Gewerkschaften | Nummer 323 - Mai 2001

Gewerkschaften im Sog des Neoliberalismus

LN

Lateinamerika ist ein gefährliches Pflaster für Gewerkschaftsaktivitäten, darauf weist der Jahresreport 2000 des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften hin. Gewalt kennzeichnet in hohem Maße die meisten der 23 beobachteten Staaten. Mit 90 Hinrichtungen hält Lateinamerika den grausamen Rekord bei der Ermordung von Gewerkschaftsmitgliedern in deren Kampf für Gerechtigkeit. Mehr als zwei Drittel aller weltweit inhaftierten GewerkschaftsaktivistInnen sitzen in Lateinamerika hinter Gittern. Eine Vielzahl wird von Todesschwadronen bedroht, viele werden verschleppt und ermordet. Und während sich die jeweiligen Regierungen gegenüber Korruption, allgemeiner Kriminalität und florierendem Drogenhandel oft hilflos zeigen, wird demgegenüber die Repression gegen jede Form der Gewerkschaftsarbeit umsichtig organisiert.
In der Vergangenheit spielten Gewerkschaften in der politischen Arena der meisten lateinamerikanischen Staaten eine bedeutende Rolle. Unter der Ägide einer nationalen binnenmarktorientierten Industrieentwicklung konnten sie bedeutende Mitgliederzugewinne verzeichnen. Mit dem Übergang zu diktatorischen Regimes in den 70er Jahren wurden jedoch auch die Gewerkschaften, sofern sie sich nicht vom Staatsapparat kooptieren ließen, einer scharfen Repression unterworfen. In dieser Zeit wurden Zehntausende von GewerkschafterInnen in Chile, Brasilien, Argentinien und Uruguay inhaftiert, gefoltert und ermordet. Der Beitrag von Boris Kanzleiter über die verschwundenen GewerkschafterInnen von Mercedes Benz in Buenos Aires erinnert an diese düstere Zeit und beleuchtet die aktuellen Auseinandersetzungen um eine Wiedergutmachung.
Mit dem Übergang zu Demokratieregimen ab Mitte der 80er Jahre waren auch die Gewerkschaften mit einer erheblich veränderten Industriepolitik konfrontiert, die im Zeichen des Neoliberalismus weltmarktoffen durchgeführt wurde und zum großen Teil die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Industriestrukturen zerstörte. Der Beitrag von Martin Ling skizziert diese Entwicklung hin zur geplanten amerikanischen Freihandelszone FTAA. Silvia Portella untersucht in ihrem Bericht „Mercosur“ die Wirkungen der angestrebten Wirtschaftsunion zwischen Brasilien, Paraguay, Uruguay und Argentinien auf Formen der gewerkschaftlichen Organisation.
In einem gewerkschaftlichen Organisierungsprozess ist jedoch nicht nur die in der jeweiligen Industriestruktur angelegte objektive Notwendigkeit des Zusammenschlusses von lohnabhängig Beschäftigten angelegt. In diesem Sinne kann auch der Bericht von Doris Meißner über die erfolgreich begonnene Zusammenarbeit zwischen der deutschen und der brasilianischen ChemiearbeiterInnengewerkschaft gelesen werden. Der Beitrag von Tina Frank und Nina Kleiber zeigt die vielfältigen Handlungsbarrieren, die Beschäftigte überwinden müssen, die sich als nicht-klassische Gewerkschaftsgruppe organisieren wollen: Die Landarbeiterinnen und Hausangestellten in Brasilien. Sie arbeiten darin die Bedeutung des strukturellen Ausschlusses von Frauen aus einer patriarchal dominierten Gesellschaft heraus.
Der Bericht von Rudi Pfeifer über die heutige Situation von BananenplantagenarbeiterInnen führt uns jedoch vor Augen, dass in bestimmten Regionen Lateinamerikas sehr direkte und bedrohliche Formen von Brutalität der Unternehmen nach wie vor zum gewerkschaftlichen Existenzkampf gehören. Thomas Greven beleuchtet in seinem Beitrag das widersprüchliche Verhältnis zwischen US-amerikanischen und lateinamerikanischen Gewerkschaften. Der in den 90er Jahren gewählte Gewerkschaftschef Sweney verdankt sein Amt nicht zuletzt den Organisierungserfolgen der Dienstleistungsgewerkschaft Service Employees International Union (SEIU) bei den lateinamerikanischen MigrantInnen. Dennoch macht Greven deutlich, daß Solidarität selten und oft nur sehr schwer von oben organisiert werden kann, sondern eher von unten wachsen muss.
In dem letzten Beitrag des vorliegenden Schwerpunktteils setzt sich Dieter Boris in einer Rezension mit der jüngst erschienen instruktiven Studie von Rainer Dombois und Ludger Pries auseinander. Mit skeptischem Unterton bewertet er die von den Autoren in den „Neuen Arbeitsregimes im Transformationsprozess Lateinamerikas“ auch positiv betrachteten politischen Gestaltungsspielräume.
Diese Schwerpunktausgabe ist in Zusammenarbeit mit dem Nord-Süd-Netz des DGB-Bildungswerks e.V. entstanden. Die LN-Redaktion bedankt sich für die gute Zusammenarbeit. Die Fotos stammen von David Bacon.

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