Kolumbien | Nummer 401 - November 2007

„Gerechtigkeit gibt es in Kolumbien nicht”

Interview mit Gildardo Tuberquia, Repräsentant der Friedensgemeinde von San José de Apartadó und Empfänger des Aachener Friedenspreise

Die Friedensgemeinde von San Apartadó erklärte ihre Neutralität im Krieg zwischen Paramilitärs, Guerilla und Armee. Seit ihrer Gründung 1997 wurde sie mehrfach Opfer von bewaffneten Überfällen, bei denen bereits 180 BewohnerInnen ums Leben kamen. Der 31-jährige Gildardo Tuberquia ist Meitglied des zehnköpfigen Gemeinderates.

Interview: Knut Henkel

Welche Bedeutung hat der Aachener Friedenspreis für die Gemeinde von San José de Apartadó? Bringt er mehr Sicherheit?

Der Preis steht für Anerkennung aus einem anderen, einem europäischen Land für die Arbeit unserer Friedensgemeinde. Er bedeutet Anerkennung für all das, was wir in den letzten zehn Jahren seit der Gründung unserer Gemeinde geleistet haben. Anerkennung für den pazifistischen Widerstand gegen den Krieg, der unser Land prägt. Dieser Preis hilft uns, denn er macht unsere Existenz, unseren Kampf für den Frieden bekannter und schützt uns somit. Wir sind nur eine kleine Gruppe Menschen, die gegen die Ungerechtigkeit des Staates und gegen die Angriffe der staatlichen Sicherheitskräfte und der Paramilitärs protestiert. Preise wie der Aachener Friedenspreis helfen und unterstützen uns, lassen uns neuen Mut schöpfen und bringen uns etwas Sicherheit. In Kolumbien gibt es durchaus Interessengruppen, die nur zu gern mit unserer Gemeinde Schluss machen würden.

Wird die Position der Friedensgemeinden in Kolumbien respektiert?

Nein, Respekt hat man uns nicht entgegengebracht, sondern uns das Recht auf zivilen Widerstand verweigert. Für dieses Recht kämpfen wir und gegen die Straflosigkeit, denn Gerechtigkeit gibt es für uns in Kolumbien nicht.

Gab es Veränderungen, nachdem mehreren Abgeordneten und ranghohen Politikern nachgewiesen wurde, dass sie mit den Paramilitärs unter einer Decke stecken?

Wir haben immer wieder die offensichtliche Komplizenschaft zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und den Paramilitärs angeprangert, aber das hat keine Folgen gehabt. Natürlich freuen wir uns darüber, dass der Laptop eines ranghohen Paramilitärs beschlagnahmt und ausgewertet wurde und somit ein tiefer Einblick in das politisch-paramilitärische Netzwerk möglich wurde. Das ist ausgesprochen positiv und hat in einigen Ländern auch dazu geführt, die Verhältnisse in Kolumbien in einem anderen Licht zu betrachten. Wir haben auf diese Verstrickungen schon früh hingewiesen, direkt nach der Gründung der Friedensgemeinde, nur geglaubt hat man uns nicht. An den Verhältnissen hat sich nichts geändert. In der Region von Apartadó gibt es trotz der offiziellen Demobilisierung der paramilitärischen Verbände nach wie vor paramilitärische Präsenz. Sie agieren wie zuvor gemeinsam mit der Armee und der Polizei.

Ist die Demobilisierung so etwas wie eine PR-Aktion der Machthaber in Kolumbien?

Es gibt keine Demobilisierung in diesem Sinne, zumindest nicht in der Region von Apartadó. Die Kommandeure von gestern sind die gleichen wie heute und sie kontrollieren die gesamte Region. Am 1. September wurde erst ein junger Bauer von den Paramilitärs ermordet, ungefähr zu dem Zeitpunkt, an dem wir in Aachen den Friedenspreis erhielten. (Am 18. September wurde ein weiteres Gemeindemitglied ermordet. Anm. d. Red.)

Fehlt es an internationaler Kritik an diesen Verhältnissen?

Ja, exakt, denn die Paramilitärs sind in direkter Nachbarschaft unserer Gemeinde präsent und das interessiert niemand, obwohl der kolumbianische Staat vom Iberoamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte in San José dazu verpflichtet wurde, uns zu schützen. Insgesamt wurden seit der Gründung der Friedensgemeinde 180 Gemeindemitglieder ermordet – keiner dieser Morde wurde aufgeklärt. Es gibt in Kolumbien keine Gerechtigkeit, die Justiz wird ihrem Auftrag nicht gerecht und wir kämpfen dafür, dass diese Morde gesühnt werden.

Woher nehmen Sie die Energie, um nun schon zehn Jahre für das Recht auf Neutralität im Konflikt und für Gerechtigkeit zu kämpfen?

Wir haben uns bei der Gründung der Gemeinde am 23. März 1997 dafür entschieden, unsere Neutralität einzufordern, keine Waffen auf unserem Territorium zu akzeptieren und zivilen Widerstand gegen den Krieg zu leisten. Daran halten wir fest, obwohl so viele von uns ermordet wurden. Das sind wir den Ermordeten schuldig. Unter ihnen befanden sich auch etwa fünfzehn unserer gewählten Vertreter. Wir kämpfen für unsere Toten, unsere Rechte, unser Land und unsere Zukunft.

Woher nehmen Sie und die Gemeinde die Motivation angesichts der ständigen Gefahr?

Wir leben in schwierigen Verhältnissen und sind arm, denn nahezu alle von uns haben ihre Farmen aufgeben müssen, sind geflüchtet und kämpfen für das bisschen Land, das uns geblieben ist. Uns bleibt keine Alternative, denn wir wollen uns nicht in das Heer von über drei Millionen Bürgerkriegsvertriebenen einreihen und in eine der großen Städte flüchten. Wir haben ein Ziel und das ist unsere zentrale Hoffnung. Wir sind auf Hilfe und internationale Solidarität angewiesen.
Welche Rolle spielt die Bildung und die Universität der Friedensgemeinden?
Bei uns gab es keine staatliche Schule, keine staatlichen Strukturen und somit auch keine Lehrer. Wir müssen unseren Kindern selbst die wesentlichen Dinge beibringen. Dazu gehört auch das friedliche Miteinander und das Erlernen der Regeln im Dorf, wo zum Beispiel kein Alkohol ausgeschenkt oder konsumiert wird. Unsere Lehrer sind oftmals auch noch selbst Schüler, die in Apartadó ihr Abitur machen und ihr Wissen dann weitergeben. Aber es gibt auch eine Gruppe in der Gemeinde, die für die Weiterbildung zuständig ist und die Leute aus den Arbeitsgruppen unterrichtet. Wir müssen dazulernen, um weiterzukommen und uns weiterzuentwickeln.

Wie kam es zu diesem Weiterbildungskonzept?

Das haben wir gemeinsam entwickelt und abgestimmt. Alle wesentlichen Entscheidungen werden von der Gemeinde auf den Versammlungen basisdemokratisch getroffen. Auf diesen Versammlungen werden auch die Mitglieder des Rates, der die Gemeinde nach außen repräsentiert, gewählt und deren Aufgaben festgelegt.

Sind die Friedensgemeinden innerhalb der kolumbianischen Gesellschaft überhaupt bekannt?

Wir waren 1997 die erste Gemeinde, die sich organisiert hat. Heute gibt es eine ganze Reihe, die diesem Beispiel gefolgt sind. Es gibt ein Netzwerk dieser Gemeinden, die zusammenarbeiten, sich austauschen und helfen. Es gibt regelmäßige Treffen, zu denen die Repräsentanten der Gemeinden anreisen. (Laut dem Netzwerk der Friedensinitiativen in Kolumbien Redepaz gibt es derzeit in Kolumbien 52 Friedensgemeinden. Anm. d. Red.)

Wird über das Leben in den Friedensgemeinden in den nationalen Medien berichtet?

Sehr wenig. Es gibt einige wenige unabhängige Journalisten wie Hollman Morris, die sich mit der Situation in San José de Apartadó und anderen Friedensgemeinden beschäftigt haben und darüber berichteten. Das unabhängige Mediensystem in Kolumbien ist extrem klein. Das Interesse der großen Fernsehsender oder der großen Tageszeitung „El Tiempo“, die wiederum der Familie des Vizepräsidenten gehört, ist ausgesprochen gering. Die sind unserer Meinung zufolge weitgehend staatlich kontrolliert.

Seit wann sind Sie Teil des Gemeinderates?

Schon einige Jahre. Vorher war ich für den Hausbau und sonstige Bauten in der Gemeinde zuständig. Nun repräsentiere ich die Gemeinde nach außen und bin mehrfach wiedergewählt worden. Jetzt bin ich vier Wochen in Deutschland und Europa, um über unsere Arbeit zu berichten und um Unterstützung zu werben. Das ist Teil meiner Arbeit, ich bin viel unterwegs. Manchmal ist das schwierig, denn ich habe drei Kinder, die acht und drei Jahre sowie 15 Monate alt sind. Meine Frau ist schwanger und ich bin nicht zuhause. Aber ich kann mich auf die Leute vor Ort verlassen, die kümmern sich um meine Familie.

Welche Bedeutung haben die Freiwilligen von Peace Brigades International und der Fellowship of Reconciliation, die ständig im Friedensdorf von San José de Apartadó präsent sind?

Die Präsenz dieser Freiwilligen ist der einzige Schutz, den wir haben. Wir sind umgeben von rund tausend Bewaffneten, die von zwei oder mehr internationalen Freiwilligen in Schach gehalten werden. ‚Wenn die Gringos nicht wären, hätten wir schon lange mit euch Schluss gemacht‘, hat mir mal ein Kommandant der Paramilitärs gesagt. Hinzu kommt die internationale Aufmerksamkeit von Presse und Parlamentariern, von Botschaften und Menschenrechtsorganisationen, die verfolgen, was in Kolumbien passiert und ein Auge auf die Friedensgemeinden haben. Diese Aufmerksamkeit manifestiert sich auch in Menschenrechtspreisen wie dem Aachener Friedenspreis.

Welches sind die größten Hürden auf dem Weg zur Befriedung Kolumbiens?

Mit der Waffe in der Hand wird man in Kolumbien keinen Frieden säen. Davon sind wir überzeugt und mit dieser Meinung stehen wir nicht allein. Eine weitere Hürde ist die Straflosigkeit, die unsere Gesellschaft prägt. Wenn Menschenrechtsverletzungen, Morde, Folter und das Verschwindenlassen nicht geahndet werden, dann wird der Kreislauf der Gewalt auch nicht enden. Der zivile Widerstand ist ein Weg, eine Alternative. Ich weiß nicht, wie lange wir brauchen werden, ich weiß nicht, ob wir unser Ziel erreichen werden, ich weiß aber, dass es keine Alternative gibt.

Welche Träume haben Sie?

Oh, ich habe so viele. Ich träume davon, dass wir nicht mehr in vollkommener Armut leben müssen, dass die Leute zurück auf ihr Land gehen, dass sie dort wieder in Ruhe leben können. Ich träume vom Frieden und davon, dass die Zivilrechte respektiert werden.

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