„Wir können viel vom Mut der Zapatistinnen lernen“

Sie haben an dem internationalen Frauentreffen der Zapatistinnen teilgenommen. Wie kam es zu dem Treffen?

Den Wunsch nach einem zapatistischen Frauentreffen gab es seit Jahren. Der konkrete Vorschlag kam von den Zapatistinnen selbst, nachdem die mexikanische und internationale Zivilgesellschaft auf dem „I. Treffen der Zapatistas mit den Völkern der Welt“ vor einem Jahr deutlich machte, dass sie ein großes Interesse an der spezifischen Situation der indigenen Frauen in Chiapas sowie an der Rolle der Zapatistinnen in der Bewegung und den Veränderungen seit dem Aufstand von 1994 gibt.

Wie können wir uns die Arbeitsweise des Treffens vorstellen?

Rund 150 delegierte Zapatistinnen aus den fünf autonomen Verwaltungszentren berichteten im überfüllten Auditorium, in dem nur Frauen Rederecht hatten, ausführlich von ihrer Arbeit. Das allein ist schon revolutionär. Vor einigen Jahren war es noch undenkbar, dass die Frauen selbstbewusst auftreten und ihre Stimme erheben. Bemerkenswert finde ich ebenfalls, dass auch Frauen das Wort ergriffen, die nicht besonders gut Spanisch sprechen und Wert darauf gelegt wurde, dass sich möglichst viele beteiligen. Die Vorträge über die von Region zu Region teilweise sehr unterschiedlichen Erfahrungen mit der Autonomie waren für die Zapatistinnen selbst und ihr Vorankommen sehr wichtig. Der Zivilgesellschaft wurde die Möglichkeit gegeben, die Kämpfe der zapatistischen Frauen aus erster Hand kennenzulernen, Fragen zu stellen und von den eigenen Kämpfen zu berichten.
Durch alle Wortbeiträge zog sich eine klare antikapitalistische Position. Immer wieder betonten die Rednerinnen, dass es bei ihrem Kampf nicht um Unterschiede zwischen Indígenas und Nicht-Indígenas, Frauen und Männern oder Hetero- und Homosexuellen ginge, sondern um die Überwindung des kapitalistischen Systems und des Parlamentarismus, der nur im Sinne der Ausbeuter agiere.

Welche Themen standen auf der Tagesordnung?

Ein wichtiges Thema war die Frage, wie das Leben früher war, vor dem Aufstand von 1994, und wie es heute ist. Die Frauen erläuterten die seit 1994 erkämpften Fortschritte und schilderten die Schwierigkeiten, die es in der Selbstorganisation gegeben hat, weil viele von ihnen Analphabetinnen waren und als indigene Frauen auf keine Tradition der politischen Partizipation zurückgreifen konnten. Sie bezeichneten einige Traditionen als „schlechte Traditionen“, die es abzuschaffen gelte. Seit der Durchsetzung des von ihnen erkämpften „revolutionären Frauengesetzes“ können die Frauen selbst entscheiden, ob und wen sie heiraten, ob, und wenn ja, wie viele Kinder sie bekommen möchten. Bemerkenswert finde ich, dass die Erziehung der Kinder durch die Mütter als Politikum gewertet wird und den anderen Aufgaben gleichgestellt ist. Sie haben heute zudem das Recht, sich an allen Arbeitsbereichen zu beteiligen, die für die Selbstorganisation der Bewegung wichtig sind.
Den Aufbau der Autonomie bezeichneten sie als einen langwierigen und problematischen Prozess, weil er inmitten eines Krieges stattfand, den die Regierung und die Paramilitärs gegen die Indígenas vorangetrieben haben. Dieser „Krieg niederer Intensität“ umfasst ständige Einschüchterungen, Repression, Bedrohung, Morde, Verfolgung, Räumung von autonomen Dörfern und hält bis heute an.
Das Thema Land war ebenfalls wichtig. Früher haben viele Indígenas für die Großgrundbesitzer gearbeitet. Sie wurden wie Sklaven behandelt. Für die Frauen bedeutete dies Missbrauch und Vergewaltigung. Es war normal, dass die jungen Frauen vor ihrer Hochzeit vergewaltigt wurden, viele haben auch Kinder von den Großgrundbesitzern bekommen. Durch die Landbesetzungen sind die Zapatistas heute nicht mehr darauf angewiesen, für die Großgrundbesitzer zu arbeiten. Dadurch hat sich die Situation der Frauen erheblich verbessert. Sie betonten, dass sich ihr Leben insgesamt erheblich verbessert hätte, auch wenn es zwar noch immer viele Schwierigkeiten gebe und sich ihre Unterdrückung als Frauen nicht aufgelöst habe.

In welchen Bereichen der Bewegung partizipieren die Frauen heute?

Heute arbeiten die Frauen in allen Bereichen mit, als Guerilleras und Kommandantinnen der zapatistischen Befreiungsarmee EZLN, als Autoritäten der zivilen Selbstverwaltungsräte und anderer Gremien, als Promotorinnen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Agrarökologie und Kollektivarbeit sowie als Beauftragte für Rechtsangelenheiten. Einige Frauen haben als Teil der politischen Führung der EZLN im Rahmen der „Anderen Kampagne“ weite Teile Mexikos bereist. Die „Andere Kampagne“ ist eine zivile mexikoweite Mobilisierung der EZLN, die eine neue antikapitalistische Verfassung von unten und von links erarbeiten und durchsetzen will.

Gab es auch Kritik gegenüber den eigenen compañeros?

Ja, insbesondere die Frauen aus Oventic und Morelia richteten kritische Worte an ihre männlichen Genossen. Sie kritisierten die noch immer vorkommende häusliche Gewalt und Benachteiligung innerhalb der Bewegung. Sie unterstrichen jedoch stets, dass es den zapatistischen Frauen nicht darum gehe, gegen die Männer zu arbeiten, sondern sich als Frauen in der Bewegung zu organisieren und gemeinsam mit ihren compañeros für die Autonomie der indigenen Gemeinden und eine antikapitalistische Verfassung zu kämpfen.

Es kamen auch viele Männer zu dem Treffen. Wie können wir uns ihre Teilnahme vorstellen? War sie unumstritten?

Die Zapatistinnen hatten explizit auch männliche Genossen eingeladen, die aber zu schweigen und den Frauen zuzuhören hatten. Die Zapatistinnen waren nicht zimperlich, wenn es darum ging, Männer aus dem Auditorium zu werfen, die diesen exklusiven Frauenraum auf dem Treffen nicht respektierten. So unsensibel waren im Übrigen nur einige zugereiste Männer der mexikanischen und internationalen Zivilgesellschaft.
Den Männern wurde auf unübersehbaren Plakaten ihr Platz auf diesem Treffen zugewiesen: Sie sollten kochen, sich um die Kinder kümmern, Müll beseitigen und Feuerholz holen – eine absolute Umkehrung der Rollenverteilung. Mindestens drei Essensstände wurden dann auch tatsächlich ausschließlich von Männern betreut. Wer schon einmal in Chiapas war, weiß, dass dies als revolutionär zu betrachten ist.
Interessant zu beobachten war, dass viele zapatistische Männer vom Rande des Versammlungsraums aus den kritischen Worten der Frauen über Stunden konzentriert zuhörten.

Aus welchen politischen Spektren stammten die Teilnehmerinnen und wie fand der Austausch untereinander statt?

Die rund 3.000 Teilnehmerinnen kamen aus unterschiedlichen Zusammenhängen und bildeten ein breites Spektrum ab. Neben den Zapatistinnen waren Frauen aus anderen bedeutenden sozialen Kämpfen Mexikos, wie zum Beispiel der Gemeindefront zur Verteidigung der Erde FPDT aus Atenco oder der Volksversammlung der Völker von Oaxaca APPO angereist.
Sehr präsent zeigte sich Vía Campesina, ein Zusammenschluss, in dem über 160 kleinbäuerliche Bewegungen weltweit organisiert sind. Es sprachen Delegierte aus Guatemala, Brasilien, Ecuador, Nicaragua, Kanada, Korea und Frankreich. Schwerpunkte waren Repression, die katastrophalen Auswirkungen der globalen kapitalistischen Politik und die durch mehrfache Unterdrückung geprägte Situation der Frauen. Vereinend war der Wille und die Entschlossenheit, sich über die Kontinente und Grenzen hinweg zu organisieren, um gemeinsam eine andere, bessere Welt aufzubauen. Austausch und Vernetzung fanden in den wenigen Pausen zwischen den arbeitsintensiven Plena und dem allabendlichen, ebenfalls sehr interessanten Kulturprogramm statt.

Bei ihren Abschlussreden drückten mehrere Kommandantinnen der EZLN ihre große Zufriedenheit mit dem Treffen aus. Teilen Sie diese Einschätzung?

Es war ein großartiges und sehr bewegendes Treffen. Die Fortschritte der zapatistischen Frauen sind sicht- und spürbar, in immer mehr Bereichen – auch in leitenden Positionen – sind sie präsent und übernehmen Verantwortung.
Besonders die jungen Zapatistinnen der dritten Generation traten mit einem ganz neuen Selbstbewußtsein auf. Sie reklamierten auf dem Treffen neben dem Anspruch auf Partizipation in allen Bereichen auch ihr Recht auf ein glückliches und erfülltes Leben, eine Forderung, die vor wenigen Jahren noch vollkommen ausgeschlossen gewesen wäre. Sie bekamen enormen Applaus für ihre offensiven Ausführungen. Dieser Beifall hat die zapatistischen Männer sichtlich beeindruckt. Das Treffen hat somit nicht nur internationale Frauenaktivistinnen zusammengebracht, sondern auch vor Ort klare Spuren hinterlassen.
Auch wenn der Kampf der zapatistischen Frauen weit von hiesigen Kämpfen entfernt ist: wir alle können viel von ihrem Mut, ihrer Entschlossenheit und ihrer Ausdauer lernen.

Quellen im Internet
Alle Redebeiträge des Treffens finden sich unter:
http://zeztainternazional.ezln.org.mx/
Artikel und Fotos: http://chiapas.indymedia.org

Polizei von unten links

Aufmerksam beobachtet Raulo Ramírez das ungewöhnlich bunte Durcheinander in seinem Dorf Zitlaltepec. Um seine Schulter hängt ein altes Gewehr mit hölzernem Griff. Sein grünes T-Shirt wirkt verblasst vom täglichen Gebrauch. Die schwarzen Stiefel sind zerrieben vom stetigen Tragen. Er guckt freundlich, aber bestimmt, und gibt kurze Antworten. Auf seinem dunkelgrünen Basecap steht in kleinen gelben Buchstaben „Comandante“. Ramírez ist ein comandante, ein Befehlshaber der autonomen Gemeindepolizei. Es sei eine Ehre für ihn, von der Regionalversammlung in dieses Amt gewählt worden zu sein, sagt er. Geld erhält Ramírez nicht für seine Arbeit als Polizist. Aber die compañer@s unterstützten ihn und seine Familie mit Nahrungsmitteln, fügt er hinzu. Ihm sei es wichtig, auf seine Leute aufzupassen und die Gemeinschaft zu verteidigen. Heute feiert Zitlaltepec im Bundesstaat Guerrero bereits den zwölften Geburtstag der policía comunitaria.
Die seblbstverwaltete Polizei war in den Jahren 1993/94, noch vor dem Aufstand der ZapatistInnen in Chiapas, in den drei Landkreisen San Luís Acatlán, Malinaltepec und Metlatónoc entstanden. Das Bedürfnis nach einer unabhängigen, von den Dörfern eingesetzten, Polizei in der Region hatte seine Ursache in Korruption, Kriminalität, Willkür, Rechtlosigkeit, Vergewaltigungen und der höchsten Zahl an Morden in ganz Mexiko. Da die staatliche Polizei nicht in der Lage oder nicht willens war, die Verbrechen zu verfolgen, und in der Region kaum präsent war, suchten die Dorfversammlungen nach anderen Möglichkeiten, die Sicherheitssituation der lokalen Bevölkerung zu verbessern. „Die Polizei in den Händen der Regierung ist ein Geschäft, aber in den Händen unserer Dörfer bedeutet sie Gerechtigkeit“, erklärt Martín Candia, einer der KoordinatorInnen der selbstverwalteten Polizei. Als beste Lösung erschien den Dorfversammlungen, die inzwischen zu einer Art indigenen Bewegung angewachsen waren, die Schaffung eines durch sie selbst legitimierten und kontrollierten Sicherheitssystems. So entstand eine heute 600 Mann starke Gemeinschaftspolizei, die nach Angaben der regionalen Menschenrechtsorganisation Tlachinollan die Verbrechen um 95 Prozent reduzierte. Die erhebliche Verbesserung der Sicherheitslage vor Ort musste auch die bundesstaatliche Regierung zähneknirschend eingestehen. Die Sicherheitslage hat sich erheblich verbessert.
Die wesentliche Aufgabe der policía comunitaria ist heute nicht mehr hauptsächlich die Polizeiarbeit, auch wenn die Polizeieinheiten ihr Rückgrat bilden und die gedrillte Strenge ihres Auftretens an eine kleine Armee erinnert. Nachdem die Auslieferung von Straftätern an die staatliche Polizei keine Wirkung zeigte und es zu keinen Gerichtsurteilen kam, suchten die Dörfer nach eigenen Wegen, die Verbrechen zu ahnden. In Anlehnung an das traditionelle Gerechtigkeitsverständnis, das die Schlichtung und Versöhnung in den Vordergrund stellt, wurden die Vergehen zunehmend den KoordinatorInnen der policía comunitaria vorgetragen und die Strafen von diesen verhängt. Die KoordinatorInnen wiederum werden von den Dorfversammlungen gewählt und organisieren die Arbeit der Polizei in der Regionalen Koordination der Gemeindeverwaltungen. Die Strafen basieren weniger auf dem Prinzip des Wegsperrens, denn auf dem Prinzip gemeinnütziger Strafarbeit. „Lange Zeit verbringen die Verurteilten nicht im Gefängnis. Bei einem Mord beispielsweise werden 20 Jahre Gemeinschaftsarbeit verordnet“, erzählt Martín Candia. Bei schweren Strafbeständen entscheiden jedoch nicht die KoordinatorInnen über das Strafmaß, sondern die Regionalversammlung aller Dörfer.
Im Morgennebel trainieren etwa 200 zum Fest angereiste GemeinschaftspolizistInnen, in militärischer Pose und stolz ihre Gewehre zur Schau stellend, für die große Parade am Nachmittag. Verstört betrachten einige StädterInnen das Schauspiel. Sieht so die schöne neue Welt aus? Am Rande beobachten staatliche PolizistInnen das Geschehen. Sie sind nicht mit Schrotflinten, sondern mit Maschinengewehren bewaffnet. Ist Gewalt ein Mittel zu Selbstverteidigung? Der Widerspruch bleibt bestehen.
Die Resonanz ist auf jeden Fall groß. Am Nachmittag folgt eine große Formation UnterstützerInnen der Parade. Immer wieder rufen sie: „Es lebe die policía comunitaria, es leben die indigenen Völker!“ Salutschüsse werden ins Tal hinabgefeuert.
„In den ersten Jahren trugen wir noch Stöcke und Macheten“, erzählt Martín Candia. Inzwischen habe sich jedoch nicht nur die Ausstattung verbessert. Die policía comunitaria sei zu einem festen und akzeptierten Bestandteil im Leben der Menschen geworden. Davon zeugt die große Begeisterung mit der die Leute aus den Dörfern zum Jubiläum angereist sind.
Auch viele SympathisantInnen, AktivistInnen und MenschenrechtlerInnen sind heute hier zu sehen. Ein kleines Radioprojekt sendet Informationen über das Fest. TheaterkünstlerInnen führen globalisierungskritische Stücke auf. Alternative BerichterstatterInnen suchen InterviewpartnerInnen. Ein Professor von der nationalen Universität UNAM aus Mexiko-Stadt erklärt am Rande der Versammlung seinen Studierenden die policía comunitaria.
Das Projekt einer Polizei von unten stößt auf großes Interesse. Weniger groß ist die Wertschätzung durch die Regierung des Bundesstaats. Die policía comunitaria ist ständig bedroht durch das patrouillierende Militär und in steter Auseinandersetzung mit den offiziellen Sicherheitskräften. Dazu kommen Einschüchterungen, gewalttätige Konfrontationen und Verhaftungen von lokalen Persönlichkeiten. Die Liste der Anzeigen, die vom Menschenrechtszentrum Tlachinollan dokumentiert wurden, ist lang.
Der Staat erklärte die policía comunitaria hingegen zu einem Menschenrechtsproblem und warf ihr vor, die Freiheitsrechte der von ihr verhafteten Menschen zu verletzen. Nach langen Jahren der Repression schien sich schließlich eine Entspannung des Konfliktes mit der Regierung abzuzeichnen und sich die von der PRI geführte Regierung in Guerrero mit der Existenz einer Gemeinschaftspolizei abzufinden.
Doch dann gewann 2005 die vorgeblich linksliberale PRD die Gouverneurswahlen in Guerrero. Die Hoffnung der Menschenrechtsorganisationen, die PRD würde ein Bündnis mit den sozialen Bewegungen suchen, verflog rasch und verkehrte sich ins Gegenteil. „Heute wünschen sich Viele wieder die PRI zurück“, erzählt Teresa vom Menschenrechtszentrum Tlachinollan. Die PRD versucht, die Gemeinschaftspolizei unter dem Vorwand der Aufstands- und Drogenbekämpfung zu kriminalisieren.
Die policía comunitaria als Projekt der Selbstorganisation der Dörfer ist kein Einzelbeispiel in Guerrero. Nicht allzu weit entfernt, im Landkreis Xochistlahuaca gründeten Amuzgo-Indígenas vor fünf Jahren einen Autonomen Landkreis. So entstand dort parallel zur staatlichen eine eigene Verwaltung, ähnlich den Gemeinden der ZapatistInnen in Chiapas. Auch ein Stück weiter in Richtung Küste haben sich die Dörfer im Protest gegen ein umstrittenes Staudammprojekt der Regierung zusammengeschlossen.
Durch den Dammbau würden viele Dörfer von dem entstehenden Stausee überschwemmt werden. Hin und wieder erzielen die AktivistInnen mit Blockaden der Autobahn nach Acapulco kleine politische Erfolge und erzwingen die Freilassung inhaftierter KampfgefährtInnen. Dennoch scheint die Organisationsstruktur der sozialen Bewegungen in Guerrero bisher noch zu schwach, um eine größere Kraft zu entwickeln, schätzt das Menschenrechtszentrum Tlachinollan.

Jenseits der Grenzen

Im Jahr 1927 verkündete die Southern Pacific Railroad stolz die Fertigstellung einer neuen Eisenbahnlinie. Seitdem führt eine Bahntrasse von der mexikanischen Stadt Nogales, an der Grenze zum US-amerikanischen Arizona, quer durch den im Norden Mexikos gelegenen Bundesstaat Sonora bis nach Guadalajara im Zentrum des Landes. Einige Minuten oberhalb des 27. Grades nördlicher Breite verlaufen die Bahnschienen durch eine kleine Stadt namens Vícam und zerteilen den Ort in zwei ungleiche Hälften. Auf der einen Seite der Trasse beherbergen steinerne Häuser ihre BewohnerInnen, und zwei an der Bundesstraße gelegene 24-Stunden-Supermärkte konkurrieren um Kundschaft.
Auf der anderen Seite der Schienen leben die Menschen in aus Holz gezimmerten Eigenbauten im Schatten der örtlichen Betonfabrik, und nicht einmal ein Lebensmittelladen buhlt um ihre Kaufkraft. Auf dieser anderen Seite sind jene zu Hause, die sich dem „Stamm der Yaqui“ zurechnen. Und auf dieser anderen Seite auch, auf dem staubigen Feld zwischen Kirche und Gemeindezentrum, organisierten der Nationale Indigene Kongress (CNI), die EZLN und eine Fraktion des „Stammes der Yaqui“ Mitte Oktober das „Treffen der indigenen Völker Amerikas“.
Natürlich sind es nicht nur Eisenbahnschienen, welche die Grenze zwischen den beiden Teilen Vícams markieren. Sie sind nicht mehr als die bauliche Vergegenständlichung der Teilung der amerikanischen Gesellschaften per se: jener nunmehr 515 Jahre andauernden Trennung in einen indigenen und einen nicht-indigenen Teil der Bevölkerung des Kontinents. Für diejenigen, die sich selbst als Spanier, Weiße oder Mestizen betrachteten und betrachten, waren die „anderen“ selten mehr als „Indios“. Im Gegenzug bezeichnen jene, die sich Yaquis nennen und genannt werden, alle nicht-indigenen Menschen als yoris – ein von negativen Konnotationen nicht immer freier Sammelbegriff.
Beide Begrifflichkeiten zur Bezeichnung des „Anderen“ – sowohl Indio als auch yori – haben in den letzten Jahrzehnten tief greifende Bedeutungsverschiebungen erfahren. „Mit dem Begriff Indio hat man uns beleidigt, hat man uns erniedrigt und kolonisiert. Mit diesem selben Begriff, Indio, werden wir uns erheben, compañeros!“, ruft Víctor Morocho den etwa 5000 Anwesenden, von denen mehr als 600 Delegierte indigener Gruppen aus ganz Amerika sind, von der Bühne aus zu. Und fügt hinzu: „Indígena zu sein bedeutet, der Stolz Amerikas zu sein!“ Das neue Selbstverständnis der indigenen Bewegungen Amerikas spricht aus den Worten des Delegierten des Nationalen Bündnisses der Bauern-, Indigenen und Farbigenorganisationen Ecuadors FENOCIN.
„Es geht auf diesem Treffen um die Zukunft unserer indigenen Völker, um unsere Autonomie“, gibt Juan Domingo, technischer Koordinator einer der traditionellen Autoritäten der yaquis, zu verstehen. „Es ist das erste Mal, dass wir uns in die Augen schauen und Freundschaften schließen können – das ist ein erster, fundamentaler Schritt auf dem Weg zu einer Einheit der indigenen Gruppen Amerikas.“
Im Kern des Wunsches nach einer großen, vereinten indigenen Bewegung findet sich aber auch die Frage nach dem vertrackten Verhältnis zwischen dem Partikularen und dem Universellen, welche die Bewegungen zu lösen haben. Denn der Suche der ethnischen Gruppen Amerikas nach dem „gemeinsamen Indigenen“ haftet stets der immanente Widerspruch an, im Grunde nicht viel mehr gemein zu haben als die koloniale Kollektivbestimmung als „Indios“ – und die damit verbundene Erfahrung rassistischer Ausgrenzung und Diskriminierung. Ausgerechnet das Konzept „Indio“, das dem Herrschaftsdiskurs entstammt und hinter dem sich tatsächlich eine Vielzahl sehr verschiedener Gruppen verbirgt, soll diesen Gruppen also heute dazu dienen, die fragmentierten Kämpfe zu koordinieren und ein gemeinsames politisches und soziales Projekt zu entwerfen.
So herrscht vor allem in der Definition des gemeinsamen Feindes relative Einmütigkeit: Die Mutter Erde soll verteidigt werden, wie Juan Chávez vom Nationalen Indigenen Kongress (CNI) fordert, gegen Ökozid, Ethnozid und Genozid des Kapitalismus. Die Winterolympiade 2010 in Kanada soll ein Kristallisationspunkt des Widerstands werden.
Doch in den konkreten politischen Ansprüche zeigen sich die Unterschiede: Während für die große Mehrheit der nordamerikanischen RednerInnen eine Neuordnung des politischen Systems in weiter Ferne erscheint, haben die indigenen Bewegungen Lateinamerikas im Verlauf der letzten Jahre zum Teil weit reichende politische, soziale und kulturelle Veränderungen erstritten. „Der Kolonialismus und seine weiter bestehenden Konsequenzen haben uns in einem genutzt: wir lernten, uns zu organisieren“, erklärt Victor Morocho, seines Zeichens Quechua. „Wir in Ecuador haben in weniger als zehn Jahren drei Regierungen gestürzt, und dies ist der politischen Arbeit der indigenen Bewegung zu verdanken. Nicht nur hat unsere neue Regierung die Existenz der indigenen Völker anerkannt – per Dekret muss das Quechua heute in jeder Schule als Fach angeboten werden“, verkündet er stolz, und erntet den der Bewegung gebührenden Beifall.
Für die Delegierten des Indigenen Volksrat Oaxacas Ricardo Flores Magón (CIPO-RFM) hingegen steht die Mitarbeit in staatlichen Institutionen nicht zur Debatte. Vertreten wird die Organisation, die sich auf die Ideen des mexikanischen Anarchisten Ricardo Flores Magón beruft, von aus dem südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca angereisten zapotecos. Sie berichten, dass verschiedene Gruppen der zapotecos sich angesichts der Kämpfe und der Repression in Oaxaca entschlossen hätten, am Kampf der Versammlung der Völker Oaxacas APPO teilzunehmen. „Denn wir haben festgestellt, dass wir unseren Kampf nicht allein ausfechten können. Wir brauchen die Unterstützung von allen, nicht nur denen, die Teil einer indigenen Kultur sind, sondern all denen, die eine bessere Welt wollen.“
Doch nicht allein am Gesagten lassen sich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der indigenen Gruppen Amerikas ablesen – auch das Nicht-Gesagte ist aufschlussreich. So bringen einzig die ZapatistInnen die Geschlechterthematik explizit zur Sprache. Nur eine Handvoll Frauen aus den Yaqui-Gemeinden ist anwesend, während die Gruppe weiblicher Delegierter die Grundlinien des vor knapp 15 Jahren verabschiedeten „Revolutionären Gesetzes der Frauen der EZLN“ erläutert und über Probleme und Fortschritte des Kampfes um Gleichberechtigung referiert. Die Yaqui-Frauen, heißt es auf Nachfragen, müssten auf den Feldern arbeiten.
Die Suche nach einer Gesprächspartnerin aus den Yaqui-Gemeinden gestaltet sich schwierig – die wenigen anwesenden Frauen wollen nicht über ihre Situation sprechen. Schließlich erklärt sich Angelina Galindo aus dem nahe gelegenen Sarmiento bereit, Auskunft zu geben. Sarmiento ist eine von der Organisation Mujeres Esperanza (Frauen der Hoffnung) ins Leben gerufene, tiefkatholische Gemeinde, in der verwitwete oder aus tyrannischen Ehebeziehungen geflüchtete Frauen aus den Gemeinden der Yaquis die Möglichkeit haben, durch eigene Arbeit für ihren Lebensunterhalt aufzukommen – und daneben kirchliche Funktionen wahrzunehmen.
„Die Frauen kommen aus Angst nicht zu diesem Treffen“, meint Angelina. „Ihre Ehemänner sagen ihnen, sie sollen nicht kommen – und der Mann ist es, der befiehlt.“ Auf die Frage, ob die Frauen sich denn auf irgendeine Art Organisation innerhalb der Gemeinden stützen könnten, antwortet Angelina mit Bestimmheit. „Nein. Die Yaqui-Frau hat weder eine Stimme noch das Recht auf Teilnahme an Entscheidungen. Und von Mujeres Esperanza abgesehen gibt es keinerlei Organisation von Yaqui-Frauen.“
Es sei sehr mutig von Angelina, hier zu sein und dazu noch ein Interview zu geben, sagt Mary Carrazco von Mujeres Esperanza, die Angelina begleitet. „Drei Tage vor Beginn des Treffens bekam unsere Organisation einen Brief von Frauen aus den Yaqui-Gemeinden, in dem sie uns davor warnten, an dem Treffen teilzunehmen.“
Erst am letzten Tag des Treffens – ein kulturellen Feierlichkeiten gewidmeter Sonntag – nimmt die Präsenz weiblicher yaquis unter dem Schatten spendenden Stoffdach zu. Auch für die Lehrerin Tomasa María Valenzuela, die auf Spanisch und yaqui unterrichtet, ist der letzte Tag der Veranstaltung der erste, an dem sie anwesend ist. „Es sind vor allem die Frauen, die unsere Werte und Traditionen weitergeben und dafür sorgen, dass unsere Sprache weiterhin gesprochen wird“, sagt Tomasa. Der weiblichen Emanzipation steht sie deshalb mit gemischten Gefühlen gegenüber: „Wir versuchen einige Dinge zu ändern, aber ohne unsere Werte und Traditionen zu verlieren“, erklärt sie.
Dass die Befreiung der Frau aus ihrer angestammten Rolle unter Beibehaltung der Tradition sich als schwierig gestaltet, liegt nicht an einem immanenten Widerspruch, sondern derzeit vor allem an der Art und Weise der Befreiung: „Beinahe alle Frauen sind heute dazu gezwungen, in den maquiladoras im nahe gelegenen Empalme zu arbeiten“ sagt Tomasa. „Nachdem die Männer sich bei der Bank verschuldeten, um die notwendigen Landmaschinen kaufen zu können, mussten sie nach und nach ihre Ländereien verpachten. Jetzt arbeiten alle, die Männer und die Frauen, um diese Schulden abzubezahlen.“
Unzählige Kinder aus der Gemeinde haben jeden Winkel des staubigen Platzes für Ballspiele in Beschlag genommen. Das violette Licht der über Sonora untergehenden Sonne scheint auf Francisco Palma, raramuri aus Chihuahua, während er die Erklärung von Vícam verliest. „Mit dem Schmerz, den der andauernde koloniale und kapitalistische Krieg gegen uns hervorruft, wächst auch der Widerstand unserer Völker. Wir lehnen diesen Krieg ab, den Unternehmen und Staaten führen, wie auch die Plünderung der Mutter Erde. Wir wehren uns gegen die Privatisierung des Wassers, der Erde, der Wälder und Küsten, der Luft, des Regens, des traditionellen Wissens und allem, was aus der Erde geboren wird.“
Wenig später spricht Víctor Morocho, Quechua aus Ecuador, die abschließenden Worte: „Wir hatten so wenig Zeit, es reichte gerade eben, uns gegenseitig ein wenig kennenzulernen, ein wenig über die Erfahrungen von Diskriminierung und Kampf der indigenen Völker zu lernen. Mit diesem Treffen haben wir eine Tür geöffnet, und jetzt gilt es, eine gemeinsame Identität zu entwerfen.“
Nur die Scheinwerfer der Bühne und die Lampen der Betonfabrik spenden noch Licht, als die letzte Eisenbahn des Tages vorbei rollt. Eine kilometerlange Reihe von Waggons schleppt sich Richtung Norden, wahrscheinlich kommen sie aus Empalme, wahrscheinlich bringen sie Produkte aus den maquiladoras an die Grenze zu Arizona. „Wir stehen am Anfang des Weges“, ruft Víctor gegen den Lärm des Zuges an, „ein Weg, der uns zur Einheit aller Armen dieser Welt führt, und zu einem weltweiten interkulturellen Lebensprojekt.“

Zapatisten: Zurück auf los

Die EZLN hat den zweiten Teil der Anderen Kampagne abgesagt. Statt wie geplant von Oktober bis Dezember durch den Süden Mexikos zu reisen, um den Widerstand zu vernetzen, bleiben sie in Chiapas, um die zapatistischen Gemeinden zu verteidigen. Die Andere Kampagne, jenes ausufernde Projekt für ein ganz anderes Mexiko, hat damit gut ein Jahr nach ihrem Beginn ein vorläufiges Ende gefunden. Eine Überraschung?
Ja – aber eine, die fällig war.
Chiapas erlebt derzeit eine Welle der Gewalt: Militärs und Paramiltärs vertreiben, morden, schüchtern ein; die Regierung in Chiapas verharmlost, leugnet, lügt. ExpertInnen vergleichen die Situation mit der schlimmsten Phase dieses seit 1994 anhaltenden „Krieges niederer Intensität“. Mit einem Unterschied: Ging damals ein Aufschrei durch die nationale und internationale Öffentlichkeit, wenn die Zapatistas unter Repression zu leiden hatten, so bekommen heute die Wenigsten etwas von den Vorfällen mit. Als die EZLN 1994 zum Aufstand rief, füllte sie eine Lücke, die in der Linken seit Jahren klaffte. Der zapatistische Aufstand war der Beginn der globalisierungskritischen Bewegung. Dieser historischen Konstellation, aber auch ihrem Gespür für die Fragen der Zeit, verdankten die Zapatistas einen großen Teil ihrer Attraktion. Wenn Subcomandante Marcos nun verbittert konstatiert, es sei eine Mode gewesen, die Zapatistas zu unterstützen, aber keine Mode halte länger als zehn Jahre an, dann mag darin viel Richtiges stecken – doch zugleich ist diese Entwicklung dem eigenen Erfolg der EZLN geschuldet. Die globalisierungskritische Bewegung ist längst eine feste Größe, sie benötigt die Zapatistas längst nicht mehr so sehr wie diese umgekehrt die internationale Solidarität.

In Mexiko selbst sind im Laufe des letzten Jahres neue Wunden aufgerissen. Neue Formen des Widerstandes haben die Zapatisten zu einem Akteur unter mehreren gemacht. Man denke nur an die Aufstände in Oaxaca oder die Proteste wegen des vermutlichen Wahlbetrugs bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Im Juli hat sich zudem die Guerilla EPR zurückgemeldet, mit Anschlägen auf das Öl- und Erdgasnetz zieht sie seither die Aufmerksamkeit der Medien auf sich.
Auf all diese Entwicklungen haben die Zapatistas keinen Einfluss, da sie Entscheidungen trafen, die sich als falsch erwiesen haben. Den Konflikt in Oaxaca unterschätzten sie lange Zeit. Dazu trugen wohl auch Differenzen zwischen ihnen und der LehrerInnengewerkschaft bei. Die harsche Kritik, die Marcos am verhinderten Präsidenten Andres Manuel Lopez Obrador und seiner Partei PRD übte, hat sich zwar als vollkommen berechtigt erwiesen. Denn in Chiapas agiert der neue Gouverneur der PRD, Juan Sabines, ebenso korrupt und brutal wie seine Vorgänger von der PRI. Und auf Bundesebene stilisiert sich die PRD zwar immer noch als Opposition, kooperiert aber längst wieder mit der offiziell gewählten Regierung. Dennoch hat die EZLN mit ihrer kategorischen Ablehnung, die Möglichkeiten einer parlamentarischen Linken auch nur zu diskutieren, viele MexikanerInnen vor den Kopf gestoßen, die sich von Lopez Obrador zumindest punktuelle Verbesserungen erhofft hatten.
Wenn die EZLN die Andere Kampagne nun vorerst beendet, so ist das auch ein Eingeständnis, dass sie sich mit diesem Projekt angesichts der derzeitigen politischen Situation übernommen hat. Zuallererst die mühevoll erkämpfte Autonomie der zapatistischen Gebiete zu verteidigen, ist die richtige Entscheidung. Im gewissen Sinne ist es aber auch ein „Zurück zu den Wurzeln“, das vielleicht die Chance bietet, die eigene Strategie der letzten Jahre zu reflektieren, die ungelösten Widersprüche in Konzept und Aufbau der EZLN anzugehen. Die Fähigkeit zur Selbstkritik und die Offenheit dafür, Ziele und Strategien veränderten Bedingungen anzupassen, war immer eine der Stärken der EZLN: Fragend, das haben die Zapatistas immer betont, schreiten sie voran. Und trotz der Vergänglichkeit aller Moden: Allein, wie Marcos fürchtet, wird die EZLN dabei nicht sein.

Druck über die Pipeline

Die Revolutionäre Volksarmee (Ejército Popular Revolucionario EPR) macht weiter Druck: Die sonst vor allem in den südlichen Bundesstaaten Guerrero und Oaxaca operierende Guerilla erweitert ihr Betätigungsfeld und legt mit Anschlägen auf Erdgas- und Erdölleitungen den Industriegürtel in Zentral- und Nordmexiko lahm. Mehrere Milliarden US-Dollar Schaden wurden der Industrie bisher zugefügt, da tausende Fabriken ohne Gas blieben und Werke wie Toyota und VW (mit einer Tagesproduktion des New Beetle von 1850 Stück) ihre Tore tagelang schließen mussten. Zuerst gab es Anfang Juli acht Explosionen in den nördlich von Mexiko-Stadt gelegenen Bundesstaaten Guanajuato und Querétaro. Am 10. September explodierten dann in den zentralen Bundestaaten Veracruz und Tlaxcala weitere Gaspipelines. Die präzise an neuralgischen Punkten gelegten zwölf Sprengsätze bewirkten, dass das satellitengesteuerte Gas-Verteilungssystem Alarm schlug und die Gaslieferungen für ein Dutzend Bundesstaaten eine Woche lang ausgesetzt werden mussten. Bei den Anschlägen wurde niemand verletzt, in Veracruz wurden jedoch kurzfristig 20.000 Menschen vom Militär aus der Gefahrenzone evakuiert.
Die EPR versteht ihre als politisch-militärische Kampagne bezeichnete Aktionen als Reaktion auf das Verschwinden von zwei ihrer Mitglieder, Edmundo Reyes Amaya und Gabriel Alberto Cruz, und fordert von der Regierung, dass diese lebend präsentiert werden. Die zwei sollen nach Angaben der EPR am 25. Mai in Oaxaca-Stadt verhaftet worden sein, beide lebten seit Jahrzehnten im Untergrund. Erst mit der zweiten Explosionsserie im September scheint Mexiko wirklich realisiert zu haben, dass hier eine wohl kleine, aber schlagkräftige Gruppierung gegen diese alte Form der Repression in Lateinamerika zu kämpfen entschlossen ist. Tatsächlich löste die EPR mit ihren Aktionen zumindest eine breite Debatte über das Verschwindenlassen aus. Menschenrechtsorganisationen, Oppositionsgruppen und Angehörige der konservativen Regierungspartei PAN gaben Stellungnahmen dazu ab. Dabei zeigten sich letztere uneins. Während der Großteil weiterhin ein hartes Vorgehen gegen die Guerilla forderte, sprachen sich einzelne Abgeordnete der PAN für eine politische Lösung aus und zogen gar mögliche Verhandlungen mit der EPR in Betracht. Unterstützung fand die EPR bei den Zapatisten. Trotz ihrer strategischen und ideologischen Differenzen zur EPR betonten diese: „Die Forderung nach dem Vorzeigen dieser Verschwundenen ist nicht nur legitim, sie ist auch eine Anklage des Schmutzigen Krieges, den Felipe Calderón Hinojosa [Präsident Mexikos, d. Red.], dieser vernarrte Liebhaber militärischer Uniformen, derzeit neu inszeniert.“ Aufgrund der Offensive gegen die zapatistischen Gemeinden in Chiapas und wegen des eigentlichen Kriegszustands zwischen der EPR und der Bundesarmee sagten die Zapatistas eine weitere Rundreise der „Anderen Kampagne“ durch Südmexiko ab.
Politisch unter Beschuss gerät insbesondere der Innenminister Francisco Ramírez Acuña. Als Hardliner ist er seit seiner Zeit als Gouverneur von Jalisco bekannt, als GegnerInnen des EU-Lateinamerika-Gipfels 2004 in Guadalajara gefoltert wurden. Angesichts des innenpolitischen Debakels der Regierung Calderón verlangen immer mehr Oppositionsabgeordnete den Rücktritt von Ramírez Acuña. Doch nicht nur die Militarisierung der „inneren Sicherheit“ schreitet in diesem olivgrünen Mexiko in Kampfstiefeln voran. Der Bundesstaat Veracruz ist auch ein Beispiel für die Privatisierung der Sicherheit, wurde doch ausgerechnet nach den ersten Anschlägen die US-amerikanische Firma SY Coleman mit der Sicherung der staatlichen Pipelines in Veracruz beauftragt. SY Coleman gehört zum Konzern L-3 Communications, der Raketensysteme entwickelt und zum Dunstkreis der Waffenindustrie um Ex-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld zählt. Dessen Freund und ehemaliger SY Coleman-Chef, Ex-General Jay Garner, leitete 2003 in Bagdad das „Amt für Wiederaufbau und humanitäre Hilfe“, nachdem die hauseigenen Waffen den Irak zerstörten. Dass die US-amerikanische SY Coleman nun mexikanisches Staatseigentum, ja gar die seit der Ölnationalisierung von 1938 als Symbol für die mexikanische Souveränität geltende Petroindustrie bewachen soll (wenn auch offensichtlich nicht erfolgreich), führte zu einem weiteren innenpolitischen Wirbel.
Und was ist mit den zwei Verschwundenen? Nach wie vor gibt es von ihnen kein Lebenszeichen. Die mexikanische Regierung behauptet, nichts über ihren Verbleib zu wissen. Gleichzeitig baut sie den Apparat zur Verfolgung von „Subversiven“ weiter aus und verdächtigt alle und jeden, die gegen ihre Politik protestieren.
Aber auch Personen, die vor Jahrzehnten einmal in der Guerilla aktiv waren, befinden sich wieder im Fadenkreuz: Hermenegildo Torres Cruz, Mitglied eines Kollektivs ehemaliger politischer Gefangener der Achtziger Jahre, wurde am 14. September von Polizisten mit vorgehaltener Pistole „besucht“ und eine Nacht lang verhört. Und am 26. September verschwand im Bundesstaat Michoacán der 58-jährige ehemalige Guerillero Francisco Paredes Ruiz spurlos. Sein Auto wurde mit laufendem Radio in der Nähe seines Hauses gefunden, so die Menschenrechtsorganisation Limeddh. Francisco Paredes war drei Tage zuvor Teilnehmer der jährlichen Gedenkfeier zum ersten Angriff der „modernen“ Guerilla, der am 23. September 1965 auf die Militärkaserne Madera stattfand.
Zudem war Paredes am Aufbau des mexikoweiten Netzwerkes Front gegen die Repression (Frente Nacional Contra la Represión FNCR) beteiligt, das am 2. Oktober von rund 100 Organisationen ins Leben gerufen wurde. Der 2.Oktober ist in Mexiko traditionell ein Gedenktag der Linken, da an diesem Tag 1968 Militär und Polizei mehrere Hundert TeilnehmerInnen einer linken Demonstration ermordeten. An der Gründungsversammlung sprach der Historiker und Krimiautor Paco Ignacion Taibo II Klartext: „Heute gibt es im Land mehr politische Gefangene als 1969. (…) Es scheint, dass sie in faschistoide Epochen zurückkehren wollen.“ Hauptforderung der FNCR ist eine Amnestie für alle politischen Gefangenen und Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen. Die Versammlung endete mit der Parole „Lebend habt ihr sie mitgenommen, lebend wollen wir sie zurück!“ Doch die Hoffnung ist gering, die Familie Paredes befürchtet für Franciscos Schicksal das Schlimmste. Wir für Mexiko unter Calderón auch.

Neue alte Probleme in Chiapas

Die Situation in Chiapas spitzt sich wieder zu: In einem vor Kurzem veröffentlichten Bericht macht das Zentrum für politische Analyse, wirtschaftliche und soziale Forschungen (CAPISE) darauf aufmerksam, dass zapatistische Dörfer weiterhin von Vertreibungen bedroht sind. Mehr als 13 Gemeinden, heißt es darin, könnten in naher Zukunft Opfer von Enteignung und Vertreibung durch die Agrarstaatsanwaltschaft (PA) und das föderale Ministerium für die Agrarreform (SRA) werden.
Weiter wird in dem Bericht die Präsenz der einzelnen Einheiten der mexikanischen Armee in Chiapas aufgelistet und darauf hingewiesen, dass eine qualitative Umstrukturierung der dort stationierten militärischen Einheiten stattgefunden habe, wobei bisherige Truppen durch Eliteeinheiten von höchstem Niveau ersetzt wurden. Hinzu kommt eine Zunahme paramilitärischer Angriffe auf zapatistische Dörfer.
All das deutet auf eines hin: Die seit zehn Monaten amtierende Regierung von Felipe Calderón Hinojosa will den Konflikt mit der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) durch eine Neuauflage der Aufstandsbekämpfung lösen. CAPISE spricht in diesem Zusammenhang von einer Offensive gegen die zapatistischen Gemeinden und Landkreise, die vergleichbar sei mit der schlimmsten Zeit staatlicher und paramilitärischer Angriffe auf die zivilen autonomen Strukturen der EZLN unter Präsident Zedillo vor neun Jahren.
Einer der Hauptakteure in diesem Bedrohungsszenario ist die paramilitärisch agierende Organisation für die Verteidigung der Rechte der Indígenas und der Bauern (OPDDIC). Sie wurde 1998 – als die Angriffe gegen zapatistische Strukturen am heftigsten waren – von Pedro Chulín Jiménez mitbegründet. Er war Abgeordneter der Partei der Institutionellen Revolution (PRI) im chiapanekischen Kongress und galt als einer der Anführer der paramilitärischen Gruppe Los Chinchulines, die in der Amtszeit des Gouverneurs Roberto Albores Guillén, 1998 bis 2000, große Teile der zapatistischen Strukturen zerstörten, für diese Angriffe aber nie zur Rechenschaft gezogen wurden.

Das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas (Frayba) konnte personelle Verbindungen zwischen den Paramilitärs der 1990er Jahre und der OPDDIC des Jahres 2007 nachweisen. Die erkennbare Kontinuität ist umso beunruhigender, wenn man berücksichtigt, dass diese Gruppen die „schmutzige Arbeit“ im Rahmen der Aufstandsbekämpfung übernehmen, deren traurige Höhepunkte die Massaker von Acteal (1997) und El Bosque (1998) waren, bei denen zusammen über 50 Menschen getötet und viele weitere misshandelt wurden.

Die Schaffung paramilitärischer Gruppen war seit 1994 Teil der staatlichen Strategie im Konflikt mit der EZLN, wie das Regierungsdokument „Plan de Campaña Chiapas 1994“ belegt. In diesem Schreiben wird die Rolle der mexikanischen Armee bei Aufbau, Versorgung und Unterstützung der Paramilitärs beschrieben. Beide agieren im Rahmen des so genannten Krieges niederer Intensität, dessen vorrangiges Ziel es ist, die Unterstützung der Guerilla durch Teile der Zivilbevölkerung mit Hilfe von Einschüchterungen, Drohungen und Gewaltanwendung zu unterbinden.
Während die Armee als staatliche Institution zumindest formell an rechtliche Normen gebunden ist, Menschenrechtsverletzungen und Gesetzesbrüche dementsprechend in der Öffentlichkeit kaum vermittelbar wären, agieren die paramilitärischen Gruppen am Rande der Legalität. Sie werden offiziell meist als Organisationen für Entwicklungsprogramme im ländlichen Raum gegründet, führen daneben allerdings eine Schattenexistenz als zivile Gruppen, die von der Armee bewaffnet und trainiert werden, um oppositionelle Organisationen zu zerstören.

Vor zwei Monaten haben die Spannungen in Chiapas an Intensität zugenommen. Am 10. August wurden zwei Zapatisten der Gemeinde Ba Yulumax von Mitgliedern der OPDDIC angegriffen und schwer verletzt. Der Angriff geschah in der Region des Autonomen Landkreises Olga Isabel (offizieller Bezirk Chilón), wo Zapatisten seit mehreren Jahren von Vertreibung bedroht sind.
Kurz darauf, am 18. August, wurden fünf Familien aus den Gemeinden El Buen Samaritano und Nuevo San Manuel in der Region des Biosphärenreservats Montes Azules durch die mexikanische Armee vertrieben. Sechs Männer wurden verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Die Frauen und Kinder wurden zwischenzeitlich in Häusern untergebracht, die schon ziemlich heruntergekommen waren und früher als Bordell genutzt wurden, später in einer Lagerhalle in Ocosingo.
Erst nach einem Monat wurden die Männer freigelassen und hatten dann die Absicht, mit dem Rat der Guten Regierung von La Realidad über die Besiedlung eines neuen Stückes Land zu sprechen. Die Familien sind vorläufig noch in einem indigenen Bildungszentrum in San Cristóbal de las Casas untergekommen.
Nicht nur in den Regionen des Lakandonischen Urwaldes sind Zapatisten den Bedrohungen durch Paramilitärs und die mexikanische Armee ausgesetzt. In der Nördlichen Zone, wo Ende der 1990er Jahre die paramilitärische Gruppe Paz y Justicia regierungsunabhängige Dörfer konstant bedrohte und einschüchterte, ist seit einigen Monaten die Situation der Gemeinde Nueva Revolución äußerst angespannt. Im Mai wurde das Haus eines Zapatisten beschossen, seit Juli wurden mehrmals Paramilitärs in militärischen Uniformen gesehen, wie der Rat der Guten Regierung dieser Region mit Sitz im Autonomen Verwaltungszentrum (Caracol) Roberto Barrios in einem Kommuniqué bekannt machte. Die Armee führte im August aus einem Hubschrauber heraus einen Scheinangriff auf das Dorf durch, wobei Soldaten ihre Gewehre auf die Häuser richteten. Eine Ankündigung der Armee und der lokalen Polizeieinheit, Nueva Revolución in Kürze einzunehmen, wurde letztlich doch nicht umgesetzt.
Die Angriffe und Drohungen häufen sich. Am 11. September wurde eine Gruppe Zapatisten der Gemeinde Bolon Ajaw von Mitgliedern der OPDDIC aus Agua Azul angegriffen. Der Grund: Sie leben auf einem Stück Land, das von der Regierung Zedillo im Jahr 2000 zum Naturschutzgebiet erklärt wurde. An den Wasserfällen von Agua Azul soll eine Art Ökotourismus gefördert werden, dem die Zapatisten sich widersetzen, weil sie sich davon keine Verbesserung ihrer Situation versprechen. Somit stehen sie den Interessen der regierungsnahen BewohnerInnen der OPDDIC aus Agua Azul im Wege.

Jüngste Drohungen sind aus der Region des Hochlandes bekannt geworden, wo sich das Touristenzentrum San Cristóbal de las Casas befindet. In San Andrés Sakam’chen de los Pobres, dem Ort des gleichnamigen und bisher einzigen Abkommens zwischen der Regierung und der EZLN im Jahre 1996, wurde der Rat des Autonomen Landkreises von San Andrés von einer Gruppe namens opdic roja mit dem Tode bedroht, so der Rat der Guten Regierung des entsprechenden Verwaltungszentrums Oventic am 24. September.
Hintergrund der an konkrete Personen gerichteten Drohungen sind die Arbeiten im Rahmen des Aufbaus autonomer Strukturen des Landkreises. In den an Türen verschiedener Einrichtungen angebrachten Zetteln wurde u.a. die Einstellung der Bauarbeiten am lokalen selbstverwalteten Markt gefordert, der demnächst in San Andrés eröffnen soll. Der Rat der Guten Regierung von Oventic sieht personelle Verbindungen zwischen in den 1990er Jahren im Hochland agierenden Paramilitärs wie Máscara Roja und der jetzt in Erscheinung tretenden OPDDIC in der Region.

Neben den hier genannten Angriffen der letzten Wochen und Monate existiert eine weitere Strategie, die zivile Basis der EZLN zu bekämpfen. Im eingangs erwähnten Bericht von CAPISE wird auf die Komplizenschaft zwischen Regierungsinstanzen und paramilitärischen Gruppen bei Versuchen der Vertreibung verschiedener zapatistischer Gemeinden von ihrem Land hingewiesen. Bereits in früheren Studien über die OPDDIC in der Region von Chilón legte das unabhängige Forschungszentrum detailliert dar, wie indigene Bauern zunächst mit dem Versprechen von mehr Land zum Beitritt in der Organisation gelockt, teilweise sogar gezwungen wurden, um danach auf Versammlungen unter Druck für die Vertreibung der Zapatisten aus ihren eigenen oder nahe gelegenen Dörfern zu stimmen. Zeitgleich wurden Anwälte von der OPDDIC beauftragt, das entsprechende Land als ihres zu registrieren, um so an legale Landtitel zu kommen. Dabei nutzt die OPDDIC aus, dass die Zapatisten jegliche Zusammenarbeit mit dem Staat ablehnen und dementsprechend keine offiziellen Dokumente über die im Rahmen des Aufstands besetzten Ländereien besitzen.
Ein weiteres Mittel der Aufstandsbekämpfungkam jüngst wieder zum Zuge: Desinformation und Verleumdung. So wurde in der chiapanekischen Zeitung Cuarto Poder über den Angriff in der Nähe von Agua Azul berichtet, die Zapatisten hätten von den TouristInnen auf dem Weg zu den Wasserfällen Wegzoll verlangt. Zudem sei der Angriff von den Aufständischen ausgegangen. Es wurden Fotos verwendet, die weder aktuell waren noch aus dem Gebiet des Angriffs stammten.
Noch absurder ist, was in der Region des Lakandonischen Urwaldes nahe der guatemaltekischen Grenze über die Zapatisten behauptet wurde. So hieß es vor kurzem in lokalen Medien, die EZLN hätte im Vorfeld der Wahl zu den Landkreisräten in Chiapas am 7. Oktober dazu aufgerufen, für die ehemalige Staatspartei PRI zu stimmen. Ein Kommuniqué des Rates der Guten Regierung von La Realidad dementierte dies und hob hervor, dass die Zapatisten tagtäglich die Demokratie praktizierten, während die Parteien das Wohl und die Interessen ihrer WählerInnen vergessen würden, sobald sie an die Macht kämen.

Die Repression gegen oppositionelle Bewegungen hat sich unter Präsident Calderón verschärft. Deutlichstes Beispiel war die gewaltsame Niederschlagung des Aufstands in Oaxaca im November vergangenen Jahres. Vermehrt ist seitdem die Rede von einer möglichen Wiederkehr des Schmutzigen Krieges – das Verschwinden zweier Mitglieder des Revolutionären Volksheeres (EPR) seit Mai deutet in diese Richtung.
Vor diesem Hintergrund kann die jüngste Welle von Repression gegen zapatistische Gemeinden als Teil einer Strategie betrachtet werden, in der die politische und soziale Opposition gegen neoliberale Politiken unterdrückt wird, sofern sie den parlamentarischen Weg verweigert oder gar das politische und wirtschaftliche System infrage stellt. Die Zapatisten werden weiter die Unterstützung von außen brauchen, um staatliche Menschenrechtsverletzungen und Repressionen bekannt zu machen und darauf hinzuwirken, dass die mexikanische Justiz unabhängig agiert und die Verantwortlichen und geistigen Urheber dieser Politik zur Rechenschaft zieht.

Zeichnend kämpfen

Rafael, woher kriegst du die Ideen für deine Karikaturen?

Die Musen der Griechen waren ja schöne Frauen. Unsere Musen hingegen sind fürchterliche Persönlichkeiten, Monster. Die politische Szene des Landes sind Leute wie Felipe Calderón, Carlos Salinas de Gortari und Carlos Slim. Meine Arbeit speist sich aus der Verärgerung, der Empörung und der Absurdität der nationalen Politik. Das Paradox in einem politischen Ereignis ist die Grundlage für einen Witz. Die politische Klasse Mexikos ist brilliant in dieser Hinsicht, quasi vorkarikiert für uns. Man schaue sich Calderón an: Ein beinahe kahlköpfiger Zwerg mit einem absurden Haartöllchen, pausbäckig und mit einer Brille auf der kugeligen Nase. Jedes Kind könnte ihn zeichnen.

Euer Beitrag ist doch die Transformation dieser vorkarikierten politischen Realität in ein Bild. Wie siehst du die Rolle der Karikatur in einem Land wie Mexiko, in dem wenig gelesen wird?

Die Karikatur ist ein sehr effizientes Genre in Mexiko: Zum einen ist ihre Verbreitung äußerst leicht. In der U-Bahn werden die Fotokopien unserer Karikaturen für ein paar Centavos verkauft, Ladenbesitzer kleben sie in ihre Fenster, sie dienen als Plakate. Zum anderen erlaubt die Karikatur die Verbreitung politischer Botschaften in Teile der Gesellschaft, in denen das Lesen von Zeitungen entweder nicht üblich oder unmöglich ist. Die Karikatur erreicht so auch die Analphabeten und Semi-Analphabeten.

Du hast dich uns als „kämpferischer Karikaturist“ vorgestellt. Was impliziert dies für dich?

Meine Karikaturen sind bestimmten gesellschaftlichen Sektoren und bestimmten Dingen verpflichtet. Bereits seit den Sechzigern wurde darüber debattiert, ob die Karikatur einer politischen Sache verpflichtet oder lediglich ästhetisch wertvoll sein soll. Das Politische in der Kunst ist ebenso gültig wie jedes andere Thema. Im Grunde haben alle großen Künstler auch politische Werke geschaffen – und insofern ist es unmöglich, die Politik von der Kunst zu trennen.
Heute befinden wir uns meiner Meinung nach in einer sehr wichtigen Phase der Geschichte. Der Aufstieg der Rechten in der gesamten Welt ist ein äußerst unheilvolles Zeichen, es ähnelt zu sehr den Anfängen des Faschismus in den Dreißiger Jahren. Die neoliberale Politik produziert einen Genozid. Man schaue sich nur die Lage im Irak an. Wir können nicht einfach stillschweigend zuschauen. Es geht heute darum, eine breite antifaschistische Front zu bilden, wir müssen dem Neoliberalismus Einhalt gebieten. Diese Front wird wachsen, denn der Horror wird nicht einfach aufhören.

In Mexiko äußerte sich dieser Horror unter anderem in den Geschehnissen in Atenco und Oaxaca. Verlierst du angesichts dieser staatlichen Brutalität nicht den Humor?

Nein, der Humor bleibt aus einem einfachen Grund nicht auf der Strecke: Sein Ursprung sind immer die menschlichen Dramen. Es gibt keinen Witz, der nicht mit der Verzweiflung, der Verrückheit, dem Schmerz oder der Frustration zu tun hat. Dies ist die Quelle des Witzes, und auch deswegen funktioniert die Karikatur so gut als Genre der Anklage und als didaktisches Instrument.

Aber lauert da nicht die Gefahr der Banalisierung?

In Mexiko wurde viel darüber diskutiert, ob die Karikatur nicht auf Dauer das Böse banalisiert, ob sie die Politiker, die Monster sind, nicht ungewollt vermenschlicht. Ich denke nicht. Es ist die alte Idee der Karikatur, dass die Angst vor der Lächerlichkeit das Verhalten der PolitikerInnen ändert. Zudem sind die Politiker für gewöhnlich Zyniker, aber gleichzeitig stets sehr besorgt um ihr Image. Und wenn sie auf das Auslachen zynisch reagieren – und genau dies geschieht in Mexiko – dann wird in der öffentlichen Wahrnehmung ihr beabsichtigtes Image durch das der Karikatur ersetzt. Die Karikatur dient insofern dazu, das Bild, das die Politiker von sich selbst zeichnen möchten, zu untergraben.

Wie reagiert der Politapparat heutzutage auf eure Anstrengungen, ihn zu untergraben?

Zum Glück sehen wir uns nicht mehr wie früher einer totalitären Zensur ausgesetzt, vor allem wegen des Internets. All jene Karikaturen, die in Zeitungen verboten werden, werden umso häufiger im Internet nachgeschlagen. Ich kenne das aus eigener Erfahrung – wenn meine Karikaturen zensiert werden, stelle ich sie ins Internet und sie werden von wirklich vielen Leuten angeschaut – sie gewinnen an Wert, wenn ich drunter schreibe: „Diese hier hat man mir verboten”.

Welche Mechanismen werden denn heute eingesetzt, um bestimmte Meinungen zu unterbinden?

Die Zensur wird heute von den Chefs der Zeitungen und Fernsehanstalten ausgeübt sowie von den großen Anzeigenkunden. Carlos Slim schaltet heute die meisten Anzeigen in den mexikanischen Medien – weit mehr als die Regierung. Unter anderem deswegen wird eher eine Karikatur von Slim zensiert als eine von Calderón.
Beispielsweise gab es kaum Berichterstattung über den Wahlbetrug 2006. Nachdem die Wahlkampagne detailliert dokumentiert worden war, schwieg sich das Fernsehen nach den Wahlen einfach aus. Die Probleme nach den Wahlen wurden nicht erwähnt. Das bedeutet, dass sie für einen großen Teil der Bevölkerung einfach nicht existierten. Und wer übt die Zensur aus? In den Zeiten der PRI (Institutionelle Revolutionäre Partei) konntest du die Armee nicht antasten, weil sie gefährlich war. Und du konntest die Virgen de Guadalupe nicht antasten, weil sie heilig war. Und natürlich konnte man den Präsidenten nicht antasten, denn der war gefährlich und heilig zugleich. Das hat sich geändert – heutzutage sind Unternehmern tabu und immer stärker die Kirche. Und im Norden des Landes der Drogenhandel. Die Narcos üben eine sehr reelle und effektive Zensur aus.

Du engagierst dich verschiedentlich für López Obrador, wir trinken gerade Tee aus Tassen, auf denen ¡AMLO presidente! geschrieben steht – du hingegen trinkst aus einem Marcos-Becher. Wie verortest du dich denn nun im politischen Spektrum Mexikos?

Marcos hat sich bezüglich López Obrador in verschiedenen Punkten geirrt. Er sieht in ihm den Verbündeten des Großkapitals, während die Repräsentanten eben dieses Kapitals in López Obrador die größte Gefahr sehen und eine brutale Kampagne gegen ihn in Bewegung setzen. Ich kann kaum glauben, dass Marcos das nicht sieht. Viele Menschen in Mexiko haben Marcos den Rücken gekehrt, aus eben diesen und anderen Gründen. Wir unterstützen den Zapatismus natürlich weiterhin. Jedoch so, wie wir Marcos unterstützt haben, als wir meinten, er habe Recht – so kritisieren wir ihn nun, da wir denken, dass er sich irrt. Zudem sind wir Anhänger von López Obrador, nicht der PRD. López Obrador verkörperte in diesen Wahlen etwas sehr Wichtiges. Im Kern ging es in der öffentlichen Debatte darum, ob wir weiterhin der liberalen Orthodoxie folgen oder etwas anderes beginnen wollen. AMLO strebt bestimmt nicht den Sozialismus an. Er ist moderat, sehr viel moderater, als ich es mir wünschen würde. Und trotzdem: Meiner Meinung nach befindet Mexiko sich derzeit auf dem Weg Richtung Faschismus. Und dieser Entwicklung kann ohne die Vermittlung und Arbeit López Obradors nicht begegnet werden. Die Bewegung um ihn ist, denke ich, eine sehr neue soziale Bewegung – demokratisch, breit, pazifistisch und anti-neoliberal.

Aber musst du nicht als kritischer Karikaturist eine Distanz zur Macht zu halten?

Natürlich, und ich habe eine Distanz zu allen Gruppen. Doch López Obrador hat ja de facto keine Macht. In der Chamuco kritisieren wir die Linke und ganz speziell López Obrador. Meine Pflicht als Karikaturist sehe ich aber eher darin zu sagen, was ich denke. Eine Objektivität gibt es ohnehin nicht. Der Unterschied zwischen uns Karikaturisten und anderen Journalisten ist nicht die vermeintliche Objektivität, sondern dass sie Interessen vertreten und wir Prinzipien.

Autonomie im Aufbau

“Preguntando caminamos“ – „Fragend schreiten wir voran“, so lautet einer der Grundsätze, mit denen die ZapatistInnen in Chiapas im Süden Mexikos ihre Ziele verfolgen. Die zapatistische Bewegung ist eines der wenigen Beispiele nicht-staatlicher Akteure, welche das staatliche Gewaltmonopol infrage stell(t)en und damit einen emanzipatorischen Ansatz verfolgen. Zumindest haben sie es geschafft, eine eigene Infrastruktur aufzubauen und sich durch eigene Strukturen selbst zu regieren. Luz Kerkeling, Dorit Siemers und Heiko Thiele von Zwischenzeit e.V. aus Münster haben den Zapatistas ihren neuen Film gewidmet. Der Aufstand der Würde ist nach Filmen zu Freihandel in der Bekleidungsindustrie, Staudammprojekten und Garnelenzucht in Mittelamerika der vierte Film der Dokumentarfilmreihe über so genannte Entwicklungsprojekte und den Widerstand dagegen. Das Ergebnis ist eine gute Einführung in die autonomen Strukturen, die Probleme und Ziele der Zapatistas.
Der Film beginnt mit einem Ausschnitt aus einer Rede des Rates der Guten Regierung von Oventik, einem der fünf regionalen Verwaltungszentren der ZapatistInnen, am Neujahrstag 2004 zum 10. Jahrestag des Aufstands. Es folgen Bilder vom 1. Januar 1994, von der marcha nach Mexiko-Stadt 2001 und Aufnahmen des ländlich geprägten Chiapas. Diese werden unterlegt mit Erklärungen zum Aufstand, zur Präsenz der ZapatistInnen in diesem südöstlichen Bundesstaat Mexikos, zu ihren Strukturen und der Funktionsweise der zapatistischen Selbstverwaltung. Die ZuschauerInnen erfahren dabei, dass es 29 autonome Landkreise gibt, dass der Aufbau der Autonomie langsam vorangeht („Vamos caminando poco a poco“) und warum die Räte der Guten Regierung in den fünf Regionalzentren doch nicht das letzte Wort haben.

Elemente zapatistischer Autonomie

Im Fokus des Films stehen wichtige Bestandteile der zapatistischen Autonomie: Gesundheit, Bildung und Landwirtschaft. Ein Gesundheitsbeauftragter in Oventik erklärt, warum der Aufbau des Gesundheitssystems so wichtig ist. Vom Bildungsbeauftragten des Verwaltungszentrums Morelia erfährt man, dass die Dörfer ein Mitspracherecht bei der Entscheidung über die Lehrinhalte an den Schulen haben und ein Beauftragter für Agroökologie berichtet von der Umstellung auf eine pestizidfreie Landwirtschaft. Als Teil regionaler Vertriebsstrukturen vorgestellt werden ein Regionalladen und das Restaurant eines Frauenkollektivs, Compañera Lucha, welche, ebenso wie die zapatistische Schuhfabrik in Oventik, an einer der wichtigen Landstrassen des Bundesstaates liegen.
Der Rolle der Frauen in der Bewegung wird, wenn auch kurz und knapp, ein eigener Teil des Filmes gewidmet. Im Fokus stehen hierbei vor allem die auftretenden Schwierigkeiten, mit welchen sich die Frauen auch innerhalb der zapatistischen Bewegung immer noch konfrontiert sehen. Die mexikanische Journalistin Gloria Muñoz, die selbst mehrere Jahre in einem zapatistischen Dorf gelebt hat, erzählt, dass die Situation der indigenen Frauen allgemein besorgniserregend sei, bei den ZapatistInnen aber auch schon beachtliche Fortschritte stattgefunden hätten.
Dass sich die Entwicklung der Selbstorganisation und -verwaltung im Rahmen eines noch nicht beendeten Konflikts abspielt, wird deutlich, wenn schließlich die Militarisierung und der Zusammenprall gegensätzlicher Interessen in der Region thematisiert werden. Onésimo Hidalgo vom Forschungszentrum CIEPAC weist darauf hin, dass auch unter dem Präsidenten Vicente Fox (2000-2006) die Präsenz der Armee nicht abgenommen habe. Das Konzept des Krieges niederer Intensität als Form der Aufstandsbekämpfung wird erklärt und durch Michael Chamberlin vom Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas untermauert, der über entsprechende Aussagen eines ehemaligen Paramilitärs berichtet. Chamberlin erklärt auch, dass der von der Regierung Fox entworfene Plan Puebla-Panamá letzlich gegen die Interessen der Bevölkerung gerichtet sei.
Im letzten Abschnitt des Films werden Ziele und internationale Rezeption der zapatistischen Bewegung behandelt, die Andere Kampagne wird vorgestellt. Neben den Sequenzen am Anfang des Films ist dies der einzige Abschnitt, in dem Subcomandante Insurgente Marcos, der Sprecher und militärische Kopf der EZLN, der Zapatistischen Befreiungsarmee, zu sehen ist. Auch wenn der Fokus auf der lokalen Entwicklung der zivilen zapatistischen Bewegung liegt, wäre eine kurze Thematisierung ihres nicht ausschließlich zivilen Charakters interessant gewesen.
Zum Schluss wird die Vielfalt der internationalen Solidarität deutlich. Neben einem griechischen und einem schweizer Aktivisten kommen auch Sprecher einer deutschen Kaffee-Kooperative zu Wort, bevor schließlich eine junge Frau von ihren Erfahrungen als Menschenrechtsbeobachterin in den zapatistischen Dörfern erzählt.
Der Aufstand der Würde ist eine gute Einführung in die zapatistische Thematik, aber auch Chiapas-Erfahrene kommen auf ihre Kosten. Kritische Stimmen zur Autonomie wären interessant gewesen, sind aber vielleicht ähnlich schwer zu bekommen wie aktuelle Stellungnahmen der mexikanischen Regierung unter Felipe Calderón zur EZLN. Auch eine diffenzierte Auseinandersetzung mit internen Prozessen hätte dem Film noch etwas mehr Spannung verliehen, unter Berücksichtigung der Umstände der Entwicklung der zapatistischen Bewegung (Stichwort Krieg niederer Intensität) fällt diese Leerstelle jedoch weniger ins Gewicht. Die thematische Fokussierung des Filmes ist insofern wichtig und sinnvoll, weil die Autonomie der ZapatistInnen durch die mediale Konzentration auf ihren Sprecher, Subcomandante Insurgente Marcos, häufig unbeachtet bleibt. Es bleibt also nur, den FilmmacherInnen ein breites Publikum zu wünschen.

Auf zum Gipfel der Unbequemen

Alle fünf Jahre ruft die Bewegung der Landlosen MST Kleinbäuerinnen und -bauern sowie AktivistInnen aus unterschiedlichen Bereichen zu dem nationalen Treffen auf. Es handelt sich um eine Mammutveranstaltung, die dem Gewicht und dem internationalen politischen Einfluss dieser Organisation entspricht.
Im Zentrum der Debatten dieses Jahres wird die immer gleiche Frage stehen: Wie kann in einem Land, in dem eine erzreaktionäre Landoligarchie, die im Zusammenspiel mit dem multinationalen Agro-Business über immensen politischen Einfluss verfügt, eine gerechte Landverteilung erreicht werden. Ebenfalls schon bekannt ist die Debatte üm das zwiegespaltene Verhältnis der MST zur Regierung des Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva und seiner Arbeiterpartei PT. Neu ist zumindest ein wichtiges Thema: Der große Boom der Agrokraftstoffe und dessen Folgen für eine nachhaltige Landwirtschaft.
Wie eng Lulas Arbeiterpartei und die Landlosenbewegung bis heute miteinander verquickt sind, zeigen die Geschehnisse um den geplanten Kongress von 2005. Ein Korruptionsskandal in der PT erschütterte die Linke Brasiliens derart, dass der MST seinen Kongress verschob. Auch 2006 wurde die Veranstaltung abgesagt, als die Präsidentschaftswahl und die Wiederwahl Lulas anstanden. Dieses Jahr wird allerdings nicht erwartet, dass es auf dem Treffen zu einem Tauziehen zwischen der regierungsnahen und der regierungskritischen Fraktion kommt. Dazu ist die MST zu pragmatisch ausgerichtet und wohl auch zu hierarchisch strukturiert. Vielmehr wird es darum gehen, das strategische Verhältnis zu Lula, die derzeitigen Verhandlungsspielräume und die Lobbyarbeit zu bewerten und mit der Basis abzustimmen.

Trotz Kritik kein Bruch mit Lula

Trotz vehementer Kritik an Lulas Regierung, sowohl an der als neoliberal gebrandmarkten Wirtschaftspolitik als auch an der
unternehmerfreundlichen Agrarpolitik, ist die MST von einem Bruch mit dem einstigen Verbündeten weit entfernt. Bei der
Stichwahl im vergangenen Jahr zwischen dem konservativen Kandidaten Geraldo Alckmin und Lula unterstützte die MST aktiv „das kleinere Übel“ Lula. Generell bemühen sich die MST-Führer darum, den trennenden Graben zwischen Bewegung und Arbeiterpartei nicht unüberbrückbar tief werden zu lassen. Gleichzeitig wird versucht, die Regierung mit Mobilisierungen, massiven Landbesetzungen und strategischen Allianzen unter Druck zu setzen.
Jüngstes Beispiel hierfür war der diesjährige so genannte „Rote April“: Fast den gesamten Monat über führten AktivistInnen der MST landesweit Besetzungen von Ländereien und Behörden durch. Im Schulterschluss mit urbanen Bewegungen wie Obdachlosen-organisationen oder Gewerkschaften veranstalteten sie Demonstrationen und Blockaden. Erfolge erzielt die MST vor allem dann, wenn politisch Gleichgesinnte bereits in den entsprechenden Institutionen und Behörden sitzen – ein Ergebnis von langwieriger Lobbyarbeit. Die MST scheitert hingegen, wenn es unmittelbar die Interessen von Großgrundbesitzern oder von transnationalen Agrarkonzernen angeht. Diese haben über alte Seilschaften in der Politik und korrupt-verbrecherischer Strukturen nach wie vor so viel Macht, dass sie fast unbehelligt – oft genug mit Gewalt – ihre Interessen durchsetzen können und sich nicht einmal vor der Justiz fürchten müssen. Schlimmstes Beispiel hierfür ist das Massaker von Carajás, bei dem im nördlichen Bundesstaat Pará im April 1996 während einer Demonstration 19 MST-AktivistInnen erschossen und Hunderte verletzt worden waren. Der jedes Jahr durchgeführte „Rote April“ soll an dieses Verbrechen erinnern.
In Lateinamerika, aber auch weltweit, ist der MST für viele Menschen ein Vorbild – oder auch eine Projektionsfläche –, an das lediglich die Zapatisten in Mexiko heran reichen. Politische Ausdauer, Radikalität in seinen Aktionen und im Diskurs, Pragmatismus und eine schlagkräftige Organisation sind die zentralen Elemente, die den Erfolg der MST möglich machten. Die Bewegung sieht sich vor der Herausforderung, diejenigen zu organisieren, die bis in die abgelegensten Winkel des riesigen Staates von ihrem Land vertrieben wurden und die im Gegensatz zu den städtischen ArbeiterInnen keineswegs dem klassischen „revolutionären Subjekt“ ähneln.
Wie sehr das Denken und Handeln der MST-AktivistInnen um die klassische Agrarreform kreist, verdeutlichen die Äußerungen von João Pedro Stedile, prominentestes Mitglied der Nationalen Koordination der Organisation: „Den Namen MST hat uns die Gesellschaft gegeben. Wenn es nach uns gegangen wäre, würden wir uns ‚Bewegung der Leute, die für die Agrarreform kämpfen‘ nennen. Aber nachdem wir einmal so genannt wurden, war es nicht mehr zu ändern.“

Kongresse unter wechselnden Vorzeichen

Die Geschichte der MST-Kongresse begann 1985, ein Jahr nach Gründung der Organisation, noch im Schatten der Militärdiktatur. Es war das Jahrzehnt, in dem neben der MST andere wichtige Pfeiler der brasilianischen Linken aufgebaut wurden. Damals wurden auch die – heute regierende –
Arbeiterpartei PT und der Gewerkschaftsdachverband CUT
ge­gründet. Es herrschte Aufbruchstimmung, und trotz der noch bleiernen Zeit wurden in den Industriezentren Streiks und eine Oppositionsbewegung organisiert. Dieser Koalition verschiedener oppositioneller Gruppen ist schließlich das Ende der Militärdiktatur in Brasilien und die Erstellung der demokratischen Verfassung von 1988 zu verdanken.
Der zweite Kongress fand 1990 statt, unter dem später wegen Korruption geschassten Präsidenten Fernando Collor und im
Zeichen einer systematischen
Repression gegen die Landlosenbegegung. Damals gründete die Bundespolizei sogar eine eigene Abteilung, die auf die Aktionen des MST reagierte. Zu Zeiten der beiden folgenden Kongresse 1995 und 2000, jeweils unter der neoliberalen Regierungspolitik des einst linken Soziologen Fernando Henrique Cardoso, war die MST bereits eine feste Größe im Land. Die Bewegung sah sich einem Wechselspiel von Zugeständnissen und Unterdrückung seitens der Regierung ausgesetzt. Es gelang ihr einerseits immer mehr Menschen auf brachliegenden Ländereien anzusiedeln. Andererseits wuchs auch die Repression und führte dazu, dass immer wieder AktivistInnen und SprecherInnen der Bewegung von den Schergen der Großgrundbesitzer ermordet wurden.
Auf dem fünften Nationalen Kongress, der vom 11. bis 15. Juni in der Hauptstadt Brasília stattfindet, wird es keine internen Wahlen geben. Die RepräsentantInnen und regionalen VertreterInnen werden alle zwei Jahre auf speziellen nationalen Treffen gewählt. Die politische Bedeutung des Kongresses liegt also nicht in einer eventuellen Richtungsentscheidung, sondern vielmehr darin, dass eine landesweite Bewegung an einem Ort zusammenkommt, Stärke und Einigkeit demonstriert und auf transparente Weise ihre Forderungen präsentiert. In gewissem Sinne handelt es sich um eine riesige politische Bildungsveranstaltung. Denn schon seit Monaten werden in Vorbereitung auf den Kongress die wichtigsten Inhalte auf Versammlungen in den Besetzungen und Ansiedlungen sowie in allen anderen Einrichtungen der MST diskutiert.
So geht es auch darum, der Kriminalisierung und den gerne von den Medien verbreiteten Vorurteilen gegenüber den Landlosen etwas entgegen zu setzen. Es werden auf dem Kongress diejenigen zusammenkommen, die einen großen Teil der zumeist armen Landbevölkerung repräsentieren, die aber sonst kaum gehört oder im Fernsehen gesehen werden. Es sind die Marginalisierten, die in den Städten oft als potentielle Kriminelle stigmatisiert werden und die nicht ins Bild des fortschrittlichen Brasiliens passen.
Dabei ist das Vorgehen des MST denkbar einfach und nachvollziehbar. Brasilien ist eines der Länder mit der ungerechtesten Landverteilung weltweit. Und da sich die Landbevölkerung nicht wehren kann, gibt es immer weniger Kleinbäuerinnen und -bauern und immer mehr Landlose. Also wird brachliegendes Land besetzt, zumeist auch in Einklang mit dem Geist der Verfassung, die die produktive Nutzung des Bodens vorschreibt. So entstehen zuerst die acampamentos, noch nicht legalisierte Camps, die dazu dienen, das Land urbar zu machen und politisch das Anrecht auf das Land durchzusetzen. Diese acampamentos werden schließlich in assentamentos umgewandelt, die sich als legalisierte Besetzung verstehen und den Kern neuer Siedlungen bilden.
Dieser sichtbare Teil der Aktivitäten wird von einem immensen Aufwand im Bereich Organisation, Konzeption und juristische Arbeit begleitet. Die zu besetzenden Ländereien müssen zuerst gut unter Augenschein genommen werden; dann muss deren Enteignung juristisch vorangetrieben werden. Die Menschen für die Besetzungen müssen mobilisiert und ausgebildet werden. Und nicht zuletzt geht es darum, das Zusammenleben unter höchst prekären Bedingungen und in ungewohnt kollektiven Strukturen zu gewährleisten. So herrschen in allen MST-Camps bestimmte Regeln, die sich beispielsweise auf den Umgang mit Alkoholkonsum, sexueller Belästigung und anderen Streitigkeiten beziehen. Demokratie und basisorientierte Mitbestimmung werden dabei groß geschrieben, obwohl nicht zu kaschieren ist, dass die Organisation auch intern recht hierarchische Strukturen aufweist.

Mehr als nur eine Landreform

Doch die Landlosenbewegung Brasiliens denkt mittlerweile weit über die Frage der reinen Landverteilung hinaus. Ihr geht es generell um ein anderes Agrarmodell, das sich von der industriellen, auf den Export ausgerichteten Landwirtschaft, die auf Monokulturen, Pestizide und eventuell auch genveränderte Samen setzt, abwendet. Denn aus Sicht der
MST läuft dieses Modell immer den Interessen der einheimischen Landbevölkerung zuwider, da es Landkonzentration fördert und gravierende ökologische Schäden verursacht. Die Lösung, da ist sich die MST mit dem weltweiten Verbund von Landbewegungen, Via Campesina, einig, besteht in einer Agrarwirtschaft, die auf kleine oder familiäre Produktionseinheiten setzt, die die Lebensmittelproduktion für die eigene Bevölkerung im Blick hat und die einen ökologisch und biologisch verträglichen Ansatz verfolgt. In diesem Sinne ist auch die Kritik an der Produktion von Agrokraftstoffen zu verstehen: Laut MST müsse verhindert werden, dass die Produktion von Treibstoff für den Individualverkehr in reichen Ländern auf Kosten der Umwelt, der Ernährungssicherheit und der natürlichen Ressourcen in Ländern wie Brasilien geht.
Das Motto des Kongresses liest sich also folgendermaßen: „Soziale Gerechtigkeit“ bezieht sich auf eine gerechte Landverteilung, die der gesamten Gesellschaft zu Gute kommen soll. Und die „Souveränität des Volkes“ bedeutet, dass eine bäuerliche, nachhaltige Landwirtschaft, die die natürlichen Reichtümer des Landes der eigenen Bevölkerung zugänglich macht, dem Modell des Agrobusiness, das ohne Rücksicht auf natürliche Ressourcen der Akkumulation von Reichtum in den Händen weniger dient, entgegengsetzt wird.

Jetzt erst recht!

Um acht Uhr morgens stand die Polizei im Hof des Mehringhofs, wo auch die Lateinamerika-Nachrichten ihr Büro haben. Bundesweit filzte die Polizei an diesem 9. Mai über 40 linke Projekte und Privatwohnungen. Der Vorwurf: Bildung einer terroristischen Vereinigung nach §129a. Mit dem Ziel, den G8-Gipfel zu stören, der Anfang Juni an der deutschen Ostseeküste stattfindet.

Die Gruppe der acht – Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien, Japan, Russland, Kanada und die USA – trifft sich vom 6.bis 8. Juni im mecklenburgischen Heiligendamm. Unschöne Bilder von DemonstrantInnen und martialischen Sicherheitsvorkehrungen sollen das Spektakel nicht stören. Ein fester Zaun von 13 Kilometer Länge schirmt Heiligendamm weiträumig ab. Eine Sondereinheit der Polizei hat bereits genehmigte Demonstrationen verboten, durch die Razzien am 9. Mai sollten mögliche Protestierende schon im voraus abgeschreckt werden. Die G8 scheinen sich mächtig unter Druck zu fühlen.

Dazu haben sie auch allen Grund. Denn auch wenn sich die G8-Staaten gern als mächtige und weitsichtige global players geben – in Wirklichkeit sieht sich die G8 in zweifacher Hinsicht bedroht.

Die westlichen Staaten, die die G8 bilden, haben in den letzten Jahren an Einfluss verloren. Aufsteigende Schwellenländer wie China, Indien und Brasilien setzen nicht nur die Volkswirtschaften der G8 unter Druck – sie üben auch zunehmend politischen Druck aus. Die großen Finanzinstitutionen, lange Zeit mächtige Instrumente der G8, haben an Einfluss verloren. Nach der vorzeitigen Schuldentilgung mehrerer Staaten steckt der Internationale Währungsfonds (IWF) selbst in finanziellen Nöten. Nicht ohne Grund hat Tony Blair bereits vor zwei Jahren vorgeschlagen, die G8 um fünf Staaten zu erweitern: China, Indien, Brasilien, Mexiko und Südafrika sollten ihm zufolge Mitglied im illustren Club werden. Statt zwölf Prozent der Menschen auf der Erde würde die Gruppe dann über 50 Prozent der Weltbevölkerung vertreten. Die Kritik an der Institution G8 würde eine solche Erweiterung indes kaum mindern: Denn die gilt nicht nur der Tatsache, dass sich acht anmaßen, über das Los von Milliarden Menschen zu entscheiden. Die Kritik gilt auch dem Wirtschaftssystem, das die G8 wie kaum eine andere Institution vertreten. Und das dient im Norden wie im Süden den Eliten.

Gegründet 1975 als Interessenvertretung der großen westlichen Staaten, hat sich die Gruppe mit den Jahren immer mehr als Forum für globale Fragen verstanden. Immer mit demselben Ziel: die Macht der Herrschenden sichern, durch Fakten wie durch Symbolik. Seit den 1980ern haben die G8 ihre eigenen Staaten im Sinne der neoliberalen Ideologie umgebaut – und die Staaten des globalen Südens über Strukturanpassungsprogramme und wirtschaftliche Abhängigkeiten dazu gezwungen. Doch das Modell, das die G8 propagieren, steckt in der Krise. Dies zeigt sich gerade in Lateinamerika: 1994 legten die Zapatistas mit ihrem Aufstand den Grundstein für die globalisierungskritische Bewegung. In Bolivien kämpften die Menschen auf der Straße gegen Privatisierung und Ausverkauf öffentlicher Güter. In Argentinien, in Ecuador, in Venezuela – überall versuchen Menschen, andere Wege zu gehen, Alternativen zur herrschenden Politik, zum herrschenden Wirtschaftsmodell auszuprobieren.

Die Kritik bleibt nicht auf den globalen Süden beschränkt. Die G8-Mobilisierung zeigt, dass auch in Deutschland und in Europa, immer mehr Menschen glauben, dass eine andere Politik nötig und möglich ist. Kein Zaun der Welt kann die G8 vor dieser Kritik schützen. Wenn die Sicherheitsbehörden legitime Kritik als Terrorismus brandmarken, Demonstrationen verbieten und Protest als Angriff „das Bild Deutschlands vor der Welt“ empfinden – dann zeigt das nur, wie dringend sie der Bilder bedürfen, die sie als legitime VertreterInnen des herrschenden Systems zeigen. Und dass ihnen alle Mittel recht sind, diese Bilder zu bekommen.

Erreicht wurde mit der bundesweiten Aktion vom 9. Mai wohl eher das genaue Gegenteil: Wer jetzt noch nicht mobilisiert ist, der oder dem ist auch nicht mehr zu helfen.

Hochspannung in Chiapas

Wir sind es leid, dass die Brüder von der OPDDIC durch unsere Gemeinden laufen, unser Vieh und unsere Ernte stehlen, uns mit dem Tod bedrohen und hier ihre Schusswaffen abfeuern”, so ein Sprecher der Gemeinde Bolom Ajaw, die am 6. März von einer internationalen Beobachtungsdelegation und zwei mexikanischen JournalistInnen besucht wurde. Die EZLN-UnterstützerInnen haben das Land ihres Dorfes 2003 besetzt. “Wir haben es von den Großgrundbesitzern zurückerobert”, so ihre Formulierung, die typisch für die seit 1994 neu entstandenen zapatistischen Gemeinden ist. “Unsere Vorfahren haben hier wie die Sklaven gelebt”, ergänzt ein älterer Mann aus dem Dorf. Die Zapatistas haben hier mehrere Jahre relativ friedlich leben und arbeiten können. Doch seit einigen Monaten werden sie massiv von Nachbargemeinden, die in der OPDDIC organisiert sind, belästigt.
Die zapatistische Gemeinde San Miguel liegt wie Bolom Ajaw nahe bei den Wasserfällen von Agua Azul, einer der bedeutendsten touristischen Attraktionen in Chiapas. Auch hier leiden die EZLN-UnterstützerInnen unter der Gewalt der OPDDIC, die bereits mehrfach die Seilbahn über den Fluss sabotierten, Gemeindemitglieder verprügelten, den zapatistischen Frauen den Verkauf ihrer Produkte verwehren und mit bewaffneten Aktionen drohen. “Die OPDDIC will uns unser Land wegnehmen, weil sie die Wasserfälle auf unserem Land für den Tourismus nutzen wollen. Sie arbeiten offen mit der Polizei und der Regierung zusammen”, so ein Sprecher des Dorfes, auf deren Land sich unberührter Regenwald und beeindruckende Kaskaden befinden, die die Gemeinde nach eigenen Angaben vor der Zerstörung schützen will.
In San José en Rebeldía, dem Hautpsitz dieser autonomen zapatistischen Region, bestätigt ein Sprecher, dass die OPDDIC die Charakteristika einer paramilitärischen Organisation aufweist: “Sie selbst berichten, dass sie vom Gouverneur bewaffnet und finanziert sind, mittels seiner Abgeordneten”. Die Menschen sind tief besorgt. Sie empfangen die mexikanische Presse und die internationale Brigade mit Gastfreundschaft. Von dem Besuch erhoffen sie sich eine Verbesserung ihrer Lage.
Die Situation in den zapatistischen Gebieten ist momentan so gespannt wie schon seit Jahren nicht mehr. Wie von deren Selbstverwaltungsgremien, den Räten der Guten Regierung, mehreren Nichtregierungsorganisationen und einer internationalen Delegation ausführlich dokumentiert wurde, ist das Vorgehen der OPDDIC aggressiv und besorgniserregend: Gewaltdrohungen gegen dutzende Gemeinden, permanente Bedrohung durch bewaffnete Personen, vernichtete Felder, Landraub, Entführungen, Misshandlungen, Schießereien, Vertreibungen von Familien und Gemeinden sowie klare Hinweise auf die militärische Ausbildung von Zivilisten unter Beteiligung der Bundesarmee. Dazu kommt die Unterstützung der landwirtschaftlichen Behörden bei dem Vorhaben, den zapatistischen Gemeinden tausende Hektar Land wegzunehmen, die sie seit mehr als einem Jahrzehnt
bearbeiten. Sogar mexikanische JournalistInnen und die Angehörigen einer internationalen Beo­bachtungsdelegation wurden von der OPDDIC am 7. März bedroht, festgenommen zu werden.

Linker Diskurs, rechte Praxis

Die OPDDIC wurde 1998 von Pedro Chulín gegründet, der ein einflussreiches Mitglied der Institutionellen Revolutionären Partei (PRI) ist. Die PRI war von 1929 bis 2000 die regierende Partei Mexikos, in Chiapas ist sie weiterhin eine starke politische Kraft. Chulín war PRI-Abgeordneter in Chiapas und ist heute deren Ersatzdelegierter für den Bundeskongress. Er hat weitreichende Verbindungen in Politik und Wirtschaft und war 1998 für die gewaltsame Zerschlagung von Taniperlas verantworlich, dem Verwaltungssitz des autonomen zapatistischen Landkreises Ricardo Flores Magón.
Die OPDDIC geht nicht ungeschickt vor. Obwohl sie ohne
jeden Zweifel den politischen und ökonomischen Eliten nahesteht, führt sie einen linksgerichteten Diskurs. Sie spricht von der Verteidigung der Rechte der indigenen und bäuerlichen Bevölkerung und lockt verarmte Familien mit Versprechungen auf Landzuteilungen in die Organisation. Allerdings wird sie von den Zapatistas beschuldigt, Mitglieder auch unter Zwang zu rekrutieren, wenn diese nicht freiwillig beitreten wollen.
Michael Chamberlin, Vizedirektor des kirchlichen Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé de las Casas aus San Cristóbal, erläutert, dass die OPDDIC eine Gruppierung sei, die sich in den vergangenen Jahren besorgniserregend vergrößert habe: “Die OPDDIC hat ihre Wurzeln in den paramilitärischen Organisationen ‘Revolutionäre Indigene Anti-
Zapatistische Bewegung’ (MIRA), ‘Frieden und Gerechtigkeit’ sowie ‘Los Chinchulines’. Diese sind für dutzende Morde verantwortlich”. Die OPDDIC drohe nicht nur mit der Vertreibung weiterer Gemeinden in der Region Montes Azules, sondern auch mit Angriffen auf Unterstützungsgemeinden der EZLN. “Sogar wir selbst, AktivistInnen aus dem Menschenrechts­­-­ und Umweltschutzbereich, erhalten Todesdrohungen”, berichtet Chamberlin.
Die EZLN wirft der OPDDIC in einem Kommuniqué vom Februar 2007 vor, für die Ermordung von vier EinwohnerInnen des Dorfes Viejo Velasco am 13. Novem­ber 2006 verantwortlich zu sein. Die Gruppe ziele darauf ab, lokale Konflikte eskalieren zu lassen, um ein weiteres Eindringen der mexikanischen Armee ins Rebellengebiet zu rechtfertigen. So soll der Aufstand der Zapatistas endgültig zu zerschlagen werden. Die OPDDIC sei ferner für Landraub, die Plünderung des Urwalds und für illegalen Drogenhandel verantwortlich und erfahre direkte Unterstützung der Polizei, der Armee und der Regierung.
Der mexikanische Präsident Felipe Calderón ordnete in den vergangenen Wochen umfassende Militäroperationen an, um unter dem Mantel der Drogenbekämpfung ein „sicheres Investitionsklima für ausländische Unternehmen
zu garantieren”, wie er auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, Schweiz, erklärte. Nach Angaben der EZLN dient dies im Fall von Chiapas jedoch vor allem dazu, die Rebellengebiete weiter zu
militarisieren. Auffällig ist, dass die OPDDIC vor allem in den bereits stark aufgerüsteten Gebieten operiert, was eine mit dem Militär
koordinierte Strategie der Aufstandsbekämpfung nahelegt. Die OPDDIC scheint aus der Geschichte der regierungsnahen Organisationen mit paramilitärischem Flügel gelernt zu haben: Sie arbeitet nicht nur mit paternalistischen Almosen für ihre Angehörigen und Repression gegenüber ihren Gegnern, den Zapatistas.

Juristische Strategie gegen die EZLN

Darüber hinaus entwickelt die OPDDIC in Zusammenarbeit mit einigen MitarbeiterInnen des Ministeriums für Agrarreform von Chiapas (SRA) eine juristische Strategie, um den in der EZLN organisierten Gemeinden ihre Ländereien abzutrotzen. Das SRA stellt demnach neuen OPDDIC-Mitgliedern Papiere über Ländereien aus, die seit 1994 von Zapatistas besetzt wurden – wobei die ehemaligen Besitzer in aller Regel längst von der Regierung entschädigt wurden. An dieser Stelle dreht die OPDDIC den Spieß um: Die enteigneten zapatistischen Gemein­den, die keine Privatisierung und familienweise Legalisierung ihrer Ländereien akzeptieren, werden nun zu Invasoren deklariert.
Der aktuelle chiapanekische Gouverneur, Juan Sabines von der sozialdemokratischen PRD, war bis kurz vor seiner Wahl im vergangenen Jahr Mitglied der PRI und steht erklärtermaßen dem aktuellen Präsidenten Mexikos, Felipe Calderón von der konservativ-neoliberalen PAN, nahe. Er verkörpert so nahezu in Reinform die von der EZLN vielfach kritisierte neoliberale Allianz der politischen Klasse. Sabines hat lange nichts unternommen, um die Verbrechen der OPDDIC aufzuklären. Anfang März wurde jedoch die Führung der Organisation festgenommen, weil OPDDIC-Mitglieder MenschenrechtlerInnen verprügelten, die eine Demonstration der Gruppierung in Ocosingo beobachtet hatten. Ein weiterer Grund für die Inhaftierung war die angebliche Entführung des Journalisten Hermann Bellinghausen. Der Mitbegründer der renommierten Tageszeitung La Jornada ist berichtet seit 1994 intensiv über den Kon­flikt in Chiapas. Bellinghausen dementierte noch am selben Tag, enführt worden zu sein.
Die Festnahme der OPDDIC-Führung, darunter Pedro Chulín, wirkt wie ein Manöver, um zu demonstrieren, dass der Gouverneur “seinen” Bundesstaat kontrollieren kann. Hier offenbart sich die altbekannte Problematik paramilitärischer Gruppen: Es gibt die Paramilitärs, die ausschließlich lokal im Interesse einiger Großgrundbesitzer operieren und nicht direkt von der Regierung kontrolliert werden, es gibt jene, die dabei Unterstützung der Regierung erhalten und es gibt die, die direkt von der Zentralregierung aufgebaut werden. Der genaue Grad der Zusammenarbeit zwischen chiapanekischer und Zentralregierung mit der OPDDIC ist noch nicht offengelegt. Chulín scheint ein “Bauernopfer” der aktuellen chiapanekischen Regierung zu sein, um die Existenz rechtsstaatlicher Zustände in der südmexikanischen Provinz zu simulieren.
Das Problem der Aufstandsbekämpfung geht über die OPDDIC hinaus, denn in anderen Zonen operieren andere Gruppen. Die Situation ist ernst. Meldungen der zapatistischen Gemeinden über Belästigungen und Gewaltakte häufen sich. So verwundert es nicht, dass die EZLN in lange nicht mehr vernommener Schärfe die paramilitärischen Gruppen gewarnt und mit militärischen Aktionen gedroht hat.
Die Zapatistas aus Bolom Ajaw und San Miguel nennen die Mitglieder der OPDDIC aus den Nachbargemeinden noch immer “Brüder”. Noch haben sie die Hoffnung nicht aufgegeben, dass eine friedliche Lösung der Konflikte möglich ist. Aber die Lage droht zu eskalieren und die zapatistischen Regierungsräte von La Realidad, Oventic, La Garrucha, Morelia und Roberto Barrios riefen die mexikanische und die internationale Zivilgesellschaft zu erhöhter Aufmerksamkeit und zu Protesten auf, um ein Aufflammen gewaltsamer Auseinandersetzungen zu verhindern.

Oaxaca – Frauen in Bewegung

Wir mussten improvisieren.“ Patricia Jiménez Alvarado, Pressesprecherin der Koordination der Frauen von Oaxaca COMO, beschreibt im Gespräch den Alltag im besetzten Fernsehsender. „Die Arbeit war schwierig, denn die meisten von uns hatten so etwas noch nie gemacht. Doch es gab sehr viel Unterstützung aus der Bevölkerung. Wir gründeten Kommissionen, für Finanzen, Lebensmittelversorgung, Pressearbeit, Sicherheit, in die sich die Frauen aufteilten. Oft hatten wir Angst und trauten uns nicht hinaus, weil wir als aktive Frauen nun sichtbar und angreifbar waren.“
COMO ist die einzige reine Frauenorganisation in der APPO (siehe Kasten). Hervorgegangen aus einer Frauendemonstration am 1. August 2006, der marcha de las cacerolas – des Kochtopfmarschs –, besetzten mehrere Hundert Frauen spontan den regionalen staatlichen Fernsehsender Canal 9. Nach zum Teil handgreiflichen Auseinandersetzungen mit der Belegschaft begannen die Frauen mit der Ausstrahlung eines selbst gestalteten Programms. Sie konnten damit sowohl den diversen Sektoren der am Aufstand Beteiligten eine Stimme geben als auch den Lügen der Regierungssender etwas entgegen setzen. Doch die Repression blieb nicht aus. „In unsere Autos und Häuser wurde eingebrochen, wir wurden per Telefon beschimpft und wir erhielten Morddrohungen,“ berichtet Patricia Jiménez. „Doch wir haben durchgehalten. Wir haben gemeinsam geweint und uns dann gegenseitig wieder aufgebaut. Es war ein Zusammenhalt, den ich zuvor nie erlebt hatte.“ Dabei seien sie so verschieden, sagt sie. Nicht nur organisierte Frauen wie sie aus der Lehrergewerkschaft seien dabei gewesen. Auch Marktfrauen, Unternehmerinnen, junge Studentinnen und Arme aus den Vororten stießen dazu. „Viele sagten uns, wie stolz es sie machte, dass wir einfach im Fernsehen auftraten und sprachen. Auf den Demos liefen sie vorn, malten Parolen an die Wände, wachten an den Barrikaden. Unser Leben änderte sich zu 100 Prozent. Es war eine klare Entscheidung mitzumachen.” Durch die Besetzung haben mehr Frauen Mut gefasst, öffentlich das Wort zu ergreifen, glaubt sie.

Frauenpower

Ähnlich sieht das Elena, eine junge Studentin vom Land, die dem 200-köpfigen Koordinationsrat der APPO angehört. Seit Beginn der Besetzung des Uniradios war sie begeistert mit dabei: „Ich habe durch meine Mitarbeit im Uniradio, das wir mit circa 300 Leuten betrieben, viel mitbekommen. Zu uns kamen Frauen, die niemals zuvor öffentlich gesprochen hatten. Sie sagten ihren Ehemännern, dass sie sich ihr Essen selbst zubereiten sollten, wenn sie Hunger hätten. Sie erkannten, dass auch sie stark sind und die Bewegung gegen Ulises Ruiz unterstützen können; nicht nur die Männer, die an den Barrikaden standen. Zum Teil waren Paare in den gleichen Gruppen aktiv, für sie war es leichter. Andere mussten sich gegen ihre Familien durchsetzen. Aber allen war klar: Wir haben als Frauen eine Stimme, wir können nicht auf die Männer hören, wenn wir mitmachen wollen.”
Die diversen von der APPO betriebenen Radiosender waren für die Mobilisierungen auf den Straßen Oaxacas von immenser Bedeutung. Immer wieder wurden sie von Paramilitärs zerstört und ihre BetreiberInnen angegriffen. Doch Elena berichtet, wie ihre Angst mit jeder Aktion schwand. Auch auf dem Land hätten plötzlich mehr Frauen mitgemacht. Sie seien zu den Großdemonstrationen gefahren und hätten die Regierungsgebäude verschiedener Landkreise besetzt. „Dabei waren und sind die Forderungen dieselben, ob Frauen, Männer, Kinder, Alte: Weg mit Ulises Ruiz, her mit den Gefangenen, endlich Gerechtigkeit und Demokratie!“.
Der Kampf gegen den Machismo sei hart und lang, sagt Elena. Innerhalb der APPO hätten sie zumindest einen Frauenanteil von mindestens 30 Prozent im Koordinationsrat durchsetzen können. Zugleich ist die Angst vor erneuter Repression auch heute allgegenwärtig. „Doch wir Frauen sind trotzdem weiter dabei!“, sagt sie kämpferisch.

Frauen im Untergrund

Etliche Frauen mussten bis heute aus Angst vor einer drohenden Festnahme oder wegen Morddrohungen ihre gewohnte Umgebung, ihre Familien und die Arbeit in ihren Organisationen verlassen. So etwa Berta Muñoz, Ärztin und Universitätsdozentin aus Oaxaca. Sie hatte die Verarztung der Verletzten koordiniert, als die Bundespolizei PFP Ende November 2006 die Bewegung angriff. Zuvor schon war sie durch ihre Mitarbeit im subversiven Uniradio zu einer Ikone des Widerstands geworden. Täglich hatte sie ihre Stimme gegen den Gouverneur erhoben. Sehr viele kannten und bewunderten sie.
Gegen Muñoz liegt nun offenbar ein Haftbefehl vor – so wie fast gegen die gesamte Führung der APPO. Im Interview mit der Internationalen Kommission zur Beobachtung der Menschenrechte CCIODH sagte sie: „Am 28.11.06 hatte ich mich entschieden unterzutauchen. Es gab sogar Drohungen und Gerüchte, dass sie mich verschwinden lassen wollen. Ruiz’ Mörderbanden, die in Zivil und vermummt schon einige von uns umbrachten, haben mich im Auge, wahrscheinlich wegen meiner Arbeit am Radio. Auch meine erwachsenen Kinder, die ebenso wie ich bedroht wurden, sind seitdem an unterschiedlichen, geheimen Orten. Ich kann sie leider nicht sehen.“

Indigene AnarchistInnen

Dolores Villalobos Cuamatzin ist Sprecherin des Indigenen Rats der Völker Oaxacas/Ricardo Flores Magón (CIPO/RFM), benannt nach einem Anarchisten, der während der Mexikanischen Revolution für die Rechte der indigenen Bevölkerung stritt. Wie viele indigene Frauen ist sie in der APPO aktiv. Für sie ist der Aufstand im Sommer letzten Jahres „eine Explosion vergangener Ereignisse“. „Es gab keine Lösung für die vielen Probleme: die Landfrage, Wasserprivatisierung, Umwelt zerstörende Großprojekte, Ungerechtigkeit; weder in der Stadt noch auf dem Land.“
Der CIPO ist seit langem in 13 Landkreisen aktiv. Sein Ziel ist, die demokratischen indigenen Traditionen der dörflichen Selbstverwaltung zu bewahren und weiter zu entwickeln und „Gerechtigkeit von unten aufzubauen, ohne die korrupten Parteien“. Daher habe sich der CIPO dem Aufstand angeschlossen, so Villalobos. Mittlerweile sei er in der APPO eine treibende Kraft geworden. „Die lange Erfahrung der indigenen Dörfer im Widerstand und in der Selbstorganisierung sind wertvoll in diesem breiten und vielfältigen Bündnis, das die APPO darstellt. Wir müssen anfangen, eigene Strukturen aufzubauen, ganz praktisch im Alltag, nicht nur theoretisieren. Daher unterstützen wir die Idee der Autonomie, die von der zapatistischen Bewegung vorangetrieben wird, und nicht den naiven Glauben an rein parlamentarische Veränderungen.“
Die meisten Frauen, die in der Bewegung aktiv wurden, erfuhren bald staatliche oder paramilitärische Gewalt. Immer wieder wurden AktivistInnen bedroht, geschlagen, festgenommen und sogar ermordet. Die CCIODH spricht von 23 Toten im Kontext des Konfliktes. Auf dem Höhepunkt der Repression, am 25. November 2006, wurden mehr als 220 Menschen durch die Bundespolizei PFP auf den Straßen Oaxacas willkürlich verhaftet, darunter 88 Frauen. Im Zuge dessen bildeten sich mehrere Vereinigungen, in denen Angehörige, AnwältInnen und Mitglieder der APPO aktiv wurden. Eine davon ist die Kommission der Angehörigen von Verschwundenen, Inhaftierten und Ermordeten (Cofadappo). Sprecherin Yolanda Gutiérrez Ortiz erzählt, wie sie dazu kam, sich einzumischen: „Mein Sohn wurde am 25.11. festgenommen, daher bin ich aus der Hauptstadt angereist. Nie hätte ich gedacht, dass unser Staat so mit den Menschen umgehen kann! Ich habe mein Leben gelebt und war nie besonders politisch interessiert oder kritisch eingestellt. Nun sehe ich, was wirklich los ist in Mexiko und ich schäme mich dafür. Mit meinen 47 Jahren fange ich an aktiv zu werden. Mein Sohn sitzt im Gefängnis und ist erstaunt, dass seine Mutter sich so entwickelt hat.“ Seitdem steht Yolanda der Presse Rede und Antwort, geht zur Rechtsberatung und demonstriert mit vielen anderen Betroffenen vor den Gefängnissen. Am 13. Januar wurde sie nach einer harmlosen Aktion sogar von der Polizei mit dem Tode bedroht: „Wir versuchten zu flüchten, als die Polizei den Kundgebungsplatz und die Mahnwache vor dem Knast räumte. Es gab willkürliche Festnahmen. Stundenlang mussten wir, in der Mehrzahl Frauen, in den Büschen hocken. Wir wollten Hilfe holen. Doch an wen wendet man sich in solch einem Fall? An die Polizei, die gerade vermummt eine friedliche Kundgebung aufmischt? Als sie uns aufstöberten, wurde mir ein Gewehr in die Seite gestoßen und gedroht, dass dies mein Ende sei. Aber wir lassen uns von diesem faschistoiden Terror nicht einschüchtern. Wir werden weitermachen, bis alle Gefangenen frei sind und Ulises Ruiz endlich abtritt!“

Kasten:

Die APPO in Oaxaca

Die Volksversammlung der Bevölkerung von Oaxaca (APPO) ist sehr heterogen. Neben sozialen Organisationen, indigenen Gemeinden und politischen Gruppierungen haben sich Tausende von unorganisierten, vor allem marginalisierten Menschen aus den Vororten von Oaxaca-Stadt seit Sommer 2006 der Bewegung angeschlossen. Entgegen den herrschenden patriarchalen Vorstellungen beteiligten sich Frauen massiv und selbstständig in der APPO. Doch der Staat antwortet auf die soziale Bewegung für Demokratie und Gerechtigkeit mit Repression und Kriminalisierung. Hunderte von AktivistInnen landeten wegen fingierter Delikte hinter Gittern, etliche verschwanden spurlos, wurden in den Untergrund gedrängt oder sogar umgebracht. 23 Tote zählt der Konflikt bis heute. Auf Bestrafung der Schuldigen und gerechte Gerichtsprozesse gibt es wenig Hoffnung. Im Moment versucht die APPO, sich zu reorganisieren, die Ereignisse auszuwerten, auf den Straßen Präsenz zu zeigen und die Kriminalisierung zurückzudrängen.
Weitere Infos:
APPO: www.asambleapopulardeoaxaca.com
Bericht der CCIODH: http://cciodh.pangea.org

Im Schatten von Oaxaca

Es ist früh am Morgen. Wir sitzen zusammen mit einigen Zapatistas aus der Gemeinde Roberto Barrios auf der Ladefläche eines Pick-up. An einer Kreuzung, die sich später als Kreuzung zwischen den Bundesstraßen zehn und 307 herausstellen wird, machen wir plötzlich Halt. Ein lauter Pfiff durchbricht die Stille und 200 vermummte indígenas springen aus zahlreichen Pick-ups, die am Straßenrand zusammen gekommen sind. Es ist der 1. November 2006, fünf Uhr morgens, und wir befinden uns im Osten des Bundesstaates Chiapas. An diesem Dìa de los muertos (Allerheiligen) gedenken die Zapatistas nicht nur ihrer Vorfahren, sondern auch der vier Toten der jüngsten Auseinandersetzungen in Oaxaca.
Innerhalb weniger Minuten werden zwei Bäume gefällt und Bretter mit Nägeln vorbereitet. Um 5.20 Uhr ist die Straßenkreuzung, eine der wichtigsten in der Region, blockiert. Die compañeros und compañeras teilen sich in vier Gruppen: eine positioniert sich auf der linken, eine auf der rechten Seite und eine in der Mitte. Die vierte Gruppe verschwindet im Wald und bald hören wir die Macheten arbeiten. Noch ein paar Minuten und jeder compañero und jede compañera erhält einen Holzstock. Währenddessen werden Transparente vorbereitet. Die Blockade beginnt. Von jetzt an wird die Straße im 45-Minuten-Takt blockiert und wieder geöffnet. „Das Ziel der Aktion ist die Information und nicht nur der Protest“, erklärt ein compañero. Die AutofahrerInnen bekommen Flyer mit Informationen über den Sinn und die Hintergründe der Aktion. Um 17 Uhr ertönt wieder ein Pfiff. Innerhalb von fünf Minuten wird die Straße geräumt. Alle Zapatistas steigen wieder in die Pick-ups und machen sich auf den Rückweg in ihre Gemeinden.

Verkehrte Welt

Die Blockade am ersten November ist eine Solidaritätsbekundung der Zapatistas für die Basisbewegung der streikenden LehrerInnen und AktivistInnen in Oaxaca. So heißt es im comunicado, das drei Tage zuvor von den Zapatistas herausgegeben wurde: „Wir, die zapatistischen Männer und Frauen, werden nicht schweigen, sondern werden uns in Unterstützung der Brüder und Schwestern von Oaxaca organisieren“.
Zapatistas, die für die LehrerInnen im 1000 km entfernten Oaxaca auf die Straße gehen – klingt wie verkehrte Welt. Waren nicht bisher die Menschenrechtsverletzungen in Chiapas und die Repressionen der Regierung gegen die Zapatistas der Grund für Kundgebungen, Demonstrationen und Solidaritätskonzerte? Dies scheint sich nun umgekehrt zu haben. Seit die Zapatistas mit der Anderen Kampagne ihre Aktivitäten erweiterten, suchen sie ein Bündnis mit Basisbewegungen, Arbeitervereinigungen, Indígena-Gruppen, und anderen von „unten und links“. Im April vergangenen Jahres reagierten die Zapatistas auf die Erstürmung des von den Blumenverkäufern besetzt gehaltenen San Salvador Atenco mit der Ausrufung des roten Alarms. Das gemeinsame Ziel der otra campaña, einer Art neuen sozialen Bewegung in Mexiko, ist die grundlegende politische Umgestaltung Mexikos. Seit Mitte 2005 reiste dafür Marcos, Sprecher der Zapatistas, durch Mexiko.
Im Laufe des vergangenen Jahres hat sich der Fokus der nationalen und internationalen Aufmerksamkeit zunehmend von Chiapas weg verlagert. Während die Zapatistas im Rahmen der Anderen Kampagne durchs Land zogen, zuhörten, erzählten und vernetzten, überschlugen sich an anderer Stelle die Ereignisse: Im Mai schlug die Polizei die Proteste der Blumenverkäufer in Atenco blutig nieder. Nach den Präsidentschaftswahlen ließen sich aufgrund des Vorwurfs des Wahlbetrugs sowohl der Sieger Calderón als auch der unterlegene López Obrador zum Präsidenten küren. Und im Oktober 2006 führte der Streik der LehrerInnen in Oaxaca zu einem Aufstand, auf den die Regierung mit brutaler Repression antwortete.

Der Rote Alarm

Für die Zapatistas eine Gelegenheit, zu zeigen, dass sie es mit dem Anliegen, lokale Basisgruppen in ganz Mexiko zu unterstützen, ernst meinen. Als Reaktion auf die gewaltsame Räumung der BlumenverkäuferInnen in Atenco verhängten die Zapatistas den roten Alarm. Die so genannten caracoles (Bezirksrathäuser) wurden geschlossen und viele Solidaritätsgruppen verließen Chiapas. Hinter vorgehaltener Hand kritisieren Mitglieder der junta de buen gobierno (Rat der guten Regierung) diesen Schritt: Seit neun Monaten fehle zunehmend die Unterstützung aus dem Ausland. Die verbliebenen internationalen BeobachterInnen bestätigen dies. „Roberto Barrios braucht dringend Menschenrechtsbeobachter“, sagt Nico, ein Aktivist aus Frankreich. „Seit einigen Monaten wird dort ein Dorf bedroht. Und kaum jemand ist vor Ort.“
Die Andere Kampagne soll die Verbindung zwischen Innen und Außen, zwischen den Auswirkungen und den Ursachen der Unterdrückung herstellen. Aber Erfolge stellen sich nicht von Heute auf Morgen ein – und das frustriert die Basis. Seit der Rote Alarm ausgerufen wurde, erzählt uns ein compañero, fehlen die internationalen Solidaritätsgruppen, fehlen Medikamente, Schulmaterial, LehrerInnen. Großspurig hatten die Zapatistas verkündet, der Rote Alarm würde aufrecht erhalten, bis die Regierung die Forderungen nach Freilassung der Gefangenen und den Rückzug des Militärs aus Atenco erfülle.
Doch obwohl die Regierung keine Anstalten macht, den Forderungen nachzukommen, lässt sich der Rote Alarm ein halbes Jahr später in den Gemeinden nicht länger aufrecht erhalten. Ende Oktober wird das caracol in Oventic wieder eröffnet. Die Feierlichkeiten werden klein gehalten. Ein Kranz schmückt den Eingang der Junta. Die Wiedereröffnung ist der Notwendigkeit geschuldet. Zurück bleibt ein bitterer Beigeschmack. Die Unterstützungsbasis zumindest ist zufrieden, dass die Juntas wieder öffnen und Solidaritätsgruppen empfangen werden können.

Eine gespaltene Gemeinde

In Roberto Barrios befindet sich eines der fünf caracoles der zapatistischen Selbstverwaltung: „Die Schnecke, die für alle spricht.“ Dieser Spruch ist der erste, den wir sehen, als wir im Dorf ankommen. Er steht an einer Wand und zeigt die stark symbolische, ja surrealistische Dimension der zapatistischen Welt. Direkt daneben lesen wir auf einem Schild: „Sie sind auf zapatistischem Gebiet: Hier regiert das Volk und die Regierung gehorcht.“ Diese Sätze auf den Wänden des caracoles bringen in wenigen Worten die Welt der Zapatistas zum Ausdruck.
Am Tag nach unserer Ankunft werden wir zur autonomen Regierung der Zapatistas gerufen. „Wir, die Zapatistas, bedanken uns für Euren Besuch und heißen Euch willkommen auf zapatistischem Territorium“, begrüßt uns die mit einer schwarzen Skimütze vermummte Zapatistin. Wir sind beeindruckt und berührt vom Stolz und der Stärke, die von der autonomen Regierung ausgehen. Wenige Tage später sprechen wir mit einem diesmal unvermummten Mitglied der junta de buen gobierno. Beim Kaffee plaudern wir über die Bedrohung durch die Paramilitärs, das Leben im caracol und über die beste Strategie, die Ameisen im Haus los zu werden. Er erzählt uns, dass er aus einem Dorf kommt, viele Stunden Fußmarsch vom caracol entfernt. Seine Gemeinde hat ihn geschickt. „Ich bin gern hier“, sagt er, „auch wenn ich nun zu Hause mein Feld nicht bestellen kann“. Das übernehmen die compañeros für ihn, solange er unterwegs ist – meist drei Wochen, dann wechselt die Besetzung der junta.
Roberto Barrios ist eine gespaltene Gemeinde. Die eine Hälfte der EinwohnerInnen sind Zapatistas, die andere Hälfte gehören der PRI an – der ehemaligen Einheitspartei Mexikos. In der Vergangenheit gab es von Seiten der PRI-AnhängerInnen gewaltsame Ein­­­schüchterungsversuche, bis hin zu Mord. Uns wird abgeraten, ins Dorf zu gehen. Als wir erstaunt schauen, beschwichtigt er uns: „Nein, nicht alle sind gewaltsam, es gibt auch compañeros im Dorf.“ Die Zapatistas erkenne man daran, dass sie die internationalen MenschenrechtsbeobachterInnen freundlich grüßen, während die anderen stumm vorbei trotten.

Eine Blockade für Oaxaca

Über den Satelliten gestützten Internetzugang der Bibliothek in Roberto Barrios verfolgen wir die Ereignisse in Oaxaca. Der Bibliothekar scheint schon vor uns gewusst zu haben, was wir gerade erst lesen. Um die Protestierenden in Oaxaca zu unterstützen, rufen die Zapatistas alle Teile der Anderen Kampagne auf, am 1.November die wichtigsten Straßen in Mexiko zu blockieren. Er selber wird am Mittwoch nicht dabei sein können: „Jemand muss auf das caracol aufpassen“. Mehr erfahren wir nicht.
Spannung macht sich breit. Was wird an diesem 1.November passieren? Die Zapatistas mobilisieren in ihren Gemeinden für eine große Blockade – angesichts der Bedingungen in den Dörfern eine logistische Herausforderung. Viele Gemeinden können nur mit einem Tagesmarsch durch den Dschungel erreicht werden. Ihnen müssen die Informationen überbracht werden. Versammlungen werden einberufen. Wer kann mitkommen? Wer kümmert sich um die Felder? Wie wird der Transport zur Straße organisiert und wie finanziert? Auch wenn seit Beginn des Aufstands Einzelne die EZLN verlassen haben, ist die Solidarität der zapatistischen Basis ungebrochen. Die Zapatistas finden für ihr Ansinnen zahlreiche MitstreiterInnen.
Es ist jetzt 14 Uhr am Tag der Blockade. Die Lautsprecher eines Pick-ups verkünden krächzend die Statistik des Tages: 2.000 Zapatistas blockieren an 19 Stellen die Straßen. Chiapas ist lahm gelegt. Auch in anderen Bundesstaaten und in der Hauptstadt sind die UnterstützerInnen der otra campaña auf der Straße. Die compañera auf dem Pick-up verliest die Forderungen: die Polizei muss Oaxaca verlassen, alle politischen Gefangenen müssen frei gelassen werden.
Dass die Blockaden zur Umsetzung dieser Forderungen beitragen, glaubt kaum einer der Teilnehmenden. Die Mobilisierung im ganzen Land ist vor allem ein Zeichen der Präsenz. Und auch in dieser Hinsicht sind die Blockaden am 1.November nur ein halber Erfolg. Die Beteiligung der internationalen Zivilgesellschaft bleibt verhalten, in der Presse erreichen die Aktionen der Zapatistas nicht die Aufmerksamkeit, die ihnen lange Jahre sicher war. Haben die Zapatistas an Rückhalt verloren? Haben Sie sich isoliert?
Auf dem Intergalaktischen Treffen vom 31. Dezember 2006 bis 02. Januar 2007 immerhin zeigt sich, dass Chiapas für die internationalen Solidaritätsgruppen immer noch von Bedeutung ist: SympathisantInnen aus 132 Ländern kamen zum 13. Jahrestag des zapatistischen Aufstands nach Oventic. Das lässt viel erwarten für den zweiten Teil der Anderen Kampagne: die Reise der comandantes durch Mexiko.

„Das sind Techniken der Aufstandsbekämpfung“

Marcos Leyva, welche Bedeutung hat die Verhaftung von Flavio Sosa und weiteren Führungskräften für die APPO und den Konflikt in Oaxaca?

Die Verhaftungen von Flavio Sosa und drei weiteren compañeros einen Tag vor einem ersten Treffen mit dem neuen Innenminister sind ein sehr schlechtes Zeichen für die Bewegung. Damit zeigt die neue Regierung, dass ihre Antwort auf die Bewegung die Politik der „harten Hand“ und des „Schmutzigen Krieges“ ist. Sie wollen die sozialen Bewegungen schwächen und kriminalisieren.

Ist dies eine Veränderung gegenüber der Innenpolitik unter Fox?

Ich glaube schon. Ich denke, wir befinden uns am Beginn einer neuen Etappe. Mit dem Personal von Ex-Innenminister Abascal gab es noch die Möglichkeit des Dialogs. Das erste was die neue Regierung hingegen macht, ist, die Bewegung im Namen der Legalität zu bekämpfen.

Wie ist die derzeitige Situation der APPO?

Die Repression und die Massenverhaftungen am 25. November waren ein harter Schlag gegen die APPO. 15 bis 20 Leute aus dem Rat der APPO sind heute untergetaucht. Das ist Besorgnis erregend. Aber ich denke, die horizontale Organisationsstruktur ermöglicht die Erneuerung der Führung. Wir sind immerhin 260 Personen im Rat. Die APPO ist geschwächt, aber sie arbeitet weiter. Gleichzeitig verlassen viele Leute aus den Stadtvierteln und Dörfern heute aus Angst mehr und mehr die Bewegung.

Wie würdest du die Stimmung in Oaxaca heute beschreiben?

Die Regierung von Oaxaca schafft ein Klima des Terrors. Die Unsicherheit in Oaxaca ist heute so groß, wie in den bedeutendsten Momenten der Bewegung. Man kann sich nicht frei bewegen. Die Menschen haben sehr viel Angst, verhaftet oder angegriffen zu werden. Die Leute, die vielleicht einmal öffentlich in der Nachbarschaft gesagt haben, dass Ulises Ruiz verschwinden soll, haben heute deswegen Angst. Und die Repression richtet sich in der Tat gegen diese Leute, die gewissermaßen die soziale Basis der APPO sind. Die Polizei dringt in Häuser ein, verhaftet Leute, die vielleicht einmal auf einer Demo waren, an einer Versammlung teilgenommen haben oder nicht einmal das. Das sind Techniken der Aufstandsbekämpfung.

Was bedeutet das für den sozialen Zusammenhalt in Oaxaca?

Es gibt viel Misstrauen und Paranoia. Viele Leute haben sehr große Angst um ihre Sicherheit. In Stadtvierteln beschuldigen und denunzieren sich NachbarInnen zum Teil gegenseitig. Es gibt eine Reihe von Polizeiaktionen, die keiner kontrolliert, so dass du nicht mehr weißt, ob dich ein Dieb oder ein Polizist angreift, ob sie dich zusammenschlagen und irgendwo aus dem Auto schmeißen und das war es dann. Die Gesellschaft ist zudem stark polarisiert. Nicht nur zwischen denen, die in der APPO sind, und denen, die es nicht sind, sondern auch zwischen denen, die vielleicht die APPO nicht unterstützen, aber dafür sind, dass Ulises Ruiz zurücktritt und die Bundespolizei aus Oaxaca verschwindet. Es ist eine tiefe Krise, eine institutionelle, aber auch eine Krise des sozialen Paktes. Und wenn das nicht verstanden wird, werden wir einen sozialen Konflikt haben, auch wenn Ulises zurücktreten und es bundesstaatliche Reformen geben sollte. Der Hass, die Zerstörung des sozialen Zusammenhalts und die extreme Polarisierung werden bleiben, wenn wir das nicht verstehen.

Im Oktober haben die LehrerInnen den Unterricht in Oaxaca wieder aufgenommen, nachdem die LehrerInnengewerkschaft mit dem Innenministerium separat verhandelt hatte. Wie wurde das in der APPO bewertet?

Das war eine Spaltungsstrategie der Regierung, die Erfolg gehabt und zu internen Konflikten in der APPO geführt hat. Was uns geärgert hat, war nicht die Entscheidung der LehrerInnenschaft, den Schulunterricht wieder aufzunehmen, denn darüber hatten sich die APPO und die 22. Abteilung der LehrerInnengewerkschaft längst verständigt und dafür plädiert. Das Problem war der Alleingang der Gewerkschaft. Das hat auch viele LehrerInnen der Basis verärgert.

Mitte November hat die APPO einen Kongress abgehalten. Was ist die Bedeutung des Kongresses?

Er war ein wichtiger Raum, um das Projekt der APPO deutlicher zu skizzieren. Auf dem Kongress waren ungefähr 900 Delegierte aus Organisationen und Nachbarschaftskomitees vertreten. Für mich lassen sich ihre Ergebnisse in drei Punkten zusammenfassen: Erstens bekräftigt die APPO, dass sie ein Ausdruck der sozialen Bewegung in Oaxaca ist. Zweitens erklärt sie erneut, dass der soziale Kampf ein friedlicher ist und drittens, dass dieser Kampf das Anliegen hat, das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in Oaxaca tief greifend zu transformieren und die Institutionen zu demokratisieren. Dafür ist eine Bedingung der Rücktritt von Ulises Ruiz.

Wie ist das Verhältnis zwischen der „Anderen Kampagne“ der Zapatisten und der APPO?

Es gibt quasi kein Verhältnis. Marcos hat sich Anfang 2006 in Oaxaca mit der LehrerInnengewerkschaft zerstritten, als er auf einem Treffen mit der Gewerkschaft die PRD und Lopéz Obrador attackierte und damit einige LehrerInnen verärgert hat.

Und es gab auch keinen Versuch angesichts der Entwicklung der sozialen Bewegung in den folgenden Monaten diesen Bruch zu überwinden?

Nein. Im Gegenteil, Marcos hat sich noch nicht einmal viel zum Konflikt in Oaxaca geäußert. Das erscheint mir ziemlich dumm von ihm. Marcos scheint heute immer mehr allein zu bleiben. Seitdem die drei Delegierten der Comandancia hier waren, gibt es allerdings ein wenig mehr Kontakt.

Und wie ist das Verhältnis zu López Obrador? Der hat ja bis er die Wahl „verloren“ hat, auch nicht viel gesagt…

Ja, der hat sich aus wahltaktischen Gründen kaum zum Konflikt geäußert. Das hat er erst danach gemacht. Heute ruft er zum Beispiel auch zu Demonstration der APPO auf.

Und ist das eine gute Unterstützung?

Ja, ich glaube, man sollte sie wahrnehmen. Allerdings muss man auch aufpassen, dass die PRD die APPO nicht vereinnahmt. Insbesondere jetzt, wo die Stärke der Bewegung nachlässt.

In Mexiko haben Repression sozialer Bewegungen und die Ignoranz der Macht immer wieder zur Entstehung von Guerillas beigetragen. Ist eine solche Entwicklung heute in Oaxaca denkbar?

Das kann in Oaxaca passieren. Man darf nicht vergessen, dass in Oaxaca diese bewaffneten Gruppen schon existieren. Das ist sehr gefährlich. Wenn die Regierung den Menschen in Oaxaca die politischen Wege versperrt, um ihre legitimen Forderungen zu verhandeln, dann öffnet sie einen anderen Ausweg. In der APPO sind wir damit nicht einverstanden. Wir sagen, dass der Kampf ein ziviler und friedlicher ist, aber die Gefahr der Bewaffnung ist präsent.

Non Gratas in Mexiko-Stadt

Eine Mariachi, die von Lust und Begehren spricht, Super-Lesbi als Retterin der unterdrückten Lesben. Glückliche Frauenpaare die offen durch die Strassen und Parkanlagen von Mexiko-Stadt schlendern, eine Polizistin, die heiße Küsse auf der Parkbank austauscht, junge und ältere Damen, die sich nach einer Safer-Sex Präsentation zu zweit oder zu dritt in ihre Hotelzimmer zurückziehen um diverses Latexmaterial auszuprobieren – das sind einige der Figuren, die Rotmi Encisos Videos aus der Reihe „Ellas/Nosotras“ bevölkern.
Rotmi sagt, sie sei es leid, in Filmen und Videos immer wieder nur das Stereotyp der leidenden Lesbe zu sehen und will mit ihren Videos auf spielerische Weise Diskussionen anstoßen. „Die Reaktionen sind je nach Publikum sehr unterschiedlich“, erklärt die Produzentin. Frauen, die sich auf die eine oder andere Weise mit den Figuren in den Videos identifizieren, seien meist begeistert, manche kämen aus dem Lachen nicht mehr heraus, andere hätten Tränen in den Augen. „Als wir das neue Video „Ellas/Nosotras Masiosare“ auf der Buchmesse in Mexiko-Stadt gezeigt haben, waren die Reaktionen eher verhalten. Die Buchmesse auf dem Zócalo hat als öffentlicher, für alle zugänglicher Raum ein sehr gemischtes Publikum angezogen. Viele wussten, als sie sich in die Vorführung gesetzt haben, zunächst gar nicht worum es geht. Und einige sind, als sie sich darüber klar wurden, dass es sich um lesbisches Leben und Liebe dreht, mit entsetztem Gesichtsausdruck nach fünf oder zehn Minuten schnell wieder gegangen.“ „Widerlich“, habe eine Mutter, die mit ihren zwei kleinen Kindern im Publikum saß, beim Verlassen der Vorstellung gemurmelt.
„Wir Lesben sind Non Gratas“, meint Rotmi. Non Grata – unerwünscht sein – bedeutet für sie auch, sich zu widersetzen, das Gebot der Heterosexualität nicht als Norm zu respektieren. Für viele, so Rotmi, heiße das auch, sich in einer machistischen Welt von den Männern emotional und ökonomisch unabhängig zu wissen. Für Rotmi als Fotografin, Malerin und Filmemacherin, bedeutet es, Bilder zu schaffen, die die heiligen Hallen der Heterosexualität durchkreuzen und übertreten: Die heilige Familie, die Moral und die guten Sitten in einem heuchlerischen System.
Die letzten zehn Minuten des Videos „Ellas/Nosotras Masiosare“ erzählen Bewegungsgeschichte. Da sind sie, die Aktivistinnen der lesbisch-feministischen Bewegung Mexikos und ihre Organisationen: Intellektuelle, Filmemacherinnen, Schauspielerinnen, Sängerinnen, Journalistinnen, Schriftstellerinnen und und und. Eine Hommage an diejenigen, die, jede auf ihre Weise oder auch zusammen, für ihre Rechte kämpfen. Manche in breiten Allianzen innerhalb der Frauenbewegung Mexikos, an der Seite der ZapatistInnen, MigrantInnen oder unter der Regebogenfahne in les-bi-schwul-trans-Zusammenhängen. Manche auf parteipolitischen Pfaden, wie Patria Jiménez, die 1997 als erste offen lesbische Abgeordnete im mexikanischen Kongress saß. Andere, wie Yan Maria Yaoyólotl Castro, die sich vehement gegen jede Parteipolitik wehren und sexuelle Selbstbestimmung konsequent in einen antikapitalistischen, antistaatlichen Kontext stellen. Oder Jesusa Rodríguez: Kabarettistin und Theaterregisseurin, die sich in den letzten Monaten als eine der konsequentesten Unterstützerinnen Andrés Manuel López Obradors innerhalb der Bewegung gegen den Wahlbetrug und für dessen legitime Präsidentschaft profiliert hat.
Jesusa, die in „Ellas/Nosotras“ als Ranchera und als Nonne auftaucht, steht bei jeder öffentlichen Veranstaltung für Gerechtigkeit und Aufklärung der ermordeten Frauen von Ciudad Júarez auf dem Podium oder auf der Strasse. Nach den staatlichen Repressionen in Atenco hat sie im Kollektiv der „Mujeres sin Miedo – Todas somos Atenco“ (Frauen ohne Angst – Wir alle sind Atenco) Unterstützungsveranstaltungen für die politischen Gefangenen von Atenco organisiert. Sieht man die Schauspielerin, die auf der Bühne als multiple Persönlichkeit von Sor Juana Inés de la Cruz über Frida Kahlo bis zu Emiliano Zapata überzeugt, so scheint es, dass ihre Popu­larität als Künstlerin und vor allem die Beziehungen zur intellektuellen Créme de la Créme Mexikos ein ideales Schutzschild gegen die alltäglichen Anfeindungen und Übergriffe bilden, die lesbische Frauen in Mexiko ständig erleben. Jesusa selbst sagt, dass sie nie das Gefühl hatte „im Schrank“ leben zu müssen (Anm.d.Red. „aus dem Schrank kom­men“ = sich outen).

Brautkleider aus Papier

Am 14. Februar 2001 heiratete die Kabarettistin in einem symbolischen Performanceakt ihre langjährige Lebensgefährtin, die argentinische Sängerin und Schau­s­pielerin Liliana Felipe: Die Ehe als Institution der katholischen Kirche lehnen beide grundsätzlich ab. In der symbolischen Heirat, die auf der Bühne ihres eigenen Kabarett-Theaters stattfand, mokierten sich die Bräute über die scheinheilige Moral der Kirche und des Staates. „Da unsere Beziehung ja immer schon öffentlich war, bedeutete zu heiraten für uns lediglich unsere moralische Pflicht gegenüber dem Katholizismus zu erfüllen. Wir fühlten uns so unglaublich sündig“, erzählt Jesusa in einem Interview ein paar Wochen nach der Hochzeit. Hintergrund der pompösen Eheschließung, in Brautkleidern aus Papier und vor einem begeisterten Publikum, war bei allem Witz jedoch ein ernster: Am gleichen Tag wurde im Stadtparlament von Mexiko-Stadt zum ersten Mal über Leben­sge­mein­schaften, die so genannten sociedades de convivencia, abgestimmt. Liliana und Jesusa feierten im Kabarett, während parallel die seitdem jährlich stattfindenden symbolischen Eheschließungen lesbischer, schwuler und transsexueller Paare initiiert wurden, die den Kampf um die sociedades de convivencia begleiten. Waren es 2001 nur 30 Paare die sich das Ja-Wort gaben, sind es mittlerweile Hunderte, die sich am Valentinstag im historischen Stadtzentrum trauen lassen.

Keine Ehe als Trostpflaster

Am 9. November 2006 wurde, allen Widerständen zum Trotz, nach über sieben Jahren politischem Hin und Her das Gesetz über die sociedades de convivencia verabschiedet. Das neue Gesetz bietet Paaren gleichen
Geschlechts sowie anderen „unkonventionellen“ Lebensgemeinschaften in Mexiko-Stadt eine gesetzliche Grundlage. Nach langen Jahren harter Auseinandersetzungen insbesondere mit den Abgeordneten der rechts-konservativen PAN, die das Lebensgemeinschaftsgesetz als „Angriff auf die Familie“ bezeichnen, ist dies für viele der LGBT-Community ein Grund zu feiern. Andere Stimmen aus Lesbenkreisen wollen jedoch nicht sofort in den Jubelgesang einstimmen. Mariana Pérez Ocaña von der Zeitschrift LesVoz kritisiert das neue Gesetz als Farce. Hier sei eindeutig, dass nur bestimmte Interessen berücksichtigt würden. Beispielsweise sei die Möglichkeit der Adoption genauso wenig vorgesehen wie Rechte für die migrantische Lebenspartnerin bzw. den migrantischen Lebenspartner. LesVoz, neben Las Amantes de la Luna eine der zwei Lesbenzeitschriften Mexikos, setzt sich seit Jahren für die „lesbische Ehe“ ein. Wobei das Wort Ehe dabei nur auf die Rechte verweist, die diese mit sich bringt und keineswegs auf die Institution Ehe, wie sie die katholische Kirche formuliert. „Solange keine wirkliche rechtliche Gleichstellung stattfindet, gibt es für uns keinen Grund zu feiern. Wir wollen uns nicht mit einem kleinen Trostpflaster begnügen.“

Explizit politisch

Die „lesbische Ehe“ ist auch eine der Forderungen des Organisationskomitees der Marcha Lésbica, zu dem LesVoz gehört. Seit vier Jahren organisieren Gruppen und Einzelpersonen eine Demo, die sich von der traditionellen Marcha del Orgullo LGBT vor allem durch politische Inhalte unterscheidet. Während die Pride-Parade, wie vielerorts in Europa und den USA, auch in Mexiko immer kommerzieller wird und politische Forderungen nur noch in der ‚light’ Version serviert, beziehen die Organisatorinnen der Marcha Lésbica dezidiert Stellung. Sie verstehen eine lesbisch-feministische Politik als Bereicherung der sozialen Bewegungen Mexikos. Der sofortige Stopp des Mauerbaus zwischen Mexiko und den USA wird genauso gefordert wie das Recht auf Abtreibung, die Auflösung des Freihandelsabkommens NAFTA und die Einrichtung autonomer Gemeindezentren, die insbesondere Räume für alte lesbische Frauen, behinderte, indigene und jugendliche Frauen schaffen. Wie den meisten Gruppen, die sich in der Marcha Lésbica zusammengeschlossen haben, geht es auch LesVoz um eine Arbeit an der Basis.
Die Organisation, die nicht nur die zweimonatlich erscheinende Zeitschrift publiziert, sondern auch als Beratungsstelle in Rechtsbelangen fungiert, dokumentiert detailliert Fälle von Übergriffen auf lesbische Frauen in Mexiko-Stadt. „Wir wissen, dass die Frauen, die zu uns kommen, nur ein Bruchteil von denen sind, die tagtäglich angegriffen werden. Vor allem bei dem, was sich die Polizei immer wieder leistet, bleibt einem der Atem weg“, berichtet Mariana Pérez Ocaña. Die Berichte von Übergriffen, die regelmäßig in der Zeitschrift abgedruckt werden, sollen zum einen Öffentlichkeit schaffen. Zum andern Frauen, die ähnliches erleben, dazu ermutigen, sich zu wehren und zu denunzieren. In der letzten Ausgabe der Zeitschrift schreibt eine junge Frau darüber, wie sie mit ihrer Freundin am helllichten Tag von einer Polizeistreife festgehalten wurde. „Die beiden haben sich geküsst und die Polizisten haben ihnen Sittenwidrigkeit vorgeworfen und damit gedroht, dass sie schon die Einheit gerufen hätten, die sie auf die Wache bringen würde, wo sie dann 800 Pesos Strafe zu zahlen hätten. Aus Angst haben die beiden dann Bestechungsgeld gezahlt und die Polizisten haben sie laufen lassen.“ Mariana stellt daraufhin klar, dass, im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, lesbisch oder schwul zu leben in Mexiko kein Delikt sei. Dennoch, so die Journalistin, fühlten sich viele lesbische Frauen in Bedrohungssituationen so unsicher, dass sie lieber Bestechungsgelder zahlen, als es darauf ankommen zu lassen.

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