Brasilien | Nummer 427 - Januar 2010

Wasser predigen und Wein saufen

Agrarlobby setzt Parlamentarischen Untersuchungsausschuss gegen die Landlosenbewegung MST durch

Das brasilianische Parlament kriminalisiert Landlosenbewegungen, anstatt eine Landreform umzusetzen. Den Landlosen werden kriminelle Machenschaften vorgeworfen. Dabei gehen die meisten Verbrechen auf dem Land von der industriellen Landwirtschaft aus.

Andreas Behn

„Wir leiden unter einer politischen Verfolgung, die sich gegen die Agrarreform, den Kampf der Menschen für ihre Rechte und gegen die Demokratie in Brasilien richtet.“ Mit diesen Worten rechtfertigte João Paulo Rodrigues, Führungsmitglied der Bewegung der Landlosen (MST), eine Klage, die seine Organisation Anfang November bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf einreichte. Anlass war der Beschluss des brasilianischen Kongresses im Oktober, eine parlamentarische Untersuchungskommission (CPI) gegen die MST ins Leben zu rufen.
Kurze Zeit nach der Entscheidung des Parlaments für die CPI wandte sich die Landlosenorganisation an die Interamerikanische Menschenrechtskommission. Die Beschwerde bei dieser Kommission, die der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) angehört, richtet sich gegen den brasilianischen Staat. Es geht um den von rechten Parteien und der Agrarlobby betriebenen Untersuchungsausschuss und mehr: Die Kriminalisierung sozialer Bewegungen und aller Menschen, die sich organisieren und für ihre Rechte stark machen.
Es ist bereits der dritte parlamentarische Untersuchungsausschuss innerhalb von vier Jahren gegen die Landlosenbewegung. Ins Parlament getragen hat den Antrag der so genannte Agrarierflügel, die bancada ruralista, eine Vereinigung von PolitikerInnen, die selbst GroßgrundbesitzerInnen sind oder solchen nahe stehen. Stets geht es darum, den Aktivitäten der Landlosen, Kleinbauern und -bäuerinnen Steine in den Weg zu legen und ihren Kampf für eine Agrarreform zu diskreditieren. Anlass sind zumeist die Aktionsformen des MST: Die Landlosen besetzen brach liegendes Land und siedeln sich darauf an. Dabei kommt es oft zu Auseinandersetzungen mit lokalen Sicherheitsunternehmen oder der Polizei. Rechte PolitikerInnen und Organisationen stellen dies als kriminellen Landraub dar. Dabei geht jeder Besetzung stets eine intensive juristische Arbeit voraus, um nachzuweisen, dass der betreffende Landbesitz illegal ist und schon längst dem bestehenden aber unzureichenden Landreformprogramm hätte unterzogen werden müssen.
Dieses Mal begann die Kriminalisierungskampagne der Agrarlobby mit dem Vorwurf, der MST nahe stehende Nichtregierungsorganisationen würden öffentliche Gelder veruntreuen oder nicht wie vereinbart für soziale Maßnahmen verwenden. Die Reportage, die Anfang September in der Zeitschrift Veja erschien, sprach auch von Steuerhinterziehung bei ausländischen Spenden und beschwor einen Komplott zwischen der regierenden Arbeiterpartei PT und der Bewegung mit dem Ziel, den großen Agrarunternehmen das Leben schwer zu machen. Auch die Agrarreformbehörde INCRA soll an den Unregelmäßigkeiten beteiligt gewesen sein.
Rolf Hackbart, Präsident der INCRA, wies diese Vorwürfe weit von sich. Zuletzt am 17. November erklärte er vor der Presse, dass alle Abrechnungen bezüglich der Verwendung von Bundesgeldern korrekt und veröffentlicht seien. „Ich sehe keinerlei Notwendigkeit für diesen Untersuchungsausschuss“, erklärte Hackbart.
Mit diesen Vorwürfen allein gelang es der Agrarierfraktion nicht, genügend ParlamentarierInnen auf ihre Seite zu ziehen. So startete die verbündete Presse Ende September eine weitere Offensive: Überall waren Bilder von MST-AktivistInnen zu sehen, die eine Orangenplantage besetzen und Obstbäume fällen. Die Empörung war groß und wurde weiter geschürt, zumal der Hintergrund der Aktion konsequent verschwiegen wurde: Der Orangensaftproduzent Culturale hatte das betreffende Land illegal erworben und ist bekannt dafür, mit undurchsichtigen Methoden Land in Brasilien zu erwerben. Doch dies war egal, nach dieser Pressekampagne kamen genug Stimmen zur Einsetzung der CPI zustande.
Die Rechte hat einen Punktsieg errungen, die sozialen Bewegungen, vor allem der internationale Dachverband Vía Campesina, mobilisieren gegen diese Form der staatlichen Kriminalisierung. Und die Regierung unter Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva sowie die teilweise MST-nahen Koalitionspartner stecken in einer Zwickmühle. Sie versuchen, die Kontrolle im Untersuchungsausschuss zu übernehmen, um so eine Vorverurteilung des MST und deren SympathisantInnen in Regierung und Behörden zu verhindern. Dies aber kostet viel Mühe und Feilschen im politischen Geschäft und bedeutet Zugeständnisse an anderen Fronten. Bis Ende November ist es noch nicht gelungen, alle Namen der Mitglieder zu bestimmen und die CPI einzurichten.
„Es wird nicht die CPI des MST, sondern die CPI der Barbarei sein,“ kommentiert der Theologe und Professor Claudemiro Godoy de Nascimento in einem Beitrag für die alternative Presseagentur Adital. „Mit Sicherheit werden nicht die Massaker, die Morde und die illegale Landaneignung thematisiert (Landraub ist erlaubt, Orangenbäume fällen nicht). Es wird nicht um die pistoleiros gehen, die Milizen in Händen der GroßgrundbesitzerInnen und nicht um die Agrarreform. Es geht schlicht und einfach darum, den MST zu verurteilen.“ (siehe Kasten Seite 42 bis 43).
Das Tauziehen um die schlagkräftige Landlosenbewegung hat allerdings noch einen ganz konkreten Hintergrund. Im August hatte Präsident Lula angekündigt, den Produktivitätsindex zu aktualisieren. Dieser Index definiert, ob ein Agrarbetrieb als produktiv gilt oder nicht. Wird er angesichts großer Ländereien und geringer Produktivität pro Hektar als unproduktiv eingestuft, können Teile des Landbesitzes enteignet und an Landlose verteilt werden.
Laut Verfassung muss dieser Produktivitätsindex alle fünf Jahre angepasst werden. Doch in der Praxis geschah dies zuletzt 1980. Dabei ist die durchschnittliche Produktivität in den vergangenen 30 Jahren um jährlich drei bis sechs Prozent angestiegen. Bei einer Anpassung des Index würden laut Schätzungen der Landpastorale CPT 400.000 beziehungsweise zehn Prozent der Besitztümer als unproduktiv eingestuft werden. Kein Wunder, dass die Agrarlobby mit allen Mitteln versucht, dieses Vorhaben zu verhindern. Und die Kriminalisierung derjenigen, die vom Einhalten der Rechtsgrundsätze profitieren würden, ist ein wirksames Mittel, von diesem Missstand abzulenken.
Wie dramatisch dieser ist, verdeutlichen Zahlen zur Landkonzentration und Repression in Brasilien. Laut offiziellen Statistiken von 2006 nennen 15.000 LandbesitzerInnen 98 Millionen Hektar ihr Eigen. Ein Prozent der Großgrundbesitzer verfügt über 46 Prozent des bebaubaren Landes. Ein Großteil dieser Ländereien wurde über Jahrzehnte hinweg illegal angeeignet – in Brasilien wird dies grilagem genannt –, mittels Bestechung, juristischen Tricks oder schlicht Raub, nicht selten unter gewaltsamer Vertreibung der dort lebenden Menschen. Nach Angaben des MST wurden in den vergangenen Jahren über 1.500 Landarbeiter ermordet. In gerade mal 80 Fällen mussten sich die Täter oder die Anstifter vor Gericht verantworten.
Obwohl Präsident Lula sich eine gerechtere Landverteilung auf die Fahnen geschrieben hat, ist von einem Fortschritt der Agrarreform nichts zu spüren. Zwar wurden mehrfach schöne Zahlen veröffentlicht, denen zufolge hunderttausende landlose Familien auf fruchtbaren Böden angesiedelt wurden. Doch bei genauerem Hinsehen entpuppt sich vieles als Augenwischerei. Etliche der gezählten Familien lebten bereits seit Jahren auf dem Land, das ihnen angeblich kürzlich zugeteilt wurde. Zudem gab es finanzielle Kürzungen in den Programmen, die die Agrarreform sozial unterstützen sollen.
All dies geschieht vor dem Hintergrund einer strukturellen Veränderung der industriellen Landwirtschaft, die in den letzten Jahren begann. Die wichtigsten Akteure sind nicht mehr private GroßgrundbesitzerInnen, sondern transnationale Unternehmen, die das Agrobusiness in Brasilien vorantreiben. Sie sind für einen Großteil der Abholzungen der Urwälder verantwortlich und haben erfolgreich durchgesetzt, dass gentechnisch verändertes Saatgut bei Soja, Mais und anderen Pflanzen zum Einsatz kommt. Monokulturen setzen sich im ganzen Land durch und drängen die arbeitsintensivere kleinbäuerliche Landwirtschaft an den Rand. Diese High-tech-Agrarwirtschaft ist eines der Zugpferde der brasilianischen Exportwirtschaft und wird von der Regierung in jeder Hinsicht gefördert, ohne Rücksicht auf ökologische und soziale Bedenken.
So kommt es in Brasilien nach wie vor zu Landkonflikten, und die Interessen der modernen Agrarier werden von konservativen PolitikerInnen, korrupten JustizbeamtInnen, uniformierten und selbsternannten Sicherheitskräften zumeist mit Gewalt durchgesetzt. Ein Beispiel ist der südliche Bundesstaat Rio Grande do Sul, wo seit 2005 die lokale Polizeieinheit namens Militärbrigade in Zusammenarbeit mit Staatsanwaltschaft und Justiz brutal gegen die Landlosen vom MST vorgeht. Immer wieder kommt es zu Übergriffen auf AktivistInnen und Vertreibungen von ganzen Ansiedlungen, auch wenn diese teilweise längst legalisiert sind. Parallel dazu versucht die Justiz, im Einklang mit der Gouverneurin Yeda Crusius, die Landlosenbewegung als Guerilla beziehungsweise kriminelle Vereinigung zu verfolgen.

Die Verbrechen der anderen
Interamerikanischer Gerichtshof verurteilt Brasilien – Mordversuch gegen Zeugin im Prozessfall Dorothy Stang
Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hat am 10. November den brasilianischen Staat wegen Missachtung der juristischen Rechte und der Verpflichtung zum juristischen Schutz im Falle des Kleinbauers Sétimo Garibaldi verurteilt. Garibaldi wurde vor elf Jahren ermordet. Er starb bei Auseinandersetzungen auf einem Camp der Landlosenbewegung MST auf der Farm São Francisco in Querência do Norte im südlichen Bundesstaat Paraná. Das Gericht sieht den Fall als ein Beispiel für die Parteilichkeit der brasilianischen Gerichte bei der Behandlung von Gewalt auf dem Land und für das Versagen der Gerichte im Kampf gegen Milizen der GroßgrundbesitzerInnen.
Der Interamerikanische Gerichtshof verlangt nun eine Wiedergutmachung für die Hinterbliebenen. Zudem wird der brasilianische Staat verpflichtet, auf eigene Kosten das Gerichtsurteil im offiziellen Nachrichtenblatt des Bundes und in Zeitungen mit hoher Auflage, die national und in Paraná vertrieben werden, zu publizieren. Zudem muss das Urteil auf den Homepages im Internet des Bundesstaats Paraná und des Bundes für ein Jahr publiziert werden. Die Familie Garibaldis muss außerdem für materielle und moralische Schäden entschädigt werden; der brasilianische Staat muss für die Prozesskosten aufkommen.
Am 27. November 1998 erschienen Vermummte mit Waffen auf der Besetzung der MST und begannen, auf die Landlosen zu schießen, wie der Sohn von Garibaldi der Lateinamerikanisch-Karibischen Kommunikationsagentur ALC erzählte. Einige der Vermummten bekannten freimütig, dass sie Polizisten außer Dienst seien.
Später fand der Sohn seinen Vater Sétimo Garibaldi zusammengesunken vor seinem Zelt; er starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Es handelt sich um die dritte Verurteilung Brasiliens auf dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Am 26. November wurde eine Hauptzeugin im Prozess zum Mordfall Dorothy Stang niedergeschossen, wie die brasilianische Tageszeitung Folha de São Paulo berichtete. Obwohl sie mehrfach von Kugeln in Beinen, Mund und Kopf getroffen wurde, starb Roniery Bezerra Lopes nicht und wird in einem Krankenhaus versorgt. Der Anschlag erfolgte drei Stunden nachdem Lopes eine gerichtliche Aufforderung, im Prozess gegen Regivaldo Pereira Galvão auszusagen, erhielt.
Dabei soll untersucht werden, ob sich Galvão das Grundstück 55 der Gemeinde Anapu (Bundesstaat Pará) illegal angeeignet hat. Galvão wird beschuldigt, im Rahmen eines Landkonflikts um das Grundstück 55, im Jahr 2005 den Mord an der Nonne Dorothy Stang in Auftrag gegeben zu haben. Im Mordprozess sagte Galvão aus, nichts mit diesem Grundstück zu tun zu haben.
Allerdings sagte Galvão bereits 2008 aus, Besitzer des Grundstücks 55 zu sein. Auf diesem Grundstück wurde die US-amerikanischstämmige Nonne, die die brasiliansiche Staatsbürgerschaft angenommen hatte, ermordet; der Fall sorgte weltweit für Aufsehen. Nach Aussagen einer anderen Nonne, sollen bei Morden Schüsse in den Mund die Bevölkerung einschüchtern und signalisieren, dass jeder ermordet wird, der Aussagen vor Gericht macht. Währenddessen bat am 8. Dezember der geständige Mörder von Dorothy Stang, seinen Fall erneut aufzurollen. Seine Verteidigung erhofft sich eine Milderung der Haftstrafe, falls er aussagt, dass er keinen Lohn für den Mord bekommen habe. Sollte das Gericht diese Aussage annehmen, würde dies bedeuten, dass die Verfahren gegen Regivaldo Pereira Galvão und Vitalmiro Bastos de Moura, denen vorgeworfen wird, den Mord an Stang in Auftrag gegeben zu haben, eingestellt werden müssen. Sowohl Galvão als auch de Moura sind derzeit auf freiem Fuß.
// TFP

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