Kultur | Nummer 291/292 - Sept./Okt. 1998

Kunst und Kitsch an der Borderline

Nestor García Canclinis „Narrationen“ aus dem Grenzgebiet zwischen Mexiko und den USA

So einfach lassen sich Grenzwälle symbolisch zersetzen: Man bemalt eine große Acryloberfläche mit den Flaggenemblemen hundert verschiedener Nationalstaaten und trennt sie durch längliche Sandhaufen voneinander. Dann setzt man einen Haufen Ameisen darauf an und wartet ab, was passiert. Der japanische Künstler, der diese Installation 1994 im Rahmen der internationalen Freiluftausstellung „Insight“ nahe der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze installierte, ließ die fleißigen Tierchen zwei bis drei Monate gewähren. Anschließend hatte das Work in progress die Übergänge zwischen den Flaggen vollkommen verwischt. Für den Kulturwissenschaftler Nestor García Canclini sind die Ameisen „eine Metapher für die Arbeiter, die weltweit migrieren und auf diese Weise die Nationalismen zersetzen“.

Bettina Bremme

Bei Canclinis Vortrag Anfang September in Berlin zum Thema „Narrationen der Grenze und der Begriff der Hybridisierung“ präsentierte er Dias von dieser und anderen Installationen. Der gebürtige Argentinier, der seit 1990 an der Universidad Autónoma Metropolitana in Mexico-Stadt lehrt, ist selbst ein Grenzgänger zwischen den Kulturen. Mit seinen Büchern „Hybride Kulturen – Strategien des Eintritts und Austritts aus der Moderne“ (1990) und „Konsumenten und Staatsbürger – Multikulturelle Konflikte der Globalisierung“ (1995) avancierte er zu einem der renommiertesten Kulturtheoretiker Lateinamerikas (siehe Interview in LN 270). Besonders interessiert ihn, wie sich der Prozeß der Globalisierung in der Alltagskultur widerspiegelt. Bevorzugtes Anschauungsobjekt ist dabei die Topographie entlang des stählernen „Tortillavorhanges“, mit dem die USA sich von ihrem NAFTA-“Partner“ Mexiko abschottet. Gleichzeitig verfolgt Canclini „grenzüberschreitend“ die Debatten, die in den USA zum Thema Globalisierung geführt werden. Den säbelrasselnden „Clash of Culture“-Theorien reaktionärer Wissenschaftler wie Samuel Huntington, der die zwangsläufige Konfrontation der arabisch-islamischen und der westlich-christlichen Gesellschaften propagiert, setzt Canclini den Begriff der „Hybridisierung“ von Kulturen entgegen.
Hybridisierung, das klingt zwar wesentlich harmonischer und synergetischer, aber nicht gerade dynamisch und zukunftsweisend. Spontan assoziiert man hybride Pflanzenzüchtungen, und die gelten im allgemeinen als unfruchtbar. Canclini hält den von ihm geprägten Terminus trotzdem für sinnvoll, da er im Gegensatz zu verwandten Begriffen wesentlich umfassender sei: Während etwa mit „mestizaje“ primär die biologische Verschmelzung der Völker, mit „Synkretismus“ die religiösen Mischformen gemeint seien, beziehe sich „Hybridisierung“ auf das gesamte gesellschaftliche Panorama: von den Migrationsprozessen bis zur Kulturpolitik, von der Bildung moderner Nationalstaaten bis hin zu den global expandierenden Kommunikationsmärkten. Und übrigens, merkte Canclini mit leicht ironischem Unterton an, hätten ihm Naturwissenschaftler glaubhaft versichert, es gäbe durchaus hybride Pflanzen, die fortpflanzungsfähig seien.

Maya-, Marien- und Micky-Mouse-Figuren

Anders als die klassischen Modernisierungstheorien, die ein lineares und evolutionistisches Verständnis von geschichtlicher Entwicklung haben, geht die der Hybridisierung von der Gleichzeitigkeit unterschiedlichster Realitäten aus. Im Gegensatz zu den Staatsgrenzen ist die Borderline zwischen Kunst und Kitsch fließend. Das Moderne existiert neben dem Archaischen, die Produktion von Kunsthandwerk neben der globalisierten Massenkommunikation. Auf den Tischchen ambulanter Straßenverkäufer thronen Marienstatuen und Mayaplastiken neben Micky-Mouse und Plastikmonstern made in Singapur. Die Kontraste sind zumeist so sehr Bestandteil des Alltagsszenarios geworden, daß sie nur noch Außenstehenden ins Auge springen. So fallen sicher allen EuropäerInnen, die um die Weihnachtszeit in Lateinamerika sind, die schneebedeckten Nikolausfiguren auf, die bei brütender Hitze unter Schaufensterglas oder auf den Dächern von Einkaufszentren schmoren. Die Absurdität dieses Anblicks relativiert sich allerdings, wenn man an die Plastikpalmen denkt, die in den naßkalten deutschen Wintern hiesige Reisebüros und Kaufhäuser „schmücken“.

Klaviatur der Multi-Kulti

Während im Alltag viele Dinge recht unvermittelt, scheinbar zufällig aufeinandertreffen, was für eine gewisse surreale Komik sorgen kann, klimpern KünstlerInnen und Teile der Kulturindustrie bewußt die Klaviatur des Multi-Kulti-Mix rauf und runter. Auf der ganzen Welt mischen Musiker elektronische Beats mit archaischen Instrumenten, avancieren Stichworte wie „Fusion“ oder „Cross over“ zu modischen Etiketten. Die Grenzen zwischen Kreativem und Klischeehaftem, spielerischer und ausbeuterischer Aneignung kultureller Traditionen sind fließend.
Die Inszenierung von Identität steckt voll schriller Dissonanzen.
Um seine Thesen zu illustrieren, dokumentierte Canclini einige Beispiele aus Nordmexiko auf Dia: Zum Beispiel das Dach eines mexikanischen Fast-Food-Restaurants, das aus einem gigantischen Sombrero besteht. Gerade, um das negative Image von Grenzstädten wie Tijuana aufzupolieren, monumentalisiere man, so Canclini, „das Symbol der mexicanidad“. Gleichzeitig ist das poppige Design eindeutig vom Big Brother im Norden inspiriert. Der Riesensombrero könnte genauso gut das Dach eines Tex-Mex-Drive-In’s in einem Vorort von Las Vegas schmücken.
Es wäre sicher interessant, zu untersuchen, was den Einheimischen gefällt und was Konzessionen an den vermeintlichen Touri-Geschmack sind. In Tijuana fotografierte Canclini einen Laden, wo BesucherInnen sich, mit einem Sombrero gekrönt, auf dem Rücken eines Zebras ablichten lassen können. Folkloretamtam für die Gringos mischt sich mit eigenen Exotikphantasien. Denn das Zebra ist kein Zebra. Es wurde nicht für teure Devisen aus Afrika importiert, sondern ist ein burrito pintado, sprich: ein angemalter Esel. Die Welt will angeschmiert werden.

Migration: ein trojanisches Pferd mit zwei Gesichtern

Auf einem Parkplatz nahe der Grenze prangte eine Zeit lang ein trojanisches Pferd mit zwei Köpfen. 25 Meter hoch, überragte das hölzerne Vehikel die Kühlerhauben der Straßenkreuzer ringsum. Der eine Kopf schaute Richtung USA, der andere wandte sich dem mexikanischen Inland zu. Das Objekt, das ein mexikanischer Künstler im Rahmen der Ausstellung „Insight“ entwarf, stellt für Canclini ein „Anti-Monument“ dar und gleichzeitig ein universell verständliches Symbol. Ein archetypisches Sinnbild dafür, daß die Hybridisierung von Gesellschaften, die Unterwanderung der einen durch die andere, nicht nur in einer, sondern in beide Richtungen verläuft.
Canclinis „Narrationen“ aus dem Grenzgebiet zeigen allerdings auch drastisch, welch ein Unterschied zwischen der kulturellen Beeinflussung durch Arbeitsmigration und Armutsflüchtlinge und der militärischen Einverleibung fremder Territorien besteht.
Der dreitausend Kilometer lange stählerne Vorhang zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten ist selbst ein bizarres Monument globalisierter Invasionen und Ab-Grenzungen: Als die US-Regierung Mitte der Neunziger die Zaunanlagen verstärkte, baute sie auch Metallträger aus alten Golfkriegsbeständen ein. Stählerne Rollpistenplanken zu Grenzpfählen. Dieser realexistierende Zynismus ist durch keine Kunstinstallation zu übertreffen. Da hilft nur eins: Ameisen aller Länder, vereinigt euch!

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