SÃO PAULO OHNE DACH
Interview mit den brasilianischen Theatermachern Pedro Pires und Zernesto Pessoa
Sie beide sind gerade aus São Paulo angekommen. Was erwarten Sie sich von dem Besuch in Deutschland und von der Teilnahme am Festival?
Zernesto Pessoa: In Brasilien haben wir bisher kein einziges unserer Stücke veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung von Wer Augen hat, der sehe ist also unsere erste Veröffentlichung. Für mich wird bei diesem Besuch etwas verwirklicht, in dem ich schon mittendrin stecke, obwohl wir gerade erst angekommen sind. Schade, dass wir nur so kurze Zeit bleiben können.
Pedro Pires: Ich bin ungemein neugierig, den portugiesischen Text, dessen Melodie ich seit Jahren im Ohr habe, auf Deutsch zu hören. Der Besuch ist insofern wichtig, dass wir beobachten können, wie das deutsche Publikum die Themen, die Brasilien und São Paulo eigen sind, aufnehmen wird.
Im Münchner Teamtheater wird nun Wer Augen hat, der sehe gezeigt. Als Grundlage diente Ihnen der Roman Es waren viele Pferde von Luiz Ruffato, der wie ein Kaleidoskop unzusammenhängende Szenen aus São Paulo nebeneinanderstellt. Wie kam es zu der Idee, dieses Buch fürs Theater zu adaptieren?
P.P.: Da muss ich weiter ausholen. In der Companhia do Feijão setzen wir uns sehr stark mit der Sprache des Theaters und inhaltlich mit der Realität Brasiliens auseinander. Dabei nehmen wir aktuelle Fragen in den Blick und schauen in die Vergangenheit zurück, um zu sehen, wie Menschen zu einem anderen Zeitpunkt in der brasilianischen Geschichte damit umgegangen sind. Kurz nach der Gründung unserer Theatergruppe 1997/98 traten wir in Kontakt mit Werken der brasilianischen Literatur. Sie erzählen nicht einfach die Geschichte, sondern dort gibt es lebendige Figuren. Eines unserer ersten Stücke, O Ó da viagem, schufen wir ausgehend vom Tagebuch Mário Andrades, das er 1929 auf einer Reise in den Norden Brasiliens schrieb. Zufällig machten wir 1999 eine ähnliche Reise mit einem Straßentheaterstück, das wir in verschiedenen, kleineren Städten aufführten. Der Nordosten ist für jemanden, der in der Metropole lebt, eine völlig andere Realität.
Im darauffolgenden Stück, in dem wir uns mit der Peripherie von São Paulo beschäftigten, hielten wir uns weiter an Andrade und auch an Machado de Assis mit der Frage nach unserem Erbe, das aus der Sklaverei resultiert. Im dritten Stück – da arbeitete ich schon mit Zernesto – wollten wir uns mit São Paulo beschäftigen, der Stadt, in der wir leben. Und da brachte Luiz Ruffato Es waren viele Pferde heraus. Als wir das Buch lasen, sagten wir, das ist es, das wird unsere kreative Grundlage, das ist unser literarischer Partner.
Z.P.: Wir saßen sechs Monate mit dem Buch auf dem Schoß da und wussten nicht, wie wir es angehen sollten. Dann begannen wir die ersten Szenen auszuprobieren und als wir das Gefühl hatten, jetzt ist es tatsächlich Theater, baten wir Ruffato um die Genehmigung. Die Befragung eines Schriftstellers bringt manchmal mehr als die der Historiker. Wir führten zwar wenige Gespräche über die Entstehung des Buches, aber bei der Begegnung mit Ruffato konnten wir die Welt durch seine Brille betrachten.
Wie waren die Reaktionen des Publikums auf das Stück?
P.P.: 2005 nahmen wir an einem Projekt teil, das sich „Publikumserweiterung“ nannte: An der Peripherie São Paulos wurden Kulturzentren eröffnet, weil die meisten Menschen dort noch nie ins Theater gegangen sind. Das ist immer noch so, weil das Projekt leider nicht weitergeführt wurde. Und bei einer der ersten Vorstellungen meldete sich eine Frau zu Wort: „Meine Güte, ich war nie im Theater, aber von jetzt an werde ich immer gehen, weil dieses Stück, das ist ja fast so, als ob ich São Paulo ohne Dach sehen würde.“ Intuitiv hatte diese Frau die gleichen Verknüpfungen hergestellt wie wir. Unser Ziel ist zwar schon die Erzählung der Einzelgeschichten, aber noch viel mehr ihre Verbindung. Wegen der Äußerung dieser Frau, die schon um die 60 gewesen sein dürfte, wussten wir, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Wir wollen nämlich keine hermetischen Sachen machen.
Insgesamt kommt das Stück sehr gut an, weil es das Leben der Menschen beschreibt: Wir haben es so komponiert, als sähe man São Paulo von einem Satelliten aus, und während man sich annähert, erkennt man die Menge von Menschen und in dieser Menge können wir schließlich die Individuen ausmachen und das Universum jeder Person.
Woran arbeiten Sie aktuell?
P.P.: Gerade arbeiten wir an einem Projekt, das bei den großen Demonstrationen der vielen Unzufriedenen ansetzt, die 2013 begonnen haben, vor dem parlamentarischen Putsch, den wir jetzt erlebt haben. Wir fragen uns, was in der brasilianischen Gesellschaft vor sich geht, warum das Projekt der vergangenen Jahre, ein Land mit mehr sozialer Gleichheit zu werden, gescheitert ist und stattdessen ein neoliberales, intrigantes Modell zurückkehrt. Bei diesen riesigen Demonstrationen werden sehr rechte, reaktionäre Positionen vertreten, wobei die Medien als Propaganda fungieren, sodass die Linke weniger Demonstrierende auf die Straße bringen konnte als die Rechte. Mit den Romanen von Chico Buarque de Hollanda haben wir uns wieder einen literarischen Ansporn für unseren kreativen Prozess ausgesucht. Ausgehend von seinen Figuren und Geschichten, die auch historisch sind, versuchen wir das aktuelle Geschehen zur Sprache zu bringen.
Wo verorten Sie die Companhia do Fejão in der Theaterszene von São Paulo?
P.P.: Wir gehören zur Bewegung der Theatergruppen. Diese Bewegung ist in den vergangenen Jahren mit einem kritischen Blick auf das Land stark geworden. Allgemein auf der ganzen Welt sehen wir, wie die Menschheit sich in den Sumpf von Geldgeschäften und Waren hineinmanövriert. Aber wenn wir andere Menschen nicht dazu bringen, sich Gedanken zu machen, geben wir uns mit der jetzigen Welt zufrieden. Zusammen mit anderen Gruppen aus São Paulo verfolgen wir die Merkantilisierung des Lebens kritisch und wollen die Aufmerksamkeit darauf richten, dass man auch anders denken kann, dass andere Beziehungen möglich sind als die der gegenseitigen Ausbeutung.
Was sind die Sorgen und Probleme der professionellen Theaterschaffenden in Brasilien?
Z.P.: Du meine Güte, wie viel Speicher hat denn das Aufnahmegerät? Die Sorgenliste ist nämlich unendlich. Wir leben schlecht, auch wenn wir nicht wie die völlig ausgebeuteten Festangestellten leben, die für einen Chef das Geld verdienen, anstatt für sich selbst. Aber der Überlebenskampf ist – ironisch gesagt – spannend, weil wir nicht wissen, ob wir morgen unsere Rechnungen bezahlen können oder nicht. Wenn die Arbeit im Feijão nicht so viel Kraft geben würde, hätten wir längst aufgegeben. Ich glaube, dass der unsichere Zustand sehr fruchtbringend für den Schaffensprozess ist. Er treibt uns an.
P.P.: Ergänzend will ich sagen, dass wir in den letzten 20 Jahren in São Paulo durch diese Bewegung von Künstlergruppen einige öffentliche Finanzierungsprojekte angestoßen haben. Sie sind uneingeschränkt zugänglich, klein, aber wichtig, um wenigstens einen gewissen Arbeitshorizont abstecken und uns nur unserer Kunst widmen zu können. Vorher gab es nur die Finanzierung durch Unternehmen. Die haben dieses Geld natürlich von der Steuer abgesetzt. Ende der neunziger Jahre stellten wir fest, dass sie damit nur in ihr eigenes Marketing investierten: Ihr Geld ging an Leute, die es gar nicht brauchten, Fernsehstars, die den Namen des Unternehmens bekannt machen sollten. Dieses Gesetz gibt es auch heute noch, aber es dient eben nicht der Förderung eines kritischeren, ernsthafteren, experimentellen Theaters mit weniger Medienecho. Mit der Bewegung der Theatergruppen haben wir einiges erreicht, aber jetzt befürchten wir, es wieder zu verlieren, weil das Modell, das in Brasilien nun wieder vorherrscht, sich allein dem Geldgeschäft und der Kulturindustrie verschrieben hat.
THEATER AUS SÃO PAULO IN MÜNCHEN
Im Oktober brachte das Münchner Teamtheater Stücke aus der bayerischen Partnerregion São Paulo auf die Bühne. Das städtisch geförderte Privattheater sorgte so dafür, dass nicht nur offiziellen Vertreter*innen der Wirtschaft und Wissenschaft, sondern auch unabhängigen Künstler*innen in Bayern ein Podium geboten wird.
„Es gibt sieben weitere Partnerregionen“, berichtet die Dramaturgin und Übersetzerin Gerda Poschmann-Reichenau, Projektleiterin der im Mai 2016 gestarteten Festivalreihe „Teamtheater.Global.“ Dass sich anstelle des chinesischen Shandong oder des am nächsten liegenden Oberösterreich vom 12. bis 20. Oktober São Paulo im kleinen, feinen Salon des Teamtheaters präsentieren durfte, liegt an einem „starken Partner“: Angela Meermann, die selbst einen Teil ihrer Jugend in São Paulo verbracht hat, gründete 2011 zusammen mit dem Regisseur Tilo Esche den Zuckerhut Verlag – mit einem Fokus auf brasilianischen Theaterstücken hatte sie das passende Repertoire bereits in deutscher Übersetzung parat. Ein bisschen nachgeholfen habe sie bei der Auswahl der Stücke schon, gibt die Verlegerin zu; immerhin entziehen sich mindestens zwei der drei Bühnenwerke einem klassischen Dramenformat.
Zum Glück! Denn so bekam das Publikum nicht nur spannende Interpretationen durch die wunderbaren Schauspieler des Teamtheaters geboten, sondern gleichzeitig eine Bandbreite an Themen, die Schlaglichter auf das aktuelle und historische Brasilien werfen. Wüstes Land – Agreste von Newton Moreno, übersetzt von Katja Roloff, führt über weite, fast epische Passagen zwar in den entlegenen, staubtrockenen Nordosten des Landes; die Transgender-Thematik des Stücks sei aber auch in São Paulo heiß diskutiert worden, erzählt Meermann. Die Megacity selbst spielt in Wer Augen hat, der sehe von Pedro Pires und Zernesto Pessoa die Hauptrolle. Basierend auf dem Roman Es waren viele Pferde von Luiz Ruffato, zeigt es intime Szenen einzelner Individuen, die harmlos beginnen und im Laufe des Stücks immer mehr Brutalität offenbaren. Zusammengehalten werden die fragmentarischen Bilder der Großstadt von der Figur eines Taxifahrers – der in Ruffatos Roman übrigens nicht vorkommt. Das letzte Stück der Reihe, Neue Verordnungen für die Zeiten nach dem Krieg von Bosco Brasil, übersetzt von Angela Meermann, ist eine Zeitreise nach Rio de Janeiro im Jahr 1945, wo ein polnischer Jude auf der Flucht vor den Nazis um Aufnahme bei den Einwanderungsbehörden bettelt – und damit den Bogen zurück zur Aktualität und den anhaltenden Diskussionen um die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland schlägt. Ergänzt wurde das kleine, aber vielseitige Programm von einer Lesung von Microcontos, einer zweisprachig erschienenen Anthologie von Minigeschichten aus Brasilien, übersetzt von Wanda Jakob, zu der der Verein Lusofonia zur Förderung der Kulturen aus portugiesischsprachigen Ländern seinen Beitrag leistete.
„Positiv erstaunt“ ist Meermann am Ende des Festivals, dass brasilianisches Theater entgegen der verbreiteten Skepsis in Deutschland gut anzukommen scheint. Ob „Teamtheater. Global.“ nach dem Durchlauf aller acht bayerischen Partnerregionen die Reise aufs Neue antreten wird, um die Begegnungen mit brasilianischen Gästen fortzusetzen? Zunächst wird wegen des großen Erfolgs die Lesung von Wüstes Land – Agreste mit Ursula Berlinghof am 4. Dezember wiederholt. Und am 3. Dezember kommt der Autor Luiz Ruffato selbst in das Münchener Teamtheater, um gemeinsam mit seinem Übersetzer Michael Kegler aus seinem letzten Werk zu lesen: Vorläufige Hölle – von Menschen und ihren Geschichten.