Nummer 349/350 - Juli/August 2003 | Ökonomie

Auf der Schnellspur zum kontinentalen Freihandel

USA wollen mit dem amerikanischen Projekt ALCA die EU ausbooten

George Bush jr. schickt sich an, den Traum seines Vaters vom grenzenlosen Freihandel auf dem amerikanischen Kontinent zu verwirklichen. Für 2005 ist die Errichtung der Área de Libre Comercio de las Américas (ALCA) anvisiert. Innenpolitisch hat der US-Präsident eine wichtige Hürde genommen. Er erhielt 2002 vom Kongress die Vollmacht, Handelsabkommen en gros auszuhandeln, ohne jeden Schritt vom Kongress billigen lassen zu müssen. Seinem Vorgänger William Clinton wurde dieses Mandat beharrlich verweigert, weshalb sich in Sachen amerikanischer Integration außer Absichtserklärungen in dessen Amtszeit wenig tat. Außenpolitisch ist das Vorhaben durch die Wahl von Lula, Kirchner und Co. indes schwieriger geworden.

Martin Ling

Die Entscheidung wurde pathetisch gefeiert. Handelsminister Donald Evans sprach von einem „Sieg für die ganze Welt, eine Art Werkzeug, das wir brauchen, um die Welt zu Frieden und Wohlstand zu führen“. Bei dem Werkzeug handelt es sich um das im August 2002 im Kongress verabschiedete Handelsgesetz, einst als Fast-Track-Autorität bekannt und inzwischen in Trade Promotion Authority (TPA) umgetauft. Erstmals seit acht Jahren hatte der US-Kongress damit den Präsidenten wieder mit weit reichenden Vollmachten zur Verhandlung von Handelsabkommen ausgestattet. Das Gesetz war nach 20 Jahren 1994 unter William Clinton nicht verlängert worden.
Nach der Überzeugung von Bush wird das neue Handelsgesetz die US-Wirtschaft beleben und die Dominanz der USA im Welthandel sicherstellen. Eine Dominanz, die vor allem von der EU und dessen Einheitswährung Euro auf Sicht in Frage gestellt werden könnte.
George Bush ist auf offene lateinamerikanische Märkte weitaus stärker angewiesen als Clinton, dessen Amtszeit mit einem historisch einmaligen Wirtschaftsboom zusammenfiel. Der ist seit geraumer Zeit ganz offensichtlich vorbei und damit gewinnt der Außenhandel an Bedeutung. Zwar ist die US-Volkswirtschaft die größte der Welt und nur rund ein Zehntel des Bruttosozialproduktes wird mit dem Außenhandel erwirtschaftet. Doch nicht einmal die USA können auf Dauer Handels- und Leistungsbilanzdefizite hinnehmen. Bereits seit Jahrzehnten finanzieren sie ihren Verbrauch mit ausländischen Kapitalimporten. Solange die Zinsen und die Wachstumsraten über denen der Hauptkonkurrenten auf dem Weltmarkt, Japans und der EU, lagen, ließen sich die Löcher problemlos schließen. Denn US-Anlagen waren schlicht die attraktivsten innerhalb der Triade der größten Weltwirtschaftsmächte. Doch der Vorsprung der USA wird kleiner. Die EU hat aufgeholt, auch in Lateinamerika, während Japan seit einem Jahrzehnt nicht aus der Rezession herauskommt.

Fast Track gegen den Hinterhof

Das Gesetz gibt dem Präsidenten vor allem die Vollmacht, Handelsabkommen auszuhandeln, die der Kongress dann annehmen oder ablehnen, aber nicht mehr ändern kann. Das stärkste Argument der Gesetzes-Befürworter: Die USA seien seit 1994 im Welthandel ins Hintertreffen geraten. Bush will besonders bei den laufenden Gesprächen in der Welthandelsorganisation freie Hand haben. Ganz ohne Zugeständnisse an die US-Industrie kam Bush freilich nicht in den Genuss der TPA. Der Farmerlobby sicherte Bush beispielsweise zu, bestimmte Agrarprodukte aus allen Liberalisierungsverhandlungen auszuschließen. Von vorn herein soll damit einem möglichen Agrarimportboom aus Lateinamerika im Falle des Inkrafttretens von ALCA ein Riegel vorgeschoben werden. Dies galt lange auch für Lateinamerika als Produktionsstandort für US-Unternehmen. Der „Hinterhof“ der Vereinigten Staaten hatte in den achtziger Jahren wegen der Verschuldungskrise dafür weitgehend ausgedient. Erst mit dem Beginn der ökonomischen Erholung und vor dem Hintergrund der entstehenden Wirtschaftsblöcke in Europa und Asien wandten sich die USA wieder gen Süden.
Bereits im Juni 1990 kündigte der damalige Präsident George Bush seine Initiative „Enterprise for the Americas“ an. Das erklärte Ziel: eine Freihandelszone von Alaska bis Feuerland. Als erster Schritt in diese Richtung leitete Bush mit Kanada und Mexiko Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen ein. Sein Nachfolger Clinton überzeugte im November 1993 sogar den zunächst widerwilligen US-Kongress, den Vertrag zum North American Free Trade Agreement (NAFTA) mit Kanada und Mexiko zu ratifizieren. Auch die kontinentale Freihandelszone verlor Clinton nicht aus den Augen. Auf dem „Gipfel der Amerikas“ in Miami Ende 1994 bot er den anwesenden Staats- und Regierungschefs aus 33 Ländern eine „Partnerschaft für den Wohlstand“ an. Der Gipfel endete mit der Unterzeichnung einer Erklärung und eines Aktionsplans.

NAFTA als abschreckendes Beispiel

Bis zum Jahr 2005 sollen die Verhandlungen über eine ganz Amerika umfassende Freihandelszone (ALCA) abgeschlossen werden. Clinton selbst konnte ohne Fast Track den Prozess kaum voranbringen, ausgebremst von der republikanischen Opposition im Kongress. Heute herrscht in Bezug auf die Lateinamerika-Politik weitgehende Einigkeit zwischen den beiden großen US-Parteien. Oberstes Ziel ist es, langfristig die wirtschaftliche und politische Vormachtstellung auf dem Doppelkontinent zu sichern. ALCA genießt höchste Priorität, zumal die EU nach ihren Freihandelsabkommen mit Mexiko und Chile nun auch noch den MERCOSUR zu einem solchen bewegen will.
Viele lateinamerikanischen Wirtschaftsexperten werteten das Inkrafttreten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) zwischen Mexiko, den USA und Kanada 1994 als ersten konkreten Schritt zur geplanten ALCA. Sie warnen vor den sozialen Konsequenzen eines solchen Abkommens für die Länder Lateinamerikas und plädieren stattdessen für die Stärkung des wirtschaftlichen Zusammenschlusses der südamerikanischen Staaten (Mercosur). Eine Position, die grundsätzlich auch die Ökonomin Barbara Fritz vom Institut für Iberoamerikakunde in Hamburg teilt. Nähmen die lateinamerikanischen Staaten an ALCA teil, drohte ihnen eine weitere Destabilisierung ihrer ohnehin fragilen Volkswirtschaften. Andererseits sei das Außen-Vor-Bleiben mit dem Risiko der Ausgrenzung behaftet. Denn die Tendenz zu Freihandelsabkommen auf bilateraler und regionaler Ebene sei ungebrochen. Wer nicht mitmacht, gerät in Gefahr, Handelsanteile und Exportmärkte zu verlieren. Und gerade Exporte und insbesondere Export- und Leistungsbilanzüberschüsse sind für die hoch verschuldeten lateinamerikanischen Länder die conditio sine qua non für Entwicklung, weil nur so ein Nettodevisenzufluss zum Schuldenabbau entstehen könne. Brasilien stand 2002 mit 228,7 Milliarden US-Dollar Auslandsschulden in der Kreide, Mexiko mit 141 Milliarden, Argentinien mit 132,0 Milliarden und Chile mit 39,2 Milliarden, um nur die vier größten Schuldner zu nennen.
Eine mögliche Strategie sieht Fritz in einer gemeinsamen Verhandlungsposition der lateinamerikanischen Staaten mit dem MERCOSUR als gewichtigsten Block gegenüber den USA. Zumindest die MERCOSUR-Staaten haben sich unter Führung des Duos Lula-Kirchner auf dem Gipfel in Asunción dazu eindeutig bekannt. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez dürfte dafür auch zu haben sein und vielleicht ist ja auch der Andenpakt noch ins Boot zu kriegen. Um ein Gegengewicht zu dem übermächtigen Riesen im Norden zu schaffen, plädiert Fritz für verstärkten Handel mit der EU.
Dass sich Republikaner und Demokraten in der Ausrichtung der Lateinamerikapolitik inzwischen so einig sind, verwundert den brasilianischen Soziologen Emir Sader nicht. Zunächst sei Lateinamerika für die USA ein wichtigerer Markt als die EU. 1996 ist der Handel Nordamerikas mit dem Subkontinent im Süden doppelt so schnell gewachsen wie der mit dem Rest der Welt. Außerdem würde ALCA die Handelsbeziehungen zwischen Lateinamerika und der EU schwächen und nicht zuletzt eine weitere Liberalisierung der lateinamerikanischen Märkte einläuten. Die von den USA vorangetriebene Deregulierung staatlicher Auftragsvergabe in den lateinamerikanischen Staaten diene letztlich der Durchsetzung eines Wirtschaftsprogramms für den ganzen Kontinent, das US-Konzerne begünstigt, die den Protektionismus vieler lateinamerikanischer Volkswirtschaften zynischerweise als Diskriminierung bezeichnen.
Mexiko und NAFTA gilt ihm als warnendes Beispiel –Deindustrialisierung einheimischer Sektoren, die Vernichtung ganzer Bereiche der traditionellen Landwirtschaft sowie die Verschärfung der sozialen Ungleichheit seien herausragende Folgen des Integrationsprozesses. Mittelfristig gehe es für die politisch sehr heterogenen Länder Lateinamerikas um die Entscheidung zwischen einer gesamtamerikanischen Freihandelszone und einem erweiterten MERCOSUR. Erstere würde aus der Region ein riesiges zollfreies Gebiet machen oder wie der US-Handelsbeauftragte Robert Zoellick es ausdrückte: Jeder Kiosk in Amerika würde zum Duty-Free-Shop für arbeitende Familien. Für Sader hat der MERCOSUR hingegen nur Erfolgsaussichten als wirtschaftspolitisches Integrationsprojekt, wenn es über soziale Legitimität verfügt. Ansonsten bliebe nur die Wahl zwischen einem Neoliberalismus mit den USA oder einem Neoliberalismus ohne sie.
Doch soziale Legitimität lässt sich kaum ohne ökonomische Perspektiven herstellen. Und die sehen für den MERCOSUR, einem Zusammenschluss von Schwachwährungsländern, grundsätzlich düster aus – ganz abgesehen von der anhaltenden, durch die Währungskrisen in Brasilien 1999 und Argentinien seit 2001 hervorgerufenen Paralyse des Südbündnisses. So wünschenswert die von Lula und Kirchner beabsichtigte monetäre Integration mit dem Ziel einer gemeinsamen Währung ist, Entwicklung wird sie selbst bei Realisierung nicht bringen. Ohne eine Lösung des Schuldenproblems im Rahmen einer kohärenten Gesamtwirtschaftsstrategie gibt es weder für den MERCOSUR noch für Lateinamerika eine Entwicklungsperspektive. Doch weder die USA mit ALCA noch die EU mit ihren Lateinamerika-Initiativen haben daran ein Interesse.

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