„POLITTRICKS“ BESTIMMEN DAS SYSTEM
Präsidentschaftswahlen, Ölprofite und Ethnopolitisierung in Guyana
Als vor der guyanischen Küste einer der weltweit größten neuen Ölfunde gemacht wurde, änderten sich auf einen Schlag die wirtschaftlichen Aussichten des zur Karibik gehörenden Landes im Nordosten Südamerikas. Wenig verwunderlich, dass die Einnahmen aus dem Erdöl und ihre mögliche Verwendung und Verteilung eines der Hauptthemen des Wahlkampfes 2020 war.
Nachdem ExxonMobil im Juni 2016 einen neuen Ölfund bekannt gab, der mehr als 6 Milliarden Barrel förderbares Öl und Gas umfasst, wurde rasch deutlich, dass sich Guyana zu einem der führenden Ölproduzenten der Welt entwickeln könnte. Dies würde die Wirtschaft des 800.000 Einwohner*innen-Landes massiv ankurbeln. Nach Verhandlungen des Unternehmens mit der guyanischen Regierung rund um den 2016 amtierenden Präsidenten David Granger, ein Afro-Guyaner, kritisierten die größtenteils indo-guyanische Opposition und große Teile der Bevölkerung in zunehmendem Maße das Ergebnis dieser Verhandlungen und benannten das getroffene Abkommen als nicht zufriedenstellend für Guyana. Neben Kritik an der mangelnden Transparenz bei den Verhandlungen wurden Äußerungen laut, dass die Regierung vom Ölgiganten hintergangen worden sei und nur privaten Nutzen aus dem Abkommen ziehe. Infolge eines Misstrauensvotums gegen die regierungsführende Koalition, bestehend aus Grangers Partei APNU und dem Juniorpartner AFC, wurden im Dezember 2018 Neuwahlen angesetzt, die nach einigen Vertagungen im März 2020 durchgeführt wurden.
Durch die Brisanz der Ölthematik wurde bereits vor den Wahlen gewarnt, dass die Ergebnisse gefälscht werden könnten. Zwar ist dieser Diskurs keine Neuheit in Guyana; derartige Befürchtungen wurden bislang vor jeder Wahl geäußert und tatsächlich ist es in der Vergangenheit bereits zu Wahlbetrug gekommen. Der zu erwartende Ölprofit ist jedoch von solcher Bedeutung für die wirtschaftliche Zukunft des Landes, dass er in besonderer Weise die Ängste und Hoffnungen der unterschiedlichen guyanischen Bevölkerungsgruppen schürte, zwischen denen es insbesondere im Kontext von nationalen Wahlen immer wieder zu Spannungen kommt.
Die Kämpfe um die politische Macht in Guyana werden gewöhnlich als Kämpfe um Ressourcen und ethnische Vorherrschaft angesehen. Vor allem während nationaler Wahlen kommt es zu Spannungen zwischen „Afrikaner*innen“ und „Inder*innen“, den beiden größten Bevölkerungsgruppen des Landes. Diese Entwicklung hängt mit dem Prozess der Ethnopolitisierung des guyanischen Wahlsystems zusammen – der Ethnisierung der politischen Parteien und des Wählens. Stimmen werden in der Regel weniger im Hinblick auf politische Ziele abgegeben, zudem werden politische Parteien entweder als „afrikanisch“ oder als „indisch“ eingeordnet.
Ölprofite schüren Ängste und Hoffnungen
Auch David Hinds, Professor an der Arizona State University und politischer Aktivist in Guyana, analysierte diese Dynamiken in einem Interview: „Beide Gruppen betrachten das Nicht-Regieren als einen Angriff auf ihre Würde, ihre ethnische Würde.“ Ihm und vielen anderen Personen zufolge besteht in Guyana ein „winner-takes-it-all-system“. Bisher habe es noch keine Regierung des Landes geschafft oder gar angestrebt, allen Menschen gleichermaßen zu dienen. Die politische und wirtschaftliche Vorherrschaft würde oft durch spezifische „Leidensgeschichten“ gerechtfertigt. Diese Erzählungen thematisierten, so Hinds, welche Gruppe der Gesellschaft und der guyanischen Nation „mehr gedient“ oder zu dessen wirtschaftlicher Entwicklung „mehr beigetragen“ hätte. Über derartige Erzählungen würden der eigenen Gruppe soziales Prestige zugeschrieben und die Leistungen der „anderen“ abgewertet.
Tatsächlich konstatieren Afro-Guyaner*innen häufig, dass ihre versklavten Vorfahr*innen das Plantagensystem durch harte, körperliche Arbeit aufgebaut hätten. Sie hätten somit am längsten unter den wirtschaftlichen und politischen Repressionen der Kolonialzeit gelitten, weswegen ihnen nun ein (größerer) Anteil beziehungsweise (höherer) sozialer Status zustünde. Indo-Guyaner*innen hingegen behaupten oftmals, dass die ehemaligen Sklav*innen die Kolonie im 19. Jahrhundert beinahe in den Ruin getrieben hätten, indem sie sich weigerten, regelmäßig zu arbeiten und hohe Löhne forderten. Aus ihrer Sicht sei es die Arbeit der indischen Vertragsarbeiter*innen und deren Nachkommen gewesen, die das Land vor dem Ruin bewahrt und die Ausweitung des Plantagensystems, folglich der Wirtschaft, ermöglicht hätten.
So beansprucht jede Gruppe soziale und wirtschaftliche Überlegenheit sowie politische Dominanz. Dies geschieht zumeist nur in informellen Gesprächen, wohingegen politische Akteur*innen sich öffentlich für die Chancengleichheit aller Bevölkerungsgruppen aussprechen.
Am 2. März traten neun Parteien für die Präsidentschaftswahlen und die Wahl der Nationalversammlung an. Der Wahltag verlief ohne besondere Vorfälle und wurde von den politischen Parteien sowie den lokalen und internationalen Beobachter*innen als frei und fair gewertet. Während der Tabellarisierung der Ergebnisse tauchten im Verlauf der folgenden Tage jedoch Vorwürfe des Wahlbetrugs auf: Vorläufige Ergebnisse deuteten darauf hin, dass die („indische“) PPP/C in Führung lag und somit die („afrikanische“) APNU-AFC unter David Granger auf eine Niederlage zusteuerte. Nach dieser Hochrechnung kam es zu einer mehrstündigen Unterbrechung der Auswertung, infolge derer es zu Manipulationsvorwürfen auf beiden Seiten kam.
„Du weißt, Politik ist Trickserei“
Wegen mangelnder Transparenz erhoben nationale und internationale Wahlbeobachter*innen umgehend heftige Kritik. Versuche, David Granger erneut als Präsidenten zu vereidigen, wurden durch den Obersten Gerichtshof vereitelt. Nach langen Verhandlungen stimmte die APNU-AFC schließlich einer Neuauszählung der Stimmen zu. Diese ergab im Juli, dass die PPP/C mit einer knappen Mehrheit von einem Sitz die meisten Wahlstimmen erhalten hatte. Nach weiteren Auseinandersetzungen intervenierte die karibische Gemeinschaft (CARICOM) und ordnete an, dass das Ergebnis der Neuauszählung als amtliches Wahlergebnis gilt. Am 2. August, fünf Monate nach den offiziellen Wahlen, wurde Mohamed Irfaan Ali, Präsidentschaftskandidat der PPP/C, als neuer Präsident vereidigt.
Desiree*, Mitarbeiterin der University of Guyana, kommentierte den Wahlverlauf geringschätzend: „You know they say politics is tricks…” (Du weißt, sie sagen, Politik ist Trickserei). Wie viele andere brachte sie ihr Misstrauen gegenüber der „neuen, alten Regierung“ zum Ausdruck und fügte hinzu: „Sie werden versuchen zu betrügen.“ Eine Mehrzahl der Guyaner*innen verweist im Kontext der Wahlen auf den im anglophonen karibischen Raum geläufigen Begriff der „Politricks“. Dies ist eine Wortschöpfung aus „Politik“ und „Tricks“ und bezeichnet eine Form der Politik, die durch Unehrlichkeit und Eigeninteresse gekennzeichnet ist und bei der hinterhältige Methoden angewendet werden, um politische Ziele zu erreichen.
Auch der ehemalige politische Aktivist Mark Anthony Benschop, der mittlerweile in New York lebt, bewertete die diesjährigen Vorgänge als „manipulierten Wahlvorgang“. Benschop verwies jedoch nicht auf eine alleinige Manipulation von Seiten der APNU-AFC, sondern auf einen erfolgreichen Wahlbetrug auf Seiten der nun amtierenden PPP/C: „Ich glaube noch immer nicht, dass die PPP/C gewonnen hat. Die CARICOM hat nur 20 Prozent des Nachzählungsprozesses überwacht und diesen zu früh abgebrochen.“ Die PPP/C sei von ausländischer Seite in ihrem Sieg und ihrem Betrug unterstützt worden, die ein Interesse an einem PPP/C-regierten Guyana habe. Die ausländischen Akteur*innen, die sich größeren Einfluss in der Region und auf das Ölvorkommen erhofften, „wollten und kriegten einen Regierungswechsel“, so Benschop. Während „Inder*innen“ nun überzeugt seien, dass die PPP/C rechtmäßig gewonnen hätte und die APNU-AFC die Wahlen manipulieren wollte, wären „Afrikaner*innen“ der Meinung, dass „Granger nicht hätte nachgeben dürfen“ und die PPP/C betrogen habe.
In der „indisch“ dominierten Region Berbice ist überwiegend zu vernehmen, dass es die Regierung sowieso nicht interessiere, was außerhalb der Hauptstadt Georgetown geschehe. Annie*, eine dort lebende Grundschullehrerin, erklärte: „Das Öl ist in Georgetown, nicht hier.“ Hiermit deutete sie an, dass sie keinerlei positive Veränderungen in ihrer Region erwartet, obschon „ihre“ Partei die Wahlen gewonnen habe. „Wenn Wahlen anstehen, kommen sie, die Politiker*innen aus Georgetown. Dann wollen sie unsere Stimmen, versprechen alles, aber in Wirklichkeit machen sie hier nichts.“ Ihre größere Sorge sei es momentan, ihrer Arbeit als Lehrerin in Zeiten von Corona nachzukommen, was in den vergangenen Monaten aufgrund des Machtvakuums und der schlechten technischen Infrastruktur schwierig gewesen sei.
Viele Guyaner*innen sind politisch desillusioniert