Preisgekrönter Dokumentarfilm Nuestra Libertad handelt von Frauen, die aufgrund von Fehlgeburten kriminalisert werden (Foto: @Pråmfilm @Flysofar)
Die Einladungen waren verschickt, der Kinosaal gebucht. Dennoch blieb die Leinwand des Kinosaals in San Salvador an diesem Dienstagabend dunkel. Dabei war für den 16. August eigentlich eine ganz besondere Vorpremiere angesetzt gewesen. Auf dem Programm stand Nuestra Libertad (Unsere Freiheit; englischer Titel: Fly so far), ein mit internationalen Preisen dekorierter Film aus salvadorianischer Produktion. Sein Thema: Die ultra-restriktive Gesetzgebung in El Salvador, die jeglichen Schwangerschaftsabbruch unter härteste Strafen stellt. Dass der Film nicht gezeigt werden konnte, hat viel damit zu tun, dass er den Nerv eines Landes trifft, dessen Rechtsprechung Frauen kolossale Ungerechtigkeiten zufügt. Aber auch damit, dass eben diese Rechtsprechung in El Salvador aktuell völlig unkalkulierbar ist.
Mit Nuestra Libertad – Fly so far hat die salvadorianisch-schweizerische Regisseurin Celina Escher einen Dokumentarfilm über die Menschen gedreht, die am härtesten von der juristischen Situation im Land betroffen sind. Über einen längeren Zeitraum hatte sie dafür die Gruppe der 17 (Las 17) begleitet und gefilmt. Als Gruppe der 17 wurden junge Frauen, ausnahmslos aus prekären Verhältnissen, bekannt, die wegen Fehlgeburten zu jahrzehntelangen Haftstrafen verurteilt wurden und aus verschiedenen Gründen nicht ausreichend Möglichkeit bekamen, ihre Unschuld zu beweisen. Eschers Film erregte hohe internationale Aufmerksamkeit. In vielen Staaten lief Nuestra Libertad – Fly so far im Kino, in einigen auch im Fernsehen. So zum Beispiel in Polen, einem Land, das ebenfalls nicht für seine liberale Haltung in der Abtreibungsfrage bekannt ist. Laut der Regisseurin kein Thema für die Veröffentlichung ihres Werks: „Nie gab es Probleme, nie wurden wir bedroht“.
Erst als der Film in den Kinos ihres Heimatlandes El Salvador anlaufen sollte, änderte sich das. Es regte sich Widerstand ultrakonservativer Aktivist*innengruppen, die sich selbst als Pro Vida (Für das Leben) bezeichnen und die diskriminierende Rechtsprechung des Landes unterstützen. Diese kriminalisiert, unabhängig von Umstand und Verlauf der Schwangerschaft, jeglichen Versuch der Abtreibung. Selbst Fehlgeburten unterliegen einem Generalverdacht, von dem sich alleinstehende, aus prekären Verhältnissen stammende Frauen, wie die Gruppe der 17 nur schwer befreien können, da sie sich keinen teuren Rechtsbeistand leisten können. Ihre Fälle lesen sich vergleichbar, wie aus einem Horrorfilm, der beständig die gleiche Szene wiederholt: Schwangerschaft, Fehl- oder Frühgeburt unter meist unzureichenden medizinischen Bedingungen, kurz darauf trotz nicht bewiesener Schuld Verurteilung zu Haftstrafen in absurder Höhe wegen Kindesmordes. 30 Jahre Gefängnis lautet das häufigste Urteil. Einige Frauen wurden durch die Situationen traumatisiert oder verloren während ihrer Fehlgeburt sogar das Bewusstsein. Auf mildernde Umstände durften sie trotzdem nicht hoffen. Von den Vätern der Kinder fehlt ohnehin meist jede Spur.
Celina Escher ist die Regisseruin des Films “Nuestra Libertad – Fly so far” (Foto: @escher.celina)
Nuestra Libertad – Fly so far wurde auf 50 Festivals weltweit gezeigt, der Film gewann 18 Preise. Ein Meilenstein für ein Land wie El Salvador mit einem eher bescheidenen cineastischen Output. Durch den großen Erfolg konnte eine Kinokette für die Distribution des Films in heimischen Kinos gewonnen werden. Allerdings wartete das Filmteam bis eine Woche vor der Premiere auf die Freigabe durch eine Regierungsstelle. „Das ist eine Standardprozedur, durch die jeder Film durch muss, der hier im Kino gezeigt wird. Trotzdem waren wir natürlich besorgt, dass es Probleme geben könnte“, erzählt Escher. Aber die Freigabe erfolgte am 11. August, die Premiere hätte also wie geplant am 18. des Monats in San Salvador stattfinden können. Doch die Aktivist*innen der Pro-Vida-Gruppen wollten das verhindern. Erstaunlich koordiniert und gut vorbereitet gingen sie bereits am Tag nach der Entscheidung mit einem gemeinsamen offenen Brief, der haltlose Verleumdungen und Rekriminalisierungen des Filmteams und der Frauen der Gruppe der 17 enthielt, an die Öffentlichkeit. Gleichzeitig drohten die Abtreibungsgegner*innen den Kinobetreiber*innen mit rechtlichen Schritten, falls der Film in ihren Sälen gezeigt werden sollte. Eine rechtliche Prüfung durch das Kino ergab, dass die Vorwürfe vor einem Gericht keinen Bestand haben dürften, da der Grundsatz der Pressefreiheit durch den Film nicht in Frage gestellt würde. Dennoch entschied sich die Kette dafür, den Film aus dem Programm zu nehmen – zumindest so lange, bis wieder Rechtssicherheit in El Salvador herrscht. Seit fast einem halben Jahr ist diese nämlich in dem zentralamerikanischen Land nicht mehr gegeben.
Absurde Strafen Viele Frauen wurden zu 30-jährigen Haftstrafen verurteilt (Foto: @Pråmfilm @Flysofar)
„Komplex“ nennt Celina Escher die Gemengelage. Von direkter staatlicher Zensur könne man nicht sprechen, schließlich sei die Veröffentlichung des Films genehmigt gewesen. Doch ihrer Rechte sicher sein kann sich im Moment fast keine Organisation, die politische oder soziale Missstände in El Salvador beim Namen nennt. Grund dafür ist der parlamentarische Ausnahmezustand, den Staatspräsident Nayib Bukele Ende März mit der Begründung des Kampfes gegen Bandenkriminalität verhängt hat und der seither mit schöner Regelmäßigkeit jeden Monat verlängert wird. Dadurch sind Grundrechte außer Kraft gesetzt, zu denen zwar nicht die Pressefreiheit, aber dafür wichtige Rechte von Angeklagten in Strafprozessen gehören. Unter diesen Umständen könnte deshalb aktuell niemand eine Garantie dafür übernehmen, dass ein möglicher Prozess auf der Grundlage der laut Verfassung gültigen Rechtsnormen durchgeführt würde. Die einzig sichere Form, in El Salvador vor Gericht nicht verurteilt zu werden, ist momentan, es gar nicht erst zu einer Anklage kommen zu lassen. Ein Paradies für aggressive und finanziell gut ausgestattete Zensurfans wie das Pro-Vida-Bündnis, das so mit Drohungen und Einschüchterungen leichtes Spiel hat, die Veröffentlichung missliebiger Berichterstattung zu verhindern. Zumindest vorerst. „Natürlich haben wir weiterhin vor, den Film auch in El Salvador zu zeigen“, erklärt Celina Escher. Wann dies sein wird, steht aber angesichts der aktuellen Lage in den Sternen.
Viele Fragen zum Fall Nuestra Libertad – Fly so far bleiben ungeklärt. Zum Beispiel, wer die Freigabe des Films durch die staatlichen Stellen so blitzschnell an das Pro-Vida-Bündnis durchstach, dass dieses sich umgehend organisieren konnte. Oder warum der Staat von selbst so wenig unternimmt, um das verfassungsmäßig garantierte Recht auf Pressefreiheit durchzusetzen. Die wichtigste aber bleibt, wann Frauen in El Salvador endlich vor willkürlichen Gefängnisstrafen nach Schwangerschaftsabbruch bewahrt werden und wer sie und ihre Unterstützer*innen vor den fanatischen Abtreibungsgegner*innen beschützt. „Wir wissen, wozu diese Gruppen fähig sind“, sagt Celina Escher, die vor allem in Sorge um die Protagonistinnen ihres Films – manche mittlerweile frei, manche noch im Gefängnis – ist. Aber auch für sich hat die Regisseurin bereits Maßnahmen getroffen: Aus Selbstschutz hat sie ihren Aufenthaltsort dauerhaft ins Ausland verlegt und wird vorerst nicht nach El Salvador zurückkehren.
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