Ein Subkontinent wird liberalisiert
Amerikanische Freihandelszone schreibt traditionelle US-Hegemonie fest
Es ist ein Paradox an sich, dass Freihandel allen zu Gute kommen soll, aber bisher nicht mal die nationalen Parlamente Einsicht in den Stand der Verhandlungen erhalten haben, die seit dem ersten Gipfel der Amerikas 1994 in Miami in Richtung FTAA im Gang sind. Was auch immer die auf Grund der Gegenöffentlichkeit angekündigte umfassende Veröffentlichung an den Tag bringen wird – die Grundrichtung des Abkommens ist klar: Es geht um eine Verrechtlichung der seit Jahren betriebenen Liberalisierungspolitik, um möglichen Politikalternativen juristisch und präventiv zu begegnen. Denn die Proteste vor dem Gipfel in Quebec und zahlreichen anderen amerikanischen Städten waren ja nur ein erneuter Ausdruck des wachsenden Unbehagens über eine weite Bevölkerungsteile ausschließende Liberalisierungspolitik und des Wunsches nach einer Politik, die die verschiedenen Interessen aller einbezieht.
Ein Widerspruch, der sich im brasilianischen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso exemplarisch widerspiegelt: Auf internationaler Bühne wie in Quebec präsentiert er sich als Fürsprecher der armen und benachteiligten lateinamerikanischen Massen und als prononciertester Gegenspieler zum US-Präsidenten George Bush. Doch auf nationaler Ebene betreibt er allenfalls eine kosmetische Sozialpolitik, abgesehen von der vorbildlichen Anti-Aidspolitik. An der grundsätzlich neoliberalen Politikausrichtung will oder kann er nicht rütteln. Dass Kuba wegen fehlender Demokratie von der Freihandelszone ausgeschlossen werden soll, beruht in erster Linie gerade auf dem dort verfolgten anderen Politikmodell und eben nicht auf seinen demokratischen Mängeln, die – wiewohl in anderer Form – für weit die meisten amerikanischen Länder zu konstatieren sind.
Lame Duck oder Fast Track
Bis die Freihandelszone in Kraft tritt, sind noch einige Hürden zu nehmen. Noch hat Bush nicht die so genannte Fast-Track-Autorität, die ihm ein weitreichendes Verhandlungsmandat gäbe. Der Kongress könnte das Vertragswerk dann nur noch als Ganzes annehmen oder ablehnen, nicht aber in seine Einzelteile zerpflücken. Die Bemühungen seines Vorgängers Bill Clinton, die amerikanische Freihandelszone voranzutreiben sind genau am Fehlen dieser Klausel gescheitert und die lateinamerikanischen Länder bekunden weiterhin, dass ohne Fast Track nichts ginge. Auch wenn es Bekundungen im Kongress gibt, sie Bush zu gewähren, hat er sie noch nicht. Wieviel Freihandel ein Freihandelsabkommen tatsächlich bewirkt, hängt schließlich von der konkreten Vertragsgestaltung ab: Kein Freihandelsabkommen ohne zahlreiche Ausnahmeregelungen, über die weiter erbittert gefeilscht werden dürfte. Dabei sind zwei Tatbestände jedoch klar: Die USA sitzen am längeren Hebel, zu sehr sind die mit 800 Milliarden hochverschuldeten lateinamerikanischen Länder auf den Goodwill der USA und ihrer Fürsprache beim Internationalen Währungsfonds angewiesen. Das zeigt derzeit die drohende Währungs- und Wirtschaftskrise in Argentinien ebenso wie Anfang 1999 jene in Brasilien. Und zum zweiten ist jedes Freihandelsabkommen unabhängig von seiner effektiven Wirkung auf jeden Fall ein weiterer Liberaliserungsschritt mit dem Aspekt, dass zur normativen Kraft des Faktischen zusätzlich faktische Normen geschaffen werden, die die Rechte von Unternehmen festzurren und den handlungspolitischen Spielraum der Regierungen noch weiter einschränken. Samuel Pinheiro Guimaraes, ein hoher Funktionär des traditionell US-kritischen brasilianischen Außenministeriums hat dies auf den Punkt gebracht: In seiner jetzt konzipierten Form bedeute das Freihandelsabkommen das Ende einer eigenständigen Handels-, Industrie- und Technologiepolitik. Eine Eigenständigkeit, die in der ersten Phase der importsubstituierenden Industrialisierung (ISI) von 1930-55 ihren Höhepunkt hatte, wie der Marburger Soziologieprofessor Dieter Boris in seinem jüngst erschienen Buch „Zur politischen Ökonomie Lateinamerikas“ feststellte.
Freihandelszone als Krönung
Boris beschreibt in seinem Buch die Einbindung des lateinamerikanischen Kontinents in die Weltwirtschaft seit 1870 bis heute – von der liberalen bis zur neoliberalen Epoche, die mit der amerikanischen Freihandelszone ihre Krönung erfahren würde. Das was heutzutage weitgehend handelspolitisches Credo zu sein scheint, dass Freihandel und nur Freihandel die Weltwohlfahrt maximieren könne, war schon bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 die maßgebliche Politikrichtung. Eine Ausrichtung, die erst viel später institutionalisiert wurde, auf mulilateraler Ebene durch die Welthandelsorganisation WTO und ihre Vorgängerinstitution, das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen GATT seit 1948 sowie auf regionaler und bilateraler Ebene mit Freihandelsabkommen, die inzwischen wie Pilze aus dem Boden sprießen.
Boris macht in der Weltwirtschaftskrise einen ersten zentralen Wendepunkt in der lateinamerikanischen Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts aus. Zum einen hätte die Weltwirtschaftskrise das freihändlerisch-liberalistische Denken zurückgedrängt, und zum anderen wären die Hauptprofiteure des Freihandels, die Exportoligarchien zumindest teilweise von der politischen Bühne verdrängt worden.
Abhängig von externer Entwicklung
Die Abhängigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung Lateinamerikas von externen Entwicklungen bis heute zeigt sich nicht zuletzt daran, dass selbst die Phase der relativen Eigenständigkeit von außen provoziert wurde. Das Konzept für eine importsubstituierende Industrialisierung (ISI) wurde von den Ökonomen der CEPAL erst nach 1945 entworfen, als die entsprechende Wirtschaftspolitik längst im Gange war. Die Krise und die weltwirtschaftlichen Zwänge, so Boris, nötigten den lateinamerikanischen Ländern einen mehr oder minder radikalen wirtschaftspolitischen Kurswechsel auf. Weil der Weltmarkt wegbrach, mussten sich die lateinamerikanischen Länder auf sich selbst besinnen; eigene Produktion ersetzte sukzessive Importe, und der Binnenmarkt gewann als Absatzmarkt immer mehr an Gewicht.
Seine erfolgreichste Phase hatte die ISI bis Mitte der 50er Jahre – bis zu dem Zeitpunkt, als sich der kapitalistische Weltmarkt nach dem Zweiten Weltkrieg wieder neu etabliert hatte.
Und mit ihm gewannen sowohl die traditionellen Exportsektoren als auch das Auslandskapital an Gewicht. Mit dem Auslandskapital sollten die internen Schwächen der ISI kompensiert werden, monetär musste das dauerhaft hohe Importniveau bei lediglich geringem Exportwachstum gegenfinanziert werden und realökonomisch sollten ausländische Direktinvestitionen mit produktivitätssteigernder Technologie die geringe Innovationsfähigkeit der heimischen Wirtschaft verbessern helfen. Sowohl das hohe Importniveau als auch die geringe Innovationsfähigkeit waren eine Folge des zeitlich nicht befristeten Zollschutzes.
Beispiel Multis
Dies zeigte sich in Lateinamerika beispielhaft an den Multis, die hinter dem Zollschutz lediglich ihre in ihren Mutterländern nicht mehr wettbewerbsfähigen Technologien versilberten, statt den technologischen Fortschritt voranzutreiben, wozu sie – wie sie in den Industrieländern zeigten – durchaus in der Lage gewesen wären.
Statt die Lösung der Probleme brachte das Auslandskapital und die mit ihr einhergehende Auslandsverschuldung die Problemverschärfung, die 1982 infolge der international gewandelten Bedingungen (starker Zinsanstieg, Rohstoffpreisverfall) im Beginn der Schuldenkrise kulminierte. Boris macht darin den zweiten zentralen Wendepunkt in der jüngeren lateinamerikanischen Wirtschaftsgeschichte aus. Die Schuldenkrise bahnte den Weg für die Strukturanpassungsprogramme von Internationalem Währungsfonds Weltbank und eine neoliberale Wirtschaftspolitik. „Dieses Konzept, das u. a. eine rigorose Öffnung der lateinamerikanischen Ökonomien nach außen (weitgehende Zollsenkung, Abbau der Zugangsschranken für das Auslandskapital, keine Restriktionen für das international mobile Geldkapital etc.) vorsieht und das mit einer weitgehenden Privatisierung von Sozialleistungen vormals staatlicher Unternehmen verbunden ist, bedeutet einen tief greifenden Einschnitt in die ökonomische Entwicklung der lateinamerikanischen Länder“, so Boris. Ein Einschnitt, der durch die geplante Freihandelszone noch vertieft werden dürfte. Boris´Verdienst liegt darin, dass er über der historisch fundierten Gegenwartsanalyse politische Alternativen aufzeigt, auf die hier zwecks Leseanreiz nicht weiter eingegangen wird.
Dieter Boris: Zur politischen Ökonomie Lateinamerikas, VSA, Hamburg 2001, 164 S., 13.80 Euro