Der Kolonist von nebenan
Brasilianische Agrarunternehmer_innen investieren auch außerhalb des eigenen Landes
„Gilson Pinesso zeigt denselben Pioniergeist wie einst sein Vater!“, schrieb die brasilianische Zeitung Estado de São Paulo im August 2010. Pinessos Vater zog in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts vom südlichen Bundesstaat Paraná in den Westen Brasiliens, nach Mato Grosso, um dort Landwirtschaft im großen Stil zu betreiben. Nun sucht der Sohn neue Investitionsmöglichkeiten für seinen großen Landwirtschaftsbetrieb – und findet sie jenseits der brasilianischen Grenze, ja, sogar jenseits des Kontinents.
Pinesso hat 2010 einen Pachtvertrag über 10.000 Hektar mit der sudanesischen Regierung abgeschlossen. Im ersten Jahr kultivierte er auf 500 Hektar Baumwolle, in diesem Jahr sollen die restlichen Flächen mit Soja bebaut werden. Verkauft wird auf dem Weltmarkt, Nahrungsmittel für die Bevölkerung der Region produziert Pinesso nicht. Vorteile für sein Geschäft erreicht er vor allem durch eine gute Straßenanbindung und den günstigen Bodenpreis im Sudan. 50 US-Dollar pro Hektar pro Jahr muss er zahlen. „Das ist sehr wenig für die Qualität des Bodens“, sagte er der Estado de São Paulo. Zudem müsse er deutlich weniger Insektizide verwenden, als er es von Brasilien gewohnt sei. Er denke bereits über weitere Investitionen in Äthiopien und Uganda nach. „Brasilianer werden die Region wirtschaftlich entwickeln!“, prophezeit er, und die Estado de São Paulo begrüßt diese Entwicklung.
Unternehmer_innen wie Gilson Pinesso sind kein Einzelfall. Brasilien ist eben nicht nur ein Land, das Agrarinvestoren anzieht, viele kommen auch von dort. Zahlreiche Agrarunternehmer_innen in Brasilien sind zu erheblichem Wohlstand gekommen. Die zweite Generation der Agrarbourgeoisie drängt nun auf den weltweiten Agrarmarkt, sie hält Ausschau nach neuen Geschäftsfeldern, auch jenseits der Grenze des Nationalstaats. Nach Afrika drängt es wie Gilson Pinesso bisher aber nur relativ wenige brasilianische Großfarmer_innen – insofern ist er eher die Ausnahme. Aber in der unmittelbaren Nachbarschaft des größten südamerikanischen Landes sind die brasilianischen Geschäftsleute mittlerweile ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.
Im kleinen Nachbarland Paraguay etwa werden auf drei Millionen Hektar Soja angebaut, 60 Prozent dieser Fläche gehört Brasilianer_innen. Allein von Januar bis Juni dieses Jahres wurden hier 100.000 Hektar an ausländische Investoren verkauft, meistens an Unternehmer_innen aus dem großen Nachbarland. Dieser Trend existiert bereits seit Jahren, die sogenannten brasiguayos sind wirtschaftlich sehr einflussreich. Insbesondere in den wenig besiedelten Westen des Landes drängen die Unternehmer_innen, angezogen vom niedrigen Bodenpreis, erklärte Rodrigo Artagaveytia von der Landwirtschaftlichen Studiengruppe Estudio 3000 in einer Untersuchung. Früher galt der Westen des Landes als zu trocken und abgelegen, um dort erfolgreich zu wirtschaften, doch verbesserte Verkehrsanbindungen und Produktiosmethoden machen diese Region zunehmend interessant. Der Bodenpreis ist hingegen weiterhin sehr niedrig: Im Gegensatz zu Uruguay, wo der Preis pro Hektar bei über 2.000 US-Dollar liegt, sei das Land im westlichen Paraguay mit 120 bis 180 US-Dollar pro Hektar unschlagbar billig.
Insgesamt haben die Investoren aus Brasilien dennoch einen guten Ruf in Paraguay. Die meisten Paraguayer_innen schätzen Brasilien und die Brasilianer_innen, da sie Entwicklung und Investitionen in das Land brächten. Doch es gibt auch Kritiker_innen, die eine Gefahr für die nationale Souveränität befürchten. Das brasilianische Außenministerium Itamaraty – dessen Stimme traditionell viel Gewicht in Paraguay hat – übt gerne auch mal Druck auf die Gerichte des Nachbarlandes aus, um juristische Entscheidungen zugunsten brasilianischer Agrarunternehmen zu beeinflussen. Das Bündnis „Front für die Souveränität und das Leben“, das verschiedene Organisationen von Kleinbäuerinnen und -bauern vereint, sieht gar eine schleichende Kolonisierung des Landes durch brasilianische Unternehmer_innen voranschreiten.
In Bolivien will die Regierung den ausländischen Investitionen einen Riegel vorschieben. Auch hier sind es vor allem Brasilianer_innen, die am Agrargeschäft beteiligt sind. Im März dieses Jahres kündigte die Regierung Evo Morales medienwirksam an, in Zukunft eine Million Hektar Land, das sich in den Händen von Ausländer_innen befinde, enteignen zu wollen. Der Vizeminister für Landfragen, José Manuel Pinto, erklärte, dass viele Unternehmer_innen das Land illegal erworben hätten. Nur diese wolle man enteignen. „Wir sind nicht gegen Ausländer in Bolivien. Aber sie sollen sich an unsere Gesetze und Normen halten“, erklärte er. Wie und wann genau dies geschehen soll, ist aber bis heute ungeklärt.
Vor allem mexikanische Mennonit_innen und Brasilianer_innen hätten in Bolivien illegal Land erworben, erklärte Vizeminister Pinto. Nach einer Studie der bolivianischen Stiftung Tierra haben ausländische Investoren in den letzten Jahren über eine Million Hektar Land in Bolivien erworben. Etwa 700.000 Hektar davon gingen auf das Konto brasilianischer Unternehmer_innen.
Nach Informationen der bolivianischen Umweltorganisation PROBIOMA werden auf diesen Flächen vor allem Baumwolle und Soja angebaut. Dabei komme auch transgenes Saatgut zum Einsatz, welches eigentlich seit 2006 verboten ist. „Doch daran wird nichts geändert, denn es gibt praktisch keine Kontrolle der industriellen Landwirtschaft im Osten Boliviens“, heißt es im Bericht.
Nach Bolivien angezogen werden die brasilianischen Unternehmer_innen weniger von den guten Produktionsbedingungen. Die Erträge liegen mit 2,5 Tonnen pro Hektar deutlich niedriger als in Brasilien, wo über vier Tonnen pro Hektar erwirtschaftet werden. Vielmehr ist es der bis zu 50 Prozent billigere Diesel, der in der industriellen Landwirtschaft in großen Mengen benötigt wird, der Bolivien als Investitionsland attraktiv macht. Der bolivianische Staat subventioniert großzügig den Treibstoff und lockt so ausländische Investoren ins Land.
Von den ausländischen Unternehmer_innen gehe vor allem eine Gefahr für die Ernährungssouveränität des Landes aus, sagen Kritiker_innen wie Miguel Urioste. Der Gründer und Forscher von Tierra erklärte der Presse, dass diese Unternehmer_innen für den Export produzierten, anstatt Nahrung für die Bevölkerung. Unter der Regierung Morales hätte sich daran nichts geändert: „Der Staat schützt weiterhin die industrielle Landwirtschaft, obwohl es komplett gegen den Diskurs der Regierung geht“, erklärt er. Die Regierung bejahe öffentlich die Erhaltung der Ernährungssouveränität und verdamme die industrielle Landwirtschaft, konkret geschehe aber wenig. Dies liegt wohl nicht zuletzt an dem Einfluss des mächtigen Nachbarlandes. Ginge die Regierung entschlossener gegen die industrielle Landwirtschaft vor, wären zahlreiche brasilianische Unternehmen betroffen, was das Itamaraty auf den Plan riefe. So wird die Ernährungssouveränität Boliviens durch das Nachbarland direkt gefährdet.
Auch die Natur wird durch den Boom der industriellen Landwirtschaft zerstört. Der zentrale Chaco, die savannenartigen Ebene im Grenzgebiet zwischen Bolivien und Paraguay, wird derzeit komplett umgewandelt. Von 1932 bis 1935 führten Bolivien und Paraguay dort den blutigsten zwischenstaatlichen Krieg des 20. Jahrhunderts in Südamerika, doch in den Jahrzehnten danach passierte wenig mit dem so begehrten Land. Als zu kostenintensiv galt die Landwirtschaft im trockenen Chaco, nur einige mennonitische Siedler_innen pflanzten erfolgreich Baumwolle oder züchteten Rinder. Doch wo früher dichte Dornenwälder standen, erstrecken sich heute oft riesige Weideflächen.
Protagonist_innen dieser Verwandlung des Chaco sind neben den Mennonit_innen wieder einmal brasilianische Unternehmer_innen. Vor allem Viehwirtschaft sowie der Anbau von Baumwolle und Sesam rentieren sich im sehr trockenen Chaco. Durch neue Technologien und den Einsatz gentechnisch veränderten Saatguts wird der Chaco nun kapitalistisch in Wert gesetzt. Der Landwirtschaftsboom im zentralen Südamerika gefährdet nicht nur das fragile Ökosytem des Chaco. Auch die indigenen Ethnien sehen sich zunehmend von den Soja- und Baumwollplantagen bedroht. Die Ayoreo des nördlichen Chaco zum Beispiel leben bis heute weitgehend ohne Kontakt zu der weltweit verflochtenen Gesellschaft. Aus diesem Grund haben sie meist auch keine offiziellen Besitztitel für das Land, das sie seit Generationen bewohnen. Durch den Druck des Landwirtschaftsbooms sind viele Ayoreo gezwungen, ihre selbstgewählte Isolation aufzugeben. Eine Interessenvertretung der Indigenen reichte nun eine Beschwerde bei den Vereinten Nationen ein. In dem Schreiben beklagen sie die Zerstörung ihres Landes durch brasilianische Unternehmen.
Gerade Brasilianer_innen gehören zur Avantgarde des Land Grabbings, weil sie bereits Generationen übergreifende Erfahrungen mit der industriellen Landwirtschaft gemacht haben. Der Boom der industriellen Landwirtschaft in Brasilien setzte bereits in den 1960er Jahren ein. Mit großzügiger Unterstützung der damaligen Militärregierungen siedelten viele Landwirte aus den Bevölkerungszentren des Südens und Südostens in den kaum wirtschaftlich integrierten Westen des Landes, um Soja, Baumwolle und Getreide im großen Maßstab zu produzieren. Die „grüne Revolution“ nannte man damals dieses neue, auf den Export orientierte Entwicklungsmodell. Für die brasilianische Volkswirtschaft ergaben sich dadurch enorme Einnahmen, und viele Unternehmer_innen sind am Geschäft steinreich geworden. Die Schattenseiten waren Umweltzerstörung und Vertreibung der lokalen Bevölkerung, auch der indigenen Ethnien.
Die damaligen Konflikte ähneln den heutigen dabei frappant. So ist es keineswegs abwegig, wenn die Zeitung Estado de São Paulo den „Pioniergeist“ des Vaters in Gilson Pinesso, dem Großfarmer, der im Sudan investiert, weiterleben sieht. Er bringt das brasilianische Entwicklungsmodell nun auf einen anderen Kontinent. Der Estado de São Paulo begrüßt diese Entwicklung, obwohl die Gefahren für die Ernährungssouveränität und auch -sicherheit durch dieses Agrarmodell, das nur auf Export orientiert ist, gerade in Ostafrika augenscheinlich sind. Wenige hundert Kilometer von Pinessos Farmen entfernt, am Horn von Afrika, verhungern derzeit tausende Menschen.