Die Stadt, der Müll und das Leben
Lateinamerika ist ein Kontinent der Städte. In Argentinien, Venezuela und Uruguay leben bereits mehr als 80 Prozent der Bevölkerung nicht mehr auf dem Land. Die Hälfte der lateinamerikanischen Bevölkerung lebt in Städten mit mehr als 100.000 EinwohnerInnen. Der Anteil der Menschen, die in Millionenstädten leben, liegt bei 30 Prozent. Zwar hat sich der Wachstumsprozeß der meisten Millionenstädte verlangsamt, dafür wachsen nun die mittelgroßen Städte mit höherer Geschwindigkeit. Etwa die Hälfte des Wachstums entsteht inzwischen nicht mehr durch Zuwanderung, sondern durch die Vermehrung der bereits ansässigen Stadtbevölkerung. Alle Versuche, die Entwicklung auf dem Land zu fördern und die Migrationsströme zu kontrollieren, sind gescheitert. Die Armut auf dem Land ist weiter gewachsen, Vertreibung durch Großgrund- oder Plantagenbesitzer oder zunehmende Unfruchtbarkeit der Böden zwingen die Menschen weiterhin in die Städte zu ziehen. Noch immer sind für sie die Lichter der Großstadt Anziehungspunkte, trotz der städtischen Wohnungsnot und des harten Konkurrenzkampfes um das tägliche Einkommen. Aufgrund einer besseren Gesundheitsversorgung und informeller Verdienstmöglichkeiten ist die Überlebenschance immer noch höher. In den 80er Jahren, dem “verlorenen Jahrzehnt” Lateinamerikas, sind die Aussichten der jungen Generation von StädterInnen auf ein besseres Leben allerdings nicht besser geworden.
Mehr denn je ist das Gesicht der Großstädte durch eine Spaltung in zwei Lebenswelten gekennzeichnet. Oft leben über die Hälfte der StadtbewohnerInnen in Armensiedlungen, favelas, poblaciones, villas de emergencia, turgurios… Neuankömmlinge oder die junge Generation sind gezwungen, an den immer weiter vom Stadtzentrum entfernten Rändern zu siedeln. Immer häufiger werden Flächen besiedelt, die durch extreme Trockenheit (Lima), Überschwemmungen (Buenos Aires) oder Erdrutsche (Caracas) gefährdet sind. Der Wohnraum ist völlig überbelegt und die hygienischen Bedingungen sind katastrophal. Die Beiträge zu Lima und Caracas versuchen, die Lebensbedingungen in diesen Vierteln zu erfassen.
Die schmale Oberschicht zieht sich zunehmend in Festungen des Wohlstands zurück. Nur hier zeigt sich die Stadtverwaltung in der Lage, eine Versorgung mit sozialer und technischer Infrastruktur zu gewährleisten. Gute Trinkwasserversorgung, Kanalisation, Müllabfuhr, gefegte Straßen, bewässerte Parkanlagen findet man nur in den repräsentativen Zentren und den Wohnvierteln der Reichen. Strukturanpassung und neoliberale Wirtschaftspolitik setzen rücksichtslos das Prinzip durch, daß nur derjenige Leistungen in Anspruch nehmen kann, der auch in der Lage ist, dafür zu bezahlen.
Die Armen finanzieren jedoch den Wohlstand der Reichen mit. Denn hinter den hinter den Leistungen, die einer Minderheit der Bevölkerung zur Verfügung gestellt werden, verstecken sich erhebliche indirekte Subventionen. Das Wasser zum Beispiel, das hier hemmungslos verschwendet wird, um Swimmingpools zu füllen und Parks zu beregnen, wird zu extrem niedrigen Preisen abgegeben. Währenddessen sind zwischen 20 und 30 Prozent der Armen gezwungen, ihr Trinkwasser von Händlern kaufen, die ihnen dafür überdurchschnittliche Preise abverlangen. Auch das kostenaufwendige Straßennetz, von dem nur die privilegierte Schicht von Autobesitzern profitiert, wird indirekt subventioniert. Dagegen müssen die immer weiter an den Rand gedrängten Armen teilweise ein Drittel ihres Tageslohnes für die Fahrt zum Arbeitsplatz in oft unsicheren und überfüllten Verkehrsmitteln aufwenden.
Zur bevorzugten Erlebniswelt gehobener Einkommensschichten gehören die sogenannten Shoppings, große Einkaufs- und Unterhaltungszentren nach US-amerikanischem Muster. In Buenos Aires und Rio de Janeiro sind sie angesichts städtischer Armut geradezu obszön. In einer so ländlichen und durch das Erdbeben zentrumslosen Stadt wie Managua müssen diese glänzenden Konsumtempel jedoch noch absurder wirken.
Trotz der räumlichen Trennung zwischen arm und reich, gibt es allerdings auch zahlreiche Überschneidungen der Lebensbereiche. Der durch die Deindustrialisierung gewachsene informelle Sektor konzentriert sich räumlich auf das Stadtzentrum. Ambulanter Handel und einfache Dienstleistungen stützen die Ökonomie der modernen Wirtschaftssektoren. Schließlich sind Dienstmädchen und Gärtner aus den Wohnvierteln der Reichen nicht mehr wegzudenken.
Im Beitrag zu Rio de Janeiro wird deutlich, daß es trotz aller medialen Inszenierung, die die “Zersetzung des gesunden Stadtkörpers” räumlich den Favelas und damit sozial den Armen zuordnen möchte, sogar kulturelle Phänomene gibt, die die Grenzen zwischen Favela und Reststadt (Asphalt) verschwimmen lassen, die sogenannten bailes funk. Der Drogenhandel, hauptsächliche Legitimation zur militärischen Intervention der Favelas, stellt eine weitere ökonomische Verbindung zur Außenwelt dar.
Der Beitrag zu Buenos Aires zeigt, wie die Stadtverwaltung versucht, sozial-räumliche Grenzen zu setzen und Armut und Kriminalität zumindest aus dem Hauptstadtbezirk zu verdrängen. Darüber hinaus macht er deutlich, daß trotz der sozial extrem ungleichen Versorgungssituation und infolgedessen der ungleichen Verteilung der Lebensrisiken die Umweltkrise auch vor den privilegierten Stadtbereichen nicht haltmacht. Es erscheint symptomatisch für die aktuelle Stadtentwicklung, daß zu den wenigen boomenden Branchen des Kontinents private Sicherheitdienste ebenso gehören wie Mineralwasserhersteller.
Curitiba ist bisher eines der wenigen Beispiele in Lateinamerika, in der die Initiative zur Verbesserung der Infrastruktur unter der Berücksichtigung der Interessen der armen Bevölkerung trotz begrenzter Mittel von einer Stadtregierung ausging. Jaime Lerner, Architekt und zweifacher Bürgermeister dieser Millionenstadt im brasilianischen Süden, schob diesen Prozess noch unter der Militärdiktatur an, der inzwischen von seinen Nachfolgern weitergeführt wird. Für Lerner selbst bedeuteten seine umweltpolitischen Erfolge politisches Renomee. Curitiba ist im internationalen Kontext zu Modellstadt geworden, von deren Konzepten so manche europäische Stadt lernen könnte.