Nummer 349/350 - Juli/August 2003 | Ökonomie

“Keine Frage des Images, eine Frage des Überlebens“

Interview mit Jesús Torres Nuño von der Gewerkschaft SNRTE

Zur Person:
Jesús Torres Nuño, Generalsekretär der Euzkadi Gewerkschaft SNRTE (Sindicato Nacional Revolucionario de Trabajadores de la Compañía Hulera Euzkadi S.A.) ist 41 Jahre alt und arbeitet seit seinem 17. Lebensjahr für das Euzkadi-Werk, einem Tochterunternehmen des Reifenherstellers Continental. Die ArbeiterInnen des mexikanischen Unternehmens befinden sich nach der Schließung des Werkes seit 17 Monaten im Arbeitskampf.

Knut Henkel

Wie ist die derzeitige Situation in El Salto?

Sie ist sehr schwierig. Wir werden quasi von der Regierung und Continental verfolgt, weil wir die Stilllegung der Fabrik in El Salto nicht akzeptiert haben. Die staatlichen Stellen, das Schiedsgericht für Arbeitskonflikte, haben unser Anliegen und unseren Streik für nicht berechtigt, für unzulässig erklärt. Dieses Urteil ist vom Gericht aufgehoben worden, es wurde aber an die gleichen Stellen zurückgewiesen mit der Aufforderung die Entscheidung zu überprüfen. Dabei ist allerdings genau das Gleiche herausgekommen. Nun liegt der Fall wieder beim Gericht, dass in diesen Tagen entscheiden soll, ob unser Streik rechtens ist oder nicht.

Sie haben am letzten Freitag an der Hauptversammlung von Continental teilgenommen und den Fall den Aktionären schildern können. War die Aktionärsversammlung aus der Perspektive der Gewerkschaft ein Erfolg ?

Ja, die Versammlung war ein Erfolg für uns. Erstens wurde lange und ausführlich über unseren Fall gesprochen. Die Aktionäre haben sich interessiert gezeigt und das Thema hat breiten Raum eingenommen. Das liegt auch daran, das in den Medien über diese Auseinandersetzung berichtet wurde. Und zweitens hat der Vorstand öffentlich angekündigt die Verhandlungen mit der Gewerkschaft wieder aufzunehmen. Die Verhandlungen sollen in Mexiko stattfinden und somit stehen wir also nach Monaten des Schweigens wieder im Dialog. Das ist ein ausgesprochen positives Ergebnis. Uns ist es egal, wo die Verhandlungen stattfinden. Das sie nach 17 Monaten Streik wieder aufgenommen werden sollen, ist das Entscheidende. Wir brauchen eine schnelle Lösung. Daran ist uns gelegen, aber scheinbar auch dem Konzern. Das heißt, die Position des Vorstandes hat sich geändert – wir werden nicht mehr abgewiesen. Und unser Kampf wird nicht mehr per se als ungerechtfertigt dargestellt. Wir sind nicht vor dem Konzern auf die Knie gefallen, um wieder zu Verhandlungen zu kommen. Wir haben eine klare Position, die von unseren Mitgliedern trotz aller Entbehrungen getragen wird. Ohne die wäre ein derartiger Streik nicht durchzuhalten. Wir kämpfen für die Rechte unserer Mitglieder.

Wie ist es möglich, einen derart langen Streik durchzuhalten?

Es gibt zwei Aspekte, die es ermöglicht haben, solange durchzuhalten. Zum einen ist es die Solidarität der Gewerkschaften, die für uns sehr wichtig ist. Herauszuheben sind die Kollegen des Getränkeherstellers Pascuales, die uns regelmäßig unterstützen und ohne deren Hilfe wir schon lange nicht mehr in der Lage wären zu mobilisieren. Die Kollegen ermöglichen uns unsere gewerkschaftliche Arbeit. Die andere Seite der Medaille ist der familiäre Rückhalt – die Frauen, Kinder, Tanten, Onkel, Großeltern, die die ehemaligen Euzkadi-Arbeiter in ihrem Kampf um den Wiedererhalt ihres Jobs unterstützen. Unsere Frauen und Kinder mussten anfangen zu arbeiten oder mussten mehr arbeiten, damit die Familie über die Runden kommt. Sie haben den streikenden Vater und Mann unterstützt – und man muss wissen, das es in der Region um El Salto kaum Arbeit gibt. Die Jobs, die angeboten werden, sind schlecht bezahlt und etwas Vergleichbares wie das Reifenwerk gibt es nicht. Zudem kursieren schwarze Listen auf denen die Namen derjenigen stehen, die von Continental beziehungsweise deren Tochterunternehmen entlassen wurden. Die Leute haben kaum eine Chance auf einen neuen Job. „Wer bei Euzkadi gearbeitet hat, bekommt keine Arbeit“ – so klipp und klar wird es den Kollegen, die versucht haben einen neuen Job zu bekommen, gesagt. Im gesamten Industriegebiet von El Salto ist das so. Die Arbeitgeber bilden eine Einheit. Der Continental-Konzern ist sehr einflussreich – nicht nur in der Region.

Laut dem Vorstandsvorsitzenden Manfred Wennemer kommt eine Wiedereröffnung der Fabrik unter Continental-Regie nicht in Betracht. Wie beurteilen Sie die Perspektiven?

Wir kämpfen für die Wiedereröffnung der Fabrik und die Wiedereinstellung der Arbeiter – das ist unser eigentliches Ziel. Ob wir dieses Ziel erreichen, wissen wir nicht. Aber es gibt auch noch andere Optionen. Manfred Wennemer hat Ende März in einem Schreiben an mich die Idee der Übernahme der Fabrik durch die Gewerkschaft oder Dritte nicht ausgeschlossen. Das wäre eine weitere Option. Allerdings haben wir keine Mittel, um die Fabrik zu kaufen. Die Gewerkschaft müsste also Geldgeber oder Investoren suchen oder um staatliche Hilfen und Kredite bitten. Wir sind bereit über alles zu verhandeln, denn wir brauchen eine Lösung. Und die beste Lösung ist die Wiedereröffnung der Fabrik, denn wir alle wollen wieder dort arbeiten. In meinem Fall sind es 24 Jahre, der Kollege zu meiner Rechten ist 23 Jahre im Werk angestellt gewesen. Alle Delegationsmitglieder haben mehr als zwanzig Jahre in Euzkadi auf dem Buckel. Unser oberstes Ziel ist die Wiedereröffnung der Fabrik – mit oder ohne Continental, ob in Eigenregie oder unter einem neuen Patron.

Wie stellt sich die soziale Situation der Familien dar?

Allen Kollegen macht der soziale Abstieg zu schaffen mit dem sie seit der Werkschließung konfrontiert sind. Viele Kollegen haben handfeste familiäre Probleme, können ihre Kinder bei deren Ausbildung nicht mehr unterstützen. Viele haben Probleme mit der Krankenversicherung, denn unsere Krankenversicherung wurde aufgekündigt. Laut Gesetz haben Arbeiter, die sich im Streik befinden, automatisch Anspruch auf volle Gesundheitsversorgung. Da die staatlichen Stellen den Streik jedoch nicht anerkennen, haben sie die Krankenversicherung der Arbeiter am 56. Streiktag aufgekündigt. Seitdem sind zwei Kollegen gestorben, da sie nicht medizinisch betreut wurden. Das ist das Schlimmste, was uns bisher passiert ist. Aber es gibt vielfältige Auswirkungen. So gibt es eine ganze Reihe von Scheidungen, es gibt Fälle von Alkoholismus, einige Kollegen sind in die USA gegangen, weil sie hier in der Region keine Jobs bekommen haben. Es gibt zuhauf familiäre Probleme, die mit dem sozialen Abstieg zusammenhängen. Es ist hart auf einmal ohne Geld und Perspektive dazustehen und als einzige Chance einen langen ungewissen Rechtsstreit gegen einen multinationalen Konzern vor Augen zu haben.

Laut der Konzernleitung in Hannover war das Werk in El Salto nicht rentabel. Die Produktivität sei zu niedrig gewesen – stimmt das ?

Nein, diese Darstellung habe ich schon auf der Aktionärsversammlung zurückgewiesen. Euzkadi war Marktführer bei der Reifenherstellung in Mexiko. 1998 haben wir 4,5 Millionen Reifen hergestellt und in diesem Jahr wurde das Werk schließlich von Continental übernommen. Damals gab es fünf Reifenhersteller in Mexiko und wir waren das produktivste Werk. Zudem sind die Arbeiter nicht allein ausschlaggebend für die Produktivität des Werkes, diese hängt auch stark von den Unternehmensentscheidungen und der Auftragslage ab. Die Unternehmensführung ist es, die den Rahmen vorgibt und damit auch die Eckdaten für die Produktivität.

Was ist denn aus Ihrer Perspektive der eigentliche Grund für die Werksschließung?

Seit der Schließung hat Continental wiederholt gesagt, dass das eigentliche Problem die Gewerkschaft ist. Wir sind eine unabhängige Gewerkschaft und wir geben nicht so einfach auf, wie es andere Gewerkschaften gemacht haben. Andere Reifenhersteller haben ebenfalls geschlossen, so zum Beispiel Michelin, die ohne Grund zwei Werke geschlossen haben. Alle Arbeiter wurden entlassen und mittlerweile sind die Fabriken wieder eröffnet worden – allerdings ohne einen Tarifvertrag, ohne Gewerkschaft und mit wesentlich niedrigeren Löhnen. Mit uns funktioniert dies nicht, wir werden weiterkämpfen und uns nicht korrumpieren lassen. Vor sechs Monaten, bei den letzten Verhandlungen mit der Werksleitung, wurde mir eine Million US-Dollar geboten, wenn ich die entsprechenden Papiere unterschreiben würde. Das Angebot habe ich zurückgewiesen. Es gibt Unterschiede zwischen den verschiedenen Gewerkschaften und deren Strukturen – wir kämpfen weiter.
Letztlich ist es kaum zu erklären, dass Continental gerade die modernste ihrer Fabriken in ganz Amerika schließt, ohne dahinter ein Manöver zu vermuten, dessen Ziel es ist, die Gewerkschaft aus dem Werk zu drängen. Was Continental nie erwähnt hat, ist dass sie in Mexiko den Arbeitstag von acht auf zwölf Stunden strecken wollte, ohne den Lohn heraufzusetzen. Diesen Vorschlag haben die Mitglieder der Gewerkschaft diskutiert und anschließend in einer Abstimmung abgelehnt. Die Unternehmensleitung hat mit diesem Vorgehen den geltenden Tarifvertrag, der für die ganze Branche gilt, versucht aufzuheben und damit einen Konflikt vom Zaun gebrochen. Schon kurze Zeit nach der Übernahme des Werkes durch Continental wurde die Gewerkschaft als radikal dargestellt. Doch man sollte nicht übersehen, dass Continental nicht allein mit unserer Gewerkschaft Probleme hat, sondern auch in anderen Werken. Etwas stimmt nicht im Verhältnis von Continental zu seinen Arbeitern und das hat einen Grund – Continental respektiert das geltende mexikanische Arbeitsrecht nicht. Wir unterwerfen uns nicht bedingungslos den Gesetzen von Angebot und Nachfrage des internationalen Marktes. Es gibt auch in Mexiko Gesetze , die es zu respektieren gilt.

Viele Arbeiter, laut Continental mehr als 500, haben die angebotene Abfindung des Konzerns akzeptiert. Hat die Gewerkschaft noch den nötigen Rückhalt, um die Auseinandersetzung mit Continental weiter zu führen?

Ja, natürlich. Bei diesen 500 Betriebsangehörigen, die eine Abfindung von Continental akzeptiert haben, handelt es sich ja nicht ausschließlich um Arbeiter des Werkes, die gewerkschaftlich organisiert waren. Über 200 von diesen 500 waren Angestellte in der Verwaltung und Leitung, die nicht in der SNRTE organisiert waren. Von den Arbeitern haben etwa 300 das Angebot von Continental angenommen – aus unterschiedlichen Gründen. Aber auf der anderen Seite wird die Gewerkschaft von über 700 Arbeitern unterstützt und das seit 17 Monaten nach der illegalen Entlassung. Zudem wurde auch versucht, den Streik gewaltsam zu beenden. Doch die Regierung musste letztlich zurückstecken, denn die Arbeiter sind sich einig und geben nicht auf.

Auf der anderen Seite spielt der Zeitfaktor eine immense Rolle. Je länger der Streik dauert, desto schwieriger wird es, ihn aufrechtzuerhalten. Die Arbeiter zahlen einen hohen Preis und niemand, am wenigsten Continental, hätte wohl erwartet, dass die Euzkadi-Arbeiter so lange durchhalten.

Das stimmt. Deshalb sind wir schließlich auch hier. Wir bemühen uns Druck aufzubauen, um endlich zu einer Lösung zu kommen. Unsere Delegation besteht aus sieben Delegierten, im letzten Jahr waren wir noch zu dritt. Wir haben alle Mittel ausgeschöpft, Spenden gesammelt, um auf der Aktionärsversammlung präsent zu sein, um unsere Standfestigkeit zu demonstrieren und nicht übersehen zu werden.Wir sind nicht gekommen, um auf die Knie zu fallen, sondern um unsere Verhandlungsbereitschaft zu signalisieren. Aber auch der Konzern hat ein Interesse den Konflikt zu lösen, denn die Fabrik mit dem gesamten modernen Equipment steht ungenutzt leer, was Continental sehr viel Geld kostet.

Am 28. Mai haben Sie ein weiteres Treffen mit Continental-Vertretern im Wirtschaftsministerium. Was versprechen Sie sich davon?

Wir hoffen, dass wir wieder ins Gespräch kommen, dass die Verhandlungen wieder aufgenommen werden. Ich glaube nicht, dass das in Berlin der Fall sein wird, denn die Verhandlungen sollen schließlich, so hat es Herr Wennemer auf der Aktionärsversammlung zugesagt, in Mexiko stattfinden. Wir haben am heutigen Morgen des 26. Mai in Hannover dem Vorstand unsere Vorschläge für die Verhandlungen unterbreitet, die wir am Wochenende ausgearbeitet haben. Es sind drei Optionen: die Wiedereröffnung des Werkes und die Wiedereinstellung der Arbeiter; die Übernahme der Fabrik durch die Gewerkschaft mit finanzieller Unterstützung der Regierung oder von Privatpersonen und die Letzte am wenigsten attraktive Option ist die Zahlung der Abfindung und der ausstehenden Löhne. Das ist aus unserer Sicht die Verhandlungsplattform. Was am Mittwoch in Berlin passiert, ist schwierig einzuschätzen. Positiv aus unserer Sicht ist, dass der mexikanische Botschafter, Señor Jorge Eduardo Navarrete, persönlich an den Gesprächen teilnimmt. Und natürlich ist es ebenfalls positiv, dass die bundesdeutsche Regierung involviert ist und sich unsere Darstellung und jene des Konzerns anhören wird.

Welche Rolle spielen die Gerichte in Mexiko bei der Beilegung des Konflikts?

Es gibt zwei verschiedene Ebenen. Zum einen ist die staatliche Schlichtungsstelle, die Junta Federal de Conciliación y Arbitraje, zu nennen. Die Junta gilt als korrupt und steht zumeist auf der Seite der Unternehmer, die andere Instanz ist das Gericht. Die Gerichte sind, so unser Eindruck, wesentlich unabhängiger und wir sind sicher, dass sie uns Recht geben werden.

Werden Sie von den deutschen Gewerkschaften unterstützt?

Wir haben in Hannover mit Mitgliedern der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie gesprochen. Die haben uns geduldig und interessiert zugehört und haben sich für eine friedliche Lösung eingesetzt. Es sind respektvolle Beziehungen.

Welche Rolle spielen die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen aus ihrer Perspektive – tragen sie dazu bei den Konflikt zu lösen?

Natürlich sind derartige Leitsätze wichtig, aber entscheidend ist die Frage, ob sie eingehalten werden oder nicht. In Mexiko ist dies nicht der Fall. Sie sind nicht das Papier wert auf dem sie gedruckt sind. Das sind tote Buchstaben wie man bei uns sagt. Wenn man ganz offensichtlich nicht die Arbeitsrechte in Mexiko akzeptiert, verletzt man ein fundamentales Prinzip der unternehmerischen Ethik und damit auch der OECD-Leitsätze. Dies ist bei Continental der Fall.

Und hier in der Bundesrepublik?

In Deutschland muss man die Form wahren, sich an die Bestimmungen halten. Hier wird mehr darauf geachtet, deshalb ist es schwierig für Continental, sich dem Thema Euzkadi hier zu stellen. Der Konzern gilt in Deutschland als respektables Unternehmen und dieses Image steht durch den Konflikt in Mexiko und durch die Berichterstattung in den Medien auf dem Spiel. Continental bangt um sein Firmenimage, wir bangen hingegen um unser tägliches Brot. Wir kämpfen um unsere Existenz, denn Arbeitsplätze sind in der Region rar und wir haben nichts zu verlieren. Wir stehen vor einer illegal geschlossenen Fabrik, haben keine Arbeit, kein Einkommen und keine Perspektive und das alles ohne jede rechtliche Grundlage. Wir werden keine Rücksicht auf das Image des Konzerns nehmen, für uns geht es um mehr als bloßes Image.

Welche ist die wichtigste Waffe der Gewerkschaft in diesem ungleichen Kampf?

Die Einigkeit der Gewerkschaft ist entscheidend. Wir ziehen an einem Strang und die rund 700 Arbeiter stehen hinter uns, haben uns schließlich nach Deutschland geschickt.

Die Vorbereitungen für den gemeinsamen Amerikanischen Markt, die ALCA, laufen auf Hochtouren. Was halten Sie von der geplanten Freihandelszone zwischen Alaska und Feuerland?

Wir als Gewerkschaft haben an Kampagnen gegen die ALCA teilgenommen, weil das Ziel des freien Handels nichts neues ist. Wir haben aus der NAFTA gelernt, und wissen wer davon profitiert. Die mexikanische Industrie hat unter der NAFTA zu leiden, weil sie der Konkurrenz aus dem Norden nicht gewachsen ist. Wir können mit den subventionierten Produkten aus den USA oder Kanada nicht konkurrieren. Oder schauen sie sich die Situation der mexikanischen Bauern an. Es ist offensichtlich, dass sie mit der Agrarindustrie der USA nicht mithalten können. Es ist ein Abkommen, das nur einem hilft – den Vereinigten Staaten. Diese sichern sich neue Absatzmärkte.

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