Gentechnik | Nummer 281 - November 1997

Freisetzungen in Lateinamerika

Bei Freilandversuchen stehen Forschungsinteressen der Industrienationen im Vordergrund

Freisetzungen sind in der BRD trotz aller Aufweichungen des Gentechnikgesetzes immer noch ein Thema, das eine angemessene Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit findet. Anders sieht jedoch die Situation im Trikont aus, wo in der Regel Informationen über Freisetzungen nicht öffentlich bekannt sind und Aktivitäten gegen Freisetzungen schon aus diesem Grunde nicht erfolgen (können). Welche Informationen über Freisetzungen in den Ländern des Südens – und hier vor allem in der Region Lateinamerika und Karibik – liegen überhaupt vor?

Jürgen Knirsch

Die offizielle Chronologie der Freisetzungen transgener Organismen beginnt 1986 mit dem Anbau genmanipulierter Tabakpflanzen in Frankreich und den USA. 1986 ist auch das Jahr des ersten Freisetzungsskandals: Das US-amerikanische Wistar Institute testete in Argentinien einen rekombinanten Virus-Impfstoff an Kühen, ohne daß argentinische Behörden oder die beteiligten LandarbeiterInnen, von denen einige infiziert wurden, darüber informiert worden waren.
Im folgenden Jahr wurde in Chile erstmals mit herbizidresistentem Raps eine gentechnisch veränderte Pflanze freigesetzt, vermutlich die weltweit erste Freisetzung von transgenem Raps überhaupt. Freisetzungen transgener Organismen erfolgten in Lateinamerika bis 1994 in größerem Umfang als in europäischen Staaten, Informationen darüber gibt es jedoch kaum. Bis 1995 war gerade ein halbes Dutzend von Darstellungen bekannt, die auch die Freisetzungssituation in der sogenannten Dritten Welt berücksichtigten. Sie wurden entweder von Personen verfaßt, die Zugang zu der Freisetzungsdatenbank der Green Industry Biotechnology Platform (GIBiP) hatten, einem Zusammenschluß von einigen in der Pflanzengentechnik aktiven Unternehmen. Oder sie beruhten auf Untersuchungen und Erhebungen von Nichtregierungsorganisationen wie Friends of the Earth, Greenpeace oder GRAIN (Genetic Resources Action International). Aus den Materialien dieser Gruppen wurde deutlich, daß die in den Ländern des Südens durchgeführten Freisetzungen in der Regel ohne rechtliche Bestimmungen und vielfach ohne Kontrollen erfolgten und weiterhin erfolgen.

Was ist eine Freisetzung?

Freisetzungen sind gezielte Ausbringungen von gentechnisch veränderten Organismen in die Umwelt. Freigesetzt werden einerseits transgene Pflanzen, um im Feldversuch die im Labor und im Gewächshaus gefundenen Ergebnisse unter Freilandbedingungen zu testen (Freisetzungsversuche oder -experimente). International wird aber auch, abweichend von den Definitionen des deutschen Gentechnikgesetzes, das zwischen Freisetzung und Inverkehrbringen unterscheidet, der kommerzielle Anbau von transgenen Pflanzen als Freisetzung bezeichnet. Während vermutlich die meisten Freisetzungen (noch) Freisetzungsexperimente sind, ist der kommerzielle Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen in Ländern wie Argentinien (Anbau von herbizidresistenten Raps- und Sojapflanzen) und Mexiko (Anbau der FlavSavr-Tomaten, herbizidresistenten Raps- und Sojapflanzen und von insektenresistenten Kartoffeln und Baumwolle) schon seit 1995 Realität.

Welche Freisetzung wird bekannt?

Anfang 1996 publizierte das Deutsche Umweltbundesamt (UBA) eine Studie zur „Gentechnik in Entwicklungsländern“. Diese UBA-Studie liefert die derzeit umfangreichste und differenzierteste Übersicht über Freisetzungen transgener Pflanzen in Entwicklungsländern. Die im Oktober 1995 abgeschlossene Übersicht des Umweltbundesamtes liefert vor allem für die Region Lateinamerika und Karibik ausführliche Informationen über Freisetzungen in 11 Staaten. Dabei benennt sie für jede Freisetzung das Land, die Pflanze, die Art der genetischen Manipulation, den Zeitpunkt der Genehmigung und Durchführung, den oder die Durchführenden, und sie bewertet die Aussagesicherheit der Quelle. Außerhalb dieser Region werden Freisetzungen in Indien und Thailand sowie in Ägypten und Südafrika erwähnt.
Auf der Grundlage der verfügbaren Informationen gelangt der Autor der UBA-Studie, André de Kathen, zu der Einschätzung, daß der Anteil der in oder von Entwicklungsländern durchgeführten Freisetzungen „bei unter 5 Prozent aller Freisetzungen weltweit“ liegen dürfte. Mit seiner Einschätzung liegt Kathen deutlich unter der Erhebung von James und Krattiger (1996), nach der acht Prozent der zwischen 1986 und 1995 durchgeführten Freisetzungen in den Entwicklungsländern stattfanden, davon 70 % in der Region Lateinamerika und Karibik, 21 % in Asien und 9 % in Afrika.
Nach Auskunft offizieller Stellen hat es in Brasilien, Kolumbien und Venezuela wie auch in Indonesien, Malaysia, Nigeria und auf den Philippinen bisher keine Freisetzungen transgener Pflanzen gegeben. Von diesen Ländern verfügte allerdings allein Brasilien über ein 1995 verabschiedetes Gesetz zur biologischen Sicherheit, so daß in den anderen Ländern die rechtliche Grundlage für die Anmeldung von Freisetzungen fehlte. Es ist daher nicht auszuschließen, daß Freisetzungen stattfanden, ohne daß staatliche Stellen davon in Kenntnis gesetzt wurden.
In Lateinamerika und der Karibik wurden zwischen 1987 und 1995 nach Kathen 137 Freisetzungen in 11 Ländern durchgeführt [1]. Die meisten Freisetzungen erfolgten in Argentinien (43 Freisetzungen), Puerto Rico (21), Mexiko (20), Chile (17) und Kuba (13). Weitere Länder mit bekanntgewordenen Freisetzungen sind: Costa Rica (8), Bolivien (5), Belize (4), Guatemala (3), Peru (2) und die Dominikanische Republik (1).
Vor allem fünf Pflanzen stehen im Vordergrund des Freisetzungsinteresses: Mais, Sojabohnen, Tomaten, Baumwolle und Kartoffeln. Damit weicht die Freisetzungssituation in der Region Lateinamerika und Karibik von der globalen vor allem hinsichtlich des unterschiedlichen Stellenwertes von Sojabohnen und Raps ab. Die Reihenfolge der weltweit am häufigsten freigesetzten Pflanzen führt nach James / Krattiger ebenfalls Mais (28 %) an, mit Abstand folgt Raps (18 %). Nach Kartoffeln und Tomaten (jeweils 10 %) finden sich die Sojabohnen mit 8 % erst auf Platz 5.

Woran wird geforscht?

Bei den insgesamt 137 für die Region Lateinamerika und Karibik dokumentierten Freisetzungen dominiert die Erforschung der Resistenz gegenüber Herbiziden (51) vor der gegen Insekten (30). In weiteren neun Fällen wurde auf beide Resistenzaspekte getestet. Bei zehn Freisetzungen ging es um Virusresistenz, während 20 die Veränderungen der Produktqualität zum Ziel hatten. Sieben Mal wurde mit Kälte- bzw. Frostresistenz experimentiert, die restlichen zehn Freisetzungen hatten andere gentechnologische Manipulationen zum Ziel.

Wer forscht?

Die oben genannten Freisetzungsversuche wurden vor allem von privaten Firmen durchgeführt: In 74 Prozent der Fälle waren es Unternehmen aus den Bereichen Chemieindustrie, Saatgut, Biotechnologie, Agrarhandel und Lebensmittelindustrie, die für die Freisetzung verantwortlich waren. Zwanzig Prozent der Freisetzungen wurden jedoch von den in der Region Lateinamerika und Karibik beheimateten internationalen Agrarforschungszentren oder von nationalen Forschungseinrichtungen (partiell auch von beiden gemeinsam) durchgeführt. Die Liste dieser Forschungseinrichtungen wird von dem staatlichen kubanischen Zentrum für Gen- und Biotechnologie (CIGB) mit insgesamt 13 Freisetzungen angeführt. Das Internationale Kartoffelforschungszentrum (CIP) setzte sechsmal transgene Kartoffeln frei – davon in vier Fällen gemeinsam mit dem bolivianischen landwirtschaftlichen Forschungsinstitut (IBTA). Das mexikanische Untersuchungs- und Studienzentrum (CINVESTAN) brachte in insgesamt fünf Fällen transgene Kartoffel-, Mais- und Tomatenpflanzen aus. Das Internationale Forschungsinstitut für Mais und Weizen (CIMMYT) wird mit zwei Mais-Freisetzungsversuchen aufgeführt, und das argentinische Photosynthese- und Biochemie-Zentrum (CEFOBI) war für zwei Freisetzungsversuche mit transgenem Mais und Weizen verantwortlich. In sechs Prozent der Fälle waren keine Angaben darüber verfügbar, wer die Freisetzungen veranlaßt hatte.

Trends in Lateinamerika und Karibik

Für die Region Lateinamerika und Karibik zeichnen sich nach den Daten der UBA-Studie die folgenden Trends bei den Freisetzungen ab:
1. Das Freisetzungsinteresse konzentriert sich auf die fünf Pflanzen Mais, Sojabohnen, Tomaten, Baumwolle und Kartoffeln, mit denen zusammen gut 80 Prozent der Freisetzungen durchgeführt wurden.
2. Herbizid- und Insektenresistenz sind die vorherrschenden Ziele der durchgeführten Freisetzungen, knapp zwei Drittel aller Freisetzungen wurde zu einem bzw. zu beiden Resistenzaspekten vorgenommen.
3. Nur zwanzig Prozent der Freisetzungen sind vom öffentlichen Sektor, d.h. von nationalen oder internationalen Agrarforschungseinrichtungen zu verantworten. Die überwiegende Zahl der Freisetzungen erfolgt durch oder im Auftrag von Konzernen des Agrobusiness. Unter ihnen dominieren die US-amerikanischen und nimmt das Chemie- und Gentechnikunternehmen Monsanto die Spitzenposition ein.
4. Die Kulturen, die Ziele und die Auftraggeber der Freisetzungen dokumentieren eindeutig, daß bei den durchgeführten Freisetzungen die Forschungsinteressen der Industrienationen im Vordergrund standen.

Anmerkung:
[1] Bei den aufgeführten Daten wurden Angaben über Puerto Rico (ist seit 1952 mit den USA assoziiert, ohne ein US-Bundesstaat zu sein) berücksichtigt. In Puerto Rico wurden 144 Freisetzungen durchgeführt. Nur die 21 genehmigten Freisetzungen wurden von uns erfaßt.

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