Film | Nummer 396 - Juni 2007

„Ich will kein neutraler Beobachter sein“

Interview mit dem chilenischen Dokumentarfilmer Patricio Guzmán

Der chilenische Filmemacher Patricio Guzmán beschäftigt sich seit 35 Jahren mit der Geschichte Chiles zur Zeit der Volksregierung (UP) Salvador Allendes und der Militärdiktatur unter General Pinochet. Guzmán arbeitet filmisch gegen das Vergessen, während das Thema Diktatur in Chile immer noch nicht zum Lehrplan des Geschichtsunterrichts gehört. Seine Trilogie La Batalla de Chile („Die Schlacht um Chile – Der Kampf eines unbewaffneten Volkes“), ein fünfstündiges Werk, dokumentiert die letzten Regierungsjahre der Unidad Popular bis zum Militärputsch im Jahr 1973. Im Jahr 2004 drehte er Salvador Allende, ein sehr persönliches Portrait des ehemaligen Präsidenten. Heute lebt er in Paris.

Interview: Sarah Moll

Deine Filme beschäftigen sich fast ausschließlich mit deinem Heimatland Chile, obwohl du vor 34 Jahren das Land verlassen hast. Welche Rolle spielt für dich beim Filmemachen die Distanz zu deinem Herkunftsland?

Um einen Film zu machen, benötigst du einen gewissen Abstand, um klar zu sehen. Gleichzeitig begeisterst du dich so leidenschaftlich für dein Thema, dass du dich sehr nah damit verbunden fühlst. Es ist eine Wechselbeziehung zwischen Abstand und Nähe, die nie endet. Und letztlich verlässt du dein Land nie, wenn du weggehst. Es ist das Land in dem du geboren bist, das vergisst du nie. Ich bin also der chilenischen Thematik verbunden, die mich bis heute begleitet. Auch mein nächster Film wird von Chile handeln und ich wohne weiterhin außerhalb des Landes. Ich glaube ganz einfach, jeder Künstler birgt ein Thema in seinem Herzen, das ihn nie verlässt. Das kann deine Heimat sein, eine Liebe, die Landschaft, ein Kindheitsmoment, der dich nicht loslässt. Es gibt Künstler, die immer dasselbe Bild malen oder die gleichen Farben benutzen. Dafür gibt es keine Erklärung. Es ist das Geheimnis jedes Einzelnen.

Du kamst nach deinem Filmstudium in Madrid zurück nach Chile, kurz nachdem Salvador Allende zum Präsidenten gewählt worden war. Was fiel dir nach deiner Rückkehr auf?

Das erste, was ich sah, war eine große Wandmalerei auf einer Mauer des Flughafens, auf der die gesamte Geschichte des Landes dargestellt war: die Ureinwohner, die spanischen Eroberer, die sozialen Kämpfe, die Arbeiter… bis hin zu Allende. Es war beeindruckend, wie eine Bildergeschichte, die dich empfängt. Die Straßen waren voller Menschen, Lebensfreude und Energie. Man spürte, dass sich im Land etwas bewegte und veränderte. Chile wurde seit Jahrhunderten von den Rechten regiert. Die Großgrundbesitzer, die Fabrikbesitzer, und die Industrie- und Handelskammer lenkten seit jeher die Politik, mit Ausnahme der Zeit der Frente Popular, einer kurzen Unterbrechung von vier Jahren. In diesem Moment war Chile bereit, die Besitztümer zu verteilen, eine egalitäre Gemeinschaft zu schaffen. Wir hatten einen Präsidenten, an den wir glaubten, die Leute lachten auf der Straße, es war wunderbar. Damals habe ich mich in die Realität verliebt.

Wie entstand die Idee zu der Trilogie La Batalla de Chile?

Es lag einfach auf der Hand. Wenn du in ein Land kommst, das voller Bewegung, Versammlungen, gemeinschaftlicher Entscheidungen, Aufmärschen, Freude, Besetzungen, Gewerkschaften, Massenbewegungen, Forderungen und Kampf ist, musst du auf die Straße gehen und filmen!

Ihr hattet während der Dreharbeiten mit politischen Gruppen jeder Couleur zu tun, unter anderem auch mit rechten paramilitärischen Gruppen, wie zum Beispiel Heimat und Freiheit. Wie ist Euch der Zugang zu den rechten Kreisen gelungen?

Ich hatte einen französischen Presseausweis, der mir erlaubte, mich als Mitarbeiter des französischen Fernsehens auszugeben. Zudem hatten wir noch einen gefälschten Ausweis vom Canal 13, dem reaktionären Sender Chiles. Manchmal bekamen wir Zugang, weil wir sagten, wir seien vom Canal 13. Problematisch wurde es nur, wenn tatsächlich Korrespondenten des Canal 13 eintrafen. Dann mussten wir den Ort schleunigst verlassen, um nicht als Betrüger dazustehen. Aber es gab soviel Unruhe, soviel Chaos, so dass wir nicht stark auffielen. Und da der Rechtsstaat noch nicht aufgelöst war, konnte man den Klassenkampf wie eine Landschaft filmen. Deshalb hattest du die Freiheit, zu einem Verband der Rechten oder zu einer Gewerkschaft der Linken zu gehen und offen nachzufragen, was vor sich ging.

Wie habt ihr als Filmteam den 11. September 1973, den Tag des Militärputsches, erlebt?

Dadurch, dass wir den ganzen Tag auf der Straße waren, sahen wir sehr deutlich wie sich die Krise im Land verschärfte. Schon vor dem 11. September, am 8. und 9. war die Situation unerträglich. Es gab viele Durchsuchungen von Seiten des Militärs in den Fabriken, viele Truppenbewegungen – der Staatstreich war im Gange.
Am 11. lief ich mit meinem Kameramann Jorge ohne Kamera zum Regierungspalast Moneda und wir sahen, dass es unmöglich war zu drehen. Alle Korrespondenten waren auf dem Rückweg und meinten: „Man kann nicht drehen, viel zu gefährlich.“ Als mir das Ausmaß der Gefahr klar wurde, sagte ich zum Team: „Jetzt müssen wir verschwinden und uns verstecken.“
Denn all das, was wir gefilmt haben, ist ein Schatz. Der Putsch dagegen ist ein sichtbares Ereignis, das vom ausländischen Fernsehen gefilmt werden wird. ABC, NBC, alle werden vor Ort sein. Aber das, was wir gedreht haben, hat keiner.“ Denn wir hatten das unsichtbare Geschehen gefilmt, die Ereignisse unterhalb der Oberfläche: Wie der Konflikt zustande kam, was die Fabrikarbeiter und die Fabrikbesitzer dachten oder die Staatsbeamten und wer welche Rolle spielte. Wir hatten den Hintergrund aufgenommen, die Gesamtheit der Meinungen, die diesen Prozess gestalteten. Wir beschlossen, das Filmmaterial zu verstecken und das Team aufzulösen. Eine Woche später stand die Polizei vor meiner Tür und verhaftete mich, allerdings ohne zu wissen, dass ich Filmemacher war. Wir hatten nie eine Pressekonferenz oder Interviews gegeben und auch nie erzählt, was wir eigentlich machten. Das war Teil der Vereinbarungen unseres Teams.
Die Einstellungen, die in Batalla de Chile vom Putsch zu sehen sind, sind von Heynowski und Scheuermann, zwei deutschen Filmemachern, die sich im Hotel Carrera befanden, einem privilegierten Ort, an dem sie die Kamera vor einem Fenster aufbauten, nah ran zoomten und das Bombardement filmen konnten. Und Pedro Chasques, der später mein Cutter wurde, stieg auf das Dach seines Büros, das ein bisschen weiter entfernt lag, und filmte die Flugzeuge.

Deine Filme sind stets aus deinem persönlichen Blickwinkel erzählt, mit einem von dir gesprochenen Kommentar, verknüpft mit deiner eigenen Biografie. Warum wählst du diese Erzählweise?

Als ich an Batalla de Chile arbeitete, hatte ich noch kein ausgeprägtes Bewusstsein für die eigene Subjektivität. Ich wusste, dass es ein subjektiver Film ist, da ich links orientiert war und einen Film pro Allende realisierte. Aber später – mit mehr Abstand – ist mir klar geworden was Subjektivität bedeutet: Es bedeutet, dein eigenes Leben in die Historie zu integrieren. Der Filmemacher ist Teil der Geschichte und erzählt als historisches Subjekt eine Fabel.
Damit habe ich erst 1995 begonnen, als ich anfing an dem Film La Memoria Obstinada zu arbeiten. Aber dies entstand nicht nur dank meiner persönlichen Entwicklung sondern aufgrund einer kollektiven Entwicklung in den 1990er Jahren. Da sagten wir: Jetzt reicht´s! Ab jetzt werden wir in klarer und direkter Form unsere eigene Subjektivität darstellen. Wir werden unsere eigenen Geschichten aus unserem Blickwinkel, mit unserer Stimme erzählen, endlich persönliche Filme machen. Wir wollten sagen: Das ist unsere Wahrheit.
Davor gab es das zwar auch, allerdings war weniger kollektives Bewusstsein dahinter. Wir hatten Zweifel, ob die eigene Person zuviel in dem Film vorkam, der Film zu stark auf einen selber bezogen war. Und heutzutage berichten die Kriegskorrespondenten aller Welt ganz klar aus ihrem Blickwinkel, mit ihrer Stimme. Das ist eine kollektive Errungenschaft des Dokumentarfilms, ein Fortschritt. Deshalb sind und werden meine Filme subjektiv, persönlich und gleichzeitig gemeinschaftlich sein.

Willst du mit Filmen die Welt verbessern?

Ja, obwohl es total absurd ist, denn die Welt wird sich aufgrund eines Films nicht verändern. Das ist schon bewiesen. Es ist ein Versuch, ein Traum. Aber der beste Beweis, dass sich die Politik nicht aufgrund eines Filmes verändern lässt, ist, dass es Michael Moore nicht gelang, Bushs Wiederwahl zu verhindern. Das ist das größte Versagen des Kinos als soziales Instrument, oder?

Wenn wir davon ausgehen, dass Filmemacher trotzdem in irgendeiner Weise die öffentliche Meinung beeinflussen, welchen Einfluss möchtest du auf die chilenische Gesellschaft ausüben?

Ich möchte meine Filme in Chile vertreiben, um ein Bewusstsein für die Erinnerung an die Geschichte zu schaffen. So wie es aussieht, werden wir nächstes Jahr zum ersten Mal La Batalla de Chile in Chile in die Kinos bringen. Und da das chilenische Fernsehen noch nie einen Film von mir ausgestrahlt hat, werden wir bald alle meine Filme auf DVD veröffentlichen. Das ist gut, denn es gibt viele junge Leute in Chile, die nicht wissen, was passiert ist, in deren Familien nichts erzählt wurde und die auch sonst keine Informationsquellen haben. Oder ihnen wurden andere Dinge erzählt. Ich glaube, es gibt viele junge Leute, die Bescheid wissen wollen. Nicht, um sich zu rächen oder um Wunden zu öffnen, sondern einfach um zu wissen, was passiert ist. Wir haben zwanzig, dreißig Jahre Entwicklung verloren, es ist ein Skandal, das muss veröffentlicht werden. Gleichzeitig muss das Land aufgebaut werden. Letztlich gibt es so viele Dinge, die bekannt gemacht werden müssen, damit die Länder reifen. Und das ist eine Verantwortung der Kultur, der Literatur, des Essays und der Geschichtsschreibung.

Meinst du, dass ein Land nur dann reift, wenn es sich mit seiner Geschichte auseinandersetzt?

Ja, das ist wichtig. Chile ist ein Land, dass von seiner Geschichte nichts wissen will, ein Land das nichts dazu lernen möchte. Es ist ein Land, das die Arbeitgeber bedient, Autobahnen konstruiert, Hochhäuser, den Flughafen, Brücken. Chile ist ein Land mit verschwindend geringem internationalen Einfluss, da es nicht weiß, was es ist. Sich seiner Geschichte bewusst zu werden bedeutet, die Identität wieder zu gewinnen. Und Identität bedeutet, Kraft zu haben. Wenn du keine Kraft und keine Identität hast, bist du ein blutarmes Wesen. Deshalb sind Geschichte und Erinnerung kein abstraktes Thema, keine Theorie, sondern es gibt dir Energie, wenn du weißt wer du bist.

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