„DIE WOLLEN UNS IN DIE PERIPHERIE ABSCHIEBEN“

Seit in Brasilien ab 2008 die ersten Planungen für gigantische WM-Infrastukturprojekte im ganzen Land aus dem Boden sprossen (s. LN-Dossier 9, September/Oktober 2013), war der Ausbau des Flughafens von Porto Alegre, Salgado Filho, ausgemachte Sache. Der Ausbau der Landebahn sei nötig, damit auf dem internationalen Flughafen auch größere Maschinen landen und starten könnten. So würde die bestehende Piste, die 2.280 Meter lang ist, auf 3.200 Meter verlängert werden. Doch dafür müssten 1.500 Menschen der angrenzenden Favela Vila Dique und die 5.000 Menschen der sich ebenfalls dort befindlichen Favela Nazaré zwangsumgesiedelt werden.

Zwischen 2009 und 2012 wurden aus der Vila Dique die ersten 900 Familien, knapp 4.000 Menschen, umgesiedelt. Doch die restlichen Familien, von denen viele dort seit 40 Jahren leben, weigerten sich. Denn schnell sprach sich herum, wie das neue Wohnviertel aussah, in das die umgesiedelten Familien gezogen waren.

Sheila Mota ist Vorsitzende der Widerstandsbewegung Vila Dique Resiste, in der sich Bewohner*innen der Favela Vila Dique zusammen­geschlossen haben. Gegenüber Medien berichtete sie, dass die Ersatzhäuser mit 38 Quadratmeter viel zu klein für die zwangsumgesiedelten Familien waren, die oftmals zu zehnt dort wohnen mussten. „Von diesen 900 Familien sind etliche wieder zurück zur Vila Dique gekommen“, sagt Sheila Mota. „Da in Porto Novo gibt es zu viel Gewalt und keine Arbeit. Und der Transport erst: Viele müssen zwei Busse nehmen, um zur Arbeit zu kommen.“ Die meisten arbeiten, so Mota, als Müllsammler*innen oder in Recyclingfabriken, dies sei in der neuen Gegend aber nicht möglich. „Die meisten hier arbeiten mit Recycling, das ist unser täglich Brot. In Porto Novo gibt es aber keine Jobs in der Recycling-Branche, kein Auskommen“, sagt Mota. Die ersten hundert Bewohner*innen der neuen Wohngegend von Porto Novo sind nun wieder zurück in die Vila Dique gezogen.

In der Vila Dique ist die Infrastruktur seit den ersten Zwangsumsiedlungen aber massiv schlechter geworden. Eine der ersten Handlungen der Präfektur war die Schließung des örtlichen Gesundheitspostens. Denn schließlich hatte die Politik entschieden, dass die Vila Dique der Flughafenpiste Platz machen sollte. Doch diese Rechnung wurde ohne die Bewohner*innen gemacht. „Wir wohnen hier seit 40 Jahren und seit fünf Jahren leisten wir Widerstand“, sagt Sheila Mota. „Wir wollen den Politikern und den Ämtern zeigen, dass auch wir zur Stadt gehören! Dass wir hier unten auch ein Recht auf Stadt haben!“ Denn nur hier in der Vila Dique und der ebenfalls an den Flughafen angrenzenden Vila Nazaré gäbe es die Infrastuktur, die die Bewohner*innen bräuchten. „Wir wollen das gleiche Recht wie die Reichen haben, nahe an unseren Arbeitsplätzen zu wohnen. Wir wollen nicht die ganze Stadt durchqueren müssen. Wir wollen nicht an der Peripherie der Stadt leben!“, so Mota.

So haben sie die Staatsanwaltschaft und Aktivist*innen kontaktiert und leisten seit 2009 Widerstand gegen die Räumungsandrohungen der Stadt. Die Staatsanwaltschaft klagt gegen die gerichtlichen Androhungen der Zwangsräumungen, und Architekt*innen setzen sich mit den Anwohner*innen zusammen, um alternative Widerstandspläne zu erarbeiten, die vielleicht den Verbleib der comunidades ermöglichen könnten.

Claudia Favaro ist Architektin und erarbeitet einen Plan, um das ganze Gelände vor einer Räumung zu schützen. Dies könnte nur klappen, wenn es gelänge, vor Gericht einen Landtitel zu erlangen. So einen Landtitel gibt es nur, wenn die comunidade das Gericht von der gesellschaftlichen Bedeutung ihrer Lage und Struktur überzeugen kann. Dann wäre eine Räumung gerichtlich schwer durchzusetzen. Aber in Brasilien gab es auch schon viele Fälle, wo eine solche Sozialdemarkation von Gegenden erst vor Gericht erstritten wurde, aber Politiker*innen später das Ganze wieder aufhoben.

Der Kampf um die Vila Dique und Vila Nazaré geht weiter. Bislang lagen die Ausbaupläne für die Flugpiste brach, auch weil die Geldmittel dafür fehlten. „Nun aber wird es aller Voraussicht nach ernst“, sagt Sheila Mota, „denn nun haben sie den Flughafen an die deutsche Firma verkauft“.

Der deutsche MDAX-Konzern Fraport hat zum 1. Januar 2018 den Flughafen Aeroporto Internacional Salgado Filho von Porto Alegre für 382 Millionen Reais (umgerechnet 98 Millionen Euro) übernommen. Der Pachtvertrag läuft über 25 Jahre. Die Fraport AG wird mehrheitlich vom Land Hessen (31,32 Prozent), der Stadt Frankfurt (20 Prozent) und der Lufthansa (8,45 Prozent) kontrolliert. Die Flughafenbetreiber*innen versprechen Investitionen in Höhe von mindestens 600 Millionen Reais, einige Medien in Brasilien spekulierten gar über Investitionen in Höhe von knapp zwei Milliarden Reais. Was aber klar ist: Wird die Landepiste wie vorgesehen erweitert, dann werden die 6.500 Menschen der Favelas Vila Dique und Vila Nazaré zwangsumgesiedelt werden. Der vorgesehene Stichtag dafür ist in Oktober 2019.

Die Anwohner*innen wollen sich aber so leicht nicht geschlagen geben. „Wir haben den Bürgermeister mehrmals kontaktiert, um darüber zu reden. Aber der empfängt einfach niemanden [von uns]“, sagt Sheila Mota. „Das einzige, was wir von ihm gehört haben, war, dass er mit den Deutschen das Geschäft abschließt.“

Für die Chefin der Anwohner*innenvereinigung ist das Ganze ein abgekartetes Spiel. „Die wollen einfach, dass wir klein beigeben“, sagt Sheila Mota. „Die wollen die comunidade vertreiben. Haben wir nicht auch das Recht, nahe der Stadt zu wohnen? Alles Immobilienspekulation. Der Grund und Boden, wo jetzt unsere Vila Dique steht, die ist heute Gold wert. Die großen Filetstücke wurden schon von den Firmenbossen aufgekauft. Deshalb wollen sie, dass wir an die Peripherie der Stadt abgeschoben werden, nur deshalb.“

WO IST SANTIAGO MALDONADO?

In der argentinischen Verfassung sind indigene Rechte verankert. Anspruch und Wirklichkeit klaffen jedoch weit auseinander: Das Recht der indigenen Bevölkerungen auf Schutz ihrer Territorien wird häufig mit Füßen getreten. Im Süden des Landes schwelt seit Jahren ein Konflikt mit den Mapuche, zu denen sich etwa 100.000 Menschen in Argentinien zugehörig fühlen. Bereits seit ihrer Vertreibung und Dezimierung in der Kolonialzeit fordern die Mapuche ihre Gebiete zurück. Doch erst als in den neunziger Jahren große Ländereien in Patagonien an private Investor*innen verkauft wurden und mit Öl- und Gasbohrungen unter den Regierungen der Kirchners (2003-2015) fortgeschritten wurde, brachen die Konflikte zwischen Mapuche und argentinischem Staat offen aus. Die derzeitige Regierung von Mauricio Macri versucht, die Mapuche als Terrorist*innen und Gefahr für die innere Sicherheit darzustellen. Sie hat sogar nachweislich den argentinischen Geheimdienst mit der Aufgabe betraut, Delikte zu erfinden, die die Indigenen hinter Gitter bringen.

Auch das lof (“Gemeinde” auf Mapudungún) Cushamen gehört zum Konfliktgebiet, da es auf dem 900.000 Hektar umfassenden Grundstück des italienischen Kleiderherstellers und Multimillionärs Luciano Benetton liegt. Nach dem Staat und den Provinzen besitzt Benetton am meisten Land in Argentinien. Mehrmals versuchte die Polizei bereits gewaltsam das lof zu räumen. Ihr lonko (“Anführer”), Facundo Jones Huala, sitzt seit Ende Juni im Gefängnis.

Am 1. August griff die Polizei bei einer Straßenblockade für die Freilassung Hualas erneut hart durch. Laut der Aussage von Zeug*innen ging die Polizei mit Schusswaffen gegen die Mapuche vor und brannte deren Zelte nieder. Auch Santiago Maldonado war vor Ort. Maldonado ist selbst kein Mapuche, solidarisiert sich aber mit ihren Forderungen und war zu diesem Zweck in die Gemeinde gereist. Nach dem Angriff der Polizei floh er mit den anderen Aktivist*innen in Richtung eines Flusses. Da er jedoch nicht schwimmen kann, kehrte er auf halbem Weg wieder um. Maldonado versteckte sich in einem Busch, wo die Polizei ihn aufspürte. Die Polizeibeamt*innen verprügelten den jungen Mann, zerrten ihn in ihr Polizeiauto und verschwanden. Laut der Mapuche leitete Pablo Noceti, die rechte Hand von Innenministerin Patricia Bullrich und Vorsitzender des Kabinetts des Ministeriums für innere Sicherheit, die Operation. Dies konnte später durch Fotos und Filmaufnahmen belegt werden.

Nach dem Verschwinden von Santiago Maldonado machten zahlreiche Gerüchte die Runde. Zuerst äußerte die Regierung Zweifel daran, dass er zum Tatzeitpunkt überhaupt am Ort des Geschehens war. Bald fanden Ermittler*innen jedoch in dem Gebüsch, wo sich der Aktivist laut Zeugenaussagen versteckt gehalten hatte, seine Mütze und Blutspuren. Die Auswertung der DNA ist noch nicht abgeschlossen. Regierungsnahe Medien verbreiteten die Aussagen von Personen, die Maldonado gesehen oder sogar im Auto mitgenommen haben wollten. Tatsächlich handelte es sich jedoch nicht um den Verschwundenen. Innenministerin Bullrich ließ verlauten, dass die Familie Maldonado nicht ausreichend mit der Justiz kooperiere, weshalb die Ermittlungen nur schleppend vorankämen.

Die Regierung kommt zunehmend in Erklärungsnöte.

Die Regierung kommt zunehmend in Erklärungsnöte. Dafür sorgt auch eine Liste der unterlassenen oder verspätet eingeleiteten Maßnahmen durch die Verantwortlichen. Denn inzwischen gibt es Informationen darüber, dass auf dem Grundstück Benettons, nahe Cushamen, ein Posten der Militärpolizei stationiert ist. Von dort aus koordiniert die Polizei Aktionen gegen die Mapuche. Doch trotz der Aussagen einiger Zeug*innen, Maldonado sei dorthin verschleppt worden, ordnete der verantwortliche Richter bislang keine Durchsuchung an. Ebenso wenig wurden die Telefonate von Pablo Noceti mit der Polizei ausgewertet. Die Begründung: Es läge kein Verdacht gegen Noceti vor. Menschenrechtsorganisationen sind überzeugt, dass die Ministerin selbst ein Vorankommen bei der Suche nach Maldonado verhindere. Sie fordern ebenso wie viele andere Argentinier*innen ihren Rücktritt.

Währenddessen haben die Familie Maldonado und eine Reihe sozialer und politischer Organisationen eine Öffentlichkeitskampagne gestartet. “Lebend haben sie ihn mitgenommen, lebend wollen wir ihn zurück – JETZT” lautet das Motto, das jede Aktion begleitet. Das Gesicht des 28-Jährigen und die Frage nach seinem Verbleib haben inzwischen die Grenzen des Landes überschritten. Fotos machen die Runde, auf denen Persönlichkeiten wie Noam Chomsky oder die Fraktion von Podemos im spanischen Parlament Poster mit Maldonados Konterfei hochhalten. Hinzu kommen Solidaritätsaktionen vor der argentinischen Botschaft in unterschiedlichen Ländern – so auch in Berlin am 1. September. Auch Lieder, Gottesdienste und Nachtwachen sind Teil der Kampagne. “Es ist entscheidend, soviel Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen, um Druck auf die Verantwortlichen auszuüben. Nur so können wir hoffen, dass die Untersuchungen weitergehen, Santiago lebendig auftaucht und niemand ungestraft davonkommt, so wie es leider schon in anderen Fällen geschehen ist”, sagt Roberto Cipriano, Anwalt und Vorsitzender des Exekutivstabs der Gedächtniskommission der Provinz von Buenos Aires, der als Nebenkläger an dem Fall beteiligt ist.

Am 1. September, einen Monat nach dem Verschwinden Maldonados, fand in Buenos Aires eine Demonstration statt. Mehr als 250.000 Menschen versammelten sich auf der zentralen Plaza de Mayo. Am Ende der Demonstration lieferten sich Polizei und Demonstrant*innen Auseinandersetzungen. Mehr als 30 Personen wurden festgenommen. Zahlreiche Hinweise darauf, dass Polizeibeamte den Protestzug infiltriert und Gewalt provoziert hätten, sorgten für Empörung in der Bevölkerung. Die Festgenommenen mussten jedoch nach 48 Stunden freigelassen werden, da es keine Beweise gab und soziale Bewegungen starken Druck ausübten. Ein kleiner Erfolg für die Protestbewegung. Doch von Maldonado fehlt nach wie vor jede Spur…

Newsletter abonnieren