Nicaragua | Nummer 586 - April 2023

Der Nicaragua-Kanal dient als Drohkulisse

Indigene klagen wegen Konzessionierung ihres Landes vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte

Am 24. März 2023 wurde in Costa Rica eine bemerkenswerte Untersuchung mit dem Titel Libro de ruta mafiosa (Buch der Mafia-Route) vorgestellt. Die Autor*innen enthüllen darin den „mafiösen und betrügerischen Charakter” der Konzessionsvergabe für das interozeanische Kanalprojekt, an dessen Verwirklichung das Präsidentenpaar Ortega-Murillo nach wie vor festhält. Im Jahr 2022 konnte ihr Fall endlich vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (IACHR) gebracht werden. Am 2. Februar 2023 fand nun eine erste Anhörung der Kläger*innen statt.

Von Elisabeth Erdtmann

„Der größte Pirat und Vaterlandsverkäufer – Daniel Ortega“ Protest gegen den interozeanischen Kanal in Nicaragua (Foto: Jorge Mejía Peralta via Flickr, CC BY 2.0)

Es hat lange gedauert: Zwischen 2013 und 2020 hatten die vom interozeanischen Kanal betroffenen afro-indigenen Behörden der Territorialregierung der Rama und Kriol sowie der Comunidad Negra Creole Indígena de Bluefields (Indigenen Gemeinschaft der Schwarzen Kreolen von Bluefields) bereits 19 Schutzanträge gestellt, von denen keiner vom nicaraguanischen Obersten Gerichtshof (CSJ) bearbeitet wurde. Danach wurde der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (IACHR) aktiv. Bei der ersten Anhörung am 2. Februar 2023 bewies Nicaraguas Regierung durch ihre Abwesenheit abermals, dass die Forderungen der indigenen Gemeinschaften sie nicht interessieren, deren Klage verhandelt wurde. Der nicaraguanische Staat hat auf die Aufforderung des IACHR nicht reagiert und zu der Anhörung nicht einmal eine*n Bevollmächtigte*n entsandt.

Die Klage bezieht sich auf die fehlende Zustimmung seitens der indigenen Gemeinschaften zur Konzessionierung ihres Landes für den Bau eines interozeanischen Schifffahrtskanals (siehe LN 337/338). Obwohl 52 Prozent der Strecke des interozeanischen Kanals durch ihre Gebiete verlaufen würden, habe die Regierung sie nicht konsultiert. Weder zu dem Zeitpunkt, als sie im Juli 2012 das Gesetz 800 über die rechtliche Regelung des Kanals und die Einrichtung einer Kanalbehörde verabschiedete, noch ein Jahr später, als sie die Konzession für den Bau und die Verwaltung des Projekts an den chinesischen Investor Wang Jing für einen Zeitraum von bis zu 100 Jahren vergab, so die Kläger. Den Plänen nach soll der Kanal im Süden des Landes das Karibische Meer mit dem Pazifischen Ozean verbinden.

Der Fall ist ein beredtes Beispiel für die Schwerfälligkeit des interamerikanischen Systems, denn die Klage wurde bereits 2014 bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) eingereicht, da diese nach der Amerikanischen Konvention für Menschenrechte vor dem IACHR allein klagebefugt ist. Von neun indigenen Rama- und Kriol-Gemeinden sowie der Comunidad Negra Creole Indígena de Bluefields eingereicht, verweist die Klage auf die Verletzung der Eigentumsrechte, der politischen Rechte, des gleichen Schutzes vor dem Gesetz, des Rechtsschutzes und -garantien sowie des Rechts auf eine gesunde Umwelt.

„Die Verantwortlichen der Territorialregierung der Rama-Kriol hatten seinerzeit angezeigt, dass der Staat Nicaragua den Präsidenten der Regionalregierung kooptiert und ihn gezwungen hat, ein vermeintliches Abkommen mit der Kanalbehörde zu unterzeichnen, das ihr unrechtmäßig einen unbefristeten Pachtvertrag über 263 Quadratkilometer Land im Herzen ihres angestammten Territoriums einräumt”, so die Anwältin María Luisa Acosta vom Zentrum für Rechtshilfe für indigene Völker (CALPI), die die Opfer vertritt. Die Comunidad Negra Creole Indígena de Bluefields warf der Regierung unter anderem vor, dass der nicaraguanische Staat eine Parallelregierung zu der von der Gemeinschaft rechtmäßig gebildeten Regierung eingesetzt und den Prozess der Rechtstitelvergabe über ihr angestammtes Territorium abgebrochen hat. Zudem sei Dolene Miller, ihre Vertreterin in der Conadeti (Nationale Kommission für Demarkation und Titulierung), rechtswidrig entlassen und nur sieben Prozent des beanspruchten Landes der Parallelregierung übertragen worden, so dass die restlichen 93 Prozent außen vor blieben.

Miller erklärte vor dem IACHR, dass der nicaraguanische Staat ihrer Gemeinde durch ihre willkürliche Entfernung aus ihrem Amt einen enormen Schaden zugefügt habe, da diese seitdem vom Prozess der Gebietsabgrenzung abgekoppelt sei. Diese Situation habe letztlich zur Abtrennung ihrer angestammten Gebiete geführt. Darüber hinaus beklagte sie sich über Repression: „Bei mehreren Gelegenheiten wurde ich Opfer von Verfolgung und mein Haus war von der Polizei umstellt. Wir mussten uns bei vielen Gelegenheiten mit verschiedenen politischen Stellen auseinandersetzen; in meiner Stadt Bluefields wurde uns auf Anordnung politischer Organe der Zutritt zu einigen öffentlichen Gebäuden untersagt und ehrlich gesagt fühlen wir uns nicht mehr sicher.”

Rupert Allen Clair, Führungspersönlichkeit des Kriol-Volkes von Monkey Point, sagte vor dem Gerichtshof aus, dass er vom nicaraguanischen Staat zum Schweigen gebracht worden sei, weil er die Art und Weise der Durchführung des Kanalprojekts kritisiert habe. Gegenüber der Internetzeitung Confidencial betonte Clair, dass die Kanalbehörden zunächst davon gesprochen hätten, die gesetzlich vorgeschriebene Konsultation durchzuführen. „Ich ging dorthin, und als wir (die städtischen Behörden) ihnen unsere Richtlinien vorlegten, sahen sie sich diese an und sagten: ‘Ok, damit werden wir nicht arbeiten’. Sie haben aus den Richtlinien das herausgenommen, was sie wollten, und neue erstellt. Für mich überraschend war, dass das für uns Wichtigste, nämlich die Einbeziehung eines Beraters und eines internationalen Beobachters, gestrichen wurde. Sie wollten nicht, dass wir einen Berater haben, sondern sagten, wir könnten mit einem Berater aus Bluefields zusammenarbeiten, den sie uns zur Verfügung stellen würden”, so Clair.

Seit der offiziellen Bekanntgabe des Kanalprojekts 2013 sind zehn Jahre ins Land gegangen, ohne dass irgendwelche Fortschritte zum Bau dieses Megaprojekts bekannt geworden wären. Experten*innen haben in Zeitungsartikeln wiederholt die fehlende Anwendung einer Klausel des „Kanal-Rahmenabkommens” von Seiten der Regierung gerügt, wonach die Teilprojekte ab dem Zeitpunkt der offiziellen Bekanntgabe der Bauarbeiten innerhalb von sechs Jahren abgeschlossen sein müssen. Neben dem Kanal handelt es sich bei den Teilprojekten unter anderen um zwei Flughäfen, zwei Tiefseehäfen, zwei künstliche Seen, zwei Schiffsschleusen, eine Freihandelszone, umfangreiche Infrastrukturprojekte und Tourist*innenzentren.

Die hochfliegenden Pläne scheiterten jedoch, da sich das Firmenimperium des inzwischen insolventen chinesischen Investors Wang Jing als ein „Geflecht von 23 in der ganzen Welt registrierten Scheinfirmen” erwies „Diese Unternehmen, die über keinerlei finanzielle oder technische Rückendeckung verfügten, wurden nur wenige Wochen vor der Vergabe der Mega-Konzession gegründet”, heißt es in dem im März in Costa Rica vorgestellten Libro de ruta mafiosa. Obwohl das Kanalprojekt in den ersten sechs Jahren nicht wie geplant realisiert wurde, bleiben die Gesetze 800 und 840, das Sondergesetz für die Entwicklung der nicaraguanischen Infrastruktur, des Verkehrs und der Freihandelszonen in Kraft. Es gibt keinerlei Garantien für die Grundbesitzer*innen entlang der Kanaltrasse, denen weiterhin Enteignung und Umsiedlung droht.

Im Gegenteil, die indigenen Gemeinschaften, die sich dem Projekt widersetzen, leben in einem „belastenden Umfeld”, zitiert Confidencial den Experten Pau Pérez Sale. Die Mitglieder dieser Gemeinschaften seien Opfer der Zerstörung ihres Lebensraums, willkürlicher Entlassungen, Prekarisierung, angstauslösender Maßnahmen, polizeilicher Überwachung und Stigmatisierung wegen der Auswirkungen auf ihre Familien. Es handelt sich um „eine Reihe von kontextuellen Elementen, Bedingungen und Praktiken, die darauf abzielen, den Willen der Opfer oder der Gemeinschaften zu brechen”, so Pérez Sale.

Becky McCray, Vertreterin des Volkes der Rama, erklärte vor dem IACHR: „Wir sind von weit hergekommen, um Gerechtigkeit zu suchen, weil wir sie in Nicaragua nicht haben. Es war ein ständiger Kampf, deshalb bitte ich dieses ehrenwerte Gericht, den Staat Nicaragua aufzufordern, das Regulierungsverfahren (zur Gebietsabgrenzung, Anm. d. Red.) unverzüglich umzusetzen und die Aufhebung des Gesetzes 840 zu fordern, weil die betroffenen Völker nicht konsultiert wurden. Das Gleiche gilt für die Aufhebung der Zustimmungsvereinbarung, durch die sie sich ein Gebiet von 263 Quadratkilometern Land aneignen”.

„Wir sind von weit hergekommen, um Gerechtigkeit zu suchen, weil wir sie in Nicaragua nicht haben“

Anstatt die Annullierung des Projekts geltend zu machen, hat Ortega offensichtlich die sprudelnden Geldquellen im Auge, die sich durch den zunehmenden globalen Rohstoffhunger und sich ausweitenden Handelsverkehr auftun, was dem Projekt noch einmal Auftrieb geben könnte. Er findet daher gute Gründe, die Reanimation des Kanalprojekts in Aussicht zu stellen. Zuletzt im September 2022 versicherte Ortega im Rahmen seiner Rede zum Nationalfeiertag: „Irgendwann wird ein Kanal hier in Nicaragua Wirklichkeit werden.” Zwar räumte er ein, dass „es einen Kanal durch Panama gibt, der erweitert wurde. Aber die Anforderungen des internationalen Verkehrs sind so groß, dass ein Kanal durch Nicaragua notwendig sein wird.” Ortega liegt damit gar nicht so falsch wie es scheint, denn vor dem Hintergrund der steigenden Nachfrage nach kürzeren Transportwegen, neuen Wasserstraßen und zusätzlichen Hafenanlagen für die Beförderung von Rohstoffen kann Ortega die geopolitische Konfrontation zwischen den Großmächten nutzen und den Kanal als alternative Handelsroute ins Spiel bringen. Das hätte nicht nur für die betroffenen bäuerlichen und indigenen Gemeinschaften verheerende Folgen, sondern für die gesamte nicaraguanische Bevölkerung, indem grundlegende Gemeingüter des Staates wie der Große Cocibolca-See und unschätzbare Schutzgebiete privatisiert oder zerstört würden. Riesige Landstriche drohen vernichtet zu werden.

Die Konstruktion eines Schifffahrtskanals lastet wie ein Fluch auf der Geschichte Nicaraguas, schon zu Kolonialzeiten hat er eine große Rolle gespielt und Begehrlichkeiten geweckt. Es waren schließlich die Vereinigten Staaten, die Anfang des 20. Jahrhunderts den Bau eines Kanals verhinderten, da sie kein Konkurrenzprojekt zu dem von ihnen vorangetriebenen Bau des Panamakanals (1904 bis 1914) duldeten.

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