der Gefangenengruppe „Die Stimme von Los Llanos“ am 4. März ebenfalls mit Hungerstreik und Fasten. Im CERESO Nr. 17, in Playas de Catazajá nördlich von Palenque, traten weitere Häftlinge am 10. März in den Hungerstreik. Sie alle forderten von der chiapanekischen Regierung ihre Freilassung, mit der gleichen Begründung wie die Initiatoren des Hungerstreiks.
Die nationale und internationale Solidarität ließ nicht lange auf sich warten. Vor allem die AnhängerInnen der Anderen Kampagne in San Cristóbal zeigten früh ihre Unterstützung. Hinzu kamen in den letzten Wochen und Tagen internationale Solidaritätsbekundungen, vor allem von Gruppen, die sich bisher mit den Zapatisten solidarisch erklärt hatten. Besorgt äußerten sich Menschenrechtsorganisationen, wie die Internationale Organisation gegen Folter und die Internationale Zivile Kommission zur Beobachtung der Menschenrechte, über die Situation der Gefangenen im Hungerstreik. Letztere hatte bei ihrem Besuch in Chiapas Anfang Februar auch mit dem Gouverneur von Chiapas, Juan Sabines Guerrero von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD), über die Situation der Gefangenen gesprochen und eine Überprüfung der Fälle gefordert, bei denen sie Unregelmäßigkeiten festgestellt hatte. Die Deutsche Menschenrechtskoordination Mexiko, ein Zusammenschluss verschiedener Organisationen in Deutschland, die zum Thema Menschenrechte in Mexiko arbeiten, forderte in einer Pressemitteilung den Gouverneur und die mexikanische Regierung auf, sich der Forderungen der Gefangenen im Hungerstreik anzunehmen und die unschuldig einsitzenden Gefangenen für die Zeit ihrer Haft zu entschädigen.

Viele „Geständnisse“ werden von der Polizei vorgefertigt, andere entstehen unter Folter.

Offensichtlich ist das Problem ein strukturelles. Zum einen werden häufig die Rechte der Angeklagten verletzt, zum anderen wird über das Rechtssystem sozialer und politischer Protest kriminalisiert. Das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas (Frayba) wies in einem Brief an Sabines Guerrero Mitte März darauf hin, dass nicht nur in den Fällen der Hungerstreikenden die Rechte der Angeklagten bei der ersten Anhörung verletzt wurden. „Der Hungerstreik offenbart einerseits die Defizite des Justiz- und Gefängnissystems, zeigt andererseits aber auch die vorhandene Solidarität mit den Gefangenen, die sich innerhalb der Gefängnisse organisiert haben“, so Michael Chamberlin, stellvertretender Direktor des Zentrums. Vor allem den Indígenas wird meist keine Übersetzung in ihre Muttersprache zur Verfügung gestellt. Dies steht ihnen aber laut chiapanekischer und mexikanischer Verfassung sowie auf Grundlage internationaler Abkommen zu. Unschuldige werden aufgrund von anonymen Zeugenaussagen verurteilt, ohne dass eine Gegenüberstellung stattgefunden hätte. Auch die Erfindung von Delikten ist keine Seltenheit. In vielen Fällen, in denen Unschuldige im Gefängnis sitzen, werden die „Geständnisse“ von der Polizei vorgefertigt, andere entstehen unter Folter.
Der aktuelle Gouverneur betonte zwar mehrmals, die Gefangenen im Hungerstreik seien Fälle seines Vorgängers, aber auch in seiner Amtszeit besteht diese Praxis fort: Anfang Februar wurden zwei Zapatisten, Vater und Sohn, von einer Polizeipatroullie gestoppt und verletzt. Auf der Wache beschuldigte man sie, die Anführer einer Bande von Räubern in der Region der Wasserfälle von Agua Azul zu sein. Sie wurden unter Folter zu einem Geständnis gezwungen und ins Gefängnis gebracht. Der Vater, der bei der Verhaftung angeschossen wurde, erhielt keine adäquate medizinische Versorgung, selbst im Gefängnis nicht, in das er nach einem kurzen Aufenthalt im Krankenhaus verlegt wurde. Seit Geburt an hat er ein Augenleiden, ist fast blind. Die Anschuldigung wird spätestens an diesem Punkt bizarr. Durch die Intervention verschiedener chiapanekischer NGOs und der internationalen zivilen Kommission zur Beobachtung der Menschenrechte (CCIODH) konnten beide Gefangene nach wenigen Tagen das Gefängnis verlassen – ein Glück, das viele andere unschuldige Gefangene bisher nicht haben.
Viele der Gefangenen, die in den Hungerstreik getreten sind, waren vor ihrer Haft in sozialen oder politischen Organisationen aktiv. Die Verhaftung sozialer AktivistInnen ist dementsprechend auch ein Mittel, Proteste gegen die Regierung zu schwächen oder zu unterbinden. Dann wird zusätzlich zur Arbeit der Organisationen noch der Kampf um die Freilassung ihrer compañer@s geführt – sofern die Verhafteten von ihren Organisationen oder Familienangehörigen nicht vergessen werden. Denn das passiert teilweise leider auch.
Als Reaktion auf den Hungerstreik bildete die chiapanekische Regierung Mitte März ein Gremium, das die Revision von 360 Fällen innerhalb von 30 Tagen durchführen sollte. Als einer der ersten kam Hernández in der Nacht des 17. März frei. Die chiapanekische Regierung behauptete, er hätte zunächst mit dem Hungerstreik aufgehört, und die Mehrheit der chiapanekischen Zeitungen verbreitete diese Version unhinterfragt. Auf einer Pressekonferenz am 18. März stellte Hernández klar, dass er erst nach seiner Freilassung wieder Essen zu sich genommen hatte.
Am 31. März verkündete der Gouverneur schließlich die Freilassung von weiteren 137 Gefangenen. Darunter waren jedoch nur 30 von den 47 Gefangenen, die im Hungerstreik waren oder fasteten. Eine öffentliche Liste der Freigelassenen gibt es noch nicht. So bleibt unklar, wer neben denen, die sich als „politische und Gesinnungsgefangene“ verstehen, noch frei kam. Dies ist nicht irrelevant, denn verurteilte Paramilitärs der Gruppen Paz y Justicia (Frieden und Gerechtigkeit) und OPDDIC hatten ebenfalls ihre Freilassung gefordert.
Se­it Mitte März haben die Familien von mehreren der Gefangenen im Hungerstreik ei­n plantón vor dem Regierungspalast in der chiapanekischen Hauptstadt Tuxtla Gutiérrez installiert, um die Freilassung ihrer Angehörigen zu fordern. Diejenigen Freigekommenen, welche kurz zuvor noch in Haft im Hungerstreik waren, solidarisieren sich weiterhin mit denen, deren Schicksal sie noch vor kurzem geteilt hatten. Sie nehmen jetzt ebenfalls am plantón teil.
Noch halten beide Seiten durch, die im Gefängnis und ihre UnterstützerInnen draußen, allerdings rennt hinter Gittern die Zeit davon. Die chiapanekische Regierung erklärte die Revision der Fälle unlängst für beendet und stellt sich erstmal quer. Ein eventuelles Ende des Hungerstreiks bedeutet kein Ende des Kampfes um Freilassung der politischen Gefangenen, wie es weitergehen könnte, ist noch unklar. Die Feindseligkeiten der Gefängnisangestellten nehmen seit den bisherigen Freilassungen jedenfalls zu: „Mehrmals täglich kommen sie rein und fotografieren uns. Sie schüchtern uns ständig ein“, so Jesus López, einer der Gefangenen im Hungerstreik im Amate, die nicht freigelassenen wurden. Die strukturellen Defizite bleiben vorerst bestehen.

Die Vergangenheit ist nicht mehr, was sie war

Die Vergangenheit ist nicht mehr, was sie mal war. Das zeigen die Gedenkfeiern zum 40jährigen Jubiläum der Studierendenbewegung von 1968, da die Diskussion um Bedeutung und Reichweite der damaligen Kämpfe im Zentrum der aktuellen nationalen Debatte steht. Kollektives Gedächtnis und massive Popularisierung haben die Ereignisse von 1968 zu zentralen Bezugspunkten im politischen und kulturellen Diskurs gemacht, da sie einen Bruch im politischen System Mexikos erzeugt haben. Im Gegensatz zu früheren Bewegungen verursachte die Niederschlagung der Bewegung von 1968 eine starke Legitimitätskrise und begünstigte die Herausbildung neuer politischer Akteure.
Heute ist der Mythos um 1968 noch größer geworden: Als Kulminationspunkt des alten Systems und Initialzündung für eine neue Ordnung. 1968 ist eine Identität, eine Krisenerfahrung, die jenseits von Rationalität neue Aktionsformen und Werte erzeugte, die sowohl von einem Teil der neu entstandenen politischen Elite, als auch von einer Generation emotional geteilt werden.
Obwohl der offizielle Regierungsdiskurs über 1968 damals über alle Mittel verfügte, um sich durchzusetzen, ist er heute nach 40 Jahren überwunden. Er besitzt keine Glaubwürdigkeit mehr und die Verantwortlichen für Massaker und Unterdrückung werden moralisch verdammt.
Nichtsdestotrotz entging diesem jüngsten historischen Fieber einige der wichtigsten Konsequenzen der Bewegung: Das Entstehen einer neuen Intelligenzija (im Verständnis des russischen Schriftstellers P.D. Boborykin meint dieser Terminus die gebildete und progressive Schicht der Gesellschaft), die einen Weg zum Volk suchte und die Entstehung diverser sozialer Bewegungen. Wie lässt sich dies erklären?
Tatsächlich litt die sozialistische Bewegung in Mexiko bis 1968 chronisch an drei grundlegenden Krankheiten: ihre Entfremdung von der Bevölkerung, ihre Absorbierung im revolutionären Nationalismus des PRI-Systems und ihre Unfähigkeit, die nationale Realität zu erklären. Das Eindringen sozialistischen Gedankenguts in ArbeiterInnengewerkschaften und Bauernorganisationen war mit Ausnahme der Präsidentschaft Cárdenas (1934-1940) über Jahrzehnte marginal und oberflächlich. Wie der argentinische Theoretiker José Aricó aufzeigte, resultierte dies weniger aus einer schlechten Anwendung der Ideen von Marx, sondern vielmehr aus der Unfähigkeit des Philosophen selbst, die Realität Lateinamerikas zu begreifen. Diese Unfähigkeit wurde vom Marxismus der III. Internationalen zum Teil beibehalten. Außerdem hatten die Sozialisten in Mexiko Schwierigkeiten, sich auf selbstständige und kreative Weise in eine Gesellschaft und einen Staat einzubringen, die aus einer Volksrevolution hervorgegangen waren.
Die Bewegung von 1968 begann dies zu verändern. Tausende von Jugendlichen verließen die Universitäten und das Leben in Mexiko-Stadt, um auf dem Land, in Fabriken und in den Armenvierteln der Provinz politisch zu arbeiten. Ihre politische Kultur resultierte aus der Teilnahme an Studentenbrigaden, Vollversammlungen, Mobilisierungen auf der Straße, Auseinandersetzungen mit der Polizei und ihrem Argwohn gegenüber der kommerziellen Presse. Im Kampf für die sozialistische Revolution versuchten sie sich in die historischen und beginnenden Kämpfe der Bevölkerung zu integrieren und begannen ihre organisatorischen Auffassungen zu verändern. Ihre Gesellschaftsvision und politische Praxis der Vollversammlungen verschmolz – nicht ohne Zusammenstöße und Missverständnisse – mit den Traditionen und der Kultur der Massen.
Diese Integration erfolgte auch auf anderen Wegen. Von Seiten der katholischen Kirche, insbesondere durch die Jesuiten, fand ein Teil der Jugendlichen in der Bildungsarbeit und der Gründung von NGO eine Methode, sich mit der Bevölkerung zu verbinden. Andere blieben in den Universitäten und fanden in der Umformung und Ausweitung der Bildungsinstitutionen ihr Hauptterrain der politischen Aktion.
Obwohl sich dieser neue „Weg zum Volk“ theoretisch oftmals an einer handbuchartigen Vision des Marxismus orientierte – besonders stark war dabei der maoistische Einfluss – , entstand gleichzeitig eine wunderbare Neuinterpretation der nationalen Realität, inspiriert ebenso vom marxistischen Denken wie von einer stark von der Bewegung von 1968 beeinflussten Intellektualität. Viele der neuen theoretischen Beiträge zielten auf den absolut kapitalistischen Charakter der mexikanischen Wirtschaft und betonten die Notwendigkeit, dass die nächste Revolution sozialistisch sein müsse.
Aus dieser Vereinigung von Intelligenzija und Masse, der massiven Verbreitung von Elementen einer revolutionären Theorie, der Anwendung des Marxismus auf die mexikanische Realität und der permanenten Analyse der Umstände sollte eine neue Linke und eine neue Massenbewegung entstehen.
Die ersten Studierendenbrigaden, die sich zu vernetzen suchten, stießen auf einen sich eben formierenden gewerkschaftlichen Aufstand, getragen vor allem von den ElektrikerInnen und den ArbeiterInnen der Autoindustrie und der Eisenbahn. Ebenso trafen sie auf die traditionellen Kämpfe der Landbevölkerung, um Land und die breiten Mobilisierungen der marginalisierten Stadtbevölkerung, die für Wohnraum und Infrastruktur kämpften.

Das Hauptmerkmal dieser neuen sozialen Bewegungen ist ihr soziopolitischer Charakter.

Weder die Bewegung von 1968 noch die Studenten, die auf das Volk zugingen, „fabrizierten” das Aufflammen dieser Kämpfe. Diese entstanden jeweils aus endogenen Faktoren, die nicht durch die Agitation der neuen Akteure produziert werden konnten. Gleichwohl veränderte ihre Präsenz die herkömmliche Organisationskultur sowie die bestehenden Kämpfe in diesen Sektoren und erleichterte ihre regionale und nationale Projektion.
Die neuen OrganisatorInnen ideologisierten die Kämpfe, an denen sie teilnahmen. Hinter jedem Streik vermuteten sie revolutionäres Bewusstsein, obwohl die teilnehmenden ArbeiterInnen zumeist lediglich höhere Löhne einforderten. Hinter jedem sich organisierenden Stadtteil vermuteten sie eine sich formierende Gegenmacht zum Staat, obwohl die BewohnerInnen nur ein Dach, Strom und Wasser wollten. Doch trotz des eklatanten Auseinanderklaffens zwischen den anvisierten Zielen und den praktischen Resultaten ihrer Einmischung, schuf ihre Präsenz Organisationen und Bewegungen, die andernfalls so nie entstanden wären.
Das Hauptmerkmal dieser neuen sozialen Bewegungen, von denen viele bis heute überlebt haben, ist ihr soziopolitischer Charakter, der verantwortlich für die tragende Rolle war, den diese Bewegungen bei der Erosion des alten Korporatismus und dem Aufbau neuer sozialer Netzwerke spielten. Aus ihnen entwickelte sich sowohl ein Teil einer politischen Klasse mit Bezug zum Volk als auch die Massenbasis der neuen Projekte von Mitte-Links. Diese Bewegungen hielten das Erbe eines Teils des politisch-kulturellen Gemeinguts der Bewegung von 1968 lebendig: die Unabhängigkeit vom Staates, das Funktionieren basierend auf einer Versammlungsdemokratie, die föderalen Formen der Koordinierung und, die Forderungen der Massenaktionen als Hauptinstrumente des Kampfes.
Allerdings darf auch nicht übersehen werden, dass viele der damals entstandenen Massenbewegungen gescheitert sind. Oftmals blieben sie in Turbo-Ökonomismus, Gremienwirtschaft und dem Desinteresse an repräsentativer demokratischer Politik gefangen. Ihr Antiparlamentarismus erlitt Schiffbruch innerhalb eines parlamentarischen Demokratieverständnisses. Ihre autonome Politik löste sich im Umfeld von politischer Kooptation auf. Ihr Antikorporativismus verkam zu Klientelismus. Abgesehen von einigen Ausnahmen und ihrem anfänglichen Einsatz, konnte ihre politische Praxis nicht auf breiter Ebene Fuß fassen und hat sich dem parteipolitischen Wahlkampf untergeordnet.
Als die AktivistInnen der Bewegung von 1968 in der Geschichte erschienen und 40 Jahre zurück sahen – so wie wir es jetzt tun – , stießen sie auf die Hochphase der Konsolidierung der mexikanischen Revolution. Das Mexiko von 1928 war noch nicht das Mexiko der Agrarreformen, der Arbeiterbewegungen, der sozialen Bildung, der Verstaatlichung der Eisenbahn und der Enteignung der Erdölbetriebe gewesen.
Wenn eben diese AktivistInnen 40 Jahre in die Zukunft hätten sehen können, hätten sie als Resultat ihrer Kämpfe die Wiedergeburt und das Aufblühen des Cardenismus und Zapatismus vorgefunden. Sie hätten außerdem die Entstehung eines neuen Staatsbürgertums gesehen, welches direkt von dieser Bewegung ausgelöst wurde und sich aus dem geschichtlichen Verlangen speist, das die Aufklärung der Vorgänge von 1968 als einen zentralen Punkt begreift. Es ist die Vergangenheit, welche die Hoffnung beleuchtet, es ist die Zukunft, die die Wahrheit über die Vergangenheit fordert.
2008 steht das Vergessen der Erinnerung an 1968 gegenüber. Was bei dieser Auseinandersetzung auf dem Spiel steht, geht weiter als nur die eigentliche Aufklärung dessen, was in diesem Jahr passiert ist. In diesem Kampf stehen sich ebenfalls Straffreiheit und Gerechtigkeit entgegen, die Willkür gegenüber den Bürgerrechten und der Pragmatismus der Macht steht einer auf ethischen Werten basierenden Politik gegenüber.
Im Gegenzug fordern tausende die Erinnerung als Wunsch auf Gerechtigkeit. Sie machen aus Trauer und Wut eine Quelle der Würde. Sie fordern die Öffnung der Archive, um das Benennen, Abgrenzen und Neudeuten der damaligen Ereignisse und der Schuldigen zu ermöglichen. Sie weigern sich, Gemessenheit als Deckmäntelchen der Straffreiheit anzuerkennen.
Diejenigen, die sich bereits von 1968 verabschieden, irren sich. Mehr als nur ein Jubiläum, mehr als die Erinnerung und mehr als ein weiteres Gedenkdatum im Kalender, sind die 40 Jahre der Bewegung von 1968 immer noch ein Kampfschauplatz gegenüber dem Autoritarismus und eine Gelegenheit, ihren kulturellen Sieg zu feiern. Sie sind außerdem ein Fenster, um auf die Geschichte hinauszuschauen, die im Entstehen ist.
Weit entfernt davon, eine Trauerzeremonie oder das Andenken an eine Niederlage zu sein, ist das Gedenken an die Bewegung von 1968 Teil einer Generalprobe, um ein anderes Land zu schaffen. Es ist die Zukunft, welche die Erinnerung auffrischt. Die Vergangenheit ist nicht mehr, was sie einmal war.

Die Straße spricht

Brüder und Schwestern,
Ich schreibe Euch im Namen der Männer, Frauen, Kinder und Alten des Zapatistischen Heeres zur Nationalen Befreiung, um Euch zu grüßen an diesem Tag, der an das Massaker von Tlatelolco erinnert, aber auch an die Bewegung, die vor 30 Jahren für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit für alle Mexikaner gekämpft hat.
68 ist nicht nur der 2. Oktober und das Leid auf dem Platz der drei Kulturen.
68 ist nicht nur dieser Platz, getränkt vom Blut dreier Kulturen, die der Tod vereint, der Tod, den ein Regime zu verantworten hat, das sich heute durch ähnliche Massaker an der Macht hält und erhält.
68 ist auch, ist vor allem, der Schweigemarsch, das Politechnische Institut, die UNAM. Hunderte von SchülerInnen und StudentInnen aus höheren Bildungseinrichtungen, die zu denen ganz unten blicken, die sich mit den Bauern des Dorfs Topilejo außerhalb der Stadt austauschen und vernetzen. 68 sind die Versammlungen, die bunt bemalten Mauern, die Brigaden, die Blitzdemos, sind die Straßen, die stürzten und sich wandelten, die neu eingekleidet wurden und ihre Würde zurückerhielten. Die Straße als Raum einer anderen Politik, einer Politik von unten, einer neuen, kämpferischen, rebellischen. Die Straße, die spricht, diskutiert, Autos und Ampeln zur Seite schiebt, die nach einem Platz in der Geschichte verlangt, einen Platz in der Geschichte fordert, um einen Platz in der Geschichte kämpft.
68 ist ein Fenster, durch das man den Zusammenprall zweier Formen sieht, Politik zu machen, zweier Formen, Mensch zu sein.

Oben, das Mexiko der Mächtigen. Derer, die mit Gewalt entscheiden und ihre Entscheidung mit Gewalt durchsetzen, die Monologe halten, deren Regierung auf Knüppeln und auf Lügen fußt.
Das Mexiko der PRI und der Militärs.
Das Mexiko derer, die nur vorgeben, für alle zu regieren.
Das Mexiko derer, die die Katastrophe verwalten, zum Nutzen weniger, zum Schaden vieler.
Das Mexiko der Verbrecher, die die Befehle gegeben haben, die auf den Abzug gedrückt haben, in Tlatelolco, in Acteal, in Chavajeval, in Union Progreso, in Aguas Blancas, El Charco.
Das Mexiko der von oben. Das Mexiko, das im Sterben liegt.

Unten, das Mexiko von 68.
Das Mexiko derer, die den Widerstand gelebt haben, gestorben sind, den Kampf für Gerechtigkeit ernst genommen haben, auf die einzige Weise, wie man ihn ernst nehmen kann: indem man ihn selbst lebt.
Das Mexiko derer, die nicht verbittert zusahen, wie die Jahre vorbeiziehen, ohne etwas zu tun. Derer, die aufgestanden sind, die stürzten. Die sich wieder, immer wieder, von neuem erheben.
Das Mexiko derer, für die die Forderung nach Gerechtigkeit sich nicht auf einzelne Tage im Jahr beschränkt. Für die Widerstand keine Jugendsünde ist, keine Krankheit, die die Zeit und das Alter heilen. Für die rebellisch zu sein keine Mode ist, nichts, das sich nur an der Länge der Haare eines Mannes misst, oder, mit umgekehrten Vorzeichen, an der Länge des Rockes einer Frau.
Das Mexiko derer, die keine Führungsgestalten sind noch je sein werden. Aber die zu Hause, bei der Arbeit, im Bus, im Taxi, auf dem Pferd, an der Maschine, in der Aula, in der Fabrik, in der Kirche, im Rollstuhl, im Autobus, am Pflug, beim Frisör, im Schönheitssalon, auf dem Traktor, im Flugzeug, in der Werkstatt, im Stand auf der Straße, auf dem Moped, auf dem Markt, im Krankenhaus, im Stadion, in der Arztpraxis, im Labor, im Kabarett, im Heim, am Schreibtisch, im Büro, in den Studios von Radio und Fernsehen, in den Bildhauerwerkstätten, in der Metro, auf dem Klo, in den Redaktionen, an der Ladentheke, auf dem Fahrrad, an irgendeinem Ort, in irgendeiner der Farben, die das Alltägliche und das Stille malen, die Hand heben, ein Bild, einen Laut, einen (Wahl)zettel, eine Faust, einen Gedanken, eine Stimme. Um sich den Lügen der Regierung zu widersetzen und zu sagen: Nein. Es reicht. Ich glaube euch nicht. Wir wollen etwas besseres. Wir brauchen etwas besseres. Wir verdienen etwas besseres.
Das Mexiko derer, die Nein sagten zur falschen Bequemlichkeit des sich Ergebens, derer, die mit kurzem oder langem Haar oder ganz ohne ihre Würde verteidigt, zurückgewonnen haben, ganz gleich, ob der Rock die Knie bedeckt oder nicht.
Das Mexiko derer, die 68 gelebt haben und gestorben sind, und die dabei geholfen haben, dass ein anderes Morgen das Licht der Welt erblickt, ein anderes Land, eine andere Erinnerung, eine andere Politik, eine andere Art, Mensch zu sein.
Das Mexiko der von unten. Das Mexiko, das leben wird.
Das Mexiko aller, die weitermachen, dazukommen, mehr werden, all der Menschen die, so verschieden, unterschiedlich, anders sie sind, denselben Kampf für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit führen, ganz gleich, was ihr Alter ist, ihr Geschlecht, die Farbe ihrer Haut, ihre Kultur, aus welcher Provinz sie stammen und von welchem Ort, welche Sprache sie sprechen, welchen Glaubens sie sind.
Das Mexiko derer, die gekämpft haben und kämpfen um besser zu sein, in der einzigen Form, in der man besser sein kann: indem man mit anderen, mit allen ist.
Sie alle. Die, die nachkommen. Die, die sich widersetzen. Die, die weitermachen. Jene, die, obgleich sie tot sind, 68 überlebt haben und die wir heute von dieser Seite sehen. Sie alle grüßen wir ZapatistInnen.

1968. 1998.
Damals und heute kommt die Lüge von oben, um die Wahrheit zu verbergen.
Damals und heute kommt die Wahrheit von unten, um die Wirklichkeit zu zeigen.
1968. 1998.
Die Wirklichkeit des Blutes, die den Platz tränkt.
Die Wirklichkeit des Autoritarismus, der zum Verbrechen führt.
1968. 1998.
Die Wirklichkeit der Toten und der Lebenden, die sich erinnern und die Erinnerung erhalten.
Die Wirklichkeit des Kampfes, der weitergeht.
Die Wirklichkeit des Morgens, der sich ankündigt, der kommen wird…
So sei es denn. Einen Gruß und was wir nicht vergessen dürfen: 30 Jahre später… setzen wir dieselben Kämpfe fort.

Aus den Bergen des mexikanischen Südostens,
für das CCRI-CG, Subcomandante Insurgente Marcos

Angst vor einem neuen Acteal

Am 21. Dezember waren sie alle da: die Überlebenden und die Angehörigen der Toten, Menschenrechts- und indigene Organisationen, über Tausend Menschen aus ganz Mexiko und anderen Teilen der Welt, der amtierende Bischof und die ehemaligen Bischöfe Raúl Vera und Samuel Ruiz. Ein Chor sang, ein traditionelles Orchester spielte. Doch ein fröhlicher Tag war es nicht im Dorf Acteal im Hochland von Chiapas. Nicht nur jährte sich an diesem Tag zum zehnten Mal das grausame Massaker, das Paramilitärs hier 1997 verübten. Das Gedenken war auch geprägt von der erneuten Zuspitzung des Konflikts in Chiapas in den letzten Monaten – und der Angst, dass sich so auch ein Verbrechen wie in Acteal wiederholen könnte.
Schon Monate zuvor hatte die indigene Organisation Las Abejas (Die Bienen) angekündigt, anlässlich des zehnten Jahrestags des Massakers zu einem Nationalen Treffen gegen Straflosigkeit einzuladen. Zwei Tage diskutierten die TeilnehmerInnen schließlich in Acteal die aktuelle Situation der Menschenrechte in Mexiko, überlegten gemeinsam, wie Menschenrechtsverletzungen bekannt gemacht werden können. Die Anwältin des Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé des Las Casas, genannt Frayba, erläuterte den aktuellen Stand der juristischen Aufarbeitung des Massakers, Kleingruppen arbeiteten Vorschläge aus, wie die Erinnerung der Opfer im öffentlichen Bewusstsein wachgehalten werden könnte. Dann endeten die Debatten und es begann das Gedenken: Mit Andachten und Prozessionen, Redebeiträgen und Berichten der Überlebenden.
Das Massaker von Acteal war trauriger Höhepunkt einer von der mexikanischen Regierung seit 1995 umgesetzten Strategie der Aufstandsbekämpfung. Obwohl deren zentrales Ziel die Zermürbung der zivilen Unterstützungsbasis der EZLN war und ist, so waren doch immer auch AnhängerInnen oppositioneller Parteien und regierungsunabhängiger Organisationen von der Repression betroffen. Wichtigster Bestandteil des Konzepts, dessen Umsetzung auch als „Krieg niederer Intensität“ bezeichnet wird, ist die Schaffung, Ausbildung und materielle Unterstützung paramilitärischer Gruppierungen, die die mexikanische Armee als „Selbstverteidigungsgruppen“ bezeichnet. Diese bestehen in der Mehrzahl aus Indígenas, die meist aus denselben Dörfern wie die ZapatistInnen kommen, aber auf der Seite der Regierung stehen. Häufig spielen dabei wohl ein geringes Ansehen in der Gemeinde sowie ökonomische Faktoren eine Rolle für ihre Entscheidung.
Zunächst wurde die Aufstandsbekämpfung ab 1995 in Norden von Chiapas angewandt. Im Hochland des Bundesstaats wurde 1996 mit dem Aufbau paramilitärischer Gruppen begonnen; ab diesem Zeitpunkt nahmen die Konflikte zwischen regierungstreuen auf der einen und oppositionellen und zapatistischen Indígenas auf der anderen Seite zu. In den Monaten vor dem Massaker provozierten AnhängerInnen der damaligen Regierungspartei Institutionelle Revolutionäre Partei PRI mehrere Zusammenstöße mit den ZapatistInnen, bei denen vor allem Letztere mehrere Tote zu beklagen hatten.
Insofern gab es Alarmzeichen, die auf eine gewalttätige Zuspitzung hindeuteten. Doch weder die Regierung des Bundesstaats Chiapas noch die Zentralregierung in Mexiko-Stadt schritten ein. Wenige Tage vor dem 22. Dezember fanden mehrere Treffen von Paramilitärs in Nachbardörfern von Acteal statt. Auf diesen Treffen wurde der Überfall geplant. Die Paramilitärs kesselten dann die Gemeinde von allen Seiten ein und metzelten die Opfer mit Schusswaffen und Macheten nieder.
Auch zehn Jahre nach dem Massaker sind die Täter noch nicht rechtskräftig verurteilt. Derzeit laufen verschiedene Prozesse gegen über 80 Indígenas, Angehörige verschiedener Polizeieinheiten und staatliche Funktionäre jener Zeit, die sich entweder durch direkte Tatbeteiligung oder unterlassene Hilfeleistung schuldig gemacht haben. Die höheren Ebenen der Regierung, die Ende 1997 im Amt war, sind von den Prozessen nicht betroffen. Doch die Angehörigen der Opfer und die Organisationen, die sie unterstützen, sind überzeugt, dass sowohl der damalige mexikanische Präsident Zedillo, sein Innenminister und Verteidigungsminister sowie der damals amtierende Gouverneur von Chiapas, Julio César Ruiz Ferro, als die geistigen Urheber angeklagt und verurteilt werden müssten. Das Menschenrechtszentrum Frayba hat mehrfach betont, dass es sich bei dem Massaker wegen der Planung und des Tat-hergangs um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit handele und Zedillo als Oberbefehlshaber der Streitkräfte daher zur Rechenschaft gezogen werden müsse. Frayba hat den Fall vor die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte gebracht, deren Entscheidung über die Verhandlung des Falls noch aussteht.
Ähnlich unbefriedigend wie die juristische Aufarbeitung des Massakers verläuft für die Opfer, ihre Angehörigen und UnterstützerInnen derzeit auch die öffentliche Debatte in Mexiko. Im Oktober 2007 starteten verschiedene mexikanische Medien eine Kampagne, die die Ereignisse in Acteal in einer Weise darstellte, die die mexikanische Regierung von jeglicher Verantwortung freispricht. In der regierungsnahen Monatszeitschrift Nexos erschien eine dreiteilige Artikelserie mit dem Titel Regreso a Acteal („Rückkehr nach Acteal“). Die These: Das Massaker von Acteal sei allein auf Konflikte zwischen dem Dorf und Nachbargemeinden zurückzuführen. Die Serie löste ein breites mediales Echo aus; ihr Autor, Héctor Aguilar Camín, wurde in der Folge ein gefragter Interviewgast in Radio und Fernsehen.
Die Opfer hatten es wesentlich schwerer, Gehör zu finden. Lediglich einige wenige Zeitschriften sowie die linke Tageszeitung La Jornada boten kritischen Intellektuellen ein Forum, um gegen die Vertuschung staatlicher Schuld zu argumentieren. Hermann Bellinghausen, der seit über einem Jahrzehnt aus den aufständischen indigenen Gemeinden in Chiapas berichtet, erläuterte in 21 aufeinander folgenden Artikeln ausführlich, wie sich die paramilitärischen Strukturen in der Hochlandregion von Chiapas entwickelten, wie der Staat die Zuspitzung des Konflikts in den Gemeinden unterstützte und dieser schließlich in das Massaker von Acteal mündete. Eine Resonanz wie seinem Kollegen Aguilar Camín von Nexos war Bellinghausen jedoch nicht beschieden.
Dabei wäre eine Diskussion über das bisher schlimmste Ergebnis der Aufstandsbekämpfung in Chiapas derzeit dringend angebracht. Denn ein Jahrzehnt nach dem Massaker mehren sich die Zeichen, die auf eine erneute heiße Phase des „Kriegs niederer Intensität“ hindeuten. Um den Jahreswechsel waren ein zapatistisches Dorf und das erste zapatistische Naturschutzreservat nahe San Cristóbal von gewaltsamer Räumung bedroht. Besonders unter Druck steht derzeit die Gemeinde Bolon Ajaw nahe den Wasserfällen von Agua Azul; die Mitglieder der paramilitärisch strukturierten Organisation zur Verteidigung der Rechte der Indígenas und Bauern OPDDIC haben schon häufiger den dort lebenden ZapatistInnen aufgelauert und mehrere von ihnen schwer verletzt. Allen Brennpunkten ist der Streit um Land gemeinsam, das 1994 von den Aufständischen besetzt, verteilt und seitdem bewirtschaftet wurde. Der Sprecher und militärische Kopf der EZLN, Subcomandante Marcos, hat zudem bei einem internationalen Kolloquium in San Cristóbal Mitte Dezember 2007 erklärt, dass dies sein vorerst letzter Auftritt sei, da die momentane Entwicklung in Chiapas auf eine Rückkehr des Krieges hindeute. Ob dies wirklich eintritt, wird sich zeigen. Im Moment sollten die mexikanische und die internationale Öffentlichkeit jedenfalls wieder verstärkt die Augen auf den Südosten Mexikos richten.

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