Krieg in den favelas – Fest auf dem Asphalt
Die Militarisierung des städtischen Raums
Die Militäraktion ist inzwischen beendet – zumindest vorübergehend. Es soll offensichtlich dem neuen Gouverneur Marcello Alencar, der zur Partei des Präsidenten Fernando Henrique Cardoso gehört, Raum gegeben werden, mit einer Umstrukturierung der Polizeikräfte wieder selbst die Initiative zu ergreifen. Außerdem dürften auch die Kosten für ein langfristiges Eingreifen der Militärs zu hoch sein.
Ein erstes Fazit: Die Aktion kann als Erfolg gefeiert werden. Was sie wirklich war, welche Effekte sie gebracht hat, das steht auf einem ganz anderen Blatt. Es ist nur wichtig, wie sie medial dargestellt und auch von einem großen Teil der Bevölkerung begriffen wird: die Militärs haben sich als Hüter der Ordnung bewährt. Allerdings war es kein Triumph: den Militärs ist es nicht gelungen, in ihrem viermonatigen Wirken “den Sumpf des Drogenhandels trockenzulegen”. Aber dennoch scheint die Ansicht zu überwiegen – und von den Medien wird kräftig in diese Kerbe gehauen – daß der Einsatz der Militärs nicht das falsche Mittel war, sondern nur die Dosis nicht ausreichte.
Die Aktion der Militärs war also weniger ein realer Feldzug gegen die Drogenbanden, sondern eher ein großer Versuch – oder besser vielleicht eine große Übung der Bevölkerung in Militarisierung. War dies das wirkliche Ziel des Einsatzes, dann war er ein Erfolg. Die Militärs haben, genau zehn Jahre nach dem Ende der Militärherrschaft, ihre Rolle als innenpolitischer Akteur, unterstützt durch demokratische Parteien, restauriert. Aber wichtiger ist vielleicht noch etwas anders: sie haben eine Sichtweise popularisiert, in der die Stadt zum militärischen Raum wird.
Die favela –
feindliches Gebiet
1977, so wollen es wenigstens die ExpertInnen wissen, begann in den favelas von Rio eine neue Entwicklung. Der schon länger bestehende Drogenhandel bewaffnete sich zunehmend. Spätestens 1982 war klar, daß der Staat das Gewaltmonopol in einem großen Teil der Stadt verloren hatte.
1982 verkündete der populistische Gouverneur Leonel Brizola das Ende der willkürlichen Polizeiaktionen in den favelas. Sie hörten zwar nicht auf, verminderten sich aber drastisch. Bis heute wird daher von der Presse und den rechten Politikern Brizola die Schuld für die Etablierung der rechtsfreien Räume gegeben.
Für lange Zeit herrschte ein fragiles Nebeneinander: Drogenbanden beherrschten einige Viertel, es gab den anderen Teil der Stadt, “Asphalt” genannt, und eine Polizei, die zu einem großen Teil Komplizin der illegalen Geschäfte wurde, beziehungsweise sie selbst aktiv betreibt.
Das stete Anwachsen der Kriminalität ließ Rio in der Mordstatistik zur drittgefährlichsten Stadt der Welt aufsteigen, nach Kairo und Johannesburg, weit vor den us-amerikanischen Städten. In den achtziger Jahren wurden Unsicherheit und Angst zum festen Bestandteil des Lebensgefühls der cariocas (EinwohnerInnen von Rio) aller Schichten.
Insbesondere die immer zahlreicheren Entführungen zeigten, daß die Einmauerung der Reichen nicht mehr hinreichenden Schutz gewährte und daß das organisierte Verbrechen nicht in den favelas blieb.
Einer der wichtigsten Aspekte der Kriminalität ist die weitgehende Kriminalisierung des Polizeiapparates. Zwar erkennen fast alle PolitikerInnen auch den sozialen Hintergrund der Probleme an, aber bei Lösungsvorschlägen überwiegt der Ruf nach der “starken Hand”. In einem langen Krieg um die Köpfe wurde eine komplizierte soziale Situation auf ein Feindbild reduziert: die Bewaffneten auf den Hügeln.
Damit wurden aber auch die favelas zum feindlichen Territorium erklärt und so die soziale Situation insgesamt territorialisiert. Die reale Spaltung des Stadtgebiets wurde Ausgangspunkt für eine militärische Triage: Hier die auszusondernden und zu bekämpfenden Feinde, dort der zu schützende Asphalt. (Der Begriff Triage wurde im ersten Weltkrieg geprägt: französische Krankenschwestern sondierten die Fälle in drei Kategorien: die einen, die sofort behandelt werden mußten, die anderen die warten konnten und schließlich die, die keine Behandlung mehr bekamen.)
Die “korrekten” Militärs
Während der ECO 92: fuhren zum ersten Mal Panzer vor der größten favela Rios (Rocinha) auf und richteten ihre Geschütze auf die Häuser. Die Legitimation eines solchen Einsatzes ist nicht mehr der Schutz der Einwohner der favela vor den Drogenhändlern, sondern der Schutz des Asphaltes vor der favela.
Diese Vision einer territorialisierten Militarisierung der sozialen Frage wurde durch jüngste Militäraktionen weiter ausgebaut. Warum aber wurde die Aktion von der überwiegenden Mehrheit der FavelabewohnerInnen offensichtlich unterstützt? Anscheinend sahen viele in den Militärs eine neutrale Macht, die sie vor der doppelten Bedrückung durch Drogenbanden und Polizei schützen könne.
Tatsächlich hat die Militäraktion nicht zu dem befürchteten Blutbad geführt, trotz vieler zahlreicher Übergriffe und einer klar dokumentierten Folterung haben sich die Militärs “korrekter” Verhalten als die gefürchteten Polizeikräfte. Dies unterstützt die These, daß der Militäreinsatz weniger ein Krieg gegen den Drogenhandel war als einer um die Köpfe. Schließlich findet sich in den favelas ja nur die unterste Stufe eines Milliardengeschäfts, und die gefürchteten bewaffneten Drogenbanden bestehen zum großen Teil aus Minderjährigen.
Auch die internationale Berichterstattung, die den Drogenkrieg und die sichtbare Kriminalität lustvoll ausschlachtet strickt an dem Feindbild favela (= Bedrohung durch die Armen) mit.
Krieg der Bilder
Die Bürgerkriegszenen am Zuckerhut geben eindrucksvolle Bilder ab. Niemand hingegen recherchiert die Drogenroute in Brasilien, die Verbindungen des Waffenhandels, der die Drogenbanden mit modernsten Waffen versorgt, und Finanzierungsmechanismen dieses Riesengeschäfts. Das gibt erstens keine Bilder und ist zweitens ungleich gefährlicher als hinter den Schußwechseln herzuwetzen. Medienberichterstattung und Militäreinsatz verschränken sich zu einer Imaginisierung (imago = Bild) des Sozialen. In der Geografie der Stadt spiegelt sich das gesellschaftliche Gefüge als eine schwierige Mischung aus Realität und medialer Bildproduktion.
Das zu befürchtende Resultat: immer mehr Menschen werden bereit sein, territorial-militärische Antworten auf gesellschaftliche Probleme zu akzeptieren. Reale Spaltungen der Stadt (Asphalt – favela), werden dazu genutzt, militärisch Gräben zu ziehen.
Viele sehen in Rio heute ein Symbol des Verfalls. Das politische Zentrum ist nach Brasília verlegt worden, Sao Paulo ist die boomende Industrie- und Finanzmetropole – Rios Anteil am nationalen Bruttosozialprodukt sinkt hingegen ständig. Muniz Sodre, einer der bekanntesten brasilianischen Sozialwissenschaftler, sieht das anders: Rio sei nach wie vor die brasilianische Medienhauptstadt und damit hegemonial in der Produktion des Imaginären. Der allmächtige Sender Globo hat hier seinen Sitz, und keine andere Stadt produziert und repräsentiert so sehr das Bild Brasiliens wie Rio. Und wenn der Kampf um die Zukunft vor allem ein Kampf um die Bilder ist, dann ist die hier skizzierte Produktion des imaginären Rios keine Nebensache. Sie öffnet den Weg für die Militarisierung der sozialen Konflikte in den Städten.
Die Militäraktion wurde von einer Optimismuspropaganda in den Medien begleitet. Rio erholt sich, eine neue Regierung tritt an, die Ära des bei Globo verhaßten Brizola ist zu Ende, das Militär sorgt für Ordnung, die wirtschaftliche Stabilisierung für die Explosion des Bierkonsums.
Erster Höhepunkt war die Silvesterfeier von angeblich drei bis vier Millionen am Strand von Copacabana zum Gesang von Rod Stewart. Das Fernsehen zeigte ständig begeisterte TouristInnen, seit Jahren zum ersten Male waren wieder alle Hotels zum Karneval ausgebucht. Krieg in den favelas und Fest auf dem Asphalt?
Nach dem Karneval
Tatsächlich waren fast alle BesucherInnen überrascht, wie wenig von der Militäraktion im Alltag zu sehen war. Jetzt, im März, sieht schon wieder alles ganz anders aus: Die Polizeistatistik zeigt zwar einen leichten Rückgang bei Tötungsdelikten während der Militäraktion, anderseits sind die Entführungen und Banküberfälle stark gestiegen. Der Drogenhandel hat anscheinend einen gewissen Umsatzrückgang aus anderen Einnahmequellen kompensiert.
Die Zeitungen zeigen wieder das übliche Gewaltspektakel: Hundert Bewaffnete stürmen eine favela im Kampf um die Verkaufspunkte. Ein Nacht lang tobt der Krieg im Komplex Mare, der unmittelbar an der Edelschnellstraße Linha Vermelha liegt, die den Flughafen mit der reichen Südzone verbindet. Die Polizei empfiehlt in dieser Nacht, die Straße nicht zu benutzen, ansonsten greift sie nicht ein. Bilanz am nächsten Tag: acht Tote. Es war eine der größten Aktionen im Drogenkrieg.
Die Banden haben die Miltärintervention offensichtlich ziemlich unbeschadet überstanden. Erstmal also wieder business as usual.
Exekution vor dem Shopping-Center
Es war ein anderes Verbrechen, das die veröffentlichte Meinung nach der Militäraktion am meisten beschäftigte: Im Shopping Center Rio Sul nimmt die Polizei drei Diebe fest. Ein Polizist zieht einen der Festgenommenen hinter den Polizeiwagen und erschießt ihn – vor den Augen Hunderter Schaulustiger und den Fernsehkameras von Globo. In den nächsten Tagen werden Zeitungen, Radio und Fernsehsender mit Anrufen und Zuschriften bombardiert, die den Mord unterstützen.
Dabei ist es nicht zufällig, daß sich der Mord vor einem Shopping Center abspielte. Die riesigen Einkaufszentren sind die Zuspitzung der anderen Territorialisierung der Stadt. Ist die Welt des Asphalts schon unsicher geworden, so ist die alte Sicherheit in den geschützten Tempeln des Konsums nicht gefährdet. Hier können Mittel- und Oberschicht ungestört von Straßenkindern, BettlerInnen und Dieben einkaufen, essen, Schaufenster begukken. Rigide Wachen halten alle, die “marginal” aussehen, aus den Shoppings heraus. Das künstliche Paradies der Shoppings ist das Pendant zum produzierten Inferno der favelas, zwei Extreme in der städtischen Triage.
In den letzten Jahren ist die Zahl der Einkaufszentren in allen Städten Brasiliens explodiert. Ein Raub im Shopping ist kein normaler Raub: er ist ein Einbruch in den sakralen Raum des Konsums. Daher die brutale Reaktion des Polizisten, daher der Applaus.
Das Beispiel Rio ist lehrreich und kann einige Bilder von der Entwicklung der Städte Lateinamerikas differenzieren: Militäraktion, Fest und Karneval vertragen sich bestens. Es ist nicht die einfache Dekadenz, das Auseinanderbrechen, Beirutisierung oder Bosnisierung, mit der sich die Entwicklung kennzeichnen läßt: Krieg und Tourismusboom können gleichzeitig stattfinden.
Apokalypse Now oder
Der Krieg als Fest
Die Militarisierung und Territorialisierung der sozialen Spannungen funktioniert nicht perfekt, aber sie garantiert doch eine, wenn auch labile, Stabilität. Nicht der Zusammenbruch der Städte, ist die erschreckende Vision, sondern ein ungeheuerliches Funktionieren, das die Gleichzeitigkeit von Krieg und Karneval ermöglicht.
Zwei unterschiedliche theoretische Konzepte, mit denen SozialwissenschaftlerInnen in Deutschland in den letzten Jahren einen Zugriff auf postmoderne Realitäten versuchten, können die Situation in Rio schlagwortartig kennzeichnen: Risikogesellschaft und Erlebnisgesellschaft.
In dem individualisierten Streben nach Erlebnis wird das Soziale sekundär, schlägt aber in Form von Gewalt als Risiko zurück. Daß von Ober- bis Unterschicht die Eliminierung des Risikos zum vereinfachten Programm wird, kann kaum verwundern. Shoppings sind die Inszenierung einer bestürzend reduzierten Erlebniswelt. Das Risikos wird eliminiert.
Daß diese städtische Triage gewaltsam gesichert werden muß, zeigen die Exekutionen und Militäraktionen gegen die favelas. Die Postmoderne in Rio verspricht also nicht das fröhliche Nebeneinander verschiedener Lebensstile, sondern die territoriale Festschreibung der sozialen Unterschiede. Sie verspricht damit auch das prekäre Funktionieren einer zutiefst gespaltenen Welt, in der die durch den Markt regulierten Lebenschancen extrem ungerecht verteilt sind.
Mit den bisherigen Ausführungen soll eine Tendenz charakterisiert werden. Die Realität ist, Gott sei Dank, komplexer. Die favelas sind nicht nur das dem Asphalt feindliche, militärisch abgeschirmte Territorium.
Die Verbindungen zwischen Asphalt und favela sind vielfältig: Die BewohnerInnen sind geschätzte und schlecht bezahlte Arbeitskräfte (insbesondere im Dienstleistungssektor), die Leute vom Asphalt kaufen die Drogen in den favelas. Und, in diesem Zusammenhang am wichtigsten, die favelas sind Ausgangspunkt der größten kulturellen Massenbewegung Brasiliens in den letzten Jahren, der bailes funk: riesige und billige Tanzveranstaltungen, die jedes Wochenende mehr als eine Million Jugendliche in den armen Stadtvierteln und favelas anziehen.
Die unpolitische Funkmusik weicht seit zwei Jahren zunehmend politisiertem Rap, immer mehr Gruppen greifen in ihren Texten Alltagserfahrungen von Gewalt und Rassismus auf. Natürlich gehen die meisten Jugendlichen hierher, um zu tanzen und sich zu amüsieren. Erstaunlich ist aber, in wie kurzer Zeit, unabhängig von den großen Medienkonzernen eine eigenständige kulturelle Bewegung gewachsen ist.
Das Nebeneinander von Krieg und Fest verläuft also keineswegs entlang der Linie favela – Asphalt. Auch die favela feierte im Krieg. Aber diese Feiern sind auch eine Antwort in Richtung der Panzergeschütze, sie sind ein Moment des Widerstandes gegen die mediale Infernalisierung der favelas und ihrer Festschreibung als feindliches Territorium. Interessant ist, daß die bailes funk eine immer größere Anziehungskraft auf die Jugendlichen des Asphalts ausüben. Immer mehr von ihnen wagen, meistens verborgen von ihren Eltern, den Weg in die favela. Berühmte DJs wie Marlboro veranstalten inzwischen bailes funk in Mittelschichtdiskotheken.
Die bailes funk ritualisieren auch die gewalttätige Konkurrenz zwischen Jugendgruppen aus verschiedenen favelas und waren daher immer wieder Ort blutiger Kämpfe. Die Medien versuchten daher, die bailes bruchlos als Teil des favela-Infernos darzustellen. Aber die Attraktivität der bailes funk konnte sich gegen die Verteufelung durch die Medien behaupten. Die bailes funk sind ein Beispiel für eine Bewegung, die einen Gegenpol bildet zu der totalen militärischen Aussonderung.
Die favelas sind keineswegs ein Ghetto. Und sie sind kein bloßes Objekt dessen, was der Staat plant und durch seine bewaffneten Kräfte umsetzt. Inwieweit aber die Macht des Staates begrenzt werden kann und sich gegen die Militarisierung des städtischen Raums eine andere urbane Sozialität erringen läßt, ist eine offene Frage. Jugendliche von Asphalt und favela, vereint in den bailes, sind zumindest eine Realität, die nicht identisch ist mit der, die die militärische Intervention produzieren und reproduzieren will.