Nummer 527 - Mai 2018 | Solidarische Ökonomie

HOFFNUNG AUF EINE HUMANITÄRE GESELLSCHAFT

Nachruf auf den kritischen Wissenschaftler Paul Israel Singer

Paul Israel Singer handelte stets als politischer Weltbürger. Er hegte und lebte die Hoffnung auf eine humanitäre Gesellschaft und solidarische Wirtschaft und wusste andere mit dieser Hoffnung anzustecken. Paul Singer verstarb am 16. April 86-jährig in São Paulo. Ein persönlicher Nachruf von Clarita Müller-Plantenberg.

Von Clarita Müller-Plantenberg

Paul Singer war ein Weltbürger auf der Suche nach dem Aufbau einer humanitären Wirtschaft und Gesellschaft. Diese Suche hatte er mit uns Gründer*innen der LN gemeinsam. So hatten wir uns verbündet, und der Austausch stärkte beide Seiten. Paul kannte Urs Müller-Plantenberg – einen der Gründer der LN – seit langem von unseren Besuchen bei ihm im Rahmen von Lateinamerika-Forschungsreisen. Ende der 70er hatte er dann eine Gastprofessur am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Jahre inne, zu der Urs ihn im Auftrag des Institutsrates einlud.

Urs unterstützte und übersetzte Pauls Beiträge im Lateinamerika Jahrbuch, das eine Gruppe von Theoretiker*innen und Praktiker*innen hier in Deutschland herausgab. Da gab es Beiträge von ihm zu der gemeinsamen Debatte über Verstädterung, über Arbeitslosigkeit, darüber, wie wir heute den Sozialismus zu verstehen haben und wie Inklusion durch eine solidarische Wirtschaft vorangetrieben werden könne. Paul bezog die Lateinamerika Nachrichten außerdem von Anfang an und betonte, wie wichtig es für ihn sei, diese Quelle der kritischen Aufarbeitung der Bewegungen in Lateinamerika lesen zu können, weil man in Regierungsjobs nicht immer hinreichend Tuchfühlung mit ihnen halten könne.

Paul wandte sich kritisch grundlegenden Fragen des Jahrhunderts zu, rechnete zu Beginn der 1980er Jahre im 5. Lateinamerika Jahrbuch mit einem Begriff des „real existierenden Sozialismus“ ab, der hierarchisch strukturiert und von oben definiert worden sei: Erst wenn die Produktivkräfte die Produktionsverhältnisse sprengen würden, könne der Sozialismus aufgebaut werden. Hatte Marx das nicht geschrieben?
Dagegen postulierte Singer, hier läge eine Fehlinterpretation von Marx vor. Vielmehr müsse der Sozialismus für jede einzelne Person attraktiver sein im Vergleich zu ihrer bestehenden Situation, sonst werde man sich ihm nicht zuwenden. Weiterhin könne die Kluft zwischen „vermeintlichen Avantgarden“ und „Arbeiter*innen“ nur geschlossen werden, wenn die Trennung zwischen manueller und intellektueller Arbeit aufgehoben werde. Nur so könne „die Schlagseite“ überwunden werden, die im Wirtschaftsleben herrsche, in dem zu viel Hierarchie eine demokratische Selbstverwaltung behindere.

Für ihn war eine wirklich sozialistische Bewegung immer eine, die die Bedürfnisse und Interessen der Arbeiter*innen aufnimmt. Somit seien Freiheit und Gleichheit nicht nur Ziele, sondern auch Mittel, damit der Sozialismus wirklich Sozialismus sei, das heißt, die bestmögliche Antwort auf die Forderungen der Arbeiter*innen.

Er gehörte 1980 zum Kreis derer, die die brasilianische Arbeiterpartei (PT) gründeten. Mit seiner kritischen und radikalen Analyse legte er bereits die Grundlage dafür, dass nach dem Zerfall der Sowjetunion 1989 in seiner Partei (PT) eine Neuinterpretation der Ziele eingeleitet wurde. 1993 trafen sich dazu Vertreter*innen der Landlosenbewegung (MST), der Caritas und Intellektuelle, darunter auch Paul Singer. Sie wollten hierarchische Strukturen abbauen, stalinistische Definitionen der zu erreichenden Ziele kritisieren und abschaffen. Eine breite Debatte der Bewegungen und Intellektuellen begann, die in diesem Sinne Demokratisierung und die Inklusion derer, die aus der Wirtschaft herausgefallen waren, auf die Tagesordnung setzten. Der Respekt vor den Rechten der Minderheiten und ein am Gemeinwohl orientiertes Wirtschaften wurden als Bedingungen einer humanitären Wirtschaft und Gesellschaft gesehen.

Nur eine Gesellschaft, die Kooperation der bedingungslosen Konkurrenz vorzieht, sei in der Lage, die Natur als Subjekt in jede gemeinsame Entscheidung über Eingriffe in die Natur einzubeziehen. Nur so könne auch die Solidarität zwischen Generationen gewährleistet und die kulturelle und natürliche Vielfalt gewahrt werden. Hier wurde die Solidarische Ökonomie bereits zum Thema der Arbeiterpartei und der ihr nahestehenden Bewegungen.

Hiermit verbunden gestaltete sich Paul Singers Auffassung von der Macht. Dies hängt möglicherweise damit zusammen, dass er viele ganz unterschiedliche Berufe mit verschieden großen Einflussbereichen innehatte. Als junger Elektriker war er in der Metallarbeitergewerkschaft organisiert und 1953 einer der Anführer des Metallarbeiterstreiks von über 300.000 Arbeiter*innen, der São Paulo über einen Monat lahm legte. Aus ihm wurde der Ökonom (Studium 1956-59) und Soziologe (Promotion 1966, Studium der Demographie), der an verschiedenen Universitäten des In-und Auslands lehrte. 1968 belegte die Militärjunta (1964-1985) ihn mit einem Berufsverbot, woraufhin er mit anderen Diktaturgegner*innen das Forschungsinstitut Centro Brasileiro de Análise e Planejamento (CEBRAP) gründete. Ab 1979 wurde er wieder Professor, diesmal an der Katholischen Universität. 1989 wurde er Planungssenator der Millionen-Metropole São Paulo unter der Bürgermeisterin Luiza Erundina und 2003 schließlich dann zum Staatssekretär für Solidarische Ökonomie im Ministerium für Arbeit und Beschäftigung (2003-2016) ernannt. Auf dem Weltsozialforum 2002 hatte die soziale Bewegung entschieden, Paul Singer als Staatssekretär für Solidarische Ökonomie der Regierung zu benennen, sollte Lula siegreich aus der Wahl 2002 hervorgehen. Der setzte den Vorschlag in die Tat um.

Sein Leben lehrte ihn, was es bedeutet, mit Macht bescheiden und solidarisch umzugehen. Er sprach immer davon, dass Herausforderungen es verlangten, gemeinsam erörtert zu werden, und dass Reziprozität einen Lernprozess beider Seiten einschließen könne. Das Brasilianische Forum für Solidarische Ökonomie und das Staatssekretariat seien Zwillinge. Die Regierung sei dazu da, das umzusetzen, was von unten, also von den solidarischen Wirtschaftsunternehmen, Netzen und ihren Unterstützer*innen geplant worden sei. Dazu nahm er Verhandlungen mit 23 Ministerien auf, mit denen zum Teil wesentliche Programme der Solidarischen Ökonomie zugunsten der Ärmsten entstanden. Auf Basis der sehr gründlichen Analyse der Probleme und Überarbeitung der Konzepte wurde Brasilien so mit einer intensiven Theorie-Praxis Arbeit zum ersten Staat der Welt mit einem Programm der Solidarischen Ökonomie für das ganze Land. Mit ca. 30.000 solidarischen Wirtschaftsunternehmen, die rund drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts erstellten, wurde von unten nach oben geplant.

Vielleicht waren diese so unterschiedlichen Lebenserfahrungen auch eine wichtige Vorbedingung dafür, eine dezidierte Position über die Frage der Macht in unserer Epoche zu beziehen. Die gesellschaftlichen Hierarchien müssten abgebaut werden, so schrieb er. Dabei gehe es nicht nur um die Forderungen des Proletariats, sondern auch um die der Frauen, Jugendlichen, ethnischen Minderheiten, Homosexuellen etc., die gegen ihre Unterdrückung kämpften. Anstatt die politische Macht zu „erobern“, gehe es also darum, sie so zu teilen, dass die endgültigen Entscheidungen direkt oder indirekt von der arbeitenden Klasse getroffen würden.

Hiermit war er sich mit seinem Freund, Paulo Freire, einig, dem Vordenker der befreienden Pädagogik. Reziprozität in jeder Begegnung, in der Bildung und beim Aufbau der Solidarischen Ökonomie wurde zum Leitfaden der Inkubatoren – Gründungsberatungsteams – an über 100 Universitäten. Dort wurden fortgeschrittene Studenten von Gründer*innengruppen Solidarischer Wirtschaftsunternehmen aufgesucht, die sie dann begleiteten. Dies erforderte starke Lernprozesse auf beiden Seiten, gerade auch im multikulturellen Brasilien. Singers Nationales Sekretariat setzte sich für die Abschaffung der extremen Armut in den Städten ein. Doch Paul und sein Sekretariat waren ebenfalls bei der Arbeit mit Gemeinschaften der Minderheiten des Landes aktiv. Die hohe kulturelle Vielfalt bereicherte und erweiterte die Arbeit.

Als 2013 Nachfahren der geflohenen Sklav*innen (Quilombolas), Indigene und Caiçaras (Fischer) an der Ostküste – unterstützt von den Bürgermeistern der drei Küstenstädte Ubatuba, Angra dos Reis und Paraty – die Genossenschaft „Cooperativa do Azul Marinho“ gründeten, meinte Paul, die traditionellen Gemeinschaften mit ihrem Naturbezug und ihrem Gemeinschaftssinn seien Lehrmeister*innen, deren Unterstützung eine langfristige strategische Bedeutung habe.

Die permanente Auseinandersetzung mit den Lebensfragen von Minderheiten und Armen und die mutige Praxis der Bewegung Brasiliens waren dann auch Voraussetzungen dafür, dass er grundlegende Einsichten auf den internationalen Kongressen des Forums Solidarische Ökonomie 2006 und 2015 in Berlin weitergeben konnte.

Melanie Berezovsky, seine aktive und lebhafte Frau, war Paul eine Partnerin, die sich mit seinen Thesen kritisch auseinandersetzte. Sie starb 2012. Er war Vater von drei Kindern, einem Politikwissenschaftler, einer Soziologin und einer Journalistin. Der gebürtige Österreicher, der mit acht Jahren vor den Nazis floh, bleibt uns ein Verbündeter, einer, der auf dem Weg zu einer humanitären Gesellschaft ermutigt, gerade heute.

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