Lateinamerika | Nummer 595 - Januar 2024

Aufgeschoben oder aufgehoben

Das EU-Mercosur-Handelsabkommen steht wieder in den Sternen

Der deutsche Kanzler Olaf Scholz und der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva wollten bei ihrem Treffen in Berlin das EU-Mercosur-Freihandelsabkommen für das Gipfeltreffen der südamerikanischen Staaten­gemeinschaft am 7. Dezember zur Unterschrif­tsreife bringen. Auch wenn das vorerst gescheitert ist, ist das Abkommen noch nicht vollends vom Tisch. In der Abschlusserklärung der Mercosur-Staaten wurde die Bereitschaft zum Weiterverhandeln ver­kündet. Dennoch gibt es große Fragezeichen, ob und wann das seit 1999 verhandelte Abkommen zu einem Abschluss kommen wird. Widerstände gibt es dies- und jenseits des Atlantischen Ozeans.

Von Elena Dressler
Protest am Kanzleramt EU-Mercosur-Abkommen stoppen (Foto: Uwe Hiksch, Flickr CC BY 2.0 Deed)

Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva konnte seine Frustration kaum verbergen: „Ich habe mit fast allen Präsidenten der EU gesprochen. Ich habe Macron gedrängt, nicht so protektionistisch zu sein, aber es hat nicht funktioniert“, sagte er als Gastgeber in der Eröffnungsrede des Mercosur-Gipfels in Rio de Janeiro am 7. Dezember. „Der Widerstand in Europa ist wirklich stark.“

Der Mercosur – Mercado Común del Sur (gemeinsamer Markt des Südens) – umfasst die Staaten Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay. Seit dem 7. Dezember gehört auch Bolivien als Vollmitglied dem Bündnis an. Es handelt sich um ein regionales Wirtschaftsbündnis, das 1991 gegründet wurde. Derzeit ist die EU der wichtigste Handels- und Investitionspartner des Mercosur. Bereits 1999 nahmen Mercosur und die EU Verhandlungen auf, mit dem Ziel ein Assoziierungsabkommen zu schließen. Das Abkommen sollte drei Kernelemente beinhalten: „Handel”, „Zusammenarbeit” und „politischer Dialog”. Aufgrund der umfangreichen Themen und ihrer Komplexität wurden die Verhandlungen immer wieder unterbrochen und aufgeschoben. Auch die große Zahl der beteiligten Staaten und ihre unterschiedlichen Positionen zu den Kernelementen des Abkommens erschwerten die Verhandlungen.

Nach 20 Jahren konnten der Mercosur und die EU am 28. Juni 2019 endlich eine Einigung in ihrem ersten Vertrag erzielen – jedoch nur bezüglich des Handels. Der von der EU oft als wichtigstes Kernelement bezeichnete „politische Dialog” bleibt somit zumindest vorerst auf der Strecke. Ein Frei­handels­abkommen, welches etwa 800 Millionen Menschen einschließen würde und eines der größten der Welt wäre, war Mitte 2019 in Sicht, lag jedoch seitdem auf Eis. Durch das Freihandels­abkommen sollen rund 90 Prozent aller Zölle zwischen dem Mercosur und der EU wegfallen. Das entspräche etwa vier Milliarden Euro Zollabgaben pro Jahr.

Für Europa ist das Abkommen vor allem deshalb so interessant, weil der Staatenbund darin eine Chance sieht, seine Lieferanten von industriellen Erzeugnissen und von Rohstoffen zu diversifizieren und so seine starke Abhängigkeit von China zu verringern. Gleichzeitig verspricht sich die EU mehr Einfluss auf die Mercosur-Staaten und will so den Einfluss Chinas auf die Region begrenzen oder zumindest eine Alternative anbieten.

Mit dem verkündeten Ziel, einen positiven Einfluss auf die Klimapolitik der Region zu haben, forderte die EU zuletzt strengere Maßnahmen zum Klimaschutz und Sanktionsmöglichkeiten bei der Nichteinhaltung von Klimaschutzregeln. Dafür schlug die EU-Kommission ein Zusatzinstrument zum Abkommen vor, in Form einer Interpretationserklärung. Solche Zusatzerklärungen haben jedoch in der Regel keinen tatsächlichen Einfluss auf die Inhalte des Abkommens. Die grundlegenden Probleme der klima- und umweltschädlichen Praktiken der Mercosur-Staaten würden weiterhin bestehen bleiben. Die Regierungen der Mercosur-Staaten fühlen sich indes durch die geplanten Zusatzerklärungen bevormundet. Sie lehnen zusätzliche EU-Auflagen für Umwelt- und Menschenrechte ab und fordern in den Verhandlungen einen stärkeren Fokus auf die Situation und die Interessen des Mercosur-Bündnisses. Die Länder versprechen sich von der Zusammenarbeit vor allem den Aufbau von wirtschaftsstarken Standorten in Lateinamerika.

Weltweit sprechen sich über 450 Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen sowie Aktivist*innen gegen das Mercosur-EU-Abkommen aus. Der Text repräsentiere eine veraltete Handelspolitik des 20. Jahrhunderts mit neokolonialen Zügen. Kritiker*innen erklären, dass das Abkommen Konzerninteressen in den Vordergrund stelle. Vor allem die soziale Gerechtigkeit, die Wahrung der Demokratie sowie Klima- und Tierschutz würden hinten angestellt. Indigene Gruppen fürchten eine weitere – in Teilen sogar gewaltsame – Einschränkung ihrer Lebensräume. Das autonome Sozialforschungszentrum BASE Investigaciones Sociales (Base Sozialforschungen), mit Sitz in Paraguay, welches sich für den Aufbau einer gerechten und solidarischen Gesellschaft, für die Durchsetzung von Menschenrechten und die Wahrung der Natur einsetzt, schrieb gegenüber Lateinamerika Nachrichten: „Im Falle Paraguays nimmt die Ausdehnung des Rohstoffabbaus von Jahr zu Jahr zu. Mittlerweile werden etwa 95 Prozent der nutzbaren Flächen in Paraguay landwirtschaftlich oder für die Viehzucht genutzt. Die Folgen sind vertriebene Gemeinden, Bauern und Indigene, sowie Todesfälle und Inhaftierungen. Die Agrarexporteure sind diejenigen, die am Verhandlungstisch sitzen. Sie informieren die Öffentlichkeit nicht über die Inhalte und verbergen die Vereinbarungen der Verhandlungen. Wirtschaftsabkommen ohne Bürgerbeteiligung sind ein Affront gegen die Demokratie!”

Auch innerhalb Europas gibt es starke Kritik am geplanten Freihandelsabkommen. Neben Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen spricht sich vor allem die europäische Agrarlobby gegen das Vorhaben aus, da sie einen steigenden Import billiger Konkurrenzprodukte aus Lateinamerika befürchtet, die in Europa zu Dumpingpreisen führen könnten. Darüber hinaus sorgt sich der europäische Verbraucherschutz vor allem vor Produkten, die nicht den europäischen Sicherheits- oder Qualitätsstandards genügen.

Für das Abkommen setzten sich zahlreiche europäische Regierungen sowie zuletzt die liberal-konservativen Regierungen Uruguays und die brasilianische Regierung unter Lula ein. Nachdem sich Paraguay viele Jahre positiv zu dem Abkommen positioniert hatte, teilte der neue Präsident, Santiago Peña Ende September mit, dass er die Verhandlungen abbrechen werde, wenn die Parteien sich nicht bis Jahresende einigten. Peña kündigte an, dass er sich dann lieber Abkommen mit anderen Staaten widmen werde, die weniger kompliziert erschienen. Er übernahm beim Gipfel Anfang Dezember turnusmäßig die Präsidentschaft des Mercosur von Lula. Darüber hinaus hatte der im November gewählte argentinische Präsident Javier Milei die Mercosur-Gemeinschaft für überflüssig erklärt und den Austritt Argentiniens angekündigt. Andererseits ist der ultrarechte Milei ein großer Verfechter des Freihandels. Bisweilen bleibt unklar, wie es mit dem Mercosur weitergeht, wenn Milei am 10. Dezember die Präsidentschaft in Argentinien übernimmt. Dass der Gipfel in Rio de Janeiro nicht als das Datum in die Geschichte eingeht, an dem das Mercosur-EU-Abkommen begraben wurde, zeigt die Abschlusserklärung: „Die Verhandlungen werden mit dem Ziel fortgesetzt, den Prozess abzuschließen und eine Vereinbarung zu erzielen, die für beide Regionen von Vorteil ist und den Anforderungen und Bestrebungen ihrer jeweiligen Gesellschaften entspricht.“ Papier ist bekanntlich geduldig und verhandelt wird schon seit 1999 mit exakt dem Ziel dieser Abschlusserklärung.

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