Ein Fall zivilen Ungehorsams
Nachruf auf den nicaraguanischen Soziologen José Luis Rocha
Am letzten Tag des alten Jahres 2023 starb der nicaraguanische Soziologe Jose Luis Rocha mit 57 Jahren völlig überraschend in einem Krankenhaus in Guatemala-Stadt. Warum er so vorzeitig mitten aus einem erfüllten und höchst kreativen Leben gerissen wurde, ist sicher auch auf die extremen Belastungen seines erzwungenen Exils in Guatemala zurückzuführen.
Nach seiner Parteinahme für die Protestbewegung vom April 2018 gegen das autoritäre Regime von Daniel Ortega lebte Jose Luis zunächst weiter in Managua. Als seine Situation 2022 immer bedrohlicher wurde, verschaffte ihm ein Stipendium der Heinrich-Böll-Stiftung in Deutschland eine Atempause. Er konnte im Böll-Haus arbeiten, einer Zufluchtsstätte für verfolgte Autor*innen und Künstler*innen. Im Frühjahr 2023 kehrte er zu seiner Familie in Managua zurück. Doch nach einem Arbeitsaufenthalt in Guatemala Anfang Juni erging es ihm wie vielen anderen Oppositionellen: Am Schalter des Flughafens musste er erfahren, dass er aus seinem Land ausgesperrt war.
Damit war er auf unbestimmte Zeit den Belastungen eines Exilanten ausgesetzt: der Trennung von seiner Familie, dem Hickhack um seinen Aufenthaltsstatus, dem Arbeitsdruck eines Intellekuellen, der zwar international hoch angesehen war, aber keine Aussicht auf eine feste Anstellung hatte. Ein weiterer Schlag folgte mit der behördlichen Schließung der Zentralamerikanischen Universität UCA in Managua im Juli 2023, wodurch seine Frau ihre leitende Stellung dort verlor und sich ebenfalls ins Ausland retten musste.
Jose Luis hatte sich nach seinem Universitätsstudium zunächst für die Ausbildung zum Priester entschieden. Er trat dem Jesuitenorden bei und wirkte viele Jahre als Seelsorger in Honduras. Später legte er die Priesterwürde nieder und entschied sich für die sozialwissenschaftliche Forschungsarbeit an der UCA in Managua. Dort war er an der Gründung des Flüchtlingsdienstes des Jesuitenordens für Zentralamerika beteiligt, und eines seiner wichtigsten Arbeitsgebiete wurde die Migrationsforschung. Den Exodus der Zentralamerikaner in die USA interpretierte er in einer umfassenden Untersuchung mit einem höchst originellen Ansatz als „zivilen Ungehorsam“. Diese Arbeit wurde 2016 von der Philipps-Universität in Marburg für die Promotion im Fach Soziologie angenommen und erschien als Buch mit dem spanischen Titel La Desobediencia de las Masas (Der Ungehorsam der Massen). Seine bekannte Studie zur Politisierung der nicaraguanischen Jugend im Vorfeld der Protestbewegung von 2018 und die Darstellung der grausamen Repression, die auf den Protest folgte, konnten 2019 und 2021 nur noch in Guatemala veröffentlicht werden.
Es gibt eine lange Liste von akademischen Ehrungen sowie eine unübersehbare Menge von Artikeln in allen einschlägigen Zeitschriften der Wissenschaft und Politik. Er hat dazu beigetragen, dass Nicaragua trotz seines Absturzes in die Tyrannei ein Thema in Amerika und Europa geblieben ist.
Mit Jose Luis Rocha verliert Nicaragua einen unabhängigen Denker. Wenn es eines Tages an den Neuaufbau des Landes geht, werden hochbegabte und unbestechliche Intellektuelle wie er schmerzlich fehlen.
Die ungekürzte Version dieses Nachrufs des Autors steht auf der Webseite des Informationsbüros Nicaragua