Nummer 300 - Juni 1999 | Ökonomie

Mexiko in den Fängen von NAFTA

Das nordamerikanische Freihandelsabkommen zementiert die Abhängigkeit Mexikos vom großen Bruder im Norden

Die nordamerikanische Freihandelszone zwischen den USA, Kanada und Mexiko auf der Grundlage des North American Free Trade Agreement (NAFTA) ist seit über fünf Jahren in Kraft. Mexikos Hoffnungen, über den bevorzugten Zugang zum US-Markt Vorteile gegenüber mittelamerikanischen und karibischen Konkurrenten zu erlangen, gingen in Erfüllung. Dafür steht insbesondere der ungebrochene Boom der Veredelungsindustrie (Maquila). Hingegen blieb die Entwicklung im konventionellen Sinne aus: das durchschnittliche Pro-Kopf Einkommen liegt unter der Vor-NAFTA-Zeit, ganz zu schweigen von ambitiösen Entwicklungszielen wie besseren ökologischen und arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen.

Martin Ling

Im Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) schlossen sich mit Wirkung zum 1. Januar 1994 mit den USA, Kanada und Mexiko drei alles andere als homogene Länder zusammen. Über 80 Prozent des gemeinsamen Bruttosozialprodukts (BSP) entfällt dabei auf die USA. Während Mexiko und Kanada ihren Außenhandel zu rund drei Vierteln mit den USA abwickeln, beträgt ihr gemeinsamer Anteil am US-amerikanischen Außenhandel nicht mal ein Drittel. Und während Kanada der führende Handelspartner der USA ist, hat Mexiko inzwischen sogar Japan als zweitgrößten abgelöst. In den ersten Jahren des NAFTA profitierten sowohl Kanada als auch Mexiko von der Bereitschaft der USA, Handelsbilanzdefizite gegenüber den Partnerländern zuzulassen. Dahinter steht der seit 1991 anhaltende Konjunkturaufschwung in der größten Binnenökonomie der Welt, den USA. Daß die USA auf lange Sicht ihren anhaltenden Handels- und Leistungsbilanzdefiziten ein Ende bereiten wollen, zeigt nicht zuletzt die zunehmend aggressive, auf Marktöffnung zielende Handelspolitik im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO). Die Klagen gegen die Bananenmarktordnung und das Importverbot von Hormon-Rindfleisch der Europäischen Union (EU) seien hier nur als aktuellste Beispiele angeführt. Wenn die USA im Zuge ihrer Bestrebungen zur Defizitbegrenzung Mexikos Spielraum für Handelsüberschüsse einschränken, wird für Mexiko der größte Aktivposten der bisherigen NAFTA-Bilanz hinfällig.

Quantitatives Wachstum

In Sachen NAFTA ist auf seiten der mexikanischen Regierung der Handels- und Industrieminister Herminio Blanco Mendoza quasi der letzte Mohikaner. Er ist das einzige aktuelle Regierungsmitglied, das bereits in die NAFTA-Verhandlungen involviert war. Dementsprechend positiv fällt seine NAFTA-Bilanz aus: NAFTAs größter Erfolg bestehe in den neugeschaffenen Arbeitsplätzen. Eine Million neue Jobs schreibt Blanco der Freihandelszone zu. Über Zahlen und Statistiken läßt sich bekanntlich trefflich streiten. Unbestreitbar ist jedoch, daß der Ausbau der maquiladoras (Lohnveredelungstätten) positive Beschäftigungseffekte mit sich brachte und daß dieser Ausbau durch NAFTA gefördert wurde. Zwar wurde die erste maquiladora in Mexiko bereits 1965 eröffnet, die massive Expansion dieser Produktionsstätten setzte jedoch erst im Zuge der Liberalisierungspolitik seit Anfang der achtziger Jahre ein. Existierten 1980 gerade 620 maquiladoras, so sind es Mitte 1999 schon 3100. Seit dem Start von NAFTA hat sich die Zahl der dort Beschäftigten fast verdoppelt, auf knapp über eine Million ArbeiterInnen. Angesichts des in Mexiko reichlich vorhandenen industriellen Reserveheeres ist das In-Lohn-und-Tortilla-Bringen von Arbeitskräften ein Erfolg, der nicht mit dem simplen Hinweis auf die kritikwürdigen Arbeitsbedingungen weggewischt werden kann. Ein schlechtes formelles Beschäftigungsverhältnis ziehen viele MexikanerInnen einer informellen Beschäftigung vor – wenn sie denn die Wahl haben. Beschäftigung um jeden Preis scheint sowohl für die mexikanische Regierung als auch mangels Alternativen für die Bevölkerung die Maxime zu sein. Immerhin muß in den maquilas wenigstens der gesetzliche Mindestlohn von 37 US-Dollar pro Woche gezahlt werden, Industrieminister Blanco beziffert das Durchschnittseinkommen in diesem Sektor gar auf das Viereinhalbfache des Mindestlohns.

Begrenzte Entwicklung

Die Grenzen einer auf maquilas beruhenden Entwicklung sind jedoch offenkundig. In den maquilas werden importierte Vorprodukte veredelt, um dann wieder exportiert zu werden. 1998 wurden über 97 Prozent der in den maquilas verarbeiteten Inputs aus dem Ausland importiert. Das bedeutet schlicht, daß von der maquila-Industrie nur geringe Impulse auf den Rest der Wirtschaft ausgehen und so gut wie keine Verflechtung zwischen den Industriesektoren stattfindet. Der Anreiz für Investoren, solche Veredelungsbetriebe aufzuziehen, liegt in erster Linie in den geringen Lohnkosten. Demzufolge siedeln sich arbeitsintensive Industrien mit meist veralteter und in hohem Maße umweltschädigender Technologie an. Ältere, arbeitsintensive Technologien haben eine geringere Wertschöpfung je Arbeitskraft und senken tendenziell den Anteil höherqualifizierter Arbeitskräfte. Die Zahlen belegen dies prägnant: 82 Prozent der ArbeiterInnen sind ungelernte Kräfte und nur 11 Prozent haben eine technische Qualifikation aufzuweisen. Eine Entwicklung, die höhere Löhne zuließe, bedingte indes eine höhere Wertschöpfung pro Arbeitskraft, die die maquilas jetzt und auch zukünftig nicht zu erbringen imstande sind – eben weil eine Verflechtung mit anderen Industriesektoren, die einen höheren mexikanischen Wertschöpfungsanteil an der Produktion ermöglichen würde, ausbleibt. Die Folge: Mexiko wird in seinem Status als verlängerte Werkbank und industrielle Müllkippe der USA zunehmend festgeschrieben.
Neben den geringen Arbeitskosten ist der bevorzugte Marktzugang in die USA für viele Investoren der Hauptanreiz, in Mexiko zu investieren. Für südkoreanische Unternehmen bildete dies die Motivation, in Mexiko Fernsehproduktionsstätten aufzuziehen, da Mexiko der größte Fernsehexporteur in die USA ist, und in dieser Sparte zu den größten Exporteuren weltweit gehört. Ebendieser bevorzugte Marktzugang ließ Mexiko auch zu einem Giganten der Automobilbranche heranwachsen.
Vor allem japanische und deutsche Unternehmen nützen Mexiko als Einfallstor zum lukrativen US-Automobilmarkt. Allein in den ersten vier Jahren NAFTA investierten die Autobauer 7,7 Milliarden US-Dollar in Produktionsanlagen auf mexikanischem Territorium. Das Wall Street Journal geht gar davon aus, daß die Investitionssumme bis zum Jahr 2000 noch verdoppelt wird. Schon 1997 exportierte Mexiko mit 800.000 Stück doppelt so viele Autos in die USA wie im ersten NAFTA-Jahr 1994. Der Boom in der Autoindustrie wird weiter anhalten, begünstigt durch die langen Arbeitszeiten und niedrigen Löhne der mexikanischen ArbeiterInnen. Die durchschnittliche Arbeitswoche beträgt 42 Arbeitsstunden und der durchschnittliche Tageslohn 13,5 US-Dollar – ein Stundenlohn eines US-Kollegen in derselben Branche.

Manchester in Mexiko

Für mexikanische Verhältnisse bietet die Autoindustrie hingegen noch vergleichsweise gute Arbeitsbedingungen. Insgesamt weist der maquila-Sektor zusammen mit der Landwirtschaft sowohl nach Auffassung von Gewerkschaften aus den USA, als auch unabhängiger mexikanischer Gewerkschaften wie die Unión Nacional de Trabajadores (UNT) oder die Sindicatos de Bienes y Servicios (SBS) die ungeschütztesten Arbeitsverhältnisse im formellen Sektor auf. Selbst der Transmissionsriemen der mexikanischen Regierungspartei PRI (Partei der institutionalisierten Revolution), die staatliche Gewerkschaft CTM, kommt inzwischen nicht mehr umhin, die Arbeitsbedingungen in den maquilas zu kritisieren. “Zustände wie im Manchester-Kapitalismus des 19. Jahrhundert” monierte die CTM: schlechte Löhne, keinerlei Kündigungsschutz, die Arbeitgeber blieben häufig ihren Anteil an den Sozialversicherungsbeiträgen schuldig und medizinische Versorgung, Urlaubsgeld etc. würden nur seltenst gewährt. Jedoch ließ die Kritik seitens der CTM lange auf sich warten: Erst Ende 1997 wurde ein Bericht über die Arbeitsbedingungen angefertigt und Staatspräsidenten Zedillo übergeben. Diese unzureichende Interessenvertretung dürfte für die Gründung der unabhängigen UNT im November 1997 ausschlaggebend gewesen sein. Die UNT ist in den maquilas besonders stark vertreten und vertrat nach Angaben ihres Präsidenten Francisco Hernández Juárez bereits im März 1998 insgesamt 1,5 Millionen ArbeiterInnen. Zusammen mit der US-amerikanischen Gewerkschaft ALF-CIO bemüht sich die UNT seit ihrer Gründung, den Multis einen Code abzuringen, mit dem sie sich in ihren Produktionsstätten zur länderunabhängigen Einhaltung der Arbeitsrechte verpflichten.

Pyrrhussieg der UNT

Der bisher größte Erfolg der UNT entpuppte sich als Pyrrhussieg. Die UNT organisierte den ersten Streik in einer mexikanischen maquiladora überhaupt. Bestreikt wurde im Mai 1998 der Zulieferer des Autoherstellers Hyundai, Han Young in Tijuana. Die Schweißer wollten eine unabhängige Vertretung wählen, da sie sich von der offiziellen Gewerkschaft vernachlässigt fühlten. Die ersten 13 Initiatoren wurden schlicht entlassen.
Der darauffolgende, von Arbeitsrechtsorganisationen in den USA unterstützte Streik veranlaßte das Unternehmen, zum ersten Mal Wahlen zur ArbeitnehmerInnenvertretung vorzunehmen. Alle Versuche, die Wahlen mit Bestechungen zugunsten der offiziellen Gewerkschaften zu wenden, schlugen fehl. Die Unabhängigen siegten und nachdem die Zentralregierung das Ergebnis anerkannte, vermochte auch die Provinzregierung von Baja California ihre bis dato verweigerte Anerkennung nicht mehr aufrechtzuerhalten. Auch das Unternehmen beugte sich zähneknirschend dem Ergebnis, nicht aber ohne sämtliche Streikorganisatoren der UNT zu entlassen und durch willige Mitglieder der CTM zu ersetzen.
Wenngleich die UNT noch weit davon entfernt ist, die hegemoniale Stellung der CTM zu gefährden, so zwingt sie die CTM doch zu einer kritischeren Haltung gegenüber den Arbeitsbedingungen im maquila-Sektor. Ob dies jenseits von Rhetorik zu greifbaren Änderungen führt, ist jedoch fraglich.

Landflucht und Migration

Neben dem maquila-Sektor ist der Agrarsektor Mexikos von NAFTA am stärksten betroffen. Nach Angaben von Benjamín Valenzuela, dem Präsidenten der Unión Nacional de Campesinos Autónomos (Unorca) sind die Einkommen seit dem Start von NAFTA um 60 Prozent gefallen. Die mexikanischen ProduzentInnen waren der Liberalisierung der Agrarmärkte nicht gewachsen. Insbesondere die MaisproduzentInnen haben von Jahr zu Jahr einen massiveren Rückgang zu verkraften. Zwar ist der Import US-amerikanischen Maises kontingentiert, die Kontingente steigen jedoch von Jahr zu Jahr rapide an. Waren es 1997 noch 6 Millionen Tonnen, die zollfrei eingeführt werden durften, stieg das Kontingent 1998 bereits auf 11 Millionen Tonnen, um dann laut Plan 2005 auf 15 Millionen Tonnen festgesetzt zu werden. Immer mehr klein- und mittelständischen mexikanischen campesinos wird so schleichend die Existenzgrundlage entzogen, liegen doch schon ihre Produktionskosten über den Preisen, zu denen die US-amerikanischen Großfarmer anbieten. Die Versuche der mexikanischen Regierung, den campesinos Ingenieure zur Produktivitätsverbesserung zur Seite zu stellen, mögen gut gemeint sein – Wettbewerbsfähigkeit werden sie nicht schaffen.
Jene, denen die Existenzgrundlage auf dem Land entzogen worden ist, bleibt nur die Flucht. Entweder in die Grenzgebiete, in denen 80 Prozent der maquiladoras angesiedelt sind oder nach Mexiko-Stadt, also überall dorthin, wo die Umweltbedingungen ohnehin schon nahezu unerträglich sind, aber wenigstens eine formelle oder informelle Beschäftigung in Aussicht steht, die das Überleben zu sichern vermag. Als dritte Möglichkeit verbleibt die illegalisierte Migration in die USA. Der vor NAFTA bei vielen MexikanerInnen existierende Irrglaube, daß NAFTA ihnen einen ungehinderten Zugang zum US-Arbeitsmarkt veschaffen würde, hat sich in Nichts aufgelöst – die Migrationsströme nehmen weiter zu. Mehr als eine Million MexikanerInnen werden pro Jahr aus den USA zurückdeportiert, rund 360 verloren in den letzten vier Jahren allein im kalifornischen Niemandsland beim Migrationsversuch ihr Leben. Dabei hängen große Teile der kalifornischen Landwirtschaft von den billigen, illegalisierten MigrantInnen ab. Aber, so der US-Staatssekretär Peter Romer, es sei nun mal „kein Grundrecht“, daß „jeder Mensch jederzeit an jeden Ort der Welt reisen könne.“

Die USA können auch anders

Dementsprechend wurde im Zuge der Operation Gatekeeper seit 1994 die Grenze militärisch gesichert: mit neuen Schutzwällen und verstärkten Patrouillen. Auch in der Handelspolitik zeigte sich die USA in Einzelfällen unversöhnlich. Mexikanische Erdbeeren wurden zeitwillig mit Importverbot belegt, weil sie angeblich bei US-Schulkindern Hepatitis verursacht hätten. Beweise wurden nicht erbracht. Mexikanische Lastwagen müssen an der Grenze umgeladen werden, weil sie wegen fehlender Sicherheitsstandards nicht weiterfahren dürfen. Möglichkeiten innerhalb einer Freihandelszone Protektionismus zu betreiben, gibt es genug – bei entsprechender Machtposition, versteht sich.
Die mexikanische Regierung ist sich ihrer Abhängigkeit wohl bewußt und weiß, daß das absehbare Ende der Hochkonjunktur in den USA die eigenen Exportmöglichkeiten dorthin einschränken wird. So kennzeichnen die im letzten November aufgenommenen Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union (EU) den Versuch, den Klauen der USA ein wenig zu entrinnen. Ob die EU dafür ein geeigneter Partner ist, darf getrost bezweifelt werden. Das letzte, am 24/25. März auf dem Berliner Gipfel von der EU verabschiedete Freihandelsabkommen mit Südafrika spricht eine andere Sprache – es enthält entgegen jeglicher Entwicklungs-, wenngleich nicht Machtlogik, eine asymmetrische Marktöffnung zugunsten des Stärkeren. Aber das ist ein anderer Kontinent und eine andere Geschichte.

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