Nicaragua | Nummer 535 - Januar 2019

FRIEDHOFSFRIEDEN IM PARADIES

Die Hoffnung der Opposition auf einen unmittelbaren Wandel wurde enttäuscht

Die Regierung Daniel Ortegas in Nicaragua verwandelt sich in ein klassisch-totalitäres Regime. Es bedient sich einer nahezu absoluten Macht und verfolgt seine Gegner: Notizen aus dem Land der leeren Hotels und überfüllten Gefängnisse.

Von Simón Terz

Das knapp 50 Kilometer südlich der Landeshauptstadt Managua gelegene Granada gilt als „Perle Nicaraguas“. Eingebettet in die Kulisse des Nicaraguasees liegt es am Fuße eines mit üppigem Grün bewachsenen Vulkans. Kopfstein­pflasterstraßen werden von barock-maurischen Häusern in Pastelltönen gesäumt.

In Palmenkronen, die über die roten Ziegeldächer hinausragen, tummeln sich tropische Vögel. Im Zuge der letzten Jahre hat sich Granada vom Geheimtipp zur hippen Reisedestination gemausert. Unentwegt öffneten Hotels, Bars und Restaurants. Bootstouren zu den hunderten im See verstreuten Inseln oder Badetage am nahen Kratersee Laguna de Apoyo gehören dabei zum Fixprogramm der Besucherschaaren.
Der Tourismus ist ein Hauptmotor der nicaraguanischen Wirtschaft, wobei der Kolonial­stadt eine zentrale Rolle zukommt.

Nach sieben langen Monaten der Krise ist jenes Granada kaum wiederzuerkennen: Im April schlugen Regierungsanhänger friedliche Proteste gegen eine umstrittene Reform des Sozialsystems blutig nieder. Über Nacht entzündeten sich Massenproteste, die seither lautstark den Rücktritt des Präsidenten Daniel Ortegas und seiner Gattin und Vizepräsidentin, Rosario Murillo, fordern. Das autokratisch regierende Paar beantwortete das Aufbegehren mit militärischer Härte und Repression (s. LN Nr. 527−533). Unabhängige Menschenrechtsorganisationen verbuchen einen Blutzoll von mindestens 500 Menschenleben, sowie tausenden Verletzten und als verschwunden gemeldeten Personen. In einem regelrechten Exodus verließen über 40.000 Menschen das Land. Das nicaraguanische Zentrum für Menschenrechte beklagt zudem 602 politische Gefangene.

Ausländische Tourist*innen sind zu einer Seltenheit geworden. An den Türen einst florierender Lokale steht: „Bis auf weiteres geschlossen.“ Cecilia hat soeben das kunstvoll bemalte Schild über dem Eingang ihres Hotels im Zentrum Granadas abgeschraubt. Erschöpft lässt sich die junge Frau in einen Schaukelstuhl inmitten des blumenreichen Innenhofes fallen. „Ich kann die Steuern nicht zahlen. Meine Mutter und ich wohnen jetzt hier. Das Hotel öffnete vor zwei Jahren und lief gut. Seit einem halben Jahr bleiben die Gäste aus. Die einzigen Betriebe, die noch durchgehend geöffnet bleiben, gehören der Regierung nahestehenden Besitzern.“
Auf die Frage, ob sie sich eine neue Regierung wünsche, antwortet sie zögerlich: „Irgendetwas muss passieren, Nicaragua geht sonst völlig vor die Hunde. Ich bin in den achtziger Jahren aufgewachsen, da herrschte hier Bürgerkrieg. Nun abermals ein solches Blutvergießen? Das wird das Land nicht ertragen. Mein Vater hat in der Revolution von 1979 gekämpft und auch ich bin Sandinistin, immer gewesen − Was die Regierung mit den protestierenden Studenten macht, ist fürchterlich außer Kontrolle geraten. Aber wer soll das Land denn sonst regieren?“

Die Korruption ist ihres Erachtens einer der Hauptgründe für die Missstände. „In Ciudad Sandino, einem Arbeiterviertel westlich der Hauptstadt, haben sie meinen Neffen verhaftet. Angeblich wurde er auf Demonstrationen gesichtet. Ich habe einem Beamten knapp 50 US-Dollar gezahlt, damit sie ihn nicht in das Hochsicherheitsgefängnis La Modelo verlegen. Da bekommen wir ihn nicht wieder raus. So funktioniert das hier.“ Sie wiegt sich schweigend hin und her, ergänzt aufgebracht: „Da soll mir einer weismachen, dass die Oppositionsbewegung nicht eigens unterm Tisch ihr Süppchen kocht? Mit dem COSEP (Anm. d. Red.: wichtigster Unternehmerverband) in ihren Reihen? Wenn ich mich recht entsinne, waren das zuletzt noch die dicksten Freunde Ortegas.“

Langsam beginnt es zu dämmern und der Sonnenuntergang taucht die alte Stadt in ein unwirkliches Farbenspiel. Auf dem Parque Central, dem Hauptplatz der Altstadt, versuchen Händler mit ihren Bauchläden und Imbissbuden letzte Verkäufe abzuwickeln. Die Stimmung wirkt angespannt: Zwei mit Polizist*innen überladene Pick-ups umrunden das frühabendliche Geschehen. Eine Gruppe Jugendlicher posiert mitten auf dem Platz für Fotos. Jeder mit jeweils einer der Lettern der Regierungspartei auf dem T-Shirt, der Reihe nach aufgestellt.
Reformierte Verfassung soll in Versen geschrieben sein

In einem opportunen Moment, als die Patrouillen gerade außer Sichtweite sind, kommen barfüßige Straßenkinder angerannt. „Sapos!“, was so viel wie „Verräter“ heißt, rufen sie dem Grüppchen feixend entgegen und machen sich glucksend wieder aus dem Staub. Julio, Anwalt und Historiker, kann sich ein breites Grinsen im Angesicht der Arglosigkeit der Kleinen nicht verkneifen. Ebenso schnell verfinstert sich seine Miene wieder und er hält an, rasch das Weite zu suchen: „Nach Einbruch der Dunkelheit herrscht eine inoffizielle Ausgangssperre. Die Präsenz der Polizei und regierungstreuer Schergen hinterlässt Spuren.“

Mittlerweile regnet es in Strömen. Während Julio schnellen Schrittes und auf Umwegen zu einem sicheren Unterschlupf schreitet – trotz später Stunde mit Sonnenbrille und der Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen – schildert er bald im Flüsterton, dass er auf einer Liste vermeidlicher „Terroristen“ der paras (Anm. d. Red.: para­­polizeiliche Einheiten) stand, um „geholt“ zu werden. „Ein Verwandter ist Beamter bei der Polizei. Er hat im letzten Moment dafür gesorgt, dass ich da vorerst wieder runter komme. Ich hab’ Haus und Familie zurückgelassen, schlafe seither nie mehr als zwei, drei Nächte am selben Ort.“ Heute ist es ein geschlossenes Hotel.

Sorgfältig verriegelt er alle Türen, auch die Fenster bleiben geschlossen. Regen prasselt lautstark auf das Dach. Dennoch, Julio legt Musik auf, sie soll das Gespräch übertönen: Gedichte aus der Zeit des spanischen Bürgerkrieges, vertont von Paco Ibañez. „In meinen Zwanzigern lebte ich in Madrid“, eröffnet er. „Dort kam ich mit politischem Theater in Kontakt. Es inspirierte meine ersten Versuche, Bewusstsein gegenüber den Vergehen des „Orteguismus“ zu schüren. Auf dem Markt und einer Holzkiste stehend trug ich in populären Reimen vor. Irgendeinen Nerv muss ich getroffen haben, bereits damals wurde ich für sowas verhaftet.“

„Unsere jetzige Verfassung ist auf den caudillo, eine archaische politische Kultur, zurecht­geschnitten“, erläutert er. „Nicaragua dürstet nach Gewaltenteilung.

Ungezügelter Präsidentialismus ist daran schuld, dass solch absolute Macht überhaupt gedeihen kann. Ich arbeite mit einem Netz unterschiedlicher Organisationen mögliche Reformvorschläge aus.“ Er zeigt auf Unterlagen, die stapelweise den Raum schmücken und fährt fort: „Damit demokratische Institutionen respektiert werden, gehören außerdem die unerhört mächtigen Wirtschaftsmonopole aus der Politik verbannt. Die Regierung hat den Staat zu einem Familienunternehmen verkommen lassen. Statt Unternehmenskontrolle wurden Kartelle geschaffen. Sie sind die Herren des Öls, des Stroms, des Holzes unserer Wälder, ganz zu schweigen von den Medien.“
Was fehlt noch auf dem Weg zu einer Demokratisierung? „Alle Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die sich binnen der vergangenen Monate zugetragen haben, dürfen nicht ungestraft bleiben. Bisher wird weder gegen einen einzigen Polizisten, noch einen Paramilitär oder ein Mitglied der sandinistischen Jugendorganisation, eine Art Pendant der FDJ der DDR, ermittelt. Straffreiheit macht nicht nur das Zusammenwachsen einer in höchstem Maße gespaltenen Gesellschaft unmöglich, sie schürt außerdem eine Kultur des Verbrechens und der Korruption.“

Wünsche für eine reformierte Verfassung? Er lacht: „Das mag für europäische Ohren eher exotisch klingen, aber: Sie soll in Versen geschrieben sein! Ein unbeweglicher Kodex, vor der Manipulation der Politiker geschützt und zugleich Gedicht in ständiger Konstruktion. Die Menschen hier besitzen eine scheinbar natürliche Veranlagung für den Vers, das reicht zurück bis in die indigene Sprachtradition. Idealerweise müsste ihr reichlich Musikalität innewohnen, damit die Leute ihre Rechte auswendig lernen; die ersten drei Kapitel und du kennst sämtliche Garantien. Damit verteidigst du dich vor jedem Polizisten.“

Am nächsten Morgen wird einer der klapprigen Busse auf seiner Route Richtung Managua von der Polizei angehalten. „Alles normal?“ raunt ein Beamter in martialischer Montur die zusammengepferchten Passagiere an. Eine Frau trägt einen Blumenstrauß bei sich, den sie nervös in den Fußraum gleiten lässt. Es ist der 2. November, der „Tag der Toten“. Dieses Jahr wird das Gedenken an die Verstorbenen von einem außer­gewöhnlichen Polizeiaufgebot begleitet. Patrouillen umrunden die Friedhöfe, Beamte machen Fotos von „verdächtigen“ Gräbern, die mit den blau-weißen Nationalfarben verziert wurden. An jenem Wochenende wurden mindestens 16 Personen an verschiedenen Ruhestätten landesweit festgenommen.

Weit entfernt scheint die anfängliche Phase des Volksaufstandes, die Erinnerungen an den arabischen Frühling erwachen ließ. Barrikaden, mit denen Regierungsgegner 70 Prozent der Haupttransportwege lahmlegten, gigantische Demonstrationen, besetzte Universitäten­- all das ist heute Geschichte. Nahezu sämtliche Protagonisten der Revolte sind mittlerweile inhaftiert, untergetaucht oder ins Exil geflüchtet. Dieses Land, das jüngst noch als sicherstes Mesoamerikas galt, hat sich in einen Polizeistaat verwandelt, in dem de facto kein Recht existiert. Selbst symbolische Räume und Gesten werden systematisch geächtet und kriminalisiert.

Die Hoffnung der Opposition, dass ein politischer Wandel unmittelbar bevorstünde, wurde enttäuscht. Ortega hat weiterhin fast alle Fäden in der Hand: Er beherrscht die Polizei, die Armee, die Paramilitärs, das Justizwesen, den Wahlrat und auch das Parlament. Wie lange dieses Szenario haltbar ist, bleibt ungewiss. Die ohnehin schwache nationale Wirtschaft droht gänzlich zu kollabieren und auf internationaler Ebene entbehrt die Regierung mittlerweile jeglicher Legitimität.

Der Sicherheitsberater Donald Trumps, John Bolton, drohte kürzlich mit neuen wirtschaftlichen Sanktionen gegen Nicaragua, sowie Venezuela und Kuba. Der erzkonservative Bolton bezeichnete diese als “Troika der Tyrannei” und „Dreieck des Terrors“. Die Wortwahl ruft die „Achse des Bösen“ von George Bush Jr. und die Terminologie aus der Zeit des Kalten Krieges ins Gedächtnis. Postwendend warf Ortega Nichtregierungsorganisaionen aus den USA und der EU vor, “Komplizen des Verbrechens“ zu sein. Sie hätten die „Folterer und Mörder nicaraguanischer Brüder und Schwestern“ finanziert und ausgebildet.

Dieses Land hat sich in einen Polizeistaat verwandelt, in dem de facto kein Recht existiert

Im Dezember möchte die Regierung einen Gesetzesvorschlag für eine Politik der „Versöhnung und des Friedens“ präsentieren. „Versöhnung von oben, das ist doch der Gipfel des Zynismus und eine Beleidigung der Opfer des Staatsterrors“, meint Julio abwinkend. „Wahre Versöhnung bedeutet die sofortige Freilassung der unrechtmäßig Inhaftierten, das Entwaffnen der Paramilitärs und echte politische Konzessionen.“

In der Tat kennt der Zynismus des Regimes keine Mäßigung mehr: am 12. und 13. Dezember 2018 wurden mit einem massiven Polizeiaufgebot die Räume von neun NGOs durchsucht und verwüstet, die Einrichtung zerstört und Computer und Laptops gestohlen. Vorbereitend wurde ihnen im parlamentarischen Schnelldurchlauf der Rechtsstatus einer juristischen Person entzogen (s.a. Kurznachrichten).

*Um die Anonymität der Interviewpartner*innen zu wahren, wurden die Namen geändert.

 

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