Nummer 336 - Juni 2002 | Sport

Uruguay Nomá!!!

Leidenschaft und Identität eines Landes im Niedergang

Uruguay ist ein Fußballland. Im kollektiven Bewusstsein seiner BewohnerInnen ist dieser Sport eines der heiligsten Dinge überhaupt und zugleich das Aushängeschild, welches das Land in der Sammlung internationaler Kulturschätze repräsentiert. Dieses Jahr nimmt Uruguay, nach langen Jahren der Abwesenheit, wieder an der Weltmeisterschaft teil – und das in einer Phase der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, die keinesfalls mit den sportlichen Heldentaten anderer Zeiten einhergeht. Der Uruguayer Oscar Mañán räsoniert über sein Fußballland.

Oscar Mañán

Dieser Bericht will einige der Beziehungen darstellen, die ansonsten nicht so häufig mit dem beliebtesten Sport Uruguays in Verbindung gebracht werden. Die internationalen sportlichen Erfolge sind eng mit der nationalen wirtschaftlichen und politischen Konjunktur verknüpft. Im Fall Uruguays besteht der Mythos vom „nationalen Wesen“ auch durch Konstruktionen, die viel mit Fußball zu tun haben.
Der Fußball ist die große nationale Leidenschaft, die größte Quelle für den Export von qualifizierten Arbeitskräften und das Kulturgut par excellence der Uruguayer. Wir haben unsere Spieler in den entlegensten Orten des Planeten: von Mexiko bis China, von Argentinien bis England. Die größten Torjäger der argentinischen Liga sind Uruguayer, aber auch die in Mexiko und Chile. Andere Spieler sind in Spanien und in etlichen Vereinen Italiens aktiv. Der Fußball sichert auch den Zustrom von Devisen, ein vergleichslos großes Geschäft. Deshalb will die aktuelle Regierung eine Steuer auf die Spielertransfers einführen, um Mittel für den öffentlichen Haushalt aufzutreiben.
Uruguay zeichnete sich als Land durch eine frühe Modernisierung aus, was ihm den Titel „Schweiz Amerikas“ einbrachte. Die Mythen erzählen eine Wirklichkeit, die einzigartig war, ein Außenseiter im lateinamerikanischen Vergleich. Auf dieser Basis entwickelte sich eine selbstgenügsame Weltanschauung. Mario Benedetti hat diese mythologische Konstruktion in seine Einzelteile zerlegt: In die geographischen, klimatischen und sprachlichen Gegebenheiten eines homogenen und „herrlichen“ Landes. Und die Weltmeisterschaften, die garra charrúa, die uruguayische Spielweise und etliches mehr, was die virtuelle Größe ausmacht und uns die wirkliche Realität verbirgt, in den Worten Benedettis „ein kleines Büro, aber mit dem Status eines ganzen Landes“.

Ein kleines Büro…

Von den Wurzeln her ist es ein aus der europäischen Wiege „verpflanztes“ Land, dessen einheimische, gebildete und widerspenstige Elite großen Anteil an der vorgezogenen Modernisierung hatte. Die bürgerliche Gesellschaft konsolidierte sich bereits bis 1875. Die extensive Viehwirtschaft auf den fruchtbaren natürlichen Weiden stellte die Stütze des modernen Staates dar. Dieser „Wettbewerbsvorteil“ zusammen mit einer Bevölkerungsentwicklung, die immer gegen den Trend der anderen lateinamerikanischen Länder verlief, erzeugten eine Vorstellung von den uruguayischen Zuständen als „insular“ und „europäisiert“, die konträr zum Rest des Kontinents standen. Dennoch ist auch die Wirtschaftsentwicklung Uruguays von Anfang an, nach Art aller abhängigen Länder, mit der internationalen Arbeitsteilung und der Entwicklung in Europa verbunden.

… mit dem Status eines ganzen Landes.

So stehen auch im Fußball die Organisations- und Handlungsformen im Zusammenhang mit der Geschichte der sozialen Beziehung der Menschen und der Politik, genau so wie mit den ökonomischen Veränderungen, die in jeder Gesellschaft von statten gehen. Auf eine Phase des Hochgefühls, folgt oft eine der Niedergeschlagenheit. Umgekehrt leiten wir daraus aber jetzt auch wieder unsere Hoffnung ab, nach Jahrzehnten des Mangels zu sportlichen Erfolgen zurückzukehren. Aber diese, genau wie ihre wirtschaftlichen Entsprechungen, hängen von alten Werten ab: Arbeit, Demut und Kampf.
Schon im 19. Jahrhundert gab es in Uruguay Vorläufer internationaler Begegnungen. Die nationale Liga wurde 1900 gegründet und die Siege in höheren Wettbewerben ließen auch nicht lange auf sich warten: bei den Olympischen Spielen 1924 und 1928, bei der ersten Weltmeisterschaft 1930, deren Gastgeber wir waren.
Es mag nicht verwundern, dass die fußballerischen Auszeichnungen mit dem Wirtschaftswachstum und der Erhöhung des Lebensstandards einher gingen. Uruguay erfuhr ein frühe Entwicklung im Lichte des Wohlfahrtsstaats und nahm somit das klassische europäische Modell der Nachkriegszeit vorweg. Der wirtschaftliche Aufschwung der 20er und auch der 30er Jahre bildete die Grundlage für den Ausbau der Importsubstitution von Gütern des Grundbedarfs, die 1935 ihren Höhepunkt erreichte. Eine Politik, die die Entwicklung von Gesundheits- und Bildungswesen und den Schutz der Gehälter forcierte, stellte das Gegenstück zur Produktionsausweitung dar. Der ökonomische Wohlstand konnte bis weit in die Hälfte der 50er Jahre gehalten werden, in denen wir im Bereich des Fußballs immer noch internationale Erfolge feierten. Der herausragendste war sicherlich 1950 der Gewinn der Weltmeisterschaft in Maracaná (Río de Janeiro, Brasilien). Mit einem Team, das vielleicht weniger aufgeweckt war als das des Gastgebers, gelang uns ein triumphaler Erfolg. Spieler wie Obdulio Varela, Máspoli, Giggia, Schiafino, Pérez, Míguez und andere sind für ihre Heldentaten ins kollektive Bewusstsein eingegangen, die so charakteristisch für ein so kleines und gleichzeitig so großes Land sind.
Danach folgte in Bezug auf große Triumphe eine sich lang hinziehende Lethargie. Wir scheiterten 1954 (und die „Alten“ erzählen, das Team sei großartig gewesen), auch 1966 in England und dann 1970 in Mexiko, wo wir uns auf einen vierten Platz hievten. Das war eine Phase, in der wir, wenn auch ohne Siege, als Gleiche mitsprachen und auf hohem Niveau mitkämpften. Auf unserem Ehrenplatz, dem amerikanischen Kontinent, schafften wir es dennoch 14 Mal und wurden 1916, 1917, 1920, 1923, 1924, 1926, 1935, 1942, 1956, 1959, 1967, 1983, 1987 und 1995 Amerikameister.

Nacional und Peñarol oder Peñarol und Nacional

Auch auf Vereinsebene wurden bedeutende Erfolge erzielt. Die zwei als „groß“ zu bezeichnenden Vereine, die sich selbst eine über hundertjährige Geschichte zuschreiben, haben mehrmals amerika- und weltweite Titel gewonnen. Es handelt sich um Nacional und Peñarol, oder Peñarol und Nacional, wie die Sportreporter gerne wiederholen, um weder den einen, noch den anderen Verein zu beleidigen. Nacional gewann sowohl drei internationale Meisterschaften (1971, 1988, 1989) sowie die Amerikameisterschaften der entsprechenden Jahre. Peñarol gewann zwar die gleiche Anzahl von internationalen Meisterschaften (1961, 1966, 1982), war aber öfter auf dem Siegertreppchen der Amerikameisterschaften (1960, 1961, 1966, 1982, 1987) und holte sich 1985 die interkontinentale Meisterschaft. Abgesehen von Spielen geringerer Ausstrahlungskraft, handelt es sich bei ihren Aufeinandertreffen zweifelslos um den uruguayischen „Klassiker“ schlechthin.
1974 fing das Debakel an, als aus der wirtschaftlichen Krise bereits eine politische und institutionelle Krise geworden war. Bei der WM in Deutschland – welche Ironie! – erfuhren wir eine der größten Niederlagen in internationalen Wettbewerben. Nach einer langen Auszeit kehrten wir erst zur WM 1990 in Italien zurück. Dort qualifizierten wir uns für das Achtelfinale.
Das Jahr 1980 stellt eine Ausnahme dar, wenn wir den Blick auf die wirtschaftliche Konjunktur werfen. Die später ausgebrochene Schuldenkrise lag damals schon in der Luft. Die Militärdiktatur, die 1973 die Macht übernommen hatte, veranstaltete die so genannte „kleine Weltmeisterschaft der Weltmeister“, damit Uruguay die Hommage an ein halbes Jahrhundert Weltmeisterschaft für sich entscheiden konnte. Dieses Ereignis wurde geplant und durchgeführt, um den gesellschaftlichen Widerstand zu kanalisieren, welchem die De-facto-Regierung täglich ausgesetzt war. Ihr Bestreben, einen sozialen Konsens aufrechtzuerhalten, konnte sie nicht einmal mehr mit „Säbelrasseln“ erreichen. Jetzt kommen wir wieder auf die Verbindung zwischen Sport und politischer Entwicklung zurück. Weit davon entfernt als „Opium“ zu wirken, das den volksfeindlichen Interessen einiger Machthabender dient, ermöglichte es der Fußball, verschiedene Absichten zusammen zu führen, um der Repression durch den Staat entgegen zu treten. Das geschah sogar während der sportlichen Treffen.

Von der “Schweiz” Amerikas…

Der Strukturwandel der letzten drei Jahrzehnte hat sich auch auf den Fußball und seine Organisation ausgewirkt. Der traditionelle Halbamateurstil der Vereine, welcher auf ehrenamtlicher Arbeit und öffentlichem Eigentum basiert, wurde durch eine unternehmerische und professionelle Struktur abgelöst. Die neue Struktur verkörpert viele Interesen, ist aber im Aufbau zunehmend schwieriger zu durchschauen. Doch vom alten, wachen und bestärkenden Gefühl für die Identität des Viertels, der Stadt, des Landes hat sich der Fußball durch seine Finanzierung durch Vertragspartner aus dem Unternehmertum und durch das Fernsehen entfernt. Er ist in Uruguay aber immer noch nicht, wie in anderen Ländern, zu einer bloßen Organisation verkommen.
Heute fährt die urugayische Nationalmannschaft als „Aschenputtel“ Amerikas nach Korea und Japan und hat sogar ihr Ticket erst in der Relegationsrunde gegen Australien,den Vertreter Ozeaniens, erhalten. Der Vorgang der Qualifizierung war hinsichtlich der internen Organisation sehr ungewöhnlich. Das Team wurde mit einer logistischen Infrastruktur ausgestattet, um es wettbewerbsfähiger zu machen und es den weiter entwickelten Ländern anzugleichen. Außerdem konnte man sich auf den Beitrag eines international angesehenen Cheftrainers, des Argentiniers Daniel Passarella, und auf eine finanzkräftige Verbindung zur Unternehmensgruppe von Francisco Casal verlassen. Ohne es gering schätzen zu wollen, was es bedeutet, einen ausländischen Cheftrainer zu haben, der aus dem Umfeld eines sehr kritischen und leidenschaftlichen Fußballs nach argentinischer Art stammt, musste Passarella am Ende doch sein Amt inmitten der Ausscheidungsrunde dem Uruguayer Víctor Púa überlassen,der sich als Trainer der Jugendauswahl auszeichnete. Der Grund waren schlechte sportliche Resultate und eine Auseinandersetzung mit den Vereinsvorsitzenden.

…zum „Aschenputtel“ Amerikas

Die Unternehmensgruppe Casal stellt heute, mit ihren Verzweigungen in den Rundfunk, Print- und Fernsehmedien, eine der Säulen des nationalen Fußballs dar. Jene Gruppe schreibt sich selbst eine Art Messiasrolle zu und schafft dabei gefährliche Abhängigkeitsverhältnisse mit Spielern und Vereinen. Diese neue Phase des privaten Unternehmertums im Fußball hat zu jener Art von inzestuösen Beziehungen geführt. Für die Spieler selbst stellt das die lang ersehnte Rettungskapsel auf ihrem Weg in eine Zukunft eines qualifizierten und besser bezahlten Marktes dar. Früher konnten die Fans an den sportlichen Erfolgen der Vereine besser teilnehmen, da diese als soziale Institutionen aufgebaut waren. Heute hingegen hat sich der Fußball aber leider immer weiter davon entfernt.
Es wäre ein Wagnis, die Frage zu beantworten: Warum gewannen wir früher und heute nicht? Vielleicht hat das partiell damit zu tun, dass wir früher Teil eines harmonischen Kollektivs waren, in einem Kontext, in dem die anderen auch noch nicht mit besseren Konditionen ausgestattet waren. Heutzutage wird allerdings die weiterhin bestehende Zugehörigkeit zu einem Team, zum Vereinstrikot, zum Land, auch durch andere Loyalitäten und Interessen durchkreuzt. Sie muss einem anderem Druck standhalten und führt uns daher eher dazu, zu bewahren als zu erneuern. Kurz: unser Kollektiv funktioniert nicht mehr, weder im Fußball noch in der Gesellschaft. Wir geben vor, es sei das Klima, die Größe oder der historische Moment, der nicht auf unser Seite steht. Aber kommt es nicht vor allem darauf an, uns wieder zu finden? Trotz unseres Kummers, schieben wir die Vernunft zur Seite und zittern um die Weltmeisterschaft und schreien das uralte: URUGUAY NOMÁ!!!

Übersetzung: Timo Berger

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