50 Jahre LN | Jubiläumsnummer 588 - Juni 2023 | Linke in Lateinamerika

Mit Hoffnung und Kritik

Von der linken Welle der 2000er bis zur sozialdemokratischen heute

Neue Linksregierungen in Lateinamerika: Eine Einordnung zum Editorial „Neugründungen am Scheideweg“ aus LN 411/412 (September/Oktober 2008).

Von John Mark Shorack & Frederic Schnatterer

Bolivia Soberana! LN-Cover im November 2000

Die linken Wahlsiege in Lateinamerika um die Jahrtausendwende sorgten weltweit für Hoffnung, auch in der LN-Redaktion. Nach Jahren in der Defensive kamen progressive Politiker*innen in mehreren Ländern an die Macht, allen voran in Venezuela, Bolivien, Ecuador und Brasilien. Sie verfügten über die Unterstützung der breiten Masse der Bevölkerung, ihre Versprechen waren groß. Im Editorial sprach die LN-Redaktion 2008 von nicht weniger als „Projekten zur Neugründung des Staatswesens“. Zunächst hatten die Linksregierungen Erfolg. In Venezuela konnte die Armut zwischen 1998 und 2010 radikal gesenkt werden. Auch in anderen Ländern wie Bolivien, Ecuador und Brasilien wirkte der massive Ausbau der Sozialprogramme. Kein Wunder also, dass sich die LN-Redaktion solidarisch mit den Linksregierungen zeigte. Dabei blieb sie jedoch immer auch kritisch. Bei der Ausrichtung des politischen Kompasses half der Blick auf Basisbewegungen, die dem Gerede in den Präsident*innenpalästen einen Realitätscheck verpassten. Die Entwicklungen zeigen, dass der kritische Ansatz der Richtige war. Heute muss teilweise ein Scheitern der ehemals emanzipatorischen Projekte konstatiert werden. Bereits 2008 betonte die LN-Redaktion, die Konfrontation mit den alten Machthaber*innen sei unausweichlich. In Brasilien und Bolivien kamen die progressiven Regierungen zwar mittlerweile wieder an die Macht, nachdem sie zuvor weggeputscht worden waren. In Ecuador ging die Rechte jedoch zumindest vorläufig als Siegerin aus der Konfrontation hervor.

Derlei Entwicklungen haben ihre Ursachen. Sie zu verstehen ist wichtig, um die Enttäuschung über das Scheitern der Projekte in rationale Bahnen zu lenken. Das gilt insbesondere für den „Sonderfall“ Venezuelas, das erste Land, in dem mit Hugo Chávez 1998 die Linke an die Macht kam. Dessen Nachfolger Nicolás Maduro führt heute offiziell das chavistische und damit das weitestgehende Projekt der „linken Welle“ fort. Die rechte Opposition war nicht in der Lage, ihn von der Macht zu verdrängen. In den vergangenen Jahren erstickte Maduro allerdings die basisdemokratischen Ansätze und setzt verstärkt auf Repression. Wirtschaftspolitisch fährt er heute einen neoliberalen Kurs. Einen gehörigen Anteil an der Entwicklung hat auch der Westen, allen voran die USA. Autoritarismus, Korruption und privatwirtschaftliche Lösungen können auch als Reaktion auf die brutale Sanktionspolitik, die Unterstützung gewalttätiger Putschversuche und die internationale Isolierung des Landes gesehen werden.

Die „neue progressive Welle“ in Lateinamerika seit 2018 bringt für die LN heute wieder ähnliche Fragen mit sich. Die Projekte der als links titulierten Regierungen sind eher sozialdemokratischer denn transformatorischer Natur. Auch bei ihrer Bewertung ist es hilfreich, sich an sozialen Bewegungen zu orientieren – und gleichzeitig gemachte Fortschritte gegen rechts zu verteidigen.

John Mark Shorack ist Mitglied der LN-Redaktion
Frederic Schnatterer ist Mitglied der LN-Redaktion und politisierte sich auch mit dem Wahlsieg von Chávez

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