EIN SCHRITT RICHTUNG GERECHTIGKEIT

Auch im zweiten Anlauf nach dem Abbruch im Januar begannen die Anhörungen schleppend. „Die Angeschuldigten versuchen erneut, den Prozess zu verzögern“, kritisierte die ehemalige peruanische Kongressabgeordnete Indira Huilca auf Twitter. Das dürfe man nicht zulassen. Der Anwalt des Angeschuldigten und ehemaligen Gesundheitsministers Marino Costa hatte beantragt, die Sitzung zu verschieben, da sein Mandant sich für medizinische Behandlung in Chile aufhalte. Dies wies der Richter Rafael Martínez zurück. Costa, seine ehemaligen Amtskollegen Eduardo Yong und Alejandro Aguinaga sowie der Ex-Diktator Alberto Fujimori werden beschuldigt, die Drahtzieher der Zwangssterilisierungen zu sein.

„Die Staatsanwaltschaft erstattet Strafanzeige für mittelbare Täterschaft wegen angeblicher Verbrechen gegen das Leben, den Körper und die Gesundheit; schwere Körperverletzung mit Todesfolge im Zusammenhang mit schweren Menschenrechtsverletzungen und wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung“, erklärte Staatsanwalt Pablo Espinoza bei der Vorstellung der Anklage am 1. März. Auch hob er den Charakter der Sterilisierungen als staatliche Politik hervor.

Die erste Anhörung war im Januar abgebrochen worden, da keine entsprechenden Dolmetscher*innen für die Quechua-Variante der Region Cusco zur Verfügung standen, welche viele der Betroffenen sprechen. Darauf aufmerksam gemacht hatte Fujimoris Verteidiger. Das sei zwar inhaltlich richtig gewesen, erklärte die Nationale Betroffenenorganisation zwangssterilisierter Frauen (AMPAEF), gleichzeitig wurde es aber auch als ein „Trick der beschuldigten Seite“ gelesen, „einen über 20 Jahre andauernden Kampf weiter zu verzögern“. Es wird erwartet, dass Richter Martínez nach Abschluss der Anhörungen entscheidet, ob es zu einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren kommt, was eine spätere Hauptverhandlung ermöglichen würde.

Die Sterilisierungen fanden damals auch international Zustimmung

Konkret geht es um 1.307 Frauen, welche gegen ihren Willen einer Eileitersterilisation unterzogen worden waren. Fünf starben infolge der Eingriffe. Ein emblematischer Fall ist jener der campesina Maria Mamérita Mestanza Chávez. Sie war 33 Jahre alt, als man sie 1998 sterilisierte. Vorausgegangen waren wiederholte Drohungen und Ein­schüch­­terungen durch Personal des staatlichen Gesundheitswesens in der nordperuanischen Region Cajamarca, in der Mestanza mit ihrem Mann und ihren sieben Kindern lebte. Unter anderem hatten Mitarbeiter aus dem Gesundheitssektor behauptet, Familien mit mehr als fünf Kindern drohe eine Geldstrafe sowie die Verhaftung. Mestanza verstarb wenige Tage nach dem Eingriff an den Folgen der Zwangssterilisation und fehlender medizinischer Nachsorge. Frauen- und Menschenrechtsorganisationen brachten den Fall vor die interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH). Die CIDH erreichte, dass der peruanische Staat 2003 erstmalig die Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen im Kontext von Zwangssterilisationen eingestand und sich zur Aufarbeitung verpflichtete.

Laut der peruanischen Ombudsstelle für die Rechte der Bevölkerung wurden im Rahmen des „nationalen Programms für Familienplanung und reproduktive Gesundheit“ zwischen 1996 und 2001 272.028 Frauen und 22.004 Männer sterilisiert, überwiegend Indigene aus den Anden- und Amazonasregionen. Das Programm wurde von der Regierung Alberto Fujimoris in dessen zweiter Amtszeit (1995-2000) durchgeführt und hatte sich die Reduktion der Geburtenrate auf dem Land als Mittel der Armutsbekämpfung zum Ziel gesetzt. Verknüpft wurde das Programm mit einer Rhetorik der reproduktiven Freiheit der Frau. Damit fand es auch international Zustimmung, etwa als Fujimori es 1995 auf der UN-Frauenkonferenz in Peking vorstellte.

Bis 2001 wurden 272.028 Frauen und 22.004 Männer sterilisiert

Das Programm, welches unter anderem durch die US-Entwicklungsbehörde USAID und den UN-Bevölkerungsfonds finanziert wurde, verlief in der Praxis ganz im Geiste des neoliberalen Umbaus des Staates, den Fujimori seit Amtsantritt betrieben hatte. Den Mediziner*innen und dem Gesundheitspersonal wurden Quoten vorgegeben, wie viele Sterilisierungen sie zu erreichen hatten, teils versehen mit finanziellen Anreizen. Den Betroffenen, die oft kein Spanisch sprachen oder Analphabet*innen waren, wurden dabei häufig Informationen über Alternativen zu den Eingriffen oder deren Irreversibilität vorenthalten. Manche wurden im Rahmen anderer Behandlungen ohne ihr Wissen oder unter Gewaltandrohung sterilisiert. Auch wurde die prekäre Lage der indigenen Bevölkerung ausgenutzt, indem man ihnen Kleidung oder Lebensmittel als Gegenleistung versprach. Forscher*innen wie die Anthropologin Alejandra Ballón konstatieren zudem einen Zusammenhang der rassistischen Bevölkerungspolitik mit der militärischen Aufstandsbekämpfung der 90er-Jahre.

Für die Betroffenen ist der Prozess von enormer Bedeutung in ihrem Kampf für Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. Die Täter*innen sind bis heute ungestraft, die Taten fanden zudem bisher wenig Eingang in die peruanische Erinnerung. „Diese Verbrechen an Frauen wurden im Prozess der Wahrheitskommission nicht berücksichtigt und auch nicht in das Museum der Erinnerung aufgenommen“, erläuterte kürzlich die Historikerin Sobrevilla Perea gegenüber Deutsche Welle. Erst diesen Februar wurde auf Initiative der Frauenrechtsorganisation DEMUS und engagierter Politiker*innen das auf diesen Konflikt bezogene Reparationsgesetz geändert. In Zukunft können auch „Opfer sexueller Gewalt in all seinen Formen“ entschädigt werden, worunter auch Zwangssterilisierungen fallen.

Zwischen der Zusage des peruanischen Staates im Jahr 2003, die Zwangssterilisationen aufzuarbeiten und der Verhandlung war es ein langer Weg. Mehrmals wurden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft eingestellt, unter anderem zur Frage, ob es sich um Genozid handelt. Ein Register der Betroffenen wurde erst 2015 eingerichtet, bisher sind über 8.000 Fälle registriert. Auftrieb erhielt das Thema auch im Kontext der Wahlkämpfe von 2011 und 2016, bei denen Fujimoris Tochter Keiko als Präsidentschaftskandidatin antrat. 2016 waren feministische Gruppen Teil der Gegenbewegung „Keiko no va“ („Keiko schafft‘s nicht“), welche Massendemonstrationen gegen den fujimorismo organisierte. 2018 stellte die Staatsanwaltschaft unter wachsendem zivilgesellschaft­lichen und internationalen Druck Strafanzeige. Ein 2019 von Ex-Minister Costa gestellter Antrag, den Fall aufgrund von Verjährung zu den Akten zu legen, wurde vergangenen Oktober vom Verfassungsgericht abgelehnt. Eine weitere Sammelklage wird von der Staatsanwaltschaft bearbeitet.

Ex-Präsident Fujimori erschien auch dieses Mal nicht zur virtuell abgehaltenen Anhörung. Der 82-Jährige sitzt aufgrund des Einsatzes von Todesschwadronen während seiner ersten Amtszeit eine 25-jährige Haftstrafe ab. Ob und wann es zu einem Urteil kommt, ist indes ungewiss. Keiko Fujimori kündigte im Januar an, ihren Vater zu begnadigen, sollte sie die diesjährigen Präsidentschaftswahlen gewinnen. Wenige Wochen vor der Wahl am 11. April liegt die rechte Politikerin in den Umfragen mit 8,1 Prozent auf dem vierten Platz. Für ihre rechtspopulistische Fuerza Popular tritt auch Ex-Gesundheitsminister Alejandro Aguinaga an. Als einer der mutmaßlichen Drahtzieher hinter den Zwangssterilisationen will er jetzt wieder in den Kongress einziehen.


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