Film | Nummer 476 - Februar 2014

Auf der Suche nach dem Glück

Der Film Atlántida erzählt Geschichten vom Aufwachsen in der argentinischen Provinz auf der Suche nach dem richtigen Weg

Madlen Haarbach

Ein heißer Sommertag des Jahres 1987. Ein Dorf im Süden der argentinischen Provinz Córdoba bereitet sich auf die jährliche Bienenausstellung vor, den Höhepunkt des sommerlichen Veranstaltungskalenders. Während ihre Freunde den Tag im Schwimmbad verbringen, bleibt Elena mit einem Gipsfuß ans Bett gefesselt. Ihre Schwester Lucía ist auch zu Hause und bereitet sich auf die Aufnahmeprüfung der Universität in Buenos Aires vor. Die Eltern sind nicht da und so geraten die Schwestern immer wieder aneinander. Bis Lucía es nicht mehr aushält und mit Ana, einer Freundin ihrer Schwester, in die ländliche Region außerhalb des Dorfes flüchtet, weit weg von allem. Plötzlich ganz allein wird auch Elena das Haus bald zu eng und so schließt sie sich Ignacio, einem mit der Familie befreundeten Arzt, bei einer Tagestour an. Parallel begibt sich Andrés, ein junger Bienenzüchter, mit seinen Geschwistern auf die Suche nach geeigneten Bienenstöckern für die Eröffnung der Ausstellung. Elena und Lucía erleben einen Nachmittag, der ihr Verhältnis zueinander und auch zu sich selbst verändern wird. Der gleichaltrige Andrés hingegen ist bereits seit längerem im sogenannten „Erwachsenenleben“ angekommen und muss Verantwortung für seine kleineren Geschwister und den Broterwerb übernehmen.
Mit Atlántida (Atlantis) ist der argentinischen Regisseurin Inés María Barrionuevo ein Film gelungen, der die Widersprüchlichkeiten des Aufwachsens in einer argentinischen Kleinstadt treffend auf den Punkt bringt. „Alles, was der Film beinhaltet, habe ich aus dem realen Leben kopiert. Es sind Geschichten von Jugendlichen; meine, von Freunden, von meiner Mutter. Die Jugend hat mich immer schon interessiert; eine Etappe, in der noch alles offen ist, weil du noch alle Möglichkeiten des Lebens vor dir und noch keine Entscheidungen getroffen hast. Es ist eine Geschichte der Initiation, in der das Erwachsene fast keine Rolle spielt“, fasste die Regisseurin, die selbst aus Córdoba stammt, zusammen. Alle erzählten Geschichten hängen irgendwie zusammen, jeder kennt eigentlich jeden und alles. Was man tut, wird die ganze Zeit beobachtet und kommentiert. Und während die meisten Jugendlichen ihren Tag im Schwimmbad verbringen und diskutieren, wer wen angeblich geküsst habe, gehören Lucía, Elena und Andrés irgendwie nicht dazu. Auch wenn sie ihre Außenseiterposition gemeinsam haben, trennen die drei doch wesentliche Eigenschaften. Während Elena – durch einen Unfall den gesamten Sommer an ihr Bett gefesselt – es nicht aushält, nicht mehr dazu zu gehören und alle Neuigkeiten nur aus zweiter Hand zu erfahren, hat ihre Schwester Lucía ihre Isolation selbst gewählt. Ihre größte Sorge ist es, bald möglichst den Aufnahmetest für die Universität zu bestehen und der Provinz für immer den Rücken zu kehren. Andrés hingegen ist schon durch seine gesellschaftliche Stellung eine vermeintlich „normale“ Jugend versagt. Während die anderen Jugendlichen in der Sonne liegen, muss er sich mit den Söhnen von Großgrundbesitzer_innen herumschlagen, weil er ein paar Walnüsse von einem Busch gestohlen haben soll. Diese Widersprüche, die wiederholt parallel geschnitten werden, machen den Film so interessant. Die verschiedenen Vorstellungen vom Glück, die alle Protagonisten haben, werden immer wieder – auch beim realen Zusammentreffen – miteinander konfrontiert und stoßen immer wieder mit der Realität zusammen. Was für Elena wie ein gemütlicher Ausflug aufs Land und eine gelungene Abwechslung begann, endet am Sterbebett eines Farmbesitzers. Ob Andrés, der kontinuierlich mit den „anderen“ Jugendlichen und ihrer Parallelwelt konfrontiert wird, es rechtzeitig zur Bienenausstellung schafft, bleibt unklar. Und als Lucía merkt, dass sie nicht so alleine ist, wie sie dachte, nimmt ihr Leben vielleicht eine andere Wendung.
Die Bienen sind es, die den Film zusammenhalten und in langen Einstellungen regelmäßig Szenenübergänge einleiten. Denn im Endeffekt dreht sich an diesem einen Tag in dem Dorf alles nur um die Bienen, ohne Rücksicht auf die kleinen und großen Krisen, die die Jugendlichen durchleben. Und wenn dann endlich der lang erwartete Regen einsetzt und die Dürre beendet, erleben zumindest Elena und Lucía einen Moment der Erleichterung. An dieser Stelle offenbaren sich die Schwächen des Filmes. Auch wenn Atlántida hauptsächlich die Geschichte der beiden Schwestern erzählen will, wird mit Andrés ein interessanter Gegenpol eingeführt, der nicht zu Ende gezeichnet wird. Was aus Andrés wird und ob er seinen Bienenauftrag erfüllen kann, bleibt unklar. Es wirkt, als diene er nur dazu, die Probleme der Schwestern als nicht-existentiell zu entlarven. Dies wird der Figur jedoch nicht gerecht. Während Elena und Lucía als wandelbare Personen dargestellt werden, die im Laufe des Tages eine Entwicklung durchmachen, bleiben alle weiteren Figuren merkwürdig blass und unerklärt. Der Zuschauer neigt daher dazu, zum Beispiel dem Arzt Ignacio Absichten zu unterstellen, die im Film zwar angedeutet, aber weder bestätigt noch entkräftet werden. So lässt der Film viele offene Fragen, die für ein Verständnis der Botschaft jedoch nicht notwendig sind – so wie im Film nicht alles klar und eindeutig ist, so ist auch für die Jugendlichen nicht alles klar und eindeutig.
Ein schöner Film, der seine Kraft aus langen Einstellungen, Detailaufnahmen und dem authentischen Spiel der Darsteller_innen, allesamt auf der Straße gecastete Laienschauspieler, zieht und einen interessanten Einblick in die Gedankenwelt Jugendlicher bietet.

Atlántida // Inés María Barrionuevo (Regie) // Argentinien/Frankreich 2013 // 88 min // Berlinale Generation // empfohlen ab 14 Jahren

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