Land und Freiheit | Nummer 345 - März 2003

“Land und Freiheit“ durch freie Landmärkte?

Die Weltbank ist mit ihrem Landreformansatz gescheitert

In nahezu allen lateinamerikanischen Staaten sind im vergangenen Jahrhundert Agrarreformen durchgeführt worden. Doch trotz einiger Erfolge besteht die ungerechte Verteilung von Agrarflächen in den meisten Ländern fort und gehört zu den Hauptursachen von Hunger und Armut. Die Weltbank versucht seit den 90er Jahren, über „marktgestützte Landreformen“ zu einer gerechteren Landverteilung und zugleich effizienteren Landnutzung zu gelangen. Diese Programme gelten inzwischen jedoch als gescheitert. Große Hoffnungen ruhen nun auf Brasilien, wo seit Luíz Inácio „Lula“ da Silvas Wahlsieg eine umfassende Agrarreform möglich erscheint. Für andere Länder könnte sie zum Modellfall werden.

Armin Paasch

Mexiko steht beispielhaft für die Geschichte von Landreformen in Lateinamerika. Mit ihrem Ruf nach „Land und Freiheit“ hatten die Bäuerinnen und Bauern um Emiliano Zapata der mexikanischen Revolution von 1910-20 eine starke agrarische Prägung verliehen. Artikel 27 der Revolutionsverfassung von 1917 bildete die rechtliche Grundlage für die erste Agrarreform in Lateinamerika: Sie ermöglichte die entschädigungslose Enteignung von Großgrundbesitz zu Gunsten von Bäuerinnen und Bauern in Gemeindeland, PächterInnen und LandarbeiterInnen. Bis 1940 kamen über die Hälfte der ländlichen Armen in den Genuss dieser Umverteilung. Sie umfasste insgesamt etwa fünfzig Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche, den größten Teil davon unter der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas zwischen 1934 und 1940.
1992 wurde Artikel 27 aus der mexikanischen Verfassung gestrichen: Um Mexikos Tauglichkeit für die nordamerikanische Freihandelszone NAFTA unter Beweis zu stellen, wurde die Möglichkeit weiterer Landumverteilungen faktisch abgeschafft und Gemeinbesitz für veräußerlich erklärt. Der Beschluss markierte einen Meilenstein in der Umsetzung neoliberaler Landpolitik in Lateinamerika: Fortan sollte der Boden nicht mehr denen gehören, die ihn bearbeiteten, sondern denen, die ihn sich leisten konnten. Dieser Paradigmenwechsel erfasste im weiteren Verlauf der 90er Jahre auch Kolumbien, Brasilien, Guatemala und Honduras. Besonders in jüngster Zeit bekommt er jedoch starken Gegenwind. Schon der Aufstand der neuen ZapatistInnen am 1. Januar 1994, pünktlich zu Mexikos NAFTA-Beitritt, hatte angekündigt, dass die Bäuerinnen und Bauern die Abschaffung von Landreformen nicht widerstandslos hinnehmen würden.

Agrarreformen in Lateinamerika: eine unerledigte Aufgabe

Die Einführung so genannter „marktgestützter Landreformen“ wurde von ihren Verfechtern häufig mit dem vermeintlichen Scheitern staatlich gelenkter Agrarreformen begründet. Tatsächlich fällt die Bilanz lateinamerikanischer Agrarreformen durchwachsen aus. Alain de Janvry und Elisabeth Sadoulet von der kalifornischen Universität in Berkeley gingen 1989 in einem viel zitierten Aufsatz so weit, das „Spiel lateinamerikanischer Agrarreformen“ für verloren zu erklären: „Die Landreformen haben es eindeutig nicht geschafft, die Bipolarität lateinamerikanischer Bodenbesitzverhältnisse aufzubrechen.“ Die AutorInnen schätzen, dass insgesamt lediglich 15 Prozent des potenziell zu enteignenden Landes von Landreformen erfasst worden seien und nur 22 Prozent der potenziellen Begünstigten davon profitiert hätten. Immer noch verfüge die Hälfte aller Betriebe über nur zwei Prozent des Landes, während 26 Prozent der Betriebe etwa 90 Prozent des Landes kontrollierten. Den Grund dafür sehen sie vor allem darin, dass die meisten Agrarreformen der 60er und 70er Jahre an erster Stelle die Modernisierung der Haciendas und erst als zweite Option deren Enteignung und Umverteilung an Landlose angestrebt haben. Durch Modernisierung konnten sich GroßgrundbesitzerInnen gleichzeitig der Umverteilung entziehen und ihre gesteigerte ökonomische Macht zur Verhinderung einer umfassenderen Reform nutzen. Diese Agrarreformen, etwa in Peru, Ecuador und Kolumbien, waren durch die US-amerikanische Initiative „Allianz für den Fortschritt“ angestoßen worden. Diese sollte nach der kubanischen Revolution weiteren revolutionären Erhebungen frühzeitig vorbeugen.

Die marktgestützte Landreform

Die neoliberale Kritik an den Agrarreformen radikalisierte sich in den 90er Jahren und mündete in eine ökonomisch begründete Ablehnung staatlicher Enteignungen per se. Diese Position vertreten Klaus Deininger und Hans Binswanger, die bei der Entwicklung der Landpolitik der Weltbank federführend waren. Erst die Enteignungsdrohung habe den Widerstand von LandbesitzerInnen heraufbeschworen, der für das Scheitern der Umverteilung verantwortlich sei.
Die Festlegung von Landbesitzobergrenzen habe kaum umverteilende Wirkung gezeigt. Begünstigte von Landreformen seien oft nicht in der Lage gewesen, das Land auf Dauer produktiv zu nutzen: „Die meisten Landreformen beruhten auf Enteignungen und waren erfolgreicher in der Schaffung aufgeblähter Bürokratien und der Besiedlung von Grenzregionen als in der Umverteilung der Ländereien von Großgrundbesitzern an Kleinbauern“, lautet ihr vernichtendes Urteil.
Um diese Hindernisse und Schwierigkeiten zu überwinden, propagieren Deininger und Binswanger das Modell einer auf freiwilligen Verhandlungen basierenden marktgestützten Landreform. Eine erfolgreiche Landreform, so die zu Grunde liegende These, setze Anreize zu einer freiwilligen Beteiligung der GroßgrundbesitzerInnen voraus.
Daher verzichtet das marktgestützte Landreformmodell auf die Enteignung von GroßgrundbesitzerInnen und setzt auf das nachfrageorientierte Prinzip des „willing buyer – willing seller“. Mit Hilfe einer flexiblen Kombination aus Krediten und Subventionen sollen Zusammenschlüsse von landlosen Bäuerinnen und Bauern den verkaufswilligen Grundbe-sitzerInnen Ländereien abkaufen und notwendige Erstinvestitionen zu deren Bewirtschaftung tätigen. Die sofortige Auszahlung des vollen Marktpreises soll den Widerstand der LandbesitzerInnen aufweichen, die Landmärkte stimulieren und für die Begünstigten darüber hinaus den Anreiz zu einer effizienten und marktorientierten Produktion schaffen.
Nur wer die zum Landkauf aufgenommenen Kredite zuzüglich Zinsen innerhalb einer bestimmten Frist zurückzahlt, darf das Land behalten. Dies stellt nach Meinung der BefürworterInnen des Modells sicher, dass das Land nur in die Hände „effizienter“ ProduzentInnen gerät. Die Weltbank behauptet, durch das marktgestützte Modell die Ziele des wirtschaftlichen Wachstums und der nachhaltigen Armutsreduzierung miteinander in Einklang zu bringen.

Anspruch und Wirklichkeit

Umgesetzt wird das marktgestützte Modell – in jeweils unterschiedlicher Ausprägung – seit 1994 in Kolumbien, seit 1995 in Südafrika und seit 1997 in Brasilien. Unabhängige Analysen der betreffendenden Programme zeigen, dass das Modell seinem Anspruch nicht gerecht wird. In allen drei Ländern sind die Ergebnisse der Pilotprojekte weit hinter den Erwartungen der Weltbank zurückgeblieben.
In Südafrika, wo die Landreform weitgehend den Empfehlungen der Weltbank folgt, sollten von 1995 bis 1999 30 Prozent der kommerziell genutzten Agrarfläche Südafrikas ihre Besitzer wechseln. Tatsächlich wurden bis März 1999 nur 650.000 Hektar Land umverteilt, was weniger als einem Prozent des kommerziellen Agrarlandes entspricht. Auf Grundlage zweier Weltbankstudien und einer Studie der UN-Welternährungsorganisation FAO kommt der Entwicklungssoziologe Saturnino Borras zu dem Ergebnis, dass auch in Brasilien die vorausgesagte Beteiligung von GroßgrundbesitzerInnen ausgeblieben ist. „Lediglich kleine und mittlere, kaum genutzte und verlassene Farmen“ seien im Rahmen des Pilotprojektes Cédula da Terra verkauft worden.
Von einer tatsächlichen Armutsorientierung könne nur bedingt die Rede sein, da die Einkommen der „Begünstigten“ vor Anlauf des Projektes durchschnittlich weit über der Armutsgrenze gelegen hätten. In fast allen Fällen sei dennoch eine rechtzeitige Rückzahlung der Kredite unwahrscheinlich, womit den Bäuerinnen und Bauern der Verlust des Landes drohe. Die meisten Begünstigten verzeichneten seit dem Landerwerb Einkommensverluste. Sehr unbefriedigend sind auch die Ergebnisse in Kolumbien: Nur knapp zehn Prozent der angepeilten Fläche von einer Million Hektar wurden zwischen 1994 und 1998 umverteilt. Noch schlechter als in Brasilien ist in Kolumbien die Qualität der meist sehr abgelegenen Ländereien, die mit Hilfe des Projektes zu völlig überhöhten Preisen verkauft wurden. Die Folge ist, dass nahezu alle Begünstigten aus dem Jahre 1998 bereits jetzt in Zahlungsverzug sind. Dabei müssen sie, anders als in Brasilien, „nur“ dreißig Prozent des Landpreises plus Zinsen aufbringen.

Die Weltbank in der Defensive

Gegen marktgestützte Landreformen hat sich inzwischen eine starke internationale Opposition aus Nichtregierungs-, Bauern- und Landlosenorganisationen gebildet. Die Menschenrechtsorganisation FIAN und das weltweite Kleinbauernnetzwerk La Vía Campesina forderten in einer Petition im Dezember 2000, die Förderung marktgestützter Agrarreformen auszusetzen, solange die Auswirkungen der Programme auf die ländliche Armut nicht von unabhängiger Seite geprüft worden seien. Die Umverteilung von Land könne nicht dem Markt überlassen werden, sondern sei eine Verpflichtung des Staates, die sich aus dem Menschenrecht auf Nahrung ergebe. Auf zwei internationalen Agrarreformkonferenzen, im Dezember 2000 in Tagaytay City, Philippinen, und im März 2001 in Bonn, haben NRO, Bäuerinnen und Bauern ihre Ablehnung bekräftigt. „Marktgestützte Landreformen sind in einem Umfeld hoher sozialer Ungleichheit unzureichende Instrumente und dürfen umverteilende Agrarreformen nicht ersetzen“ heißt es in der Abschlusserklärung der 125 anwesenden VertreterInnen von Regierungen, zwischenstaatlichen Organisationen, Bauern- und Nichtregierungsorganisationen.
Die Weltbank selber hat in ihrem Entwurf zu einem Policy Research Report im November 2002 das Scheitern der Programme zumindest in Kolumbien und Südafrika weitgehend eingeräumt. Ob diese Einsicht zu einem Kurswechsel in ihrer Förderpolitik führen wird, ist aber unwahrscheinlich. Aller empirischen Evidenz und den weltweiten Protesten zum Trotz waren schon im Jahre 2000 die Programme in Brasilien und im Januar 2002 in Kolumbien mit Hilfe neuer Weltbankkredite verlängert und erheblich ausgeweitet worden. Gleichzeitig erfuhren die staatlichen Agrarreformbehörden INCRA respektive INCORA in den letzten Jahren immer wieder massive Kürzungen. In Honduras und Guatemala wurden weitere Pilotprojekte gestartet. Wenngleich die Weltbank immer wieder behauptet, lediglich einen komplementären Ansatz zu verfolgen, betreibt sie faktisch einen Paradigmenwechsel, der staatliche Programme zur Landumverteilung finanziell austrocknet.
Saturnino Borras hat die neoliberale Kritik an staatlichen Agrarreformen, die ideologische Grundlage marktgestützter Landreformen, als undiffenziert und „empirisch nicht fundiert“ zurückgewiesen. Staatliche Agrarreformen hätten etwa in Mexiko, Kuba, China, Japan, Taiwan und Südkorea durchaus substanzielle Veränderungen der Landbesitzverhältnisse erzielt. Diese hätten mittelfristig die Lebenssituation der Begünstigten verbessert und die wirtschaftliche und soziale Entwicklung dieser Länder wesentlich gefördert. Entgegen der Weltbankrhetorik zeichneten sich diese Agrarreformen gerade durch massive Enteignungen und niedrige Entschädigungssummen für die betroffenen GroßgrundbesitzerInnen aus. Neben dem jeweils günstigen internationalen Umfeld sei die relative Unabhängigkeit der Regierungen von den Landoligarchien sowie eine enge Zusammenarbeit mit Bauernbewegungen für den Erfolg ausschlaggebend gewesen.

Frischer Wind aus Brasilien

Der Zusammenhang zwischen erfolgreicher Umverteilung und dem Grad sozialer Mobilisierung ist auch in Brasilien offensichtlich. Untersuchungen der Zeitschrift Vox Populi von 1996 zufolge wurden dort rund die Hälfte der Landübertragungen erst durch gezielten sozialen Druck erreicht. Allein über die Landbesetzungen durch die Bewegung der Landlosen (MST) sind bisher schätzungsweise 250.000 Familien in den Besitz legaler Landtitel gelangt: „eine wirkliche Agrarreform von unten“, wie Peter Rosset vom US-amerikanischen Institute for Food and Development Policy hervorhebt. Seit dem fulminanten Wahlsieg von Inácio da Silva scheint die Möglichkeit einer von Borras als „Sandwich-Strategie“ bezeichneten Zusammenarbeit zwischen Regierung und sozialer Bewegung so realistisch wie nie zuvor. Lula hat die Agrarreform zu einer wichtigen Säule in seinem „Null-Hunger-Programm“ erklärt und die Umverteilung nicht produktiv genutzter Agrarflächen angekündigt. Auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre verkündete der neue Minister für ländliche Entwicklung, Miguel Rosseto, das Programm der marktgestützten Landreform sei wegen Unregelmäßigkeiten einstweilen suspendiert worden.
Der Erfolg einer neuen Agrarreform wird vor allem davon abhängen, ob die brasilianische Regierung weiterhin die enge Zusammenarbeit mit den Landlosen suchen wird. Auch eine Unterstützung notwendiger Enteignungen durch die internationale Gemeinschaft könnte auf den Prozess einen positiven Einfluss nehmen. Zur langfristigen Sicherung des Erfolgs muss die Landreform in ein umfassendes Programm zur ländlichen Entwicklung eingebettet werden, das den Schutz und die Förderung von Kleinbäuerinnen und -bauern beinhaltet. Sollte die Entwicklung und Umsetzung eines alternativen Agrarreform- und Landwirtschaftsmodells gelingen, könnte das für andere Länder Lateinamerikas einen wichtigen Impuls bedeuten. Die Agrarreform bleibt für den ganzen Kontinent eine der zentralen Herausforderungen.

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