Brasilien | Nummer 197 - November 1990

Basso Tribunal: Brasilien schuldig

Die brasilianische Amazonienpolitik verletzt systematisch die Rechte der Indios und der anderen BewohnerInnen Amazoniens, die von traditioneller Wirtschaft leben. Sie gefährdet ihr physisches Überleben, ihre kulturelle Identität und vernichtet ihren Lebensraum, in erster Linie die Regenwälder Amazoniens, aber auch die Flüsse und Flußränder. Die brasilianische Regierung – unter Mithilfe internationaler Geldgeber und Firmen – mißachtet damit die Verfassung und die Gesetze des Landes – so das Urteil der Jury des “Ständigen Tribunals der Völker”. Bekannt als Basso-Tribunal (früher:Russell-Tribunal) hatte dieses Gericht zuletzt vor zwei Jahren in Berlin über Weltbank und IWF befunden. Dieses Jahr also, vom 12. bis 16. Oktober in Paris, ging es um die brasilianische Amazonienpolitik.

Thomas W. Fatheuer

In einem gediegenen Saal der rue Descartes, einem Namen, der vielleicht wie kein anderer für die Begründung des modernen Rationalismus steht, hatten sich für einige Tage, ExpertInnen, Indios und ein Kautschukzapfer zusammengefunden, um eine vernichtende Bilanz der Segnungen der Moderne für die Völker Amazoniens zu ziehen. Die Basso-Stiftung hatte so ziemlich alles zusammengetrommelt, was in der brasilianischen Amazonasforschung Rang und Namen hat. Das hier aber kein wissenschaftliches Kolloquium abgehalten werden sollte, sondern konkrete Beschuldigungen vorgebracht wurden und die BewohnerInnen Amazoniens selbst als ZeugInnen zu Wort kamen, macht die besondere Qualität des Treffens aus.
Neben der großen Waldvernichtung durch Abbrennen hat sicherlich der Fall der Yanomami in letzter Zeit die größte internationale Aufmerksamkeit errregt. Die Yamomami – mit 12.000 Menschen das größte Volk im brasilianischen Teil Amazoniens – sind durch das Eindringen von Goldgräbern unmittelbar in ihrem Überleben bedroht. Mehrere Aussagen belegten nun, daß dieses Eindringen von der Regierung nie ernsthaft verhindert worden ist, obwohl es einen eklatanten Rechtsbruch darstellt, daß die Regierung (Sarney) sogenannte “Goldgräberreserven” im Yamomami-Gebiet geschaffen hat, eine Maßnahme die offensichtlich verfassungswidrig ist. Die neue Regierung Collor hat öffentlich den Rückzug der Goldgräber versprochen, aber unzureichend agiert: Zwar wurden Landepisten der Goldgräber gesprengt, aber nicht alle. Die medizinische Versorgung der Yanomami ist prekär – sie sterben an dem eingeschleppten Malaria. Ein düsteres Bild entsteht: Obwohl der Fall der Yamomami wie wohl kein anderer die internationale Aufmerksamkeit erregt hat geht ihr Sterben weiter – bestens dokumentiert.
So zeigte der Senator Severo Gomes Fotos von zwei Reisen in das Gebiet der Yanomamis: vor und nach dem Eindringen der Goldsucher. Ein erschütternder Kontrast, aus intakten Indio-Gesellschaften wurden Bettler und Kranke in einer verwüsteten Umwelt. Dabei zeigte sich auch, daß die Vernichtungsmechanismen mehrdimensional sind. Viele Goldgräber haben keineswegs die Yanomami getötet, sondern sie mit Nahrungsmitteln, Plastikfolien (als Baumaterialien) und anderen Waren beliefert, damit deren eigene Produktion unterminiert. Fazit: 15% der Yanomami sind in den letzten drei Jahren gestorben. Das Elend der Yanomami geht auch unter Coller/Lutzenberger weiter, und eine alte Forderung, die einer Vorraussetzung des Überlebens der Yanomami wäre, bleibt unerfüllt: 1988 hatte die regierung das Yanomami-Gebiet in 19 Inseln unterteilt und damit den Freibrief für die Zerstörung ausgestellt. Seit dem wird gefordert, ein zusammenhängendes Yanomami-Gebiet wiederherzustellen. Auch in dieser Frage hat sich bis heute nichts bewegt.
Die Aussagen vor dem Tribunal beschränken sich nicht auf die Darstellung von Einzelaspekten. Francisco da Costa (Universität Belén) zeigte auf, welche normativen Entscheidungen der Entwicklungskonzeption Amazoniens zugrunde lagen: Die systematische Verachtung und Vernichtung der traditionellen Produktionsweisen (Sammelwirtschaft) zugunsten einer Produktionsweise, die die Modernität Amazoniens herstellen sollte: der Industrie (Entwicklungspole, Freihandelszone in Manaus) und systematischer Land- und Viehwirtschaft (agropecuaria). Die tzraditionellen ressourcen und Produzenten Amazoniens galten lediglich als Entwicklungshemmnisse. Ziel der Zentralregierungen (vor allem der Militärs seit 1964) war die Integration Amazoniens in das nationale Terretorium, in den brasilianischen Markt und in den Weltmarkt. Hier schließt sich nun eine entscheidende Frage für den REntwicklungsweg Amazoniens an: Beinhalten die traditionellen Produktionsweisen Amazoniens Entwicklungspotentiale, die mit der modernen Industrie konkurrieren können? Costa verwies auf eine Regionalstudie, nach der 80% der Vieh- und Landwirtschaftlichen Unternehmen mit Verlust wirtschaften. Die beiden Großprojekte Amazoniens, Grande Carajas und die Aluminiumindustrie, arbeiten nicht mit Gewinn. Gerade das beispiel der Aluminiumindustrie zeigt die Absurdität der aktuellen Entwicklungsstrategie. Sie kann nur durch subventionierten Strom überleben. Ein teuflischer Kreislauf entsteht: Umweltzerstörung durch Staudammbau (Tucurui), Verschuldung, Subventionierung von Strom, Umweltzerstörung durch die Folgen der Aluminiumindustrie, indirekte Subventionierung energieintensiver Produktion für den Weltmarkt, sprich für die entwickelten Länder.
Gegenüber solchem Wahnsinn ist zumindest ein Versuch mit der besseren Nutzung der traditionellen Potentiale nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch geboten. Diese Argumentation widerspricht allerdings, daß für einzelne Unternehmer und Spekulanten die Umweltzerstörung durchaus gewinnversprechend ist (vgl. die Aussagen von Fearnside in diesem Heft). Das Tribunal macht aber zumindest deutlich, daß ein isoliertes Sprechen über Indianermorde und Umweltprobleme nicht möglich ist: Auf der Anklagebank saß somit nicht nur die brasilianische Regierung, sondern auch Agenten und Logik der industriellen Produktion und der privatwirtschaftlichen Verwertung.
Fragt sich nur ob das Urteil Konsequenzen hat. An Kenntnissen über das Desaster in Amazonien fehlt es ja nicht. Brennende Wälder erregen auch in deutschen Wohnzimmer die Herzen. Ob mehr als Sentimentalität und Ökoromantik die Folge sein kann, hängt auch davon ab, ob es uns hier gelingt, wirksame Aktionsformen zu ent­wickeln.

Kasten 1:

“Rotes Gold” So nannten die Kolonialisten zynischerweise die Urbevöl­kerung Brasiliens, weil sie hofften sie als Sklaven vermarkten zu können. Als Cabral bei Porto Seguro als erster Europäer brasilia­nischen Boden betrat, lebten in dem Gebiet des heutigen Brasilien (nach eher vorsichtigen Schätzungen) 5 Millionen “Indios”. 130.000 haben Massaker und Krankheiten überlebt. Sie bilden damit nur einen mi­nimalen Prozentsatz der heutigen Bevölkerung, und das of­fizielle Brasilien hat sie weder als Teil der nationalen Identität aner­kannt, noch ihnen wirkliche Autonomie gewährt. Auf dem Papier hat sich die Situation der Indiginas durch die neue Verfassung er­heblich verbessert. Sie schreibt vor, daß in einer Frist von fünf Jahren alle Indigina-Gebiet vermessen und rechtlich reguliert sein müssen. Zwei Jahre sind vergangen und 8,9% der Gebiete sind bisher reguliert.

Kasten 2:

Das Lelio-Basso-Tribunal

Das “Ständige Tribunal der Völker” besteht seit 1979. Es ist eine institutionalisierte Form die 1976 vom sozialistischen Senator Italiens Lelio Basso begründeten “Internationalen Stiftung für die Rechte und Befreiung der Völker”. Das Tribunal knüpft an die Tradition der Russel-Tribunale an, in denen beispielsweise über die amerikanische Intervention in Vietnam gerichtet wurde. Der Spruch der Jury ist an die völkerrrechtlichen Grundsätze gebunden.

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