Brasilien | Nummer 471/472 - Sept./Okt. 2013

Ein anderer Fußball ist möglich

Vor dreißig Jahren führte mitten in der brasilianischen Militärdiktur der Fußballklub Corinthians Basisdemokratie ein: die Democracia Corinthiana

Die Zeiten waren unruhig in Brasilien. 1982 steuerte die Militärdiktatur auf ihr Ende zu, es waren Zeiten des Aufbruchs, politisch wie kulturell. Dass solche Zeiten auch den Fußball erfassen, ist keineswegs selbstverständlich. Aber in Brasilien, in São Paulo, bahnte sich eines der größten Wunder der Fußballgeschichte an.

Thomas Fatheuer

Das Entstehen von etwas Neuem ist meistens mit einer Krise des Alten verbunden. Der Sport Club Corinthians Paulista, den alle nur kurz Corinthians rufen, ist einer der populärsten Vereine des Landes. Aber 1981 läuft es sportlich nicht gut. Dies begünstigt die wachsende Unzufriedenheit mit dem autoritären Clubpräsidenten, Vicente Mateus, einem erklärten Freund der Miltärdiktatur. Die Wahl eines neuen Präsidenten soll die Gemüter beruhigen. Der alte Trick: eine Änderung, um Kontinuität zu garantieren. Aber sportliche Erfolglosigkeit und der wachsende Druck der Fans bewegen den neuen Präsidenten Waldemar Pires zu einer größeren Offenheit. Aber der große Umschwung beginnt, als er 1982 den bärtigen Sozio­logen Adílson Alves – Sohn eines ehemaligen Vereinspräsidenten – zum Chef der Fußballabteilung ernennt. Damit beginnt eine demokratische Öffnung im Club, die Democracia Corinthiana.
Adilson hört die Spieler an und diskutiert mit ihnen die Zukunft des Clubs. Diese partizipative Kultur erreicht ihren Höhepunkt, als 1983 die Spieler für ihren Kollegen Zé Maria als Trainer plädieren – und erhört werden.
Sócrates Brasileiro Sampaio de Souza Vieira de Oliveira, von allen nur Sócrates oder Doutor – Doktor – genannt, einer der Hauptfiguren der Democracia Corinthiana, beschreibt diese Zeit: „Wir haben jede Entscheidung kollektiv getroffen und uns an der gesamten Clubführung mitbeteiligt.“ Und dabei stets auf absolutes Gleichheitsniveau geachtet: „Der einfachste Angestellte hatte das gleiche Gewicht wie der Repräsentant des Unternehmens, seine Stimme hatte den gleichen Wert. Es war alles sehr demokratisch,“ berichtete Sócrates im Nachhinein. „Diese Zeit war wunderbar und hat uns alle verändert“, schwärmte der langaufgeschossene Mittelfeldspieler. „Die Personen, die in dieser Mikrogesellschaft involviert waren, haben ständig kommuniziert, jeder hat teilgenommen und mit entschieden. Die Neuen waren am Anfang wirklich verzweifelt: »Warum spricht hier niemand über Fußball?«“
Ein solche Entwicklung ist nur denkbar in besonderen Zeiten. Die Politisierung der Gesellschaft erfasste damals alle Bereiche. Die Gesellschaft war in Aufbruch und Aufruhr, heute würde man von einem brasilianischen Frühling reden – der aber nicht so schnell verblühte. „Corinthians war die perfekte Metapher für die Situation des Landes. Der Club kam von einer autoritären Führung, befand sich in einer Krise und die Spieler wollten mehr Partizipation – wie das ganze Land.“ Dennoch – die Entwicklung bei Corinthians blieb einmalig im Lande, sie war nicht Teil eines generellen Aufbruchs im brasilianischen Fußball, sondern eine besondere, einmalige Episode.
Hinzu kam: Die Zeiten trafen auf außergewöhnliche Persönlichkeiten – nur so ist die Episode der Democracia Corinthiana erklärbar. Meistens werden die Spieler Sócrates, Casagrande, Zenon, Juninho, Wladimir und Biro-Biro als Protagonisten des Aufbruchs genannt. Aber trotz allen kollektiven Geistes kommt Sócrates dabei aber eine überragende Rolle zu. Er ist ein erklärter Linker, er politisiert den fußballerischen Aufbruch und ist gleichzeitig ein genialer und äußerst beliebter Fußballspieler. 1983 und 1984 engagiert sich Sócrates aktiv in der Kampagne für Direktwahlen, diretas já!, die das Land mobilisiert und Demokratie fordert.
Momente und Bewegungen brauchen auch eine gute Kommunikation. Und hier ist eine weitere Person erwähnenswert. Als der junge Werbefachman Washington Olivetto von den Entwicklungen bei Corinthians hört, erfindet er den Namen Democracia Corinthiana, ein perfektes branding. Auch der Slogan „Meisterschaft ist nur ein Detail“, der Sócrates zusgesprochen wird, erweist sich bis heute als eine geniale Synthese des damaligen Zeitgeistes.
Aber trotz diese Slogans war es gerade der Erfolg, der die Democracia Corinthiana zu mehr als einer tragischen oder kuriosen Fußnote in der Geschichte des Fußballs macht. Das verrückte demokratische Team wird 1982 Meister von São Paulo. Siegen mag nur ein Detail gewesen sein, aber es war ein fundamentales Detail. Gerade der Erfolg macht aus der Episode ein wichtiges Lehrstück für den Fußball. Es geht eben auch ganz anders! Ein anderer Fußball ist möglich und kann sogar erfolgreich sein.
Auch wenn der Sieg nur ein Detail war – der Fußball war es nicht. Mit der überragenden Gestalt Sócrates‘ steht die Democracia Corinthiana auch für einen Spaß betonten Fußball. Dies verbindet sie mit einer wichtigen und tragischen Epoche des brasilianischen Fußballs. Sócrates und natürlich Zico waren die Heroen der WM-Teams von 1982 und 1986 – das zwar hervorragend spielte, aber unglücklich an Italien (1982) und Frankreich (1986) scheiterte. Dennoch steht für viele Brasilianer_innen der Fußball der Achtziger weit über den späteren Erfolgen. Aber auch die Democracia Corinthiana musste auf halbem Wege stehenbleiben, zu einer Episode werden, die aber immerhin die Utopie eines anderen Fußballs aufblitzen ließ.
Sócrates ging 1984 nach Italien, auch enttäuscht von dem Scheitern der Kampagne für Direktwahlen. Er hatte sein Bleiben in Brasilien von dem Erfolg der Kampagne abhängig gemacht. Nach seinem Weggang kehrte langsam wieder die Normalität bei Corinthians ein. Mit der Präsidentschaft von Alberto Dualib 1993 erreichte diese traurige Tiefpunkte. Dualib schloss 2004 einen Vertrag mit MSI, einer Investmentgruppe, die mit dem russischen Oligarchen Boris Berezovsky in Verbindung gebracht wurde. Corinthians wurde praktisch Eigentum der MSI. 2007 endete diese Heirat als Fall für die Polizei, die brasilianische Justiz beendete die Kooperation mit dem MSI wegen Korruption und Unterschlagung. Immerhin hatte sich unter den Fans von Corinthians eine Bewegung „Weg mit Dualib!“ gebildet und starken Einfluss in Öffentlichkeit und Verein erlangt.
Sócrates starb 2011. Er bleib bis zum Ende seines Lebens ein bekennender Linker – mit einer Vision. „Die Mobilisierung des Volkes ist fundamental. Wir haben zwei große politische Gruppen: die organisierten Fußballfans und die Bewegung der Landlosen (MST)“, offenbarte er in einem seiner letzten Interviews. „Die Bourgeoisie fürchtet, dass diese Gruppen noch stärker werden. Stell dir mal vor – die größten Fangruppen in einer gemeinsamen Aktion, etwa gegen die Erhöhung der Eintrittspreise. Der Grad der Politisierung dieser Organisationen wird unsere Zukunft bestimmen.“
Wenige Stunden nach dem Tod Sócrates‘ am 4. Dezember 2011 wird Corinthians brasilianischer Meister (siehe LN 451). Wie sein Leben ist das timing der Fußballgött_innen voller Ambiguitäten. Wollten sie ihn für den Spruch „Meisterschaft ist nur ein Detail“ bestrafen? Wollten Sie noch einmal die fußballerische Tragik seines Lebens evozieren? Wie dem auch sei, Sócrates und die Democracia Corinthiana werden es überleben.

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