Linke in Lateinamerika | Nummer 325/326 - Juli/August 2001

„Das Wahlsystem ist undemokratisch“

Interview mit Antonio Vargas, Präsident der Dachorganisation der indigenen Völker Ecuadors (CONAIE), und Mario Bustos, Pressesprecher der CONAIE

Indigene und soziale Organisationen blockierten Anfang des Jahres aus Protest gegen eine von der Regierung diktierte Erhöhung der Gas- und Benzinpreise zwei Wochen lang wichtige Verkehrsadern in Ecuador. Als treibende Kraft der Protestbewegung, die im letzten Jahr sogar den amtierenden Präsidenten Jamil Mahuad stürzte, erwies sich erneut die CONAIE.
Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit dem Präsidenten und dem Pressesprecher der CONAIE über das politische Konzept der Organisation und die Perspektiven des Kampfes.

Rolf Schröder

Auf Initiative der CONAIE wurden 1998 soziale und sogar ökologische Rechte in die ecuadorianische Verfassung aufgenommen. Die CONAIE setzte sich aber nicht damit durch, Ecuador verfassungsrechtlich zu einem plurinationalen Staat zu erklären. Was ist darunter zu verstehen?

Vargas: In Ecuador gibt es zwölf verschiedene Nationalitäten mit verschiedenen Sprachen, Identitäten und Territorien, die respektiert werden müssen. Sie haben das Recht, den ecuadorianischen Staat politisch und ökonomisch mit zu verwalten. Deswegen haben wir auf kollektive Rechte der indigenen Völker in der Verfassung bestanden. Die stehen aber vorerst nur auf dem Papier. Einige Beispiele: In den Urwaldregionen des Landes wird Öl gefördert, ohne die dort lebenden Völker zu fragen. In der Verfassung ist das Recht auf eine bilinguale Erziehung verankert, doch der Staat stellt keine Mittel dafür zur Verfügung. Ein großer Teil der öffentlichen Mittel wird zur Zahlung der Auslandsschulden verwendet, jedoch nicht für die Lösung sozialer Probleme.
Bustos: Die neue Verfassung ist die Frucht verschiedener Erhebungen in den letzten zehn Jahren gegen soziale Ungerechtigkeit und korrupte Regierungen. Bevor 1998 die Verfassungsgebende Versammlung zusammentrat, haben wir die Regierung des damaligen Präsidenten Abdalá Bucarám gestürzt. Bis heute profitiert nur ein kleiner Sektor von der Regierungspolitik, in erster Linie die Banken und die Exportwirtschaft. Unser Ziel bleibt daher die verfassungsmäßige Verankerung eines plurinationalen Staates, in dem für eine solche Politik kein Spielraum mehr bleibt.

Die CONAIE lehnt das bestehende System einer parlamentarischen Demokratie ab. Warum?

Bustos: Für uns sind die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen undemokratisch. An die Macht gelangen diejenigen, die von großen Unternehmen unterstützt werden. Die im letzten Jahr gestürzte Regierung Jamil Mahuad erhielt im Wahlkampf 1998 drei Millionen US-Dollar Unterstützung von den Banken. Was kann man von so einer Regierung erwarten? Mahuad unterstützte den Bankensektor politisch und ökonomisch. Er sanierte die Banken mit dem Geld der Armen. Im Wahlkampf kaufen die Parteien das Bewusstsein der Wähler. Mit Getränken, Lebensmitteln, T-Shirts oder anderen nützlichen Dingen. Wirtschaftliche Machtgruppen kaufen die Stimmen. Wir wollen eine direkte Repräsentation der Bevölkerung im Parlament. Die Wahlregeln müssen geändert werden. Alle Sektoren müssen den gleichen Zugang zu den Medien haben und über den gleichen Wahletat verfügen. Gewählte Abgeordnete müssen kontrolliert werden, damit sie ihre Versprechen einhalten.

Herr Vargas, Sie sind nicht nur Präsident der CONAIE, sondern auch Präsident eines Parlaments der Völker Ecuadors. Soll dieses einmal den Kongress ersetzen?

Vargas: Dieses Parlament wurde im Dezember 1999 ins Leben gerufen. Zunächst wollten wir ein Parlament der indigenen Völker schaffen. Dann kamen verschiedene Sektoren der ecuadorianischen Gesellschaft hinzu. Die Aufgabe dieser neuen Institution ist es, für ein neues Ecuador zu kämpfen. Beim Aufstand im Januar 2000 bestand es seine Feuerprobe: Es entschied, den Kongress zu besetzen und nach dem Sturz des Präsidenten Mahuad ein Triumvirat zu bilden. (Diesem Triumvirat, das für zwei Stunden die Macht ausübte, gehörte auch Antonio Vargas an; Anm. d. Red.) Auch im Januar 2001 entschied dieses Parlament, den Aufstand auszurufen. Neben dem Parlament der Völker Ecuadors haben sich regionale Parlamente konstituiert. Deren Abgeordnete werden von verschiedenen Basisorganisationen gewählt. Jedes regionale Parlament schickt sechs Vertreter in das nationale Parlament der Völker. Jeweils drei gehören davon indigenen und sozialen Organisationen an. Dazu entsenden einige nationale Organisationen wie die CONAIE Abgeordnete ins nationale Parlament. Bislang gibt es natürlich noch keine Gesetzesgrundlage für dieses Parlament der Völker. Wir sind dabei, die Effizienz dieses Parlamentes zu verbessern und lernen aus Fehlern. In Zukunft soll dieses Parlament einmal den jetzigen Kongress ersetzen.

Die CONAIE setzt sich für eine partizipative Demokratie ein. Was ist darunter zu verstehen und welche Rolle spielen die regionalen Parlamente und das Parlament der Völker dabei?

Bustos: Ein Bürgermeister oder ein Präsident hat der Bevölkerung zu dienen und nicht partikulare Interessen wahrzunehmen oder gar eigene Unternehmen zu bedienen. Nur die Bevölkerung darf bestimmen, was zu tun ist: Zum Beispiel, ob in einer Gemeinde zuerst die Trinkwasserversorgung sichergestellt oder ein neuer Fußballplatz gebaut wird. Wir haben dieses Prinzip bereits in mehreren Gemeinden umgesetzt. Denn die indigene Bewegung hat eine politische Partei mit dem Namen Pachakutik gegründet, die bereits in 26 Gemeinden den Bürgermeister stellt. Dort versuchen wir, kollektive Praktiken in die Verwaltungsarbeit zu integrieren. Für die regionalen Parlamente gelten die gleichen Prinzipien. Beispielsweise entschieden einige dieser Parlamente, auf verschiedenen Märkten das Tauschprinzip, den trueque, wieder einzuführen, das traditionell von vielen indigenen Völkern praktiziert wurde. Das bedeutet, dass zum Beispiel Mais gegen Früchte aus dem Tiefland wie zum Beispiel Bananen getauscht wird. Dies ist eine Absicherung gegen Geldentwertung und Inflation.

Wird Pachakutik bei den Wahlen im Januar 2003 einen eigenen Kandidaten oder eine eigene Kandidatin stellen?

Vargas: Das ist noch nicht entschieden. Wir legen vorerst größeres Gewicht auf kommunale oder regionale Politik. Auf jeden Fall hat es sich als Fehler erwiesen, einen Kandidaten einer anderen Partei oder Gruppierung zu unterstützen.
Bustos: Eine Kandidatur bei Wahlen ist nicht das Wichtigste für uns. Größeres Gewicht haben soziale Mobilisierungen. Pachakutik kann mit 8 von 125 Abgeordneten vorerst nicht viel im Kongress ausrichten. Im obersten Gerichtshof haben wir überhaupt keine Vertreter. Diejenigen, die Gesetze machen oder Recht sprechen, sind bislang immer dieselben: jene, die permanent Menschenrechte verletzen. Wir wollen eine legale und friedliche Veränderung der bestehenden Verhältnisse und keinen bewaffneten Kampf, auch wenn dieser in unseren Nachbarländern Kolumbien und Peru vielleicht gerechtfertigt war. Wir organisieren Blockaden und friedliche Aktionen und waren niemals für Tote verantwortlich. Aber wir haben Tote zu beklagen. Die Gewalt geht vom Staate aus, von der Armee, der Polizei und Paramilitärs. Wir setzen dieser Gewalt unsere Prinzipien und unser Recht auf Selbstverteidigung entgegen.

Wie ist die Beteiligung der Frauen in der indigenen Bewegung oder in den Volksparlamenten?

Vargas: Bisher gibt es nur bei den Massenmobilisierungen eine große Beteiligung von Frauen. Jedes Volk hat seine eigene Kultur und Identität, das ist das Problem. In der Quechua-Kultur des Hochlandes wächst die Beteiligung der Frauen, in anderen Kulturen sind weiterhin Männer dominant. Die Delegierten des Parlaments der Völker sollen zur Hälfte aus Frauen bestehen, doch das ist ein Anspruch, der bislang noch nicht eingelöst wurde.

Versteht die CONAIE sich als eine linke Organisation?

Vargas: Wir haben eine viel weitere Vision. Die Linke hat ihre eigene Strategie. Die indigene Bewegung integrierte sich in der Linken, aber die Linke wollte die Probleme der indigenen Völker nicht verstehen. Die Linke denkt, wir wären alle Bauern, aber wir sind keine Bauern. Wir sind verschiedene Völker mit jeweils eigener Identität und eigenen Wurzeln. Die Linke ist gescheitert, wir gehen unseren eigenen Weg.

Das Interview führte Rolf Schröder im Februar 2001 in Quito

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