Nummer 342 - Dezember 2002 | Venezuela

Dialog predigen, Gewalt dulden

Der Rückhalt für Hugo Chávez schwindet

Venezuelas Regierung und eine Delegation der Opposition haben sich zu einem „Verhandlungs- und Abkommenstisch“ zusammengefunden, der von OAS-Generalsekretär César Gaviria ins Leben gerufen wurde. Parallel dazu setzen radikale Chavistas und reaktionäre Militärs weiter auf Konfrontation. Hugo Chávez erstarrt in Ambivalenz – und beschwört dadurch seinen eigenen Abgang herauf.

Gerhard Dilger

“Wir begrüßen den Dialog,” sagt Antonio González von der Menschenrechtsorganisiation Provea und fügt im gleichen Atemzug hinzu: „Es bleibt abzuwarten, ob wirklich ein politischer Wille zur Verständigung da ist.“ Seit dem 8. November treffen sich je sechs hochrangige VertreterInnen der Regierung und des Oppositionsbündnisses „Demokratische Koordination“ fünf Mal pro Woche zum Meinungsaustausch. Von „Verhandlungen“ oder gar „Abkommen“, die der auf Betreiben von OAS-Generalsekretär César Gaviria installierte Tisch offiziell anstrebt, kann bisher noch nicht die Rede sein.
So wird González’ Skepsis von den allermeisten VenezolanerInnen geteilt. Nach einer Woche weigerte sich die Oppositionsdelegation sogar, eine von Gaviria vorgeschlagene gemeinsame Erklärung zur Verurteilung der Gewalt zu unterzeichen – mit dem Hinweis auf das „Doppelspiel“ der Regierung. In der Tat haben die Chavistas außer warmen Worten wenig anzubieten. Bezeichnend ist die Äußerung von Erziehungsminister Aristóbulo Istúriz, man werde „nicht unter Druck verhandeln.“
Der Druck nämlich und die Polarisierung der Gesellschaft wachsen von Woche zu Woche an – unter aktiver Beteiligung von Regierung und Opposition. Seit Mitte Oktober demonstrieren „aufständische“ Offiziere auf der Plaza Francia im Nobelviertel Altamira. Die „Demokratische Koordination“ unterstützt sie dabei. Das Paradoxe dabei: Das politische Engagement von Militärs ist durch einige Artikel der im Jahr 2000 verabschiedeten Verfassung gedeckt, die Chávez gegen die Kritik von Menschenrechtsorganisationen durchgesetzt hatte.
Es vergeht keine Woche, in der nicht die Stoßtrupps der „bolivarianischen Revolution“ stundenlange Straßenschlachten mit blutigem Ausgang provozieren. Etwa Anfang November, als oppositionelle DemonstrantInnen kistenweise Unterschriftenlisten zur Einberufung einer – unverbindlichen – Volksabstimmung über Neuwahlen zur Obersten Wahlbehörde schleppten. Oder als Bürgermeister Alfredo Peña in seinem belagerten Amtssitz an der Plaza Bolívar eine Gruppe rechter Politiker empfing – bei der anschließenden Randale wurden zwei Männer erschossen, ein junger Chavista und ein Straßenverkäufer.

Die Unkontrollierbare

Die prominenteste Straßenkämpferin ist die 42-jährige „Comandante“ Lina Ron. Unweit der Plaza Bolívar hat die Wortführerin der radikalen Chavistas in einem alten Gewölbe das Hauptquartier ihrer „Venezolanischen Volkseinheit“ (UPV) eingerichtet. Jeden Nachmittag steht sie den „Deklassierten, Hemdlosen, Unorganisierten“ zur Verfügung, „dem Mob oder dem Lumpenproletariat”, wie Bürgermeister Peña sagt. Mit Jeansjacke, roter Baseballmütze und ihren hellblond gefärbten Fransenhaaren sieht sie aus wie eine moderne Version der Sansculottes, der radikalen Volksbewegung der Französischen Revolution.
Dazu passt auch ihre Rhetorik. Mit der Chávez-Partei „Bewegung Fünfte Republik“ (MVR) gebe es „keine programmatischen Differenzen“, doch eine kleine Gruppe habe die Partei „entführt“. „Die Altlinken sind hinter dem Mond. Ich habe gewisse Vorbehalte gegen den ‘soften’ Chavismus,“ bekennt die Kettenraucherin und erklärt ohne Umschweife, was sie damit meint: „Wir müssen die Blockade aufbrechen, bis zum Schachmatt. Wir müssen die Regierung, die Justiz säubern. Wir sind die radikaleren Revolutionäre. Wir sind nicht bereit, über unsere moralischen Prinzipien zu verhandeln, mit der sozialdemokratischen Acción Democrática oder der neuen Rechtspartei Primero Justicia darf es keinerlei Verhandlungen geben – wenn sie friedlich werden, dann werden wir auch friedlich, aber nicht vorher. Niemand hat das Recht oder die moralische Autorität, um zu sagen, ‘seid nicht gewalttätig, wir müssen die Gewaltbereiten isolieren.’ Mit Verlaub, wer wendet hier Gewalt an?“
„An unserem Weg ist nicht zu rütteln. Hier kommt es täglich zu Scharmützeln, Gewalt, Konfrontationen, über die ihr Journalisten nicht berichtet. Der historische Moment wird kommen, dass diese Scharmützel an verschiedenen Stellen gleichzeitig ausbrechen… Wir sind völlig unbewaffnet, aber irgendwann wird sich das ändern. Es ist unmöglich, mit Blumen auf Schüsse zu antworten – wenn uns keine andere Wahl bleibt, bin ich für das Recht auf bewaffneten Kampf.“ Der Präsident sei sicher nicht mit all dem einverstanden, „aber ich bin frei wie der Wind, wie ein wildes Fohlen, ich habe auch kein öffentliches Amt, das mich einschränkt.“. Sie beschließt ihre Stellungnahme mit den Worten: „Wir müssen mit der Oligarchie brechen, es gibt keinen Wandel ohne Gewalt, das weißt du.“ Und Hugo Chávez? „Lina Ron ist unkontrollierbar,“ ließ er nach den Attacken auf die UnterschriftensammlerInnen verlauten.

Aló Presidente

Das provisorische Studio für die sonntägliche Chávez-Show „Aló Presidente“ ist diesmal auf einem Hügel vor der Provinzhauptstadt Maracay aufgebaut. Hinter dem Schreibtisch, an dem ein sichtlich angespannter Chávez Platz nimmt, liegt eine Siedlung von Sozialwohnungen, die als Beispiel für die „bescheidenen Früchte der Revolution“ herhalten. Dem gleichen Zweck dienen die sorgfältig vorbereiteten Statements der anwesenden Minister und die zwischendurch eingeblendeten Regierungsvideos: Sie drehen sich um Investitionen in der Schuh- und Textilbranche, um den Bau von Straßen, Eisenbahnlinien und Wasserkraftwerken, Projekten, durch die über eine Million Arbeitsplätze geschaffen worden seien. Die zugeschalteten AnruferInnen fungieren als Stichwortgeber für Chávez.
Tausende sind herbeigeströmt. Hausfrauen und ArbeiterInnen aus der örtlichen Zuckerfabrik, Jung und Alt, Chávez-VerehrerInnen oder auch nur Neugierige drängen sich bis auf zehn Meter an den Präsidenten heran, wo sie von jungen Soldaten zurückgehalten werden. Sie wollen einen Blick auf ihn erhaschen, durch Rufe auf sich aufmerksam machen. Behinderte Kinder werden nach vorne gereicht, ebenso zahllose Zettel mit Bitten an den Präsidenten, der den Anwesenden, wie Millionen im ganzen Land, nach wie vor als Hoffnungsträger gilt. Im Gedränge unter einem großen Zeltdach ist kaum ein Wort der Sendung zu verstehen. Das ist nebensächlich, sind doch Dramaturgie und Inhalte von „Aló Presidente“ seit Jahren wohl bekannt.
Auch beim anschließenden Auto- und Motorradkorso ins benachbarte Valencia genießt Chávez das Bad in der Menge. Von einem Lastwagen aus winkt er den Menschen am Straßenrand zu. Der tausendfache Jubel, den die Fernsehteams des Staatssenders einfangen, erinnert an die Zeit vor den Wahlen 1998 und 2000, in denen der frühere Fallschirmjäger klare Mehrheiten erzielt hatte – zuletzt 59 Prozent.

Konzeptionslos in die Wirtschaftskrise

Doch seither schwindet der Rückhalt. Auch der Solidarisierungseffekt nach dem Aprilputsch ist verflogen. Durch seine radikale Rhetorik schockiere der Staatschef das Bürgertum und mache zugleich den Armen etwas vor, kritisiert Antonio González. Dabei seien spürbare Korrekturen am neoliberalen Wirtschaftskurs nur im Bildungs- und Gesundheitswesen erfolgt. Inkompetenz und Korruption hätten dazu geführt, dass die tatsächlichen Verbesserungen auf sozialem Gebiet minimal geblieben seien.
Ganz ähnlich sehen das andere BasisaktivistInnen. Edgar Pérez, seit 15 Jahren in der Stadtteilbewegung des Armenviertels Las Casitas de la Vega am Rande von Caracas tätig, unterstützt die „große Führungspersönlichkeit“ Chávez aus pragmatischen Gründen, denn unter ihm sei der Freiraum für die Organisation gewachsen. „Die Polizei lässt uns jetzt in Ruhe,“ sagt „El Gordo“ Pérez. Doch tatsächlich verändert habe Chávez wenig, so begrüßenswerte Maßnahmen wie die angekündigte Agrarreform bestünden vor allem aus Propaganda und Vetternwirtschaft. „Die Institutionen funktionieren als Zwangsjacke“, analysiert Pérez, der sich als Anarchist versteht. Chávez´ Reformbemühungen blieben im Symbolischen stecken. Die Korruption, die im Erdölland Venezuela besonders tiefe Wurzeln geschlagen hat, sei unverändert groß.
Dazu kommt die grassierende Rezession, in die Venezuela trotz hoher Erdölpreise geraten ist. Das Bruttoinlandsprodukt ist im ersten Halbjahr 2002 um 7,1 Prozent gefallen. Wegen der politischen Ungewissheit halten sich die InvestorInnen zurück. Die Abwertung der Landeswährung Bolívar schürt die Inflation und lässt die Realeinkommen sinken, immer mehr Menschen werden arbeitslos.
„Chávez hat kein Projekt,“ kritisiert Edgar Pérez. Und er findet offenbar nicht mehr aus seiner systematisch kultivierten Ambivalenz heraus, bei der Reden und Handeln immer weiter auseinanderklaffen. Damit spielt er der Rechten in die Hände, die nicht mehr auf das Referendum warten will, mit dem der Präsident laut Verfassung ab August 2003 zum Rücktritt gezwungen werden könnte. Er bereitet der Konfrontation den Boden und beschleunigt damit letztlich seinen eigenen Niedergang.

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