,,Der Prozess von unten hat schon begonnen”
Die Linke Politikerin Verónika Mendoza sieht Lösung in neuer Verfassung
Am 17. und 18. Juli findet in Brüssel der EU-Lateinamerika-Gipfel statt. Alles spricht dafür, dass Perus Präsidentin Dina Boluarte trotz ihrer repressiven Politik gegen zivile Proteste dort empfangen wird. Wie stehen Sie dazu?
Es ist nicht akzeptabel, dass die Regierungschefin Boluarte in Europa hofiert wird. Die Regierung von Boluarte ist eine autoritäre, konservative und mafiöse Koalition, in der die Ultrarechte führend ist. Sie haben die herrschenden Medien, die wirtschaftliche Macht und das Militär sowie die Polizei unter ihrer Kontrolle. Boluarte ist nicht mehr als die Maske dieser Regierung. Diese rechte Koalition ist nicht nur für 68 Tote bei Protesten verantwortlich – 49 davon sind laut Amnesty International von Sicherheitskräften vorsätzlich erschossen worden. Sie ist dabei, die Institutionen zu zerstören. Die regierende Koalition hat mit Personalbesetzungen das Verfassungsgericht übernommen, sie haben die nationale Ombudsstelle besetzt. Jetzt versuchen sie, zusätzlich die Institutionen des Wahlsystems zu übernehmen, um die folgenden Wahlen kontrollieren zu können. Diese heftigen Angriffe auf die demokratischen Strukturen erfordern eine energische Antwort der Demokratien aus Europa. Es darf nicht sein, dass Boluarte kommt und kein Wort über die Menschenrechtsverletzungen der peruanischen Regierung verloren wird.
Worin sehen Sie einen Ausweg aus der tiefen Krise in Peru? In einer neuen Verfassung? In vorgezogenen Wahlen?
Die Verteidigung juristischer Gerechtigkeit ist das Erste. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission plant eine internationale Expertengruppe einzusetzen, welche die peruanische Justiz begleitet und dafür sorgt, dass die Ermittlungen vorankommen und es Gerechtigkeit gibt. Das Zweite ist, dass 80 Prozent der Bevölkerung sich für vorgezogene Neuwahlen aussprechen und dass die Regierung Boluarte und der Kongress abtreten. Aber der Bevölkerung ist auch klar, dass ein Regierungswechsel nicht ausreicht. In den vergangenen sechs Jahren hatte Peru sechs Präsidenten. Das ist ein schlagender Beweis dafür, dass der Wechsel der Figuren nicht reicht, wir bedürfen eines grundlegenden Wandels. Und deswegen fordern 70 Prozent der peruanischen Bevölkerung eine neue Verfassung sowie eine verfassungsgebende Versammlung. Der erste Schritt zur Lösung der Krise müsste ein Plebiszit dazu sein, ob die Bevölkerung eine neue Verfassung will oder nicht. Die Antwort dürfte angesichts der Umfragen klar ausfallen und danach müsste eine verfassungsgebende Versammlung einberufen werden. Es ist klar, dass dieser Prozess seine Zeit brauchen wird, weil er durch die Institutionen geht. Aber er hat von unten schon begonnen. Die Peruaner und Peruanerinnen diskutieren schon auf den Straßen und in den Stadtvierteln über die Notwendigkeit einer neuen Verfassung und was sie bräuchte: neue, faire Spielregeln und neue Werte. Die Rückeroberung der Souveränität über die eigenen Territoriens und die Rohstoffe, dazu Bildung, Gesundheit und Wohnen als Rechte und nicht als dem Markt unterworfenes Geschäftsmodell. Diese Rechte müssen für alle gelten, ob Stadt- oder Landbewohner, ob Quechua, Aymara oder Asháninka, einfach für alle. Der Prozess einer neuen Verfassung ist von unten bereits im Gang. Und es ist wichtig, dass er von Menschen in Europa unterstützt und begleitet wird.
Auch der gestürzte Präsident Pedro Castillo sprach sich für eine neue Verfassung aus. Hatte das die Unterstützung ihrer linken Partei Nuevo Perú?
Im Grundsatz ja, im Ansatz nein. Castillos Fehler in Bezug auf den Verfassungsprozess war, ihn von oben zu denken. Ein solcher Prozess muss von der Basis ausgehen, nicht von der Regierung oder dem Präsidenten. Eine neue Verfassung muss in einen neuen sozialen Pakt münden, der zuvor über den Dialog und die Mobilisierung der Bevölkerung ausgehandelt wurde. Wir wollen keine neue Verfassung à la 1993, die von der Elite hinter dem Rücken der Bevölkerung geschrieben wurde. Als wir von Nuevo Perú 2016 im Wahlkampf das Vorhaben einer neuen Verfassung forderten, gab es eine Unterstützung von zehn Prozent in der Bevölkerung. Wir wiederholten die Forderung im Wahlkampf 2021 und inzwischen sind es 70 Prozent, die dieser Idee zustimmen. Die politischen und sozialen Bedingungen für einen solchen Prozess sind also inzwischen gegeben, aber er muss von unten vorangetrieben werden. Es geht nicht über ein Gesetz im Kongress, es muss einen Dialog geben, der alle einbezieht. Nuevo Perú arbeitet genau daran, einen solchen Dialog von unten voranzutreiben. Und dabei geht es auch um grundlegende Themen: Was tun wir gegen den Klimawandel? Machen wir weiter mit der Übernutzung von Flüssen, Bergen, Wäldern und Böden oder beginnen wir damit, sie zu bewahren? Was unternehmen wir gegen den Vormarsch der Ultrarechten? Verstärken wir die Ängste der Menschen und die Spaltung der Gesellschaft weiter oder suchen wir nach Brücken, die die Menschen verbinden? Das muss global diskutiert werden.
Kann Peru seine Krise alleine lösen oder braucht es Einflussnahme von außen?
Im Moment ist es entscheidend, dass die internationale Gemeinschaft darauf schaut, was in Peru passiert. In Peru ist eine Regierung im Amt, die der Tod von 68 Menschen bei Protesten nicht kümmert. Es gab vorsätzliche, geplante Tötungen. Das ging weit über das gewaltsame Eindämmen von Demonstrationen hinaus, wie es in Peru üblich ist. Das sage nicht nur ich, das sagen die Interamerikanische Menschenrechtskommission, Amnesty International und andere Organisationen. Sie haben sich Videos angeschaut, Experteneinschätzungen eingeholt, Augenzeugen befragt und alles analysiert. Es wurde bestätigt, dass mit Vorsatz getötet wurde. Wir fordern von der Internationalen Gemeinschaft, dass sie die peruanische Regierung dazu bewegt, diese Gewalt und das Töten von Menschen zu beenden. Und dass sie darauf drängt, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Das ist das Erste. Das Zweite ist, dass sie die Regierung zu einem demokratischen Ausweg aus der Krise bewegt, über Abstimmungen, nicht über Kugeln.
Aber von den USA und der EU gibt es bisher wenig Kritik an der Regierung Boluarte, oder?
Nein, Besorgnis über die Gewalt, Besorgnis um die Demokratie, Besorgnis um die Menschenrechte. All diese Verlautbarungen begrüßen wir. Aber das ist ungenügend. Wir erwarten eine klare Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen durch die Regierung Boluarte, so wie die Interamerikanische Menschenrechtskommission sie vorgenommen hat. Diese hat klar festgestellt, dass es Massaker in Peru gab, dass es außergerichtliche Tötungen gab. Von den USA und der EU vermissen wir so klare Aussagen.
Verónika Mendoza ist Mitglied der linken Partei Nuevo Perú (Neues Peru) und zweimalige Präsidentschaftskandidatin der Linkskoalitionen Frente Amplio (2016) und Juntos por el Perú (2021). In der Stichwahl 2021 rief sie zur Unterstützung von Pedro Castillo auf, der am 7. Dezember 2022 gestürzt wurde und seitdem inhaftiert ist. Von 2011 bis 2016 vertrat Mendoza ihre Heimatregion Cusco im Kongress.
Foto: Frederic Schnatterer