Asylrecht | Nummer 339/340 - Sept./Okt. 2002

(Über-)Leben in der Gesellschaft

Interview mit einem kolumbianischen Teilnehmer der „Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen

Fünf Wochen lang reiste die Flüchtlingskarawane im Vorfeld der Bundestagswahlen durch Deutschland. Unter dem zentralen Motto „Asylrecht ist Menschenrecht“ protestierten Flüchtlinge und MigrantInnen verschiedenster Herkunft zusammen mit zahlreichen Organisationen in mehr als 30 Städten gegen die katastrophalen Lebensbedingungen und rassistische Sondergesetze, denen sie in Deutschland unterworfen sind. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit Fernando (Name von der Redaktion geändert), einem kolumbianischen Teilnehmer der Karawane über seine Erfahrungen in Deutschland. Fernando wartet seit zwei Jahren auf die Anerkennung seines Asylantrags.

Anne Becker und Anja Witte

Fernando, du bist Teil der Vorbereitungsgruppe der Karawane. Was bedeutet die Karawane für dich?

Die Karawane ist in einem sehr praktischen Sinn eine Bewegung. Sie zieht durch ganz Deutschland und bringt verschiedenste Gruppen und Menschen miteinander in Kontakt. Durch die Karawane werden wir Flüchtlinge sichtbar, wir zwingen die Menschen uns wahr zu nehmen. Der durchschnittliche Bundesbürger weiß nichts vom Leben eines Flüchtlings, von Residenzpflicht, von Kontrollen und von Essensgutscheinen. Die Karawane ist für mich ein
Medium, durch das wir Flüchtlinge und MigrantInnen für unsere Rechte und bessere Lebensbedingungen kämpfen können.

Wie sehen die Lebensbedingungen eines Asylsuchenden in Deutschland aus?

Ich wurde in ein Asylbewerberheim in einer kleinen sehr abgelegenen Stadt eingewiesen. Dort blieb ich sechs Monate, in denen ich praktisch nichts machen konnte. Jeder Tag gleicht dem andern. Du stehst morgens auf, isst und wartest auf die Nacht, damit du wieder schlafen kannst. Das gibt dir ein Gefühl absoluter Nutzlosigkeit. Im Heim hast du keine Möglichkeit, die Sprache zu lernen oder die deutsche Kultur zu verstehen. Die Menschen werden krank in den Asylbewerberheimen, weil sie nichts tun können. Die Atmosphäre ist ständig gespannt und du kannst dich dem nicht entziehen.

Wie begegnen dir die Menschen außerhalb des Wohnheims?

Viele Menschen in Deutschland hassen Flüchtlinge. Und in der näheren Umgebung des Wohnheims besonders. Sie sind der Ansicht, dass die Flüchtlinge hierher kommen, um sich auf Kosten der Deutschen zu bereichern, um sich im sozialen Netz auszuruhen, den Deutschen die Arbeit wegzunehmen. Es gibt viele rassistische Übergriffe. Glücklicherweise bin ich persönlich noch nie körperlich angegriffen worden, aber fast alle meine Freunde und Kollegen haben schlimme Erfahrungen gemacht, manche sind schwer verletzt worden. Die Bedingungen im Heim selber und in der näheren Umgebung sind nur schwer auszuhalten. Nach sechs Monaten entschied ich mich nach Hamburg umzuziehen, an einen Ort mit weniger Rassismus, an dem ich besser leben kann, wo ich Kontakt zu politisch arbeitenden Gruppen habe. Ich entschied mich praktisch für das Überleben in der Gesellschaft.

Als Asylbewerber unterliegst du der so genannten Residenzpflicht. Laut Gesetz ist es dir verboten, deinen Landkreis zu verlassen.

Das stimmt nicht ganz. Es besteht die Möglichkeit, den Landkreis zu verlassen mit einer ausdrücklichen Genehmigung der Behörden. Hier bei der Karawane übertreten viele ganz bewusst dieses Gesetz, weil sie sich das Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit nicht nehmen lassen. „Landkreis“ bedeutet für mich ein offenes Gefängnis. Dein Bewegungsraum ist total eingeschränkt durch eine unsichtbare Linie. Du wirst praktisch wie ein Tier in einem offenen Käfig gehalten. Die Residenzpflicht verstößt gegen die Menschenrechte. Ähnliche Beschneidungen der Bewegungsfreiheit gab es sonst nur im südafrikanischen Apartheidtregime. Wer sich nicht an die Auflagen hält, muss ein Bußgeld zahlen. Ich bekomme ein Taschengeld von 40 Euro. Wenn ich einmal außerhalb meines Landkreises kontrolliert werde, muss ich dafür eben diese 40 Euro zahlen. Dann bleibt nichts mehr, um etwa einen Bus zu bezahlen oder eine Telefonkarte zu kaufen.

Wie läuft so eine Kontrolle ab?

Die Polizei holt dich zum Beispiel aus dem Zug oder dem Bus heraus. Du wirst möglichst abgeschirmt von den anderen Passanten. Sie überprüfen deine Papiere. Manchmal nehmen sie dich mit, und du wirst für eine Nacht auf der Polizeiwache festgehalten. Sie nehmen dir dann alles ab, was du bei dir hast. Manchmal fordern sie dich auf, dich nackt auszuziehen. Es hängt von der Stimmung der Polizisten ab. Später wirst du in deinen Landkreis zurückgeschickt. Der Polizist übergibt dem Bahnpersonal deine Sachen, die dir erst wieder an dem Ort ausgehändigt werden, wo du aussteigen musst.

Was passiert wenn jemand wiederholt kontrolliert wird?

Ich habe von Fällen gehört, in denen Menschen fünf oder sechs Mal ohne Genehmigung außerhalb ihres Landkreises kontrolliert wurden. Und mit jedem Mal wird das Bußgeld erhöht. Wenn du oft genug kontrolliert wirst, kannst du eingestuft werden als „Gefahr für die innere Sicherheit“. Auf dieser Grundlage können sie dann, im schlimmsten Fall, dein Verfahren beschleunigen und dich abschieben. Mit der Weigerung das Bußgeld zu bezahlen, kommt die ganze Sache vor Gericht.

Gibt es zu Fällen wie diesem schon Urteile?

Die Fälle wandern von einer Instanz zur nächsten. Es sind enorme Bußgelder verhängt worden und sogar schon Haftstrafen von einem Jahr. Würde vom Verfassungsgericht ein für uns positives Urteil gefällt werden, wären sie gezwungen das Gesetz zur Residenzpflicht zu revidieren. Im Moment läuft auch eine Klage vor dem europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Aber es gibt noch kein Urteil.

Hat sich deine Situation hier seit den neuen Schily-Gesetzen verändert?

Es gibt mehr Kontrollen, die Polizei hat mehr Befugnisse als vorher. Vor allem aber hat sich das Ansehen der AusländerInnen und Flüchtlinge verändert, wir werden jetzt direkt mit Terrorismus in Zusammenhang gebracht. Als Nichtdeutscher steht man praktisch unter einem Generalverdacht. Für jegliches Engagement mit linker Politik, ob hier oder unser Herkunftsland betreffend, können wir als mögliche oder tatsächliche Terroristen eingestuft werden und als Gefahr für das deutsche Allgemeinwohl. Es sind erste Fälle bekannt, in denen Asylanträge unter Verweis auf die neuen Sicherheitsgesetze nach dem 11. September abgelehnt wurden.

Siehst du einen Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass die Europäische Union die kolumbianischen Guerillagruppen FARC und ELN als terroristische Vereinigungen eingestuft hat und deinen Bedingungen in
Deutschland als Asylsuchender?

Das hat auf jeden Fall einen Einfluss auf das Stereotyp des Kolumbianers. Vorher galt ein Kolumbianer als Drogenhändler oder Krimineller. Heute steht ein Kolumbianer in den Augen der Allgemeinheit direkt mit Terrorismus in Zusammenhang.

Denkst du, dass Aktionen wie die Karawane einen Einfluss auf die Lebensbedingungen von Flüchtlingen in Deutschland haben kann?

Natürlich werden wir die Bedingungen in Deutschland nicht von heute auf morgen verbessern. Aber wenn wir weiterarbeiten, wird sich eines Tages vielleicht etwas ändern. Wenn ich eine Wahl gehabt hätte und eine Vorstellung davon, wie die Situation eines Asylbewerbers hier in Deutschland aussieht, wäre ich vielleicht nie hierher gekommen. Aber jetzt geht es darum, das Beste daraus zu machen. Seit ich nach Hamburg umgezogen bin und ich bei der Karawane mitarbeite, sehe ich die Dinge mit mehr Optimismus. Wir haben uns zusammengeschlossen, wir tauschen uns aus, informieren uns und planen. Wir setzen uns mit einer möglichen Zukunft auseinander, wir tun etwas und das ist das wichtigste.

Weitere Informationen zur Karawane unter: www.basicright.de/caravan/

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