KINDERRECHTE OHNE KINDER
Kinderarbeit zu verbieten kann Kinder kriminalisieren, statt sie zu schützen. Eine UN-Organisation will das nicht hören
Versammlung in Asunción, Paraguay: Kinder wollen bei Kinderrechten mitreden (Foto: UNATSBO, Bolivien)
Seit Ende Januar muss sich der UN-Kinderrechtsausschuss in Genf mit einem ungewohnten Fall befassen. Die Lateinamerikanische Bewegung arbeitender Kinder (MOLACNATs) hatte Beschwerde gegen die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) wegen der Verletzung mehrerer Kinderrechte erhoben. Die ILO hatte in Abstimmung mit der argentinischen Regierung allen Personen unter 18 Jahren die Teilnahme an der IV. Weltkonferenz gegen Kinderarbeit, die vom 14. bis 16. November 2017 in Buenos Aires stattfand, „aus Sicherheitsgründen“ verboten. Vor den Türen der Konferenz protestierten damals arbeitende Kinder und Jugendliche mit einem „Gritazo“, einer lautstarken Demo.
In ihrer Beschwerde gegen die ILO hatte MOLACNATs (Movimiento Latinoamericano y del Caribe de los Niños, Niñas y Adolescentes Trabajadores) unter anderem ausgeführt:
„Ohne die Gründe für eine solche Verletzung unserer Rechte vollständig zu verstehen, fragen wir uns: Wollen sie uns beschützen oder wollen sie sich vor uns schützen? Könnte es sein, dass sie nicht hören wollen, was wir zu sagen haben? Es erscheint uns schwerwiegend, dass uns als den Menschen, über die gesprochen und entschieden wird, die Teilnahme verweigert wird.“
Neben dem Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention, der Kindern die freie Meinungsäußerung und die gebührende Berücksichtigung des Kindeswillens garantiert, sieht die lateinamerikanische Kinderbewegung auch andere Rechte der Kinderrechtskonvention verletzt, wie das Recht, nicht diskriminiert zu werden (Art. 2), das Recht auf Leben und bestmögliche Entwicklung (Art. 6) oder das Recht auf ein eigenes kulturelles Leben. Außerdem verstoße die ILO mit ihrer Konvention 138, die ein Mindestalter für die Arbeit vorschreibe, gegen den Artikel 32, der Kindern zusichert, vor wirtschaftlicher Ausbeutung geschützt zu werden.
Die Kinder betonen in ihrer Beschwerde, es sei unabhängig von ihrem Alter notwendig, „genau zu unterscheiden zwischen wirtschaftlicher Ausbeutung und Arbeit als einer Tätigkeit, die Güter und Dienstleistungen produziert, die für uns, unsere Familien und die Gesellschaft lebenswichtig sind. Wir kämpfen mit unseren Organisationen gegen jede Form von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch, aber wir glauben, dass allgemeine Verbote nicht dazu dienen, uns vor all diesen Übeln zu schützen. Stattdessen hoffen wir, durch positive Maßnahmen in diesem Kampf und in unseren Bemühungen, unseren Familien zusätzlich zum Lernen und Spielen zu helfen, unterstützt zu werden.“
Sie weisen darauf hin, dass die auf pauschalen Verboten basierende Politik dazu geführt habe, tausende von arbeitenden Kindern in die Illegalität zu drängen, sie mit repressiven Maßnahmen zu verfolgen, zu diskriminieren und ihnen jeglichen Schutz zu verweigern. Mit solchen Maßnahmen werde auch die Arbeit der Kinder in den indigenen Gemeinschaften diskriminiert. „Die Arbeit, die wir dort leisten, ist keinesfalls eine Beschäftigung unter ausbeuterischen Bedingungen: Es sind wirtschaftliche Aktivitäten der Gemeinschaft. Das Verbot, das die ILO uns auferlegt, beeinträchtigt unser Recht (insbesondere von uns Kindern und Jugendlichen indigener Herkunft), ein eigenes kulturelles Leben zu führen.“
Abschließend fragen die Kinder in ihrer Beschwerde: „Ist es nicht eine Ungerechtigkeit, dass wir das Recht haben, unsere Meinung zu äußern, gehört zu werden und uns an den Entscheidungen zu beteiligen, die uns betreffen, aber dass wir uns nicht entscheiden können, ob wir arbeiten wollen? Dass wir unsere Meinung nicht den Institutionen mitteilen können, die dazu da sind, die Einhaltung der UN-Kinderrechtskonvention zu gewährleisten? Und dass wir nicht bei der Gestaltung der öffentlichen Politik berücksichtigt werden, mit der unsere Rechte geschützt und gefördert werden sollen?“
Sie geben ihrer Hoffnung Ausdruck, dass der Ausschuss ihrer Beschwerde Beachtung schenkt. „Unser Vertrauen in die Menschheit führt uns zu der Überzeugung, dass Sie uns zuhören werden, dass Sie uns als kundige Gesprächspartner betrachten, dass Sie unsere Worte und Gefühle ernst nehmen.“
Die Beschwerde der arbeitenden Kinder ist deshalb für den UN-Kinderrechtsausschuss schwer zu entscheiden, da es sich bei der ILO um eine UN-Sonderorganisation handelt. Beschwerden gegen andere UN-Organisationen sind im Reglement der Vereinten Nationen für Anklagen gegen Menschenrechtsverletzungen nicht vorgesehen. Nach einem Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention wäre es zwar möglich gewesen, gegen den Staat Argentinien eine sogenannte Individualbeschwerde zu erheben, doch dabei hätte es sich um ein kompliziertes und langwieriges Verfahren gehandelt, das zuvor vor argentinischen Gerichten hätte ausgefochten werden müssen und sich über Jahre hingezogen hätte.
Um sich vorzubereiten und die eigenen Kräfte zu bündeln, hatte die Lateinamerikanische Bewegung MOLACNATs einen Monat vor der ILO-Konferenz in La Paz (Bolivien) ein Internationales Forum veranstaltet, das auch von der europäischen Solidaritätsorganisation europanats unterstützt wurde. An diesem Forum nahmen neben Delegierten aus Bolivien, Mexiko, Venezuela, Kolumbien, Peru, Ecuador, Paraguay und Argentinien auch Vertreter*innen der Afrikanischen Bewegung arbeitender Kinder und Jugendlicher (MAEJT) teil. Delegierte der indischen Kinderbewegung Bhima Sangha waren per Videokonferenz zugeschaltet. Ebenfalls anwesend waren Vertreter*innen verschiedener sozialer Bewegungen, von Nichtregierungsorganisationen sowie Wissenschaftler*innen aus Lateinamerika, Afrika, den USA und Europa. Auch die ILO war eingeladen, hatte aber eine Teilnahme abgelehnt.
Die Teilnehmer*innen des Forums befassten sich mit der mehr als zwanzigjährigen Geschichte der Versuche, auf die ILO-Politik zur Kinderarbeit Einfluss zu nehmen und alternative Politikansätze zu entwickeln, die die Sichtweisen und Erfahrungen der arbeitenden Kinder ernst nehmen und zu ihrem besseren Schutz beitragen. Bolivien wurde als Austragungsort gewählt, weil in diesem Land seit 2014 ein Kinder- und Jugendgesetz in Kraft ist, das die Teilnahme arbeitender Kinder bei politischen Entscheidungen über ihre Belange vorsieht und ihnen einen besseren Schutz verspricht. Dieses Gesetz, an dessen Ausarbeitung die Bolivianische Union arbeitender Kinder UNATSBO mitwirkte, stellt einen Meilenstein in der Gesetzgebung zu Kinderrechten dar, wird aber aufgrund widerstreitender Tendenzen in der bolivianischen Regierung bisher nur zögerlich umgesetzt.
Bis heute liegt eine öffentliche Stellungnahme des UN-Kinderrechtsausschusses zur Beschwerde der arbeitenden Kinder nicht vor. Doch hinter den Kulissen finden Gespräche mit der ILO statt und dem Vernehmen nach gibt es innerhalb der ILO Tendenzen, sich des leidigen Themas der Kinderarbeit, das bisher eines ihrer hauptsächlichen Tätigkeitsfelder war, zu entledigen. Die Bewegungen der arbeitenden Kinder, die über die Kontinente hinweg miteinander vernetzt sind, werden die internationale Politik aus der Verantwortung für ihre Rechte nicht entlassen.