Brasilien | Nummer 479 - Mai 2014

„Es herrscht ein Klima wie im Krieg“

Interview mit Thaís Cavalcante da Silva über die Besetzung der Favela Maré und die Repression vor der Fussballweltmeisterschaft

Rio de Janeiro kommt nicht zur Ruhe. Während die Vorbereitungen für die Fußballweltmeisterschaft auf Hochtouren laufen, rüstet der Staat auf. Vor allem die Ärmsten trifft dies wieder einmal mit aller Härte. Die LN sprachen mit Thaís Cavalcante da Silva, Bewohnerin der Favela Maré und Mitherausgeberin der Stadtteilzeitung O Cidadão.

Interview: Niklas Franzen

Anfang April besetzte das Militär im Zuge der Operation São Francisco die Favela Maré. Seitdem sind dort über 2.700 Soldaten stationiert. Der Gouverneur von Rio de Janeiro, Sérgio Cabral, sprach von einem „historischen Tag“ für die Stadt. Sehen das alle so?
Nein, auf keinen Fall. Bevor das Militär in Maré stationiert wurde, stürmte die Militärpolizei unser Viertel. Freunde und Nachbarn haben mir erzählt, dass ihre Häuser ohne Durchsuchungsbefehl durchsucht und sie von den Polizisten beschimpft wurden. Es kam zu einer Reihe willkürlicher Festnahmen. Nun ist die Polizei weg, aber es hat sich kaum etwas verbessert. Zwar sind die Soldaten freundlicher, dennoch gibt es weiterhin Konflikte und jeden Tag sterben Menschen. Die große Mehrheit der Bewohner glaubt nicht daran, dass sich mit der Besetzung irgendetwas verbessern wird.

Wie wirkt sich die Militärpräsenz auf den Alltag der Bewohner_innen in Maré aus?
Die Leute haben Angst und sind verunsichert. An- jeder Ecke stehen schwer bewaffnete Soldaten und Panzer fahren durch die Straßen. Viele Menschen gehen nicht mehr vor die Tür, weil sie Angst haben. Morgens wachen wir vom Lärm der Militärhubschrauber auf und abends trauen wir uns nicht mehr auf die Straße. Der Konflikt zwischen den Drogengangs hat sich sogar noch weiter zugespitzt. Es gibt kaum noch Partys und Leben auf der Straße. Bis vor kurzem war das noch anders. Ich wohne schon mein ganzes Leben hier, eine solche Situation ist neu. Es herrscht wirklich ein Klima wie im Krieg.

In insgesamt 38 Favelas in Rio de Janeiro wurden sogenannte Posten der Befriedungspolizei UPP eingerichtet. Nicht erst seit dem Tod des Maurers Amarildo de Souza, der in einer UPP-Station in der Favela Rocinha gefoltert und ermordet wurde, stehen diese in der Kritik. Auch in Maré soll es nun bald eine UPP-Station geben. Wie stehen die Bewohner_innen dazu?
Anfangs, als die Pläne für die UPP-Stationen in der Stadt aufkamen, haben alle gedacht, dass nun endlich für Sicherheit gesorgt wird. Viele glaubten, dass mit den UPPs nicht nur dem Drogen- und Waffenhandel ein Ende gesetzt wird, sondern unsere Viertel einen Aufschwung erleben werden. Manche glauben dies immer noch, aber die meisten von uns wurden bitter enttäuscht. Der Tod von Amarildo ist der bekannteste Fall. Die ganze Welt hat davon erfahren und das war gut. Aber es gibt unzählige Fälle von Amtsmissbrauch der UPP, von denen niemand weiß.
Bis 2020 sollen alle Favelas „befriedet“ sein. Die Regierung investiert Milliarden in die Sicherheit. Für uns bedeutet dies mehr Polizei- und Militärpräsenz, mehr Waffen und mehr Repression. Wenn das Militär im Juli wieder abziehen wird, sind wir uns selbst überlassen und die Konflikte hier werden sich noch verschärfen.

Das Militär wird 18 Tage nach der WM aus Maré abziehen. Ein Zufall?
Auf keinen Fall. Es wird immer klarer, dass der hauptsächliche Grund für die Besetzung die Gewährleistung der Sicherheit der Stadt während der WM ist. Sie verstecken diese Tatsache noch nicht einmal. Der Welt und den Touristen soll vermittelt werden, dass Rio de Janeiro sicher ist. Für die Armen bedeutet diese WM nichts weiter als Räumungen, Militarisierung und Polizeigewalt, dafür gibt es unzählige Beispiele.

Wie beispielsweise die Räumung von über 5.000 Menschen auf einem leerstehenden Gelände des Telekommunikationsunternehmen Oi, das früher TELERJ hieß, jetzt Anfang April.
Ja, diese Räumung in Engenho Novo ist ein weiteres Beispiel. Die Stadtverwaltung hat den obdachlosen Familien über lange Zeit Versprechen gemacht, aber nichts ist passiert. Daher haben die Familien beschlossen, ein leerstehendes Gebäude des Konzerns Oi zu besetzen, um dort zu wohnen. Wenige Tage nach der Besetzung wurden sie im Morgengrauen gewaltsam von der Polizei vertrieben. Die brutale Räumung einer Besetzung im ehemaligen Gebäude des Museos do Índio, welches sich gegenüber dem Maracanã-Stadion befindet, ist ein weiterer Fall dieser Politik. All diese Beispiele zeigen, dass an strategisch wichtigen Orten kein Platz für die Armen ist.

Mittlerweile fragen nicht nur soziale Bewegungen und Stadtteilbewegungen „WM für wen?“
Das ist eine sehr wichtige Frage. Brasilien versucht, vor der WM ein geschöntes Bild des Landes zu zeigen. In den offiziellen Werbungen und Anzeigen wird vermittelt, dass dies eine WM für alle Brasilianer sein wird. Jedoch ist klar, dass wir Arme kein Teil dieses Projektes sind. Es ist die teuerste WM aller Zeiten. Milliarden werden investiert, aber dies kommt nur den Reichen zu Gute.

Gibt es Widerstand gegen Militarisierung und Repression? Wenn ja, wie sieht dieser aus?
Viele Bewohner wissen nicht, was sie tun sollen. Wenn ihre Häuser unrechtmäßig durchsucht werden, wissen sie meist nicht, wie sie dagegen vorgehen können. Jedoch bekommen wir viel Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen und anderen Gruppen. Sie zeigen uns, wie wir uns auch auf juristischen Weg wehren und beispielsweise Übergriffe zur Anzeige bringen können. In der Vergangenheit haben wir zudem mehrere Demonstrationen und kulturelle Veranstaltungen durchgeführt, beispielsweise nach dem Massaker im vergangenen Jahr (bei dem neun Bewohner_innen Marés von einer Polizeispezialeinheit erschossen wurden, Anm. d. Red.). Wir wollen zeigen, dass wir hier sind und Rechte haben.
Die Öffentlichkeitsarbeit, vor allem im Internet, ist ein weiterer wichtiger Aspekt unseres Widerstandes. Die Kampagne Maré Vive hatte innerhalb kürzester Zeit über 5.000 Follower auf Facebook. Hier tauschen wir Informationen aus und vernetzen uns. Die großen Medien zeigen unsere Realität nicht, deshalb machen wir das eben selbst.

Auch in anderen Favelas der Stadt kam es in den letzten Wochen zu schweren Auseinandersetzungen. Nach dem Tod von Douglas Rafael Da Silva Pereira, einem bekannten Tänzer und Bewohner der Favela Pavão-Pavãozinho, der vermutlich von Polizisten getötet wurde, kam es zuletzt zu wütenden Protesten von Anwohner_innen. Gibt es eine Vernetzung mit anderen Gemeinden?
Ja, die gibt es. In verschiedenen Radio- und Zeitungsprojekten arbeiten wir zusammen. Wir wissen immer als Erste Bescheid, wenn irgendwo etwas passiert. Wenn möglich, versuchen wir dann zu helfen. Gestern wurde eine Frau im Complexo do Alemão bei Schusswechseln zwischen Polizei und Drogenhändlern getötet. Wir wussten als Erste davon.

Der Sportjournalist Juca Kfouri sagte zuletzt in einem Interview, dass er glaube, dass es während der WM stärkere Proteste geben wird als im letzten Jahr. Ist dies eine realistische Einschätzung?
Ich glaube, dass es während der WM ohne Zweifel Proteste geben wird. Jedoch wird es für uns Aktivisten schwierig werden, da sie versuchen, uns als Terroristen abzustempeln. Trotz der Repression werden jedoch im Juni und Juli mit Sicherheit erneut Tausende auf die Straße gehen. Auch die Bewohner Marés werden weiterhin gegen diese WM demonstrieren. Wir werden uns nicht davon abhalten lassen, Missstände anzuklagen.

Infokasten

Thaís Cavalcante da Silva ist in dem 130.000 Einwohner_innen zählenden Favela-Komplex Maré im Norden Rio de Janeiros geboren und aufgewachsen. Sie ist Mitherausgeberin der Stadtteilzeitung O Cidadão, die seit 15 Jahren monatlich „aus Maré für Maré“ berichtet.


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