Linke in Lateinamerika | Nummer 325/326 - Juli/August 2001

Katalysator emanzipativer Politik

Zu den Anregungen der mexikanischen Zapatistas

Die Zapatistas unterscheiden sich in einigen zentralen Aspekten von traditionellen lateinamerikanischen Linken. Dazu gehören sowohl ihr Anti-Avantgardismus als auch ihr Verzicht, um die Übernahme staatlicher Macht zu kämpfen. Die mexikanischen RebellInnen verstehen sich als Teil eines „Suchprozesses“. In Deutschland werden sie zwar wahrgenommen, ihre Anregungen aber kaum diskutiert.

Ulrich Brand

Als Subcomandante Marcos am 11. März diesen Jahres vor mehreren hundertausend Menschen auf dem Hauptplatz in Mexiko-Stadt das Wort ergriff, warteten die meisten auf die große Rede schlechthin, an deren Ende klare Vorschläge für das weitere Vorgehen stehen würden. Die Ansprache ging, wie auch die seiner VorrednerInnen der EZLN-Kommandantur, unter die Haut, es war ein wirklich historischer Augenblick in der Geschichte sozialer Bewegungen Mexikos. Das Ende der Reden von Marcos und den Anderen war zur Überraschung Vieler jedoch sehr zurückhaltend. „Mexiko, wir sind nicht gekommen, um dir zu sagen, was zu tun ist, wir sind nicht gekommen, um dich irgendwo hinzuführen; wir sind gekommen, um dich bescheiden und mit Respekt zu bitten uns zu helfen.“ Einige Minuten vorher ging es um die verborgenen und schmerzenden Mexikos: „Wir sind nicht dein Lautsprecher, wir sind eine Stimme zwischen diesen Stimmen… Wir sind Reflexion und Schrei.“ In dieser Szene drückt sich bereits ein zentraler Aspekt des Neuen der mexikanischen Zapatistas aus: Ihr Anti-Avantgardismus. Das steht zweifellos in einer gewissen Spannung mit den an sie herangetragenen Erwartungen. Viele wollen in Marcos einen neuen líder sehen, den Che Guevara des 21. Jahrhunderts. Doch dies wäre dem „zapatistischen Politikverständnis“ diametral entgegengesetzt.

Zapatismus ist mehr als die EZLN

Die Zapatistas stehen hinsichtlich ihrer politisch-strategischen Ausrichtung für etwas Anderes. Es geht ihnen nicht um das Abschreiten eines vorgegebenen Weges der Emanzipation/Revolution, der in der Übernahme staatlicher Macht gipfeln soll. Anders als in dieser vorherrschenden Orientierung revolutionärer Bewegungen im 20. Jahrhundert, verstehen die mexikanischen RebellInnen sich als Teil eines „Suchprozesses“, der natürlich nicht beliebig ist. In dem Motto preguntando caminamos (fragend schreiten wir voran) verdichtet sich ein Politikverständnis, das sich als Prozess und Reflexion begreift. Dieser Suchprozess zeigt sich auch in ihrer manchmal etwas ungenauen Sprache. Wie Ana Esther Ceceña und John Holloway in einem jüngst erschienenen Interview verdeutlichen, geht es den Zapatistas beim Begriff „Zivilgesellschaft“ weniger um analytische Korrektheit, als vielmehr darum, neuen Sachverhalten und Prozessen eine Sprache zu geben. Mit dem Begriff der sociedad civil, der heute allerorten positiv besetzt ist, meinen sie die „zapatistischen Teile“ sowohl der mexikanischen als auch der Weltbevölkerung. Sie sprechen weder von Klasse, da der Begriff andere Widersprüche nicht aufnimmt, noch von Proletariat, weil diese Bezeichnung sich historisch zumindest derzeit als politische erschöpft hat. Entsprechend umfasst „Zapatismus“ nicht nur die EZLN und ihre Unterstützungsbasen im engeren Sinne, sondern eine breitere und durchaus widersprüchliche Bewegung in Mexiko.
Neben der begrifflichen gibt es eine sachlich-politische Neuerung. Der Anti-Avantgardismus der Zapatistas führte zu verschiedenen Versuchen, Menschen im übrigen Mexiko zur Selbstorganisation jenseits von Parteien zu bewegen – sie also nicht lediglich als „politisches Vorfeld“ einer Guerilla zu sehen. Diese Vorschläge waren immer sehr offen gehalten und führten nicht unbedingt in die erstrebte Richtung, was mit dem Wunsch vieler nach einer neuen Avantgarde wie auch mit den verschiedenen Vorstellungen emanzipativer Politik zusammenhängt. Aus diesem Dilemma kommen die Zapatistas nicht heraus und es wäre auch gar nicht gut, es aufzulösen. Gesellschaftliche Veränderung geht mit breiten Lern- und Organisierungsprozessen einher, ist widersprüchlich und basiert darauf, dass Menschen von einem anderen Handeln überzeugt sind. In diesem Sinne sind sie nicht nur anti-avantgardistisch, sondern auch anti-instrumentell gegenüber den MitstreiterInnen.

Die Radikalisierung der Würde

Ansonsten liefen die Zapatistas Gefahr, bestehende Machtverhältnisse – in emanzipativer Absicht – zu reproduzieren. Am deutlichsten wird das an ihrem Staatsverständnis: Sie verzichten bekanntlich auf die Option, um die Übernahme staatlicher Macht zu kämpfen. Es geht nicht um das Auswechseln an der Spitze des Staates, sondern um die grundlegende Veränderung seiner Strukturen. Das ist für undogmatische Linke in Europa nicht so sensationell, in Lateinamerika durchaus. Aufhorchen lässt es hier zu Lande, weil in Zeiten scheinbar alternativloser Realpolitik auf der schwierigen Suche nach grundlegenden Alternativen bestanden wird. Das linke Politikverständnis ist in den meisten Ländern etatistisch: gesellschaftliche Veränderungen sollen über den Staat erreicht werden. Allerdings mit einer anderen Orientierung: Nicht zur Überwindung, sondern zur Zähmung des Kapitalismus samt der Sicherung attraktiver Posten.
Ein weiterer Aspekt ist, dass die chiapanekischen RebellInnen Begriffen eine orientierende Funktion geben, die überraschen. Ich will nur zwei Beispiele herausgreifen. Dignidad (Würde), das hat hier zu Lande eher den Geschmack von Kirchentagen und Gutmenschentum. Der Begriff wird durch die Aufforderung radikalisiert, Würde nicht abstrakt zu verstehen, sondern als Anlass, sich über die konkreten unwürdigen Lebensverhältnisse Klarheit zu verschaffen – und sie zu verändern. Unwürdige Lebensbedingungen haben eben nicht nur die „armen Indios“, sondern sie gibt es überall. Den Zapatistas geht es wohl darum, die rebellischen Anteile eines jeden Menschen zu stärken. Entsprechend gibt es auch kein vorbestimmtes Subjekt emanzipativer Veränderung, sondern es geht um komplizierte und durchaus konflikthafte Lern- und (Selbst-) Veränderungsprozesse.
Beispielhaft sind auch die zutiefst bürgerlichen Begriffe Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit. Warum werden sie von Indigenen verwendet, die ja nie in den Genuss dieser bürgerlichen Rechte kamen? Auch hier zeigt sich die Absicht der Radikalisierung. Die bestehenden Verhältnisse, deren Apologeten die drei Begriffe dauernd im Mund führen, müssen sich an den Gehalten der Begriffe messen lassen. Damit wird deutlich, dass viele damit verbundenen Ansprüche real negiert werden. Dabei wissen die Zapatistas sehr gut, dass sie Teil von Definitionskämpfen um konkrete Vorstellungen von „Demokratie“, „Freiheit“ und „Gerechtigkeit“ sind.
Die Zapatistas sind, einem eigenen Ausdruck zufolge, Katalysator. Das scheint mir der geeignete Begriff, denn sie regen an, eigene Praxen zu überdenken, sie motivieren, weil es „am Ende der Geschichte“ noch dynamische emanzipative Bewegungen gibt, sie binden ein, ohne Vorgaben zu machen. Und sie versuchen eine andere Sprache, einen andere Ton zu finden, der nicht „Wahrheiten“ verkündet, sondern auf Paradoxien verweist und sich über Macht lustig macht. Paradox ist beispielsweise die Aufforderung auf die Frage, wer denn nun hinter der Maske des Sub stecke, doch bitte schön in den Spiegel zu sehen. Todos somos Marcos. Und subversiv ist die Aussage, dass wenn es sich bei der Globalisierung um einen unvermeidlichen Prozess handle, der wie die Schwerkraft nicht außer Kraft zu setzen sei, eben doch die Schwerkraft außer Kraft gesetzt werden müsse.

Eine Suche in Resonanz

Doch es geht nicht nur um eine katalytische Wirkung für andere Prozesse. Der Zapatismus, verstanden als Suchprozess emanzipativer Praxis, entwickelt sich erst in Resonanz mit anderen Teilen der Gesellschaft (vgl. etwa Anne Huffschmid in Brand/Ceceña). Daher ist Reflexion, die in der Rede auf dem Zócalo von Mexiko-Stadt erwähnt wird, so wichtig. Radikale Praxis benötigt eine Reflexion der bestehenden Bedingungen, gegen die sie agiert, und muss sich ihrer eigenen Widersprüche vergewissern.
Die konkreten Bedingungen linker Politik in Mexiko, Lateinamerika und weltweit sind der weiterhin ungebrochene Durchmarsch neoliberaler Politik – Seattle zum Trotz. Der Erfolg neoliberaler Politik liegt gerade darin, dass zentrale Merkmale wie die Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit oder Standortpolitik von großen Teilen der Bevölkerung nicht mehr in Frage gestellt werden. In Lateinamerika paart sich das mit offener Gewalt, wie am Plan Colombia, aber auch in Chiapas deutlich wird.
Ein Kriterium emanzipativer Politik war und ist radikale Herrschaftskritik. Das ist in Chiapas verständlich auf Grund der über 500 Jahre währenden Erfahrungen unter rassistischen und ausbeuterischen Verhältnissen. Herrschaftskritik erschöpft sich nicht in Staatskritik und ist kein verbalradikales Unterfangen, sondern muss in allen gesellschaftlichen Bereichen praktisch stattfinden.
Die Zapatistas befinden sich in einigen Dilemmata, die auch für andere emanzipative Bewegungen gelten. Zum einen ist ihre Aufmerksamkeit nicht nur einfach einer „anderen Politik“ geschuldet, sondern einem guten Teil der klugen Inszenierung des Sub. Dies als „undemokratisch“ zu kritisieren, wäre unsinnig. Aber die Fokussierung auf die Figur wird von den Zapatistas selbst als Problem gesehen. „Wir denken, dass ein Bild von Marcos geschaffen wurde, das nicht der Realität entspricht, was wiederum mit der von den Medien beherrschten Welt zu tun hat. Der (in den Medien entworfene Marcos) hat nicht mehr Verbindungen zu den Menschen, sondern entschied, Verbindungen mit der politischen Klasse zu haben.“ (Marcos im Interview in Proceso, 11.03.2001 oder im Interview mit Vázquez Montalbán, S. 122f.)
Eng damit verbunden ist zweitens die Gefahr der Romantisierung. Die Zapatistas werden als die neue Bewegung hingestellt, die mit historischen Erfahrungen bricht. Zum einen geht damit eine recht pauschale und unhistorische Abwertung früherer und anderer heutiger Emanzipationsbewegungen einher. Zum anderen droht ein enttäuschtes Abwenden von den verehrten Zapatistas, sobald in der Bewegung Widersprüche deutlich werden, wie beispielsweise zwischen dem radikaldemokratischen Anspruch und der Tatsache, dass die EZLN als Guerilla militärisch organisiert ist.
Ein drittes Dilemma jeglicher gesellschaftsverändernden Politik besteht darin, dass sie sich staatskritisch versteht, sich aber dem Staat als Garant von Rechten in vielen Fragen nicht entziehen kann. Dies wurde in Mexiko jüngst beim Versuch deutlich, ein Gesetz zu indigenen Rechten und Kultur durch das Parlament zu bringen. Dies hätte eine enorme materielle und orientierende Wirkung gehabt. Gleichzeitig soll der Staat – die Zapatistas sprechen hier von Regierung – als zentrales Herrschaftsmoment grundlegend verändert werden. Praktisch äußert sich das darin, dass viele „zivile Zapatistas“ in der linksliberalen Partei der demokratischen Revolution (PRD) aktiv sind. Gerade hier wird die Notwendigkeit deutlich, über politische Praxen zu reflektieren. Eine andere Frage ist, soll nicht der bürgerlich-kapitalistischen Trennung von Politik und Ökonomie aufgesessen werden, wie ökonomische Verhältnisse grundlegend verändert werden können.
Und schließlich besteht eines der Probleme im angedeuteten Wunsch vieler Linker, den Weg „gewiesen“ zu bekommen und damit Gesellschaftsveränderung als Annäherung an vorgegebene Alternativen zu sehen. Darin liegt ein Problem, auch für anti-avantgardistische Politik: Wenn auch alternative Großmodelle weitgehend zu den Akten gelegt wurden, so muss die Attraktivität dessen deutlich werden, warum sich Menschen für etwas einsetzen, kämpfen, Denkweisen und Handeln verändern. Wenn der Begriff aus der Nachhaltigkeitsdebatte nicht so abgelutscht wäre, könnte man von notwendigen „Leitbildern“ sprechen. Doch wer entwickelt die, wie entstehen sie aus Bewegungen heraus?

Stolperstein der wilden Globalisierung

Abschließend noch eine Bemerkung zur Wahrnehmung/Interpretation emanzipativer Bewegungen. Viel zu oft wird lediglich darauf geblickt, was sich in der Öffentlichkeit artikuliert, wo „Terraingewinne“ verbucht werden konnten. Dies liegt dem Marcos-Hype zu Grunde, der natürlich auch von vielen Linken reproduziert wird. „Fox gegen Marcos“, das kommt gut und suggeriert Macht für beide – sozusagen auf Augenhöhe. Die Berater des neuen mexikanischen Präsidenten haben übrigens sehr gut verstanden, dass sie hier ansetzen müssen. Der Präsident half kräftig mit, Marcos zum Star aufzubauen und lud dann zum persönlichen Gespräch, einer Art medialen Show-down. Wohlweislich lehnte der Sub ab, wissend, dass außer Fotos für die Weltpresse nicht viel herauskäme und so zu einer Schwächung führen würde.
Es müsste stärker auf die kleinen Veränderungen, die „Fermentierungsprozesse“ geblickt werden, die es ja überhaupt erst ermöglichen, dass emanzipative Prozesse jenseits des medialen Geklappers nachhaltig sind. Die Zapatistas sind so stark, weil es sich um eine Bewegung handelt, die glaubwürdig in Chiapas die eigenen Lebensverhältnisse verbessert und darüber hinaus aktiv wird. Ein Marcos, der nicht in dieser Bewegung ruhen würde, verkäme zum klugen, aber ganz „normalen“ Intellektuellen.
Dieses notwendig breite Fundament provoziert eine wichtige Überlegung. In den nächsten Jahren wird sich beispielsweise zeigen, wie „nachhaltig“ die emanzipativen Anteile der internationalen Protestbewegungen sind. Das hängt von viel mehr ab als von Großdemonstrationen und der Mobilisierung dorthin. Schon könnte der Verdacht aufkommen, dass die Demos zu den EU-, Weltbank/IWF-, Davos und G7-Gipfeln zum routinisierten Protest werden.
So wie in den 90er Jahren die „Gegenkonferenzen“ von NRO zu den UNO-Gipfeln recht bald jegliche Dynamik verloren. Business as usual. Das muss nicht nur für alternative Expertise vieler NRO, sondern kann auch bald für die „Entglasung“ von McDonald´s-Filialen gelten. Beides kann sich kurzfristig mächtig fühlen. Öffentlichkeit und dort artikulierte Kritik, wozu auch das Plattmachen von Monsanto-Versuchsgeländen gehört, sind fraglos wichtig. Tief greifende gesellschaftliche Veränderungen benötigen jedoch gleichsam umfassende „kulturrevolutionäre“ Prozesse. Dies findet heute in Mexiko, einer sehr autoritären Gesellschaft samt einer autoritären und staatsgläubigen Linken, statt. Das haben die Zapatistas verstanden und sie versuchen es, aller Ambivalenzen zum Trotz, zu praktizieren.
International sind sie in gewisser Weise „der Stolperstein der wilden Globalisierung“ wie der spanische Schriftsteller Manuel Vázquez Montalbán sein Interview-Essay mit Marcos beendet. Das sind sie aber nur, weil sie Resonanzen entwickeln, weil sie rezipiert werden und Unterstützung erfahren.
Bislang wird in einem Land wie Deutschland der Zapatismus von Linken jedoch noch stark im Sinne „gut, dass es die gibt“ wahrgenommen. Einen Schritt weiter ginge es, wenn bestimmte Aspekte des Politikverständnisses hier stärker diskutiert würden. Und zwar nicht nur des „zapatistischen“, sondern auch anderer Erfahrungen und Bewegungen hier zu Lande oder in anderen Teilen der Welt; auch historischer wie etwa in den radikalen Teilen der neuen sozialen Bewegungen und der Neuen Linken. In einem anti-avantgardistischen Sinne versteht sich.

Zum Weiterlesen:
– Ulrich Brand / Ana Esther Ceceña: Reflexionen einer Rebellion. „Chiapas“ und ein anderes Politikverständnis. Münster 2000.
– Interview mit Ana Esther Ceceña und John Holloway über den Zapatismus in der Zeitschrift „Das Argument“, Juli 2001, Nr. 241.
– REDaktion: Chiapas und die Internationale der Hoffnung. Köln 1997.
– Manuel Vázquez Montalbán: Marcos. Herr der Spiegel. Berlin 2000.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren