Land und Freiheit | Nummer 459/460 - Sept./Okt. 2012

Venezuela klebt am Öl

Die Dominanz des schwarzen Goldes ist in der Wirtschaft ungebrochen

Venezuelas Präsident Hugo Chávez schmiedet weiter langfristige Pläne: Im Oktober 2012 stellt er sich zur Wiederwahl und bis zum Jahr 2019 soll die Ölförderung in Venezuela verdoppelt werden. Damit gerät sein zu Amtsbeginn im Jahr 1999 ausgegebenes Vorhaben, die Wirtschaft zu diversifizieren und die Ölabhängigkeit sukzessiv abzubauen, weiter in den Hintergrund.

Martin Ling

It’s the oil price, stupid! Auf die Entwicklung des Ölpreises könnte sich Venezuelas Präsident Hugo Chávez berufen, wenn er begründen müsste, warum Venezuelas Wirtschaft allen Diversifizierungsbemühungen zum Trotz immer noch extrem vom Schwarzen Gold abhängt. Ölexporte machen nach wie vor rund 90 Prozent der Exporterlöse des Mitglieds der Organisation Erdölexportierender Länder (OPEC) aus, die Öl- und Gasindustrie ist für etwa ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts verantwortlich und trägt rund die Hälfte zu den Staatseinnahmen bei.
Als Chávez im zweiten Halbjahr 1998 seine erste Wahl gewann, dümpelte der Ölpreis im Zuge der Asienkrise bei rund zehn US-Dollar pro Barrel (Ein Barrel sind 159 Liter). Kein Wunder, dass Chávez schon zu Beginn seiner Amtszeit 1999 verkündete, dass er neben der Neuordnung der Ölgesellschaft PdVSA auch Landwirtschaft, Industrie und Tourismus neu ausrichten werde, um dem Auf und Ab des Ölpreises mit all seinen Konsequenzen für die venezolanische Konjunktur weniger ausgeliefert zu sein.
Doch so tief wie im Jahr 1998 steht der Ölpreis schon lange nicht mehr: Der Trend geht eindeutig nach oben. Dafür sorgt zum einen die generelle Begrenztheit der Vorkommen, die im so genannten Peak Oil kulminieren, dem Punkt an dem das Globale Ölfördermaximum erreicht ist, bevor es unweigerlich nach unten geht. Dieser Punkt ist nicht exakt wissenschaftlich bestimmbar, auch weil immer wieder neue Ölvorkommen entdeckt werden, die meist jedoch aufwändiger Fördermethoden bedürfen. Die Produktion eines Fasses Rohöls auf neu erschlossenen Feldern kostet im weltweiten Durchschnitt zwischen 50 und 80 US-Dollar – bei den alten Feldern im saudischen Wüstensand liegen sie bei zwei bis drei US-Dollar.
Hinzu kommen politische Faktoren, wobei vor allem Krisen die Preise beeinflussen. Letztes Jahr war es insbesondere der Bürgerkrieg in Libyen, derzeit sind es die israelischen Drohungen mit einem Militärschlag gegen den Iran, die für Unruhe sorgen und zudem Spekulant_innen auf den Plan rufen. Ein Barrel der Nordseesorte Brent zur Auslieferung im Oktober kostete am 27. August 114,82 US-Dollar. Die Preise steigen, obwohl wegen der schwächelnden Weltkonjunktur und damit einhergehender sinkender Gesamtnachfrage eigentlich ein Preisrückgang zu erwarten wäre. Vom Rekordhoch von 147,50 US-Dollar im Sommer 2008 sind die Preise zwar noch weit entfernt, doch sie sind hoch genug, um den Druck auf Venezuela zu mildern. Die mühseligen Diversifizierungsversuche drohen so einmal mehr auf die lange Bank geschoben zu werden.
Wie stark Venezuelas Wirtschaftsentwicklung mit dem Ölpreis verbunden ist, lässt sich in den Jahren seit der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 nachzeichnen. Der globale Wirtschaftseinbruch in den beiden Folgejahren ging mit sinkenden Ölpreisen einher, die zwischenzeitlich lediglich 30 bis 40 US-Dollar pro Barrel betrugen und bescherten Venezuela eine kräftige Rezession von 3,2 Prozent im Jahr 2009 und 1,5 Prozent im Folgejahr. Erst nachdem der Ölpreis wieder stieg, erholte sich auch die venezolanische Wirtschaft und verzeichnete im Jahr 2011 wieder ein Wachstum von 4,2 Prozent, dass dieses Jahr vermutlich sogar übertroffen wird.
Das grundlegende Problem Venezuelas ist die sogenannte Holländische Krankheit. In den Niederlanden wurde in den 1960er Jahren nach dem überraschenden Fund reichhaltiger Erdgasvorkommen zum ersten Mal festgestellt, dass sich Rohstoffreichtum in einen Fluch verwandeln kann. Der Zufluss von reichlich US-Dollar aus dem Rohstoffexport führt zu einer Aufwertung der eigenen Währung. Der angenehme Aspekt daran ist, dass sich die Importkapazität des Landes erhöht, sprich sich das Land mehr Güterimporte leisten kann. Der negative und schwer wiegende Nachteil besteht darin, dass einheimische Produzent_innen an Wettbewerbsfähigkeit verlieren, sowohl gegenüber Importeuren als auch auf dem Weltmarkt, sofern es sich um Unternehmen handelt, die etwas anderes als Rohstoffe exportieren. Der Verlust an Arbeitsplätzen in jenen Sektoren ist fast unumgänglich. Die ganze Volkswirtschaft bekommt so mehr und mehr Schlagseite in Richtung des dominanten Rohstoffsektors, in Venezuela dem petrochemischen Sektor.
In Venezuela hat die Holländische Krankheit unter anderem die einheimische Landwirtschaft befallen. Das Land ist seit Jahrzehnten auf beträchtliche Nahrungsmittelimporte angewiesen, obwohl es potenziell an geeigneten Agrarflächen nicht fehlt. So ist Venezuela das einzige südamerikanische Land mit einer negativen Agrarbilanz. Im Jahr 2010 standen Agrarexporten von 59 Millionen US-Dollar rund 5 Milliarden US-Dollar Importe gegenüber, belegen die Zahlen der Lateinamerikanischen Integrationsvereinigung ALADI. Egal ob Fleisch, Milch, Getreide, Fette oder Öle: Venezuela ist Nettoimporteur. Laut dem venezolanischen Statistikamt INE sind in den vergangenen 13 Jahren die Nahrungsmittelimporte um 230 Prozent gestiegen und haben sich damit mehr als verdreifacht.
Dabei war die Regierung Chávez nicht untätig. Schon im Jahr 2001 wurde mit einem Landgesetz der Weg für eine Agrarreform geebnet. Das Nationale Landinstitut INTI verteilte in den Jahren 2003 und 2004 insgesamt 2,3 Millionen Hektar brachliegendes Staatsland an Kooperativen, danach wurden noch über 100.000 landlose Familien mit enteignetem ungenutztem Privatland ausgestattet. Mit dem Plan Zamora greift die Regierung seit dem Jahr 2003 Kleinbauern und -bäuerinnen mit Krediten, Bildungsangeboten, Investitionen in Vertriebswege, Häuserbau, Wasser und Infrastruktur unter die Arme. All dies hat zwar die nationale Produktion bei Agrargütern nach Angaben der Regierung von 1999 bis 2011 um 44 Prozent nach oben getrieben, doch noch kräftiger wuchs die Kaufkraft und dementsprechend der Konsum der ärmeren Bevölkerungsschichten. Venezuela muss so immer noch rund 70 Prozent seiner Lebensmittel einführen.
Mit den Währungsabwertungen in den Jahren 2010 und 2011 hat sich die Konkurrenzfähigkeit der heimischen Landwirtschaft und Industrie zwar wieder verbessert, jedoch nicht in einem Maße, das die vorangegangene jahrelange Überbewertung kompensiert. Der Wechselkurs war bis 2010 bei 2,15 Bolívar pro US-Dollar festgezurrt und das, obwohl Venezuela hohe Inflationsraten von weit über 20 Prozent verzeichnete und damit weit höhere als die USA mit der Referenzwährung. Nur mittels Dollarverkäufen und Devisenkontrollen der Zentralbank konnte der Bolívar mehr schlecht als recht auf diesem Niveau gehalten werden. Im Jahr 2010 wurde die Währung auf 4,3 Bolívar pro US-Dollar abgewertet. Zum Jahresbeginn 2011 schaffte die Chávez-Administration dann noch den Vorzugswechselkurs von 2,6 Bolívar je US-Dollar ab. Damit wurde bis dato der Import von Lebensmitteln und Medikamenten sowie bestimmten Investitionsgütern wie Maschinen subventioniert. Auch hier gilt seitdem der offizielle Wechselkurs von 4,3 Bolívar pro US-Dollar.
Der Holländischen Krankheit und der Überbewertung könnte durch eine gezielte Strategie der Unterbewertung seitens der venezolanischen Zentralbank begegnet werden. Dafür müssten die Devisenzuflüsse in ihrer Wirkung auf die heimische Geldmenge und Währung so weit wie möglich sterilisiert werden, indem sie in einen Zukunftsfonds fließen und dort langfristig angelegt werden. Ein solches Modell praktiziert Norwegen mit beachtlichem Erfolg. Im dortigen Ölfonds werden seit dem Jahr 1990 die enormen Erträge aus dem Ölexport angelegt. Dies geschieht ausschließlich auf ausländischen Märkten, um ein Überhitzen der inländischen Wirtschaft und einer Aufwertung der Norwegischen Krone entgegenzuwirken.
Angesichts der enormen sozialen Schuld, die in Venezuela über die vergangenen Jahrzehnte akkumuliert wurde, ist ein solches Modell in Venezuela wohl schwer politisch durchsetzbar. Chávez nützt die Öleinnahmen schließlich bisher dazu, Sozialprogramme durchzuführen. Die Ölgesellschaft PdVSA fungiert seit dem Jahr 2003 auch als eine Art Sozialministerium, die aus dem eigenen Haushalt Sozialprogramme wie die misiones finanziert – die unter anderem von Bildung (misión Robinson und misión Ribas) über Gesundheit (misión barrio adentro) bis hin zur Versorgung mit subventionierten Lebensmitteln (misión mercal) reichen. Im Jahr 2011 flossen fast 40 Milliarden US-Dollar in Sozialprogramme und Sonderfonds des Präsidenten.
Die Öldollar gleichzeitig aufzuschatzen und auszugeben, geht logischerweise nicht. Venezuela wäre entwicklungsökonomisch allerdings gut beraten, künftig zumindest einen Teil der Öleinnahmen langfristig anzulegen, um auf Sicht einen nachhaltigen Umbau der Wirtschaft mit einer Stärkung des Binnensektors zu erreichen. Dazu bedarf es neben der Unterbewertungsstrategie einer selektiven Protektion, bei der die Zollsätze mit dem Verarbeitungsgrad ansteigen. Damit könnte Venezuela das erreichen, was bisher verfehlt wurde: eine breitere Produktpalette der heimischen Wirtschaft und eine konkurrenzfähige Binnenmarktentwicklung. Die Weichen in diese Richtung müssen indes noch gestellt werden. Chávez Ankündigung vor wenigen Wochen, bis zum Jahr 2019 die Ölförderung in Venezuela verdoppeln zu wollen, spricht nicht für eine schnelle, fundierte Kursänderung.

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